Titel: Hau ab, Mensch
Datum: 1998
Quelle: Entnommen aus „Xosé Tarrío: Hau ab, Mensch“; mit einem Vorwort von Gabriel Pombo da Silva und einem Interview mit den Müttern beider im Anhang, FUNDACION XOSE TARRIO P.O. Box 942; S.9-399.
Bemerkungen: Originaltitel in spanischer Sprache Huye, hombre, huye - Diario de un preso FIES
Erste Auflage 1997 bis Vierte Auflage 2007: Virus Editorial, Barcelona
Übersetzung ins Deutsche: David
Dezember 2007

Vorwort

Bakunin sagte, die Rebellion des Individuums gegen die Gesellschaft sei viel schwieriger als die Rebellion gegen den Staat, denn die Gesellschaft absorbiere das Individuum, dringe in es ein, umgarne es mit ihren Bräuchen und ihrer Moral, von Geburt an bis zum Tode.

Er sagte auch, unter tausend Menschen finde sich kaum einer, der eigene Maßstäbe besitze. Systematischer Disziplinierung unterworfen, mal subtil und dosiert, mal bestialisch und grausam; auf von der Herrschaft vorgeschlagene und definierte Ideen und Interessen konditioniert, physisch und mental erstickt, verweigert man dem Individuum ein Bewusstsein seiner selbst und seiner unwahrscheinlichen Möglichkeiten.

Diese Vorgaben internalisiert das Individuum dergestalt, dass sie sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken, sich auswirken auf die Fähigkeit zur Reaktion auf die verschiedensten Situationen, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht, das heißt, es wird diese Vorgaben überall mit hinschleppen, wo es interagiert.

Als die GenossInnen auf der Halbinsel mich darum baten, ein Vorwort zu dieser ersten deutschsprachigen Auflage des Buches von Xosé Tarrío zu schreiben, gestehe ich, dass mir viele Zweifel kamen: Was sollte ich schreiben? Wo anfangen? Ich denke, Xosés Buch bedarf keinerlei Einleitung, es spricht für sich selbst. Da mein Freund aber ermordet wurde, und sein Zeugnis uns dazu dient, die Realität im Gefängnis in ihrer ganzen Bandbreite aus der Nähe kennen zu lernen, kann ich diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um einigen die Ehre zukommen zu lassen, die ihnen gebührt, und zwar denjenigen, die diese Realität nicht gleichgültig gelassen hat und die bis heute in Veröffentlichungen und Aktionen für das Ende dieses barbarischen Systems kämpfen, das uns alle zu weniger menschlichen und zivilisierten Wesen macht.

Das Buch Hau ab, Mensch öffnete vielen Personen und Kollektiven auf der iberischen Halbinsel die Augen. Niemand konnte oder wollte glauben, dass im »postfranquistischen« Spanien des so genannten »demokratischen Übergangs« die Folter andauerte, die das totalitäre Regime von Generalissimo Francisco Franco traurig berühmt gemacht hatte. Was viele nicht wahrnehmen oder verstehen wollten war, dass eine Diktatur nicht am Ende ist, weil ihr herausragendster Kopf stirbt. Die Diktatur ist ein System, in dem die Institutionen (speziell die repressiven) von straffen Parteigängern derselben geführt werden.

Und so war das, was wir im Gefängnis vorfanden, eine Legion Faschisten, in den Anstalten der »Demokratie«. Die Geschichte von COPEL inspirierte uns in gewisser Weise dazu, einen Kampf aufzunehmen, den wir von vornherein verloren wussten.

Viele Gefangene, die heute Kontakt zu Strafvollzugsgerichtsbarkeit, vis-a-vis-Besuche, Telefongespräche, Radioapparate und andere »Grundrechte« genießen, haben vergessen, dass all diese »Rechte« in Wirklichkeit Erfolge und Frucht der Kämpfe tausender Gefangener sind, die sich um COPEL organisierten. Überflüssig in Erinnerung zu rufen, dass diese Rechte uns viel Blut und Tränen gekostet haben.

Viele Kämpfe, die wir damals verloren glaubten, inspirierten nachkommende Generationen. Es gibt Verluste, die keine Niederlage bedeuten und Niederlagen, die uns dabei helfen können zu gewinnen.

Xosé war davon überzeugt, dass sein Buch den sofortigen Effekt zeigen würde, der spanischen Gesellschaft die Augen zu öffnen. Er vergaß, dass jeder Prozess Zeit braucht, Bewusstsein, Arbeit und Hingabe, um von anderen verstanden und verinnerlicht zu werden. Vielleicht war er es auch selbst, dem es an Zeit fehlte, besessen wie er war von dem verdammten Virus, das in seiner Blutbahn zirkulierte.

Xosé kam nach vielen Jahren aller möglicher Folter heraus. Er dachte, jetzt, da er frei war, konnte er noch viel mehr zum Kampf gegen das Gefängnis beitragen, in Antirepressionsgruppen. Doch seine Hoffnungen erfüllten sich nicht; er fand keine starke, bewusste Bewegung, organisiert und bereit, ernsthaft gegen eine derart perfekt geölte und wirksame Maschine zu streiten.

Nichtsdestotrotz fuhr er von einem Ende der Iberischen Halbinsel zum anderen, um über FIES zu reden, über die Folter und alles das, was er wusste vom Faschismus dieser Unterwelt.

Wenig später, im September 2003, wurden die GenossInnen aus Barcelona verhaftet, und er konnte den Mangel an Solidarität einiger selbst miterleben, die sich nicht mit denjenigen anderen solidarisieren wollten, die in aller Konsequenz und als Teil der Bewegung kämpften. Drei Monate später tauchte ich unter, das war für mich das einzig Sinnvolle. Ich versuchte so (wenigstens) dem Kampf von außen einen Anschub zu geben.

Xosé fühlte sich allein und verloren in einer Welt, die er nicht verstand, und schließlich ließ er sich fallen. Er wusste nicht mehr, was er in der Welt, die er vorfand, anfangen sollte. Alles hatte sich verschlimmert: Die menschlichen Beziehungen waren immer weniger menschlich, die revolutionären Bewegungen immer reformistischer und eingepasster in die Logik der Herrschaft.

Jemand schrieb einmal, zwanzig Jahre seien geschichtlich betrachtet nicht mehr als ein Atemzug, während sie für einen Menschen ein Drittel seiner Lebenszeit bedeuten. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob diese zwanzig Jahre zwischen Mauern oder unter Menschen verlebt werden, es ist sogar ein Unterschied, ob zu »normalen« oder zu »Sonderhaftbedingungen«.

Wir, Xosé, Patxi, Paco und so viele andere, mussten lernen, in diesen fürchterlichen »Sonderabteilungen« zu überleben, wo wir vom Rest der inhaftierten Bevölkerung getrennt gehalten wurden. Wir lernten, dass Rebellion oder Tod die Alternative war, die uns blieb. Und wir rebellierten.

Wie auch immer, diese drei Freunde (und andere) sind nicht mehr unter uns, physisch, um mit uns zu kämpfen. Aber sie haben uns ihr Zeugnis hinterlassen: Ihre Erinnerungen, ihre Schlachten, ihre Geschichten, ihre Liebe und ihren Hass.

Seit einiger Zeit wird über die Absicht spekuliert, Xosés Buch zu verfilmen. Ich hoffe nur, dass, wenn es so weit gekommen ist, der Film sich an den Text von Xosé hält und dazu dient, die Gesellschaft über die fürchterliche Realität der Folter aufzuklären, die sich nicht nur in tausenden Kilometern Entfernung in so genannten Drittweltländern abspielt.

Ich weiß nicht, ob es im Oktober oder im November 2006 war, als einige GenossInnen von der Halbinsel eine Tour über die Apennin-Halbinsel und Sardinien organisierten, zum Anlass der zweiten italienischsprachigen Auflage des Buches von Xosé, Frucht der Kooperation der GenossInnen beiderseits des Mittelmeers (Cruz Negra Anarquista Albacete und Archivio Severino Di Giovanni). Ich habe die Namen der GenossInnen nicht vergessen, die dieses Event möglich gemacht haben: Alaitz, Pastora, Ignacio, Stefano, Timo...

Manchmal fällt es mir schwer, Worte zu finden, um meine aufrichtige Dankbarkeit und Liebe zu diesen GenossInnen auszudrücken, vielleicht, weil ich »gelernt« habe, meine Gefühle zu unterdrücken, um mich dieser Unterwelt anzupassen, oder weil diese Leute, die mich kennen und lieben, schon wissen, wie mich diese schönen Gefühle inspirieren – da sind Worte doch überflüssig... Sind sie wirklich überflüssig? Ich glaube, nein, es ist richtig, dass ich mir auf diesen einführenden Seiten die Blöße gebe und von Herzen zu jeder meiner GenossInnen spreche, ihnen meine Gefühle mitteile, bevor man mir kraft Gesetzes das Maul stopft, mir als »Gefahr« für unsere »Demokratie« verbietet zu reden.

Alaitz ist mehr als eine Genossin, sie ist meine Freundin und uns verbindet eine langjährige Beziehung, die sich auf dem gegründet und gefestigt hat, was wir seit dem Tag, da wir uns kennen lernten, gemeinsam durchlebt haben.

Wir haben gelernt, uns die Blöße zu geben, uns zu hinterfragen, uns gegenseitig Anstöße zu geben, und dies immer aufs Neue zu tun. Gemeinsam konnten wir als freie Personen wachsen und so haben wir uns entdeckt, trotz der Mauern, die uns trennten, und der Hindernisse, die uns mehr als ein stupider Bürokrat in den Weg legte. Und wir wachsen weiter. Ich fühle mich in ihrer Schuld... deshalb möchte ich mich ihr in diesen Zeilen zärtlich zuwenden.

Pastora ist Xosés Mutter (der für mich wie ein Bruder war), doch nicht nur das... Pastora hat sich über das System, in dem wir lebten, aufgeklärt und einen hohen Preis dafür bezahlt. Sie hat ohnmächtig den Missbräuchen der Justizverwaltung beiwohnen müssen, der so genannten Justiz, die schließlich einen ihrer Söhne ermordet hat... Doch sie blieb bei allem Schmerz und aller Trauer nicht allein, zusammen mit anderen Müttern hat sie sich organisiert, und heute sehen wir sie überall dort Rückgrat zeigen und sich auflehnen, wo es nötig ist. Pastora hat verstanden. Wie sie selbst es in einem Satz zusammenfasst, der besser ist als tausend Worte: Wenn wir Armen nicht einander helfen, wer wird es dann tun? Wegen dieses ihres Manifests, unter vielem anderen, kann sie immer auf mich zählen. Ich habe keine Worte, um den Respekt, die Bewunderung und die Liebe auszudrücken, die ich für diese große Frau empfinde.

Ignacio, Timo und Stefano habe ich vor Kurzem kennen gelernt. Es liegen noch viel Zeit und viel Arbeit vor uns, doch was wir heute schon teilen, ist ohne Zweifel wunderbar. An sie und alle anderen, die bei der Tour mitgeholfen haben und die ich nicht kenne, richte ich als kleine aber ehrliche Anerkennung meine zärtlichste Dankbarkeit.

Das Buch, das du in den Händen hältst, ist das rohe und ehrliche Gedächtnisprotokoll der Gefängnisrealität und der FIES- Sonderhaftbedingungen im spanischen Staat. FIES, das dürfen wir nicht vergessen, wurde mittels halboffizieller Dienstanweisungen in Kraft gesetzt, illegal und hinter dem Rücken der Gesellschaft, allerdings vor Kurzem »legalisiert« durch die Oberschließerin Frau Mercedes Gallizo, am 22. Februar 2006. Das Buch ist außerdem die Geschichte einer Gruppe libertärer Gefangener der Gesellschaft, die wir uns auf diffuse Weise in der Folge bestehender Freundschaften zu organisieren versuchten, um mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ein irrsinniges System zu kämpfen, das dazu gemacht ist, jeden Menschen zu entpersönlichen und zu zerstören.

In diesem Kampf haben mindestens vierzehn hervorragende Genossen ihr Leben verloren, unter ihnen der Autor dieses Buches.

Die Geschichte ist zu lang und zu komplex, als dass ich sie hier im Vorwort zusammenfassen könnte. Ich fühle die moralische Verantwortung, irgendwann ein anderes Buch zu schreiben, mit dem ich die kollektive Arbeit fortsetzen kann, die Xosé Tarrío und andere FIES-Gefangene mit ihren Büchern begonnen haben, darunter: Adiós Prisión von Juanjo Garfia[1], A ambos lados del muro von Patxi Zamoro[2] oder Volando a la cárcel von Antonio Valera Hidalgo[3].


Am 28. Juni 2004 wurden in Aachen José Fernández Delgado, Bart de Geeter, meine Schwester Begoña und ich verhaftet. Boulevardpresse und Repressionsorgane, Polizei und Justiz dieses Landes beschrieben uns von Anfang an als »Kriminelle«, und etwas später, als sie Wind bekamen von unserer Beteiligung am Gefangenenkampf und Mitgliedschaft in Solidaritätsgruppen, ersetzten sie diese Vokabel durch »Terroristen«. Das gestattete ihnen, uns in der Haft einer FIES-ähnlichen Isolation auszusetzen. Nicht zu vergessen der beeindruckende und überflüssige Einsatz von Sicherheitskräften, so rechtfertigten sie das Unrecht: erniedrigende Durchsuchungen (unserer Personen, unserer Freunde, gar meiner Mutter), groteske Sicherheitsmaßnahmen während der Überstellungen, gefesselt an Händen und Füßen, Augen und Ohren verbunden, Spezialkommandos etc. Und im Gefängnis: Totale Isolation, uniformierte Kleidung, kein Radio oder Fernsehen, alle Kommunikation zensiert, keine Telefongespräche... Seit unserer Verhaftung sind fast drei Jahre vergangen und José und ich befinden uns immer noch unter gesonderten »Sicherheitsauflagen«, einfach weil wir sind, wer wir sind, nicht etwa, weil wir eine Gefahr für jemand darstellten.

Der Prozess war ohne Zweifel eine Farce. Peinlich das Auftreten des Gerichts. Es weigerte sich zu jeder Zeit, die von der Verteidigung berufenen Zeugen anzuhören, und versperrte sich so die Chance, sich zu erklären wer wir waren und woher wir kamen, was es war, das uns bewegte, was wir sagten und dachten, und was es war, das sowohl die Menschenrechtsgruppen im spanischen Staat als auch die UNO und andere sagten... Das Aachener Gericht geruhte, kein Licht auf die Ursachen und Gründe dessen zu werfen, was an jenem traurigen 28. Juni 2004 geschah. Es geruhte vielmehr, der sensationalistischen Gier von Presse und diversen Polizeien aufs Morbide nachzukommen. In unserem Fall band sich Iustitia die Augen nicht. Keine Unparteilichkeit, kriminelles Komplizentum.

Doch das hatte ich irgendwie erwartet. In kapitalistische Warenform verpackte Spektakularität, wie jedes Konsumprodukt luftleer verschweißt, ohne Gehalt, leicht verdaulich für eine unkritische Masse. Die Tatsachen, genau so fade und geschmacklos geschrieben wie wahrgenommen.

Was ich nicht erwartet hätte, weil ich die politische Realität dieses Landes nicht kannte, war das komplizenhafte Schweigen der übergroßen Mehrheit der sich radikal nennenden Linken, die Übereinstimmung mit Version und Argumentation der Herrschenden.

Man kann mit der politischen Analyse und den Aktionen, die Einzelpersonen oder Gruppen vorbringen, einverstanden sein oder nicht; wenn aber die Kritik, die in den systemtragenden Medien stattfindet, einigen als Argumentationsgrundlage dafür dient, die Repression der GenossInnen zu rechtfertigen, die in die Hände der Staatsbüttel gefallen sind, finde ich dafür kein anderes Wort als: Kollaboration. Und ich habe mich geschämt für diese Art von »GenossInnen«.

In mehrfacher Hinsicht sind die Haftbedingungen und der Zustand fehlenden Rechtsbeistands in diesem Lande schlimmer als im spanischen Staat. Aber es geht hier nicht um Vergleiche formaler Art oder um eine makabere Rangliste, denn das wäre eine hässliche Aufgabe. Es geht darum, mit denen solidarisch zu sein, die der direkten Gewalt der Herrschenden unterworfen sind; solidarisch zu sein heißt nicht, die »Ideologie« der Gefangenen oder ihr Handeln in allen Gesichtspunkten zu teilen. Es geht um den Austausch von Eindrücken und Wissen. Es geht darum, in diesem Land, und heute

noch, eine Anti-Knast-Bewegung hinzubekommen, mit antikapitalistischer Perspektive und ohne ins Sektiererische zu verfallen. Oder, wenn’s beliebt, eine antikapitalistische Bewegung, in der das Thema Gefängnis den Ort einnimmt, den es in einer sozialen Bewegung verdient.

Ich hätte mir gewünscht, den Prolog zu diesem Buch schriebe ein deutscher Genosse wie Thomas Meyer-Falk, der seit Jahren allein kämpft, von einem Isolationskerker aus und bedroht von einem Gesetz, dass dem Strafgesetzbuch des Nationalsozialismus entstammt und bis in unsere Tage gültig ist. Oder jemand der Gefangenen der RAF, die immer noch einsitzen, und das wegen ihrer Symbolkraft eher als wegen sonstiger absurder juristischer, politischer oder sozialer Hintergründe. Genau diese Häftlinge waren die ersten wirklichen FIES-Gefangenen.


Es gab nicht nur Enttäuschungen in diesem Land. Ich hatte das Glück, auf würdige und konsequente GenossInnen zu treffen, die sich von Staatsangehörigkeiten oder Ideologien nicht verblenden lassen, sondern denen eigene moralische Werte gelten. Einer dieser Genossen war ohne Zweifel Martin Poell, er war mir mehr als ein Anwalt und war ständig auf dem Laufenden. Sein so früher wie unerwarteter Tod am 17. Dezember 2006 ließ in uns allen, die wir ihn kannten und schätzten, eine große Leere zurück. Sein Tod ist ein schwerer Verlust für uns alle, persönlich und politisch.

Ich will es auch nicht lassen, Kathrin zu erwähnen, die von dem Moment unserer Verhaftung an mit uns Kontakt hatte und sich um unsere politische und persönliche Verteidigung kümmerte, ohne die Repression zu fürchten, die allerdings in der Tat über sie herein brach, aufgrund ihrer Solidarität mit uns und der absurden polizeilichen Erkenntnis, sie habe »etwas mit uns zu tun«.

Ich vergesse auch David nicht, der dieses Buch übersetzt hat, wie auch die anderen ÜbersetzerInnen, die zahllose Texte zur politischen und sozialen Realität im spanischen Staat und das Thema FIES ins Deutsche übertragen haben.

Und in diesem Abschnitt der Danksagungen möchte ich auch ein wunderbares Paar nicht im Tintenfass zurücklassen, das über die letzten drei Jahre solidarisch alle die aufgenommen hat, die nach Aachen kamen, sei es anlässlich der Justizfarce, oder später zu Knastbesuchen; ich meine Marlies und Kurt.

Vielen Dank an Wolfgang von der Redaktion Gefangenen-Info. Seit Jahren setzt er sich ein für die Freilassung der letzten Gefangenen der RAF und die politisch-moralische Verteidigung von revolutionären Kämpfen hier und auf der ganzen Welt.

Der Abschnitt der Danksagungen würde zu lang, schlösse ich

alle internationalen mit ein... Dank an die GenossInnen von Anarchist Black Cross/Cruz Negra Anarquista auf der ganzen Welt. An Bart und Bart, an Valerie, Kobe, Daniel, Marco Camenish, an die gefangenen Genossen im spanischen Staat und der ganzen Welt; an die, die uns verlassen haben und an die Neuen, die sich revolutionären Ideen nähern; an die Familien der Gefangenen und die Gruppen, die von draußen möglich machen, dass die Solidarität uns tatsächlich herzlich verbindet und das Netzwerk flicht, in dem wir alle uns wiederfinden, die wir eine gerechtere und menschlichere Welt nicht aufgegeben haben.

Mir ist bekannt, dass dieser Text nicht als konventionelles Vorwort gelten kann, doch bin ich weder konventionell noch bin ich Experte.

Wer die Realität kennen lernen und mitmachen will, gehe zu den Veranstaltungen, die zu diesen Themen organisiert werden.

Ich wollte hier nicht über mich selbst oder meine politischen Ideen schreiben, denn das gehört nur mir und den Meinen. Was die im Kampf gebrauchten Mittel angeht, so befinde ich mich nicht in einer Lage, aus der ich jemandem etwas erklären könnte. Wenn ich mich einmal für den Gebrauch von Waffen entschieden habe, so hat das mit mir zu tun und mit meinen persönlichen situationsbedingten und situationistischen Anschauungen. Ich dachte nicht etwa an ein vulgäres Konzept von »bewaffneter Avantgarde«, noch bin ich »Pazifist« oder »Bellizist«, sondern einfach ein Revolutionär, der zu emanzipatorischen Prozessen dort beitragen will, wo sie stattfinden.

Bald lasse ich mich in mein Land abschieben. Ich hoffe, dass uns die Zeit, die mir in Deutschland noch bleibt, zur Suche nach Anknüpfungspunkten dienen kann, nicht nur zu realitätsferner Diskussion und Polemik.

Aachen, 1. April 2007

Der Kampf geht weiter, bis wir alle frei sind!

Gabriel Pombo

Widmung

Vielleicht wohnt in uns eine Bestie,

geboren vom Leiden

unter der Trennung

von allem was uns lieb war


Meiner Mutter...

Isabel Álvarez González... (Isa)

Gabriel Pombo da Silva... (Musta)

Eduardo Jean-Baptiste Álvarez... (Chico)

Alexandra de Queirós Vaz Pinheiro... (Xandra)


Der Freundschaft

Der Hoffnung

Der Freiheit


Allen freien Frauen und Männern der Welt im Gefängnis

Einleitung

Deine wilden Hunde wollen in die

Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem

Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse

zu lösen trachtet.

NIETZSCHE, Zarathustra

La Coruña, 27. August 1987

Vier Uhr nachmittags, es ist sonnig und heiß. Sommer in Katanga, einem Viertel von La Coruña. Das gute Wetter lädt zum Spazieren ein, die Stimmung ist entspannt und angenehm. Vielleicht bemerkt deshalb niemand die Anwesenheit der Polizei. Getarnt in ziviler Kleidung und entschlossen angeführt durch Kriminalinspektor Peña, nimmt eine Gruppe Polizisten ihre Position ein, in der Umgebung des Wohnsitzes des Mannes, zu dessen Festnahme sie gekommen sind: Spezialisten für bewaffnete Entführungen, sie werden ihrer Beute keine Chance zur Flucht lassen. Zur Menschenjagd bereit.

Es ist fünf Uhr, als Bewegung im beschatteten Hauseingang festgestellt wird. Die Tür öffnet sich und heraus kommt in zügigen Schritten ein junger Mann und begibt sich in Richtung einer nahe gelegenen Kneipe. Er hat nichts zu befürchten, weshalb er vertrauensvoll und unaufmerksam vorwärts läuft.

Der Mann ist identifiziert, die Einsatzgruppe setzt sich in Bewegung. Ein Liebespaar verfolgt den Mann, und als die beiden ihn gerade überholen, zieht sie blitzschnell eine Waffe und hält sie ihm vor die Brust, während er ihn von hinten festhält und die Handschellen auf dem Rücken anlegt. Das war leicht. Andere Polizisten tauchen aus ihren Winkeln auf, um die Aktion zu unterstützen. In ihren Augen steht die Zufriedenheit einer gut gemachten Arbeit geschrieben. Mehrere Autos halten vor Ort. Die Beute wird in das Innere eines derselben gebracht, um anschließend in Richtung Polizeirevier zu verschwinden.

Die Nachbarn waren dabei, sie haben das Wirken der Beschützer von Recht und Ordnung mit ernsten Gesichtern verfolgt. Große Stille herrscht im Viertel. Es ist nicht das erste Mal, dass sie eine Gefangennahme miterleben, und sie danken Gott, dass dieses Mal keines ihrer Kinder dran war. Hier ist die Mehrheit der jungen Leute straffällig oder drogenabhängig; schlimmstenfalls beides gleichzeitig. Deshalb applaudiert niemand dem Auftritt des Gesetzes. Wenigstens nicht hier.

Ein Mensch ist soeben von der Karte der Gesellschaft gestrichen worden, und seine Knochen werden ohne Zweifel in einer der fauligen und stinkigen Zellen der Gefängniskloake landen. Dort wartet auf ihn eine vor Jahren gemachte Schuld an der Gesellschaft, wegen Raubes. Er geht nun den Weg in die Fäulnis: den Weg in die Hölle der zivilisierten Menschen. Zu zwei Jahren, vier Monaten und einem Tag Haft verurteilt vom Provinzialgericht von La Coruña, weiß er noch nicht, was das ungerechte Schicksal für ihn bereithält.

Es war der Anfang der Rache derjenigen, die, den Mund voll der Worte Demokratie und Gerechtigkeit, die Autonomie des Individuums, den Ausbruch aus der Schafherde und aus ihren Gesetzen nicht akzeptieren, die seine Verhaftung und anschließenden Freiheitsentzug predigen und ihr eigenes Gewissen mit einer juristischen Legitimierung des gesamten Vorgangs zum Schweigen

bringen.

Mit neunzehn Jahren musste also José Tarrío González, bekannt unter seinem Spitznamen Che, seinen härtesten Lebensabschnitt antreten. Enterbt von der Welt durch seine Zugehörigkeit zu einer ökonomisch bescheidenen Familie, trat er einen unerbittlichen Weg an, vom Internat in die Erziehungsanstalt und von dort ins Gefängnis. Er weiß besser als irgendjemand, dass für ihn die Reise ins Leben nicht mit dem gleichen Gepäck wie für die Kinder aus besser situierten Familien begann, dass er nicht dieselben Chancen hatte wie diese. Einen Teil seiner Kindheit und Jugend hat er in verschiedenen Anstalten verbracht. Der Staat hat ihn erzogen. Zu oft wurde er brutal verprügelt von denjenigen, die mit seiner Vormundschaft betraut waren und sich das Recht herausnahmen, ihn zu strafen. Er weiß, dass das derzeitige System ungerecht ist und nur einige wenige bevorteilt. Die Übrigen werden zu Sklaven des Uhrzeigers gemacht. Er hat sich geweigert mitzumachen, er hat seine Anarchie offen erklärt, ohne Scheinheiligkeit. Er selbst ist sich Richter und Gesetz, was sie ihm nie verzeihen werden, sie, die »Ehrbaren« und »Gerechten«.

Heute, am 15. September 1994, sieben Jahre später, sitzt er in einer Zelle unter den Sonderbedingungen FIES, im Hochsicherheitsgefängnis von Picassent, Valencia. Diese Sonderbedingungen, aus gutem Grund als die härtesten in ganz Spanien eingeschätzt, sind 1991 von der Strafvollzugsverwaltung eingeführt worden, um die Welle der Aufstände, Geiselnahmen und Ausbrüche einzudämmen, die jenen Sommer die spanische Gefängnislandschaft verwüstet, und die immer noch gelten, obwohl sie laut Königlichem Erlass Nr. 787 vom 26. März 1984 nicht gelten dürften. Dort auf brutale Weise isoliert vom Rest der inhaftierten Bevölkerung befindet sich ein Teil der von FIES betroffenen, von der Generaldirektion des Strafvollzugs als besonders konfliktbereit eingeschätzte Gefangene oder Spezialisten für Ausbrüche. Die Strafe von zwei Jahren, vier Monaten und einem Tag, wegen derer die Verhaftung stattgefunden hatte, hat sich erhöht auf insgesamt einundsiebzig Jahre Gefängnishaft, und zur Zeit wird deren Verdreifachung verhandelt in verschiedenen Prozessen, die die Justiz wegen verschiedener Delikte gegen ihn ablaufen lässt.

Jetzt nutzt er seine Zeit, um zu studieren, zu lesen und in seinen Freistunden Sport zu treiben. Wie so viele vor ihm, wurde er vor die Alternative gestellt: Unterwerfung oder Rebellion. Er wählte letzteres, und das werden sie ihm ebenfalls nicht verzeihen. Er setzt sich also mit dieser Rache auseinander, deren Anfang Jahre zurückliegt und der er allein mittels einer Flucht entkommen können wird, setzt sich auseinander mit der Unterwerfung oder mit dem Tod, der lang und grausam mit ihm spielt, sich in ihm breitmacht, in Form von AIDS. Er weiß es. Deshalb hat er mit den ersten Zeilen eines Manuskripts begonnen. Er wird versuchen, die Realität im Gefängnis zum Ausdruck zu bringen und das Scheitern des Gefängnissystems mit seinen barbarischen und antiquierten Strafen. Die Überprüfung und Reform der Gesetze, die dieses System regeln, waren dringend nötig. Seine Erfahrung ist allerbestes Beispiel für die Anwendung gewisser systematischer Methoden, die viele Menschen in regelrechte Bestien verwandeln. In den vorliegenden Seiten haben alle Gefangenen Platz, in deren Herzen immer noch Freundschaft, Hoffnung und Freiheit glänzen, den wilden Methoden zum Trotz, denen sie in ihrer Haft unterworfen sind und die zum Großteil an der Krankheit AIDS leiden. Ihnen widmet er ausdrücklich sein Manuskript, denn sie repräsentieren den Mut von Menschen, die täglich mit dem Tod konfrontiert, allein mit ihrer Selbstachtung, ihren Ängsten, die in eiskalten Zellen und schrecklicher Einsamkeit immer noch würdig hoffen. Diesen Mutigen, die kühn dafür kämpfen, in den Armen des einzigen Rechts zu sterben, welches man weder wegdiskutieren noch in Ketten legen kann: In den Armen der Freiheit.

Picassent, 15. August 1994

Erster Teil: Auf dem Weg in die Fäulnis

Gefängnis von La Coruña, 19. August 1987

Auf den ersten Blick erweckt es eine gewisse Neugier mit seiner quadratischen Form und seinen Mauern aus altem Stein, verwittert von der Feuchtigkeit und dem Salz des nahen Meeres. Sein trauriger Anblick und die Grabesstille, die es umgibt, erlauben zusammen mit dem langsamen Gang der Guardias Civiles, die bewaffnet mit Maschinenpistolen sein Gelände bewachen, die langen Jahre des Leidens zu erahnen, die jene Mauern eingeschlossen halten.

Das Gefängnis von La Coruña, gegenüber dem romanischen Herkulesturm, ist ein Gebäude im alten Stil, an dessen Eingang, gestreichelt von der Meeresbrise, eine spanische Flagge weht. So tauchte es einmal mehr vor mir auf, als der Polizeitransporter die letzte Kurve zu seiner Einfahrt nahm.

»Wir sind da, Tarrío«, schrie mir einer der Bullen zu.

In der Tat, wir waren angekommen. Ich nahm einen letzten Zug von der Zigarette, warf sie auf den Metallfußboden des Transporters und zerdrückte sie mit dem Schuh. Die Tür öffnete sich, und nach einer vorbeugenden Untersuchung der Fesseln, die meine Hände an den Gelenken zusammen hielten, stieg ich aus dem Transporter, eskortiert bis zum Eingang des Gefängnisses. Ein schlecht gelaunter Schließer nahm uns in Empfang. Er wurde die Kröte genannt, wegen seines beträchtlichen Doppelkinns. Zur Einweisung nahm man mir neue Fingerabdrücke ab und die Handschellen wurden mir aufgeschlossen. Nach dem üblichen Papierkram entfernten sich die Diener des Gesetzes und überließen mich endgültig der Obhut der Strafvollzugseinrichtung. Mein Leben, meine Freiheit und meine Gefühle waren von jetzt ab den Launen der Schließer unterworfen, die die Menschen in Haft befehligten und kontrollierten. Sie waren dort Polizei, Gesetz und Richter, und sie handelten mit absoluter Immunität. So war das Gefängnis. Mehrere Schließer kamen herunter, um mich abzuholen.

»Nanu, Tarrío, schon wieder hier?« sagte einer von ihnen.

»Wie du siehst...«, antwortete ich ernst, ohne Lust ein Gespräch zu beginnen.

Sie ließen mich alle Kleidung ablegen, obligatorisch und üblich bei der Einweisung, mit dem Sinn, etwa illegal von außen Mitgebrachtes zu entdecken. Ich kannte den ganzen Vorgang, nicht umsonst war ich Gewohnheitskunde in dieser Anstalt. Ich hatte sie nur zwei Monate zuvor verlassen, nach sechs Monaten Haft. Nach Abschluss meiner Registrierung wurde ich wegen meines Alters in den Trakt für Minderjährige gebracht.

Ich traf dort mehrere Freunde, die herauskamen, um mich zu begrüßen.

»Was ist passiert, José?« fragten sie mich, als ich mich auf die Aufnahmezellen zubewegte.

»Nichts Schlimmes. Die Reklamation meiner zwei Jahre. Schickt mir später Bettwäsche, etwas Kleidung, Essen und ein paar Zigaretten, OK? Über alles weitere werden wir genug Zeit haben zu reden.«

Ich musste mindestens drei Tage Übergangszeit allein in einer Zelle verbringen. Diese Isolation hatte keinen Nutzen, war jedoch bei allen Einweisungen üblich. Nach Ablauf der drei Tage würde ich auf den Hof hinausgehen und mit meinen Freunden zusammen in eine Zelle ziehen dürfen. Unterdessen würde ich dort bleiben müssen.

In der Zelle angekommen, wandte sich ein Schließer aus meiner Eskorte an mich:

»Die Zelle ist ziemlich dreckig. Nachher bringt man Ihnen einen Putzeimer, damit Sie sie säubern können.«

»Ich würde auch gern die Dusche benutzen...«

»Am Nachmittag. Werden Sie mittagessen?«

»Nein. Die andern werden mir am Nachmittag Essen und Kleidung schicken. Ich hoffe, man lässt die Sachen durch.«

»Einverstanden«, antwortete er und schloss die Tür hinter sich.

Ein Gefühl der Leere überflutete die Zelle, und die Einsamkeit bemächtigte sich meiner. Ich legte mich rücklings auf die vergammelte Matratze, mit den Händen unter dem Kopf verschränkt, in Gedanken. Es war die Zeit gekommen, zu bezahlen, doch bis zu welchem Punkt hatte die Gesellschaft moralisches Vermögen, das als gerecht hinzustellen? Zwei Jahre, vier Monate und ein Tag meines Lebens wegen eines simplen Raubes ohne Gewaltanwendung? War das wirklich eine gerechte Strafe oder vielmehr unverhältnismäßiges Abstrafen durch einen Richter, der mich den bitteren Geschmack einer exemplarischen Strafe kosten lassen wollte? Andererseits, wo befand sich die Grenze des selbst erteilten Rechts des Staates, zu strafen? Wer kontrollierte jene Strafe, und bis wohin war es legal oder human sie zu verlängern?

Schöne Erinnerungen besänftigten meine Grübeleien. Erinnerungen, die nach und nach mit dem Lauf der Zeit verwelkten, während andere stärker wurden. Ich war traurig.

Mit der Brotzeit am Nachmittag brachten sie mir die Kleidung, das Essen und den Tabak von meinen Freunden. Auch einen Eimer voll mit Putzmittel gaben sie mir, einen Wischmopp und einen Besen. Ich ging hinunter, um zu duschen und mir saubere Kleidung anzuziehen, mit der ich mich besser fühlte. Später wischte ich die Zelle mit dem Putzmittel, und nachdem ich das Bett neu bezogen hatte, schritt ich bis zum Abendessen die Zelle auf und ab. Sie war klein: Die Zelle maß etwa vier Meter in der Breite mal dreieinhalb in der Länge. Wie die anderen Zellen auch, war sie weiß gestrichen. Die Wände wiesen in Jahren angesammelten Schmutz auf. Ohne Zweifel war es lang her, dass man sie gestrichen hatte. Man konnte Worte lesen wie: »Mutterliebe«, »Schließer sind Arschlöcher«, »geboren zu leiden« oder Namen mit Datumsangaben. Die Sätze waren die einzigen Vertrauten gewesen für viele der dort eingesperrten Männer, fern jeder menschlichen Wärme. Und sie werden es weiterhin sein.

Das Fenster war von außen mit einer Metallplatte verdeckt worden, damit wir Gefangenen die Felder oder das Meer nicht sehen konnten. Das Bett war aus Metall und fest in den Boden verankert. Eine Glühbirne, ein Waschbecken und ein ebenerdiger Abort vervollständigten das Arrangement an Elementen, mit denen die Zelle eingerichtet war. Es war so schäbig wie in allen Zellen, die ich kennengelernt hatte.

Nach mehreren Minuten Auf- und Abgehen kam das Abendessen. Ich aß auf dem Bett sitzend, denn es gab keinen Tisch und keinen Stuhl. Später zündete ich mir eine Zigarette an, zog mich aus und legte mich ins Bett. Ich war müde. Nach einer Weile schlief ich ein.

Nach den drei Tagen Übergangszeit kam einer der Dienstleiter, um mich zu sehen:

»Tarrío, ich bringe schlechte Nachrichten für Sie«, sagte er, »Der Direktor hat angeordnet, dass auf Sie Artikel 10 angewendet wird. Wir müssen Sie in Isolation bringen...«

»Weshalb denn das? Ich bin doch gerade erst angekommen.« - ich war verstört.

»Ich weiß es nicht, Tarrío, ich glaube, das hat mit dem Streik zu tun, den Sie und ihr Freund Eduardo angezettelt haben, als Sie das letzte Mal hier waren. Sie waren deshalb bis zuletzt auf Artikel 10...«

»Ich weiß schon.«

Überraschend fand ich mich also erneut in Isolation wieder. Das war einer der vielen Amtsmissbräuche, die in diesem Gefängnis täglich stattfanden. Das Schlimmste war, dass ich nichts dagegen tun konnte, ich hielt also den Mund, packte meine Sachen und bewegte mich in Richtung Isolationsetage. Von ihren Fenstern aus grüßten mich meine Freunde:

»Eh, José, wo gehst du hin?«

»Da kommt ihr nicht drauf«, antwortete ich ihnen mit Humor.

»Ach du Scheiße!« rief einer.

»Ich hab’ das große Los gezogen!«

Ich suchte die geräumigste Zelle aus und zog ein. Ich hatte einige Zentimeter Raum gewonnen, einen Tisch, einen Stuhl und ein vergittertes Fenster, ohne Metallplatte, das mich das Gelände sehen ließ und den Wachturm der Guardia Civil. Ich vertraute darauf, dass man mich bald hier herausholen würde. Mich isoliert zu halten, bedeutete für sie soviel wie Ruhe, denn ich hatte bei Gelegenheit einen recht aufbrausenden Charakter und war ständig in Streitereien verwickelt. Sie hielten mich für konfliktwillig. Ich nahm es also mit Gelassenheit. Von nun an würde ich nur zwei Stunden am Tag Hofgang haben, allein.


Diesen Monat ließen sie mich Besuch erhalten. Meine Onkel kamen, in Begleitung von Isa. Sie brachten mir die Nachricht vom Tod meines Cousins Lute. Diese Nachricht tat mir weh, denn er war ein guter Freund, mit dem ich die vergangenen Jahre zusammen gelebt hatte. Sein Tod überraschte mich nicht; sein Leben konnte man mit dem Wort Drogen zusammenfassen, und alle wussten wir, dass er an den Drogen gestorben war. Ich sprach zu Isa:

»Hallo, Prinzessin, danke, dass du gekommen bist...«

»Hallo Che. Du weißt, dass ich immer, wenn du im Knast bist, kommen werde. Bis jetzt bin ich nicht ausgefallen, stimmt’s?«

»Wie geht es dir?« fragte ich sie.

»Gut. Ich hoffe, die lassen dich hier raus. Ich vermisse dich...«

Mir gefiel ihre Gesellschaft sehr. Isa war Waise ihrer geliebten Mutter. Ihr Vater hatte noch einmal geheiratet, und er und seine Frau zusammen machten ihr das Leben unmöglich. Sie floh aus einer unglücklichen Welt, aus dem, was ihr Zuhause hätte sein sollen. Jetzt lebte sie mit ihren Freundinnen zusammen.

Eines Tages, ich weiß immer noch nicht warum, wollte mein Freund Viqueira sie nach einer Diskussion schlagen, wogegen ich mich einsetzte. Ich hatte nie weiter auf sie geachtet; die Tatsache jedoch, dass ich mich mit meinem Freund angelegt hatte, um sie zu verteidigen, einte uns fortan. Wir schrieben unsere Freundschaft groß. Nun redeten wir miteinander, dabei weit entfernt von der wirklichen Zukunft, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. »Du solltest einen AIDS-Test machen, José«, sagte mein Onkel Suso.

Ich wollte mich zu Anfang vor der Idee verschließen, sagte aber schließlich zu. Ich versprach ihnen, den Test zu machen.

Die Sorge meiner Familie bestätigte sich: Ich war Träger von HIV-Antikörpern: Positiv. Die krude und reale Bedeutung dieser Nachricht war ein schwerer Schlag für mein Gemüt; sehr schwer für jemanden, der nur neunzehn Jahre alt ist. Ich wusste aber, dass Jammern mir nichts helfen würde und dass ich ernste Entscheidungen in Hinblick auf die Drogen und auf mein Leben würde treffen müssen. Ich entschied mich, die Drogen sein zu lassen und anzufangen, mich körperlich fit zu halten mittels sportlicher Übung. Ich wollte der Krankheit in guter Verfassung entgegentreten und die letzten Jahre, die mir der Widerstand meines Organismus gegen das Virus gönnen würde, voll ausschöpfen und genießen. Ich würde kämpfen. Dessen war ich sicher.

Gefängnis von Pereiro de Aguiar, November 1987

Einen Monat nach dieser Nachricht, die den Lauf meines Lebens geändert hatte, wurde ich in das Gefängnis von Orense verlegt. Die Fahrt machte ich in einem kleinen Transporter, allein. An meinem neuen Ziel angekommen, befahlen sie mir, mich auszuziehen. Ich gehorchte, und nach dem Anziehen brachten sie mich in den Isolationstrakt, dessen einziger Insasse ich war. Sie händigten mir einen Satz Bettwäsche und eine Decke sowie einen Satz Toiletten- artikel aus, bestehend aus zwei Rollen Klopapier, einer Zahnbürste, Zahncreme und einem Stück Seife. Ich dankte ihnen. Hier kümmerte man sich wenigstens um einiges ernsthafter als im Gefängnis von La Coruña um Hygiene und Sauberkeit.

Das Gefängnis von Orense in Pereiro de Aguiar war neu und modern. Deshalb befanden sich die Zellen noch in gutem Zustand. Sie waren geräumig und sauber. Die Fenster waren nicht vergittert, sondern mit kugelsicherem Glas ausgestattet, drei Lagen dick. Damit wollte man dem Gefängnis einen humaneren Anblick verleihen, um glauben zu machen, die Gefangenen seien weniger gefangen, freier. Nichts war weiter entfernt von der Realität. Die Betten waren aus Stein, und auf ihnen ruhte eine saubere und harte Matratze. Eine Tür trennte das Klo vom Rest der Zelle. Das Waschbecken aus rostfreiem Edelstahl war in einen Zementblock eingelassen; gegenüber desselben glänzte ein großer an die Wand geklebter Spiegel. Es waren auch ein Stuhl und ein Tisch gebaut worden, beide aus Zement. Wollte man etwa mittels relativer Bequemlichkeit das Gemüt des Häftlings besänftigen? Ich musste zugeben, dass sich dies hier im Vergleich zu dem Kerker, den ich gerade hinter mir gelassen hatte, um einiges bequemer bewohnen ließ.

Am nächsten Tag holten sie mich zum Spaziergang heraus auf einen Hof mittlerer Größe. Ich staunte. Im Hof gab es vier Stückchen Garten, eins in jeder Ecke. Die Bäumchen bescherten mir ironische Gedanken und eine gewisse Heiterkeit. Es war ein schräger geschmackloser Scherz. Der Gerechtigkeitsbegriff der ehrbaren Leute beinhaltete häufig derartige Absurditäten. Dachten sie vielleicht, eine dieser Pflanzen würde zu mir sprechen oder umgekehrt?

Es war rechtens, einen Menschen in andauernder Stille gefangen zu halten, doch bitteschön auf elegante und zivilisierte Weise.

Jenem Gefängnis stand damals José Ignacio Bermúdez vor, ein Psychologe, der kürzlich zum Posten des Direktors aufgestiegen war. Ich wusste es damals nicht, doch dieser Mensch würde Jahre später wieder meinen Weg kreuzen. Ich würde die Gelegenheit haben, den gesamten Fächer seiner Möglichkeiten kennenzulernen, er würde Direktor des Gefängnisses von Dueso, Santander sein. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Tage verliefen normal und ich gewöhnte mich an Einsamkeit und Stille. Ich begann mich für das Lesen zu begeistern. Ich wurde erneut nach La Coruña gebracht, um an einem Prozess im Provinzialgericht teilzunehmen, zusammen mit meinem Freund Eduardo Jean-Baptiste Álvarez, wegen Körperverletzung. Chico war Tage zuvor verhaftet und wegen mehrerer Bankraube angeklagt worden. Dort traf ich ihn.

»Was ist mit dir los?« fragte ich ihn, nachdem ich ihn umarmt hatte, auf dem Weg ins Gericht.

»Sie erheben Anklage wegen ein paar Banken, doch sie haben keine Beweise...«

»Gut, dann bist du vielleicht in ein paar Monaten draußen.«

»Das will ich doch stark hoffen, Kollege.«

Der Transporter hielt an. Sie holten uns heraus, der eine an des anderen Handgelenk gefesselt, und brachten uns, eskortiert von einer Gruppe Bullen, die gut gelaunt schienen, in den zweiten Stock, wo sie uns in einen kleinen Raum einschlossen. Bevor ich dort hineinging, konnte ich zwischen den Leuten Isa erkennen, die gekommen war, um mich zu sehen. Ich lächelte ihr zu. Ihre Freundin Sandra, die einmal zur Geliebten eines Freundes werden würde, begleitete sie. Ich erreichte, dass sie mich einen Moment zu ihr ließen.

»Hallo Prinzessin, wie geht es dir?«

»Gut, und dir? Hoffentlich bringen sie dich zurück nach La Coruña, damit ich wieder wie vorher kommen kann.«

»Ich weiß nicht, ob sie mich nochmal hierher bringen; um mich fern von La Coruña zu wissen, sind die zu allem fähig...«

»Ich habe dir einen Haufen Briefe geschrieben, mit Fotos, hast du die bekommen?«

»Ja, sie haben mir sehr gefallen, danke, meine Kleine.«

Wir lächelten beide. Wir hielten diese Beziehung für etwas über das Vulgäre Erhabenes, sehr Erhabenes. An ihrer Seite löste sich jedes Problem in Freude auf; es war wie die verlorene Kindheit zurück zu bekommen, ohne Scham aufzutreten, noch einmal Kind zu sein. Sie war jung und voller Leben, voller Freude und Phantasie, ihre Gegenwart verwandelte mich, kein Zweifel.

Der Prozess verlief normal und ohne Zwischenfälle. Die Pantomime einer Gruppe Erwachsener, die göttliche Gerechtigkeit spielen. Ich blieb gleichgültig. Eine beträchtliche Blamage. Die Zwangsverteidigung ein Lacher. Einzig der Staatsanwalt zeigte ein gewisses Maß sprachlicher Gewandtheit, gierig auf ein hartes Urteil gegen uns, gierig auf die nächste Stufe seiner Ekel erregenden Karriereleiter.

Nach Ende der Sitzung brachte man uns zurück ins Gefängnis. Auf meinen Freund hatten sie ebenfalls Artikel 10 angewendet, weshalb wir in dieselbe Abteilung kamen. Wir begrüßten die Freunde, die uns von ihren Zellenfenstern aus riefen, als wir den Hof überquerten, um den Isolationstrakt zu betreten. Es herrschte eine freundschaftliche Stimmung zwischen uns.

Am nächsten Tag brachten sie mich erneut ins Gefängnis von Orense. Dort nahm ich die übliche Monotonie wieder auf, diesmal in Gesellschaft zweier Gefangener, die aus den anderen Trakten hierher verlegt worden waren, um ihre Disziplinarstrafen in Isolation abzuleisten. Ich war bemüht mich gut zu betragen angesichts des Versprechens der Direktion, mich Mitte Dezember aus den Artikel-10-Haftbedingungen herauszunehmen. Regelmäßig erreichten mich Briefe von Isabel, und ich verbrachte lange Stunden am Tisch und verfasste ausführliche Mitteilungen zur Antwort. Wir erzählten uns all unsere Geheimnisse, Sorgen und Wünsche. Ihre ständigen Briefe füllten die Leere, die in allen Isolationstrakten herrscht; sie taten mir sehr wohl. Immer holte sie sich von mir zu den Themen Rat, die in ihrem Leben wichtig waren. Sie war einfach bezaubernd. Auch schickte sie mir Briefe meines Freundes Chico, und half uns so, die Verwaltung auszutricksen, wo doch die Korrespondenz zwischen Gefangenen im geöffneten Umschlag abgegeben werden musste, denn sie wurde gelesen. So erfuhr ich, dass er in Kürze in die Anstalt von Teruel verlegt werden würde, die traurig berühmt war für die Messerstechereien und Morde, die regelmäßig zwischen den Gefangenen stattfanden. Ich wünschte ihm Glück. Die Direktion ihrerseits hielt Wort und hob Mitte Dezember die Artikel-10-Bedingungen für mich auf, mit der Folge meiner Verlegung nach La Coruña.

Gefängnis von La Coruña, Dezember 1987

In La Coruña erwartete mich eine kleine Überraschung von Seiten der Direktion. Obwohl ich aus Artikel 10 entlassen war, wurden für mich gesonderte Haftbedingungen angeordnet, als Vorsichtsmaßnahme. Das hieß, dass ich nur am Nachmittag zusammen mit den übrigen Häftlingen auf den Hof gehen würde. Die restliche Zeit würde ich in die Zelle eingeschlossen verbringen. Einmal mehr trat die Willkür der Machthaber im Gefängnis offen zu Tage. Die Strafvollstreckungskammer, die dafür zuständig war, die Einhaltung der Strafvollzugsordnung zu kontrollieren, blieb total passiv. Mir blieb nichts anderes übrig, als das so zu akzeptieren; es würde immer besser sein, als zurück unter Artikel 10 zu kommen. Ich erreichte jedoch, dass ich eine Zelle zusammen mit meinem Freund Miguel Expósito belegen könnte, der sich in derselben Lage wie ich befand.

Isabel nahm die Besuche wieder auf. Sie kam zu allen Terminen, und wir sprachen über die Zukunft. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag schenkte ich ihr eine goldene Kette, mit einem vierblättrigen Kleeblatt als Anhänger, das ihr Glück bringen sollte. Sie war zur wichtigsten Person in meinem Leben geworden. Manchmal wollte auch mein Vater mich sehen. Wir tolerierten uns, doch auf unserer Beziehung lastete stets die Vergangenheit. Er hatte es nicht verstanden, mir ein guter Vater zu sein, und auch nicht meiner Mutter ein guter Ehemann, und Letzteres konnte ich ihm nicht verzeihen. Damals war das einzig Wichtige für mich, dass die Zeit schnell verstrich, so schnell wie möglich. Zweieinhalb Jahre Knast waren trotz allem nicht viel. Die Angst vor AIDS quälte mich nicht allzu sehr, obwohl mir bewusst war, dass mein Leben in jedem der kommenden Jahre enden könnte. Es gab kein wirksames Medikament, man konnte nichts machen, weshalb ich es als Teil des Preises ansah, der um zu leben gezahlt werden muss. Für den Augenblick machte ich Pläne für die Zeit, wenn ich die Freiheit zurück bekommen würde; ich wollte Isa vorschlagen, zu mir in meine Mietwohnung im Viertel Labañou zu ziehen, wo ich mit meinem Vater gewohnt hatte, wenn er von der Gran Sol kam, einem Fischereischiff, auf dem er als Obermaat arbeitete. Ich hatte vor, umgeben von den Personen zu leben, die ich am meisten mochte: umgeben von meinen Freunden.


Eines Nachmittags, während ich mit Miguel spazieren ging, kam ein Gefangener auf uns zu, den wir unter dem Spitznamen Fito kannten, um mit mir zu reden und mir eine Nachricht zu überbringen: Mehrere Häftlinge von El Ferrol wollten mit mir sprechen und bestellten mich dazu in ihre Zelle. Ich traute dem nicht, denn vorher war ich mit einigen von ihnen aneinandergeraten und ich wusste, dass sie sauer auf mich waren. Jetzt waren sie zahlenmäßig überlegen, ich konnte nur auf meinen Freund Miguel zählen, doch ich scherte mich nicht darum. Ich ging in Begleitung meines Freundes hoch, ein Stilett in der Tasche, zur Vorsicht, und fand sie versammelt in ihrer Zelle vor.

»Fito sagt, ihr wolltet mich sehen?« fragte ich.

»Na ja«, sagte einer von ihnen. »El Vaca will mit dir reden.«

»Ja«, fing der Angesprochene an, »es geht darum, was du heute morgen über Amadeo gesagt hast.«

»Schau, Vaca, Amadeo ist seit zehn Jahren mit mir befreundet, weißt du? Deshalb, falls du irgendein Problem mit ihm hast, löse es jetzt mit mir und wir beenden die Angelegenheit.«

Daraufhin stand er auf und zog aus seinem Gürtel ein größeres Stilett als meins. Er forderte mich heraus:

»Wie willst du es, mit den Fäusten oder mit dem Messer?«

»Mit dem Messer«, antwortete ich ihm kalt, fühlte nach meinem, hielt es aber versteckt.

Wir liefen zum Speiseraum hinunter und gingen hinein. Nebenan gab es einen kleinen Raum. Dort gingen wir hinein. Er suchte einen seiner Kumpels aus, der ihm während des Kampfes den Rücken decken sollte, bei mir blieb Miguel. Die Übrigen gingen auf den Hof hinaus, um umher zu spazieren; sie würden aufpassen, dass die Schließer nicht in die Nähe kamen. Der Kampf begann. Wir sahen uns an, mit den Messern in der rechten Hand fuchtelnd an und fühlten ein bisschen vor, indem wir ziemlich sinnlos die Messer schwangen. Beide hatten wir Angst; es würde derjenige gewinnen, der das Messer besser beherrschte, oder ein Glückstreffer würde entscheiden.

Wir tauschten Messerstiche aus und die Messerklinge meines Widersachers drang in meinen Körper ein, zwischen Schulter und Brust, ein stechender Schmerz. Ich tat, als hätte ich nichts bemerkt; das Gegenteil würde ihn ermutigen. Sein Messer und sein Arm waren größer als meine, wodurch ich mich im Nachteil befand. Seine Augen aber verrieten mir, dass er um einiges erschrockener war als ich, und ich nutzte die Gelegenheit. Wir tauschten noch mehrere Messerstiche aus, wobei ich mit meiner Messerklinge seine Magenwand leicht berührte. Das zwang ihn, erschrocken zurück zu weichen, den Raum zu verlassen und auf einen Tisch im Speiseraum zu steigen. Angst hatte sich seiner bemächtigt. Ich forderte ihn auf herunterzukommen und weiter zu kämpfen, er wollte aber nicht. Wir vereinbarten alle zusammen, es damit gut sein zu lassen, ich erklärte mich einverstanden.

Jene Nacht säuberte mein Freund Miguel mir in der Zelle die Wunde. Sie war nicht sehr tief, blutete jedoch heftig; mein Hemd war voller Blut. Sie hatten meine Männlichkeit auf die Probe stellen wollen. Das kam im Gefängnis häufig vor, vor allem unter den Jüngsten. Warst du nicht in der Lage, dir allein Achtung zu verschaffen, würde niemand, absolut niemand dich respektieren. So war das Gefängnis. Vor dem Kampf zu kneifen wäre gleichbedeutend damit gewesen, zu akzeptieren, in aller Augen als Feigling dazustehen. Es wäre ein schwerer Schlag für meinen Stolz gewesen, was zuzulassen ich nicht bereit war. Die Schmach zu erleiden man hielte mich für feige zog ich vor, mein Leben in einer Messerstecherei aufs Spiel zu setzen. Die Jugend ist der schlimmste Feind des Jugendlichen, da war ich keine Ausnahme. Ich hatte die nötige Reife nicht, um das für eine Dummheit zu halten. An diesem Punkt meines Lebens waren Stolz und Arroganz am wichtigsten, gegründet auf den Wert: Männlichkeit zu zeigen und zu verteidigen, nur darauf kam es an. Alle Jugendlichen in diesem Knast träumten davon, hart zu sein, und das Gefängnis offenbarte uns andauernd die Chance dazu. Hier würden wir lernen, gute Banditen zu sein.

Unseren Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz bekam die Direktion schließlich Wind von unserer Keilerei. Man machte mich verantwortlich. Das war der erste Schritt zu meiner Einstufung unter Haftbedingungen ersten Grades[4] im geschlossenen Vollzug. Sie setzten mir unverschämt zu, ich hatte also keine Scheu, mit meinem schlechten Betragen genau dort weiterzumachen, wo ich aufgehört hatte.


Weihnachten zog sang- und klanglos vorüber. Wir feierten mit Apfelwein aus eigener Produktion. Meine Einstufung wurde beibehalten. Ich wusste, dass man die Gelegenheit nutzen würde, um mich loszuwerden, weshalb es mich nicht überraschte, als mich eines Februarmorgens ein paar Schließer weckten.

»Tarrío, packen Sie Ihre Sachen, Sie gehen auf die Reise.«

»Wohin?«

»Nach Zamora.«

Ich zog mich an, packte alle meine Sachen in mehrere Sporttaschen zusammen und verabschiedete mich von meinen Freunden. Anschließend ging ich ohne weiteres Vorspiel von mehreren Schließern eskortiert in Richtung des Eingangsgitters, wo mich mehrere Guardias Civiles erwarteten. Dort befanden sich andere Gefangene, zu Paaren aneinander gefesselt. Ich war der Letzte, der ankam. Sie nahmen mir wie auch den anderen Häftlingen die zum Vorgang gehörenden Fingerabdrücke ab und schoben uns in den grünen Gefangenentransporter, der am Gefängniseingang auf uns wartete. Als das Gepäck im Kofferraum verstaut war, setzten wir uns in Richtung auf das Gefängnis von León in Bewegung, wo wir die Nacht verbringen würden, um am nächsten Morgen weiterzufahren.

Die Transportbedingungen empfand ich als Zumutung für die Menschen, die sich dort zusammenpferchten. Wer für diese Transporte die Käfige entworfen hatte, musste eine hasserfüllte Seele besitzen. In metallenen Käfigen, einen Meter breit, einen halben Meter lang, jeder ausgestattet mit zwei an den Boden geschweißten Sitzen, wurden Verlegungen von Gefangenen über hunderte von Kilometern durchgeführt. Man zwang uns, die ganze Fahrt über sitzend und eingezwängt zu verbringen, der Kälte ausgesetzt und den verschiedenen Gerüchen, die sich mit dem Zigarettenrauch vermischten. Hygiene glänzte mit Abwesenheit, und die konstanten Brechanfälle vollendeten diese Stimmung menschlichen Elends. Das alles kam mir unangemessen vor, grausam; ich war empört. Dass kein ehrbarer Staatsbürger sich jemals darüber wundere, dass unter solch schändlichen Umständen chauffierte Personen morgen mit Gewalt antworten!

In León steckten sie uns nach sechs Stunden Reise in die Aufnahmezellen, in Vierergruppen. Obwohl man uns bei unserer Abfahrt im Gefängnis von La Coruña noch Brote ausgehändigt hatte, waren wir hungrig. Sie brachten uns heiße Linsensuppe, und meine Genossen und ich aßen mit großem Appetit mehrere Teller. Es musste Kraft gewonnen werden.

Um acht Uhr am nächsten Morgen waren wir wieder auf der Strecke. Ich würde in Zamora aussteigen; meine Mitreisenden würden bis zum Gefängnis von Carabanchel, Madrid, weiterfahren. Das war die übliche Route.

Gefängnis von Zamora, Februar 1988

Es befand sich an der Landstraße nach Almaraz, drei Kilometer außerhalb der Stadt. Dies also sollte der Ort sein, an dem ich meine Strafe im ersten Grad des geschlossenen Vollzugs verbüßte.

»José Tarrío González!«schrie einer der Guardias.

»Das bin ich«, antwortete ich und klopfte an die Käfigtür.

Sie öffneten die Tür, legten mir Handschellen an und zogen mich heraus. Ich genoss es, wieder frische Luft zu atmen und meine Beine mit Dehnungen wiederbeleben zu können. Ständig überwacht von einer Gruppe Guardias Civiles, einige von ihnen mit Sturmgewehren bewaffnet, suchte ich meine Sachen aus dem Kofferraum zusammen und ging mit ihnen ins Innere der Anstalt. Es war ein Gebäude aus verstärktem Beton und Stein, gestrichen mit einer sanften Cremefarbe, im alten Stil. Für hoch sicher geltend, schloss das Gefängnis in sich, in den Trakten eins und zwei, die Schwierigsten der unter 21 jährigen von ganz Spanien ein. Der Rest der dort inhaftierten Bevölkerung waren Gefangene im zweiten Grad, untergebracht in verschiedenen Trakten. Die Trakte eins und zwei waren einmal für die Gefangenen der Organisation GRAPO[5] —die jetzt vereinzelt einsaßen— ausgestattet und dann geräumt worden, um dort die Jugendlichen aus dem gerade geschlossenen Gefängnis in Teruel unterzubringen, mit der Absicht, den Auseinandersetzungen zwischen den Häftlingen mit härtester Repression ein Ende zu setzen.

Ich überquerte das große Gelände und beobachtete die strategische Anordnung der Wachtürme der Guardia Civil. Ich ging eine Treppe hinauf, immer noch mit meinen Taschen, bis zum Büro der Aufnahme. Mehrere elektrische Türen öffneten sich und ich ging hindurch. Ein Guardia Civil nahm mir die Handschellen ab und eine Gruppe Schließer brachte mich in Trakt eins. Ich musste mich ausziehen und mehrere Kniebeugen machen, damit sie sich davon überzeugen konnten, dass ich nichts im Hintern versteckt hielt. Es war mir zuwider wegen der Erniedrigung, doch ich gehorchte. Nach diesem Angriff auf meinen Stolz wiesen sie mir eine Zelle zu, tubo genannt wegen ihrer zylindrischen Form. Es gab minimalen Raum, um sich zu bewegen. Ich konnte keinen Schritt in ihr gehen. Ich sah einen metallenen Ofen, doch an der extremen Kälte, die ich fühlte, erkannte ich, dass er nicht funktionierte, oder dass man ihn, um ein paar Peseten zu sparen, nie in Betrieb setzte. Es würde nicht lange dauern, mich davon zu überzeugen, dass Letzteres stimmte. Ein Bett aus Eisen war mit Schweißnähten am Boden befestigt. Ein Waschbecken, ein Klo, ein kleiner Spiegel und zwei Fenster waren auch schon das ganze dort befindliche Mobiliar. Das war nicht viel. Sie hatten nicht einmal daran gedacht, einen Schrank für die Kleidung aufzustellen.

Sofort nahm ich Kontakt zu Chico auf. Ich wusste anhand der von Isa weitergeleiteten Nachrichten, dass er dort war. Seine Anwesenheit beruhigte mich; ich hatte nicht gerade Gutes gehört über die jugendlichen Banditen, die fortan meine Mitgefangenen sein würden. Ich war etwas erschrocken, doch bereit mich als der Oberste geltend zu machen und den Respekt der anderen zu gewinnen.

Ich hielt den Kontakt zu meinem Freund über Notizen, die ich über den für den Putzdienst Eingeteilten oder über mehrere Fenster schickte, mit Hilfe von Fäden, die wir von einem zum anderen wandern ließen, bis zum Ziel. Wir machten alle mit, denn so konnte man uns auch Nachrichten zukommen lassen, mit der Sicherheit, dass die anderen mithelfen würden. Chico teilte mir mit, dass er vielleicht an einem der nächsten Tage frei kommen würde, laut seinem Anwalt. Er versprach, mich zu besuchen.

Ich begann, auf einen kleinen Hof hinauszugehen, hinter dem Trakt gelegen, gegenüber der Frauenabteilung. Es gab ernsthafte Rivalitäten zwischen Gruppen von Gefangenen aus verschiedenen Gegenden. Das Zusammenleben von Gallegos, Andaluces, Catalanes, Valencianos und so weiter war sehr angespannt, früheren Rivalitäten aus Teruel geschuldet. Die Verwaltung hatte ausdrücklich angeordnet, dass wir beim geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit ohne irgendwelche Rücksichten reprimiert werden sollten. Das war das Klima, das ich vorfand, an meinen ersten Tagen in Zamora. Man wollte verhindern, dass das in Teruel Geschehene sich in Zamora verschärfte, doch machte die üblicherweise ungeschickte Verwaltung einen schweren Fehler. Viele Herzen waren mit dem Eiter des hartnäckigsten Hasses verseucht, wegen der Vorkommnisse in Teruel. Es hatte Todesfälle gegeben, Vergewaltigungen, Messerstechereien und Missbräuche aller Art, die niemand vergessen konnte. In den Jahren 85, 86 und 87 hatten die Häftlinge sortiert nach landsmannschaftlicher Herkunft gelebt. Madrileños, Catalanes, Gallegos... alle verteidigten ihr Terrain, zu regelrechten Clans zusammengeschlossen. Diese Tatsache machte die Gefangenen uneinig, und es fanden Auseinandersetzungen um die Kontrolle über den Gefängnishof statt. Die kumpelhaften Bande, die zunächst die Verteidigung der Gruppe garantieren sollten, verwandelten sich in Macht, und diese in Machtmissbrauch. Die eine Hälfte der inhaftierten Bevölkerung schützte sich vor der anderen, und eine musste von der anderen getrennt werden. Einzig das Gesetz des Messers wurde noch re-

spektiert. Die Neulinge sahen sich gezwungen, ihre Männlichkeit zu beweisen, und wer scheiterte wurde beraubt, angegriffen und marginalisiert. Andere mussten Dienste in oralem Sex an anderen Gefangenen leisten, um ihr Leben zu retten, oder wurden wiederholt von ihren Mitgefangenen penetriert. Die das größte Pech hatten, wurden erstochen. Und jetzt machte die Behörde denselben Fehler wie in Teruel: Alle wieder zusammen in dasselbe Gefängnis zu stecken. Das ließ alte Wunden aufbrechen. Statt uns jeden in unsere Heimatgegend zu schicken, um dort einzusitzen und so zu verhindern, dass der Hass und die familiäre Entwurzelung der Gefangenen sich verhärten, mit dem Ergebnis weiterer Brutalisierung, steckten sie uns wieder zusammen in jenes Gefängnis. Wie viele Menschen sind wegen der Ungeschicklichkeit der Verwaltung ums Leben gekommen!

So standen die Dinge. Die nicht zu leugnende Tatsache, Gallego zu sein, würde mir eine Reihe Feinde bescheren, die, ernsthaft zu Schaden gekommen durch andere galizische Gefangene, in mir ein willkommenes Opfer sehen würden, um ihren Rachedurst zu stillen.

Das alles, zusammen mit gewissen persönlichen Umständen, würde mich später veranlassen, einen Menschen aus Versehen umzubringen. Ich würde meine fehlende Erfahrung teuer bezahlen müssen.


Ich lernte ihn eines morgens kennen, als ich allein auf dem kleinen Hof des Isolationstrakts spazieren ging. Er lehnte sich aus einem Fenster, das zu den Duschen des Haupthofs führte, und rief mich:

»Eh, bist du Che aus La Coruña?«

Er hatte ein ernstes Gesicht und einen dunklen Teint, Bürstenhaarschnitt. Auf seiner Stirn konnte man ein tätowiertes vierblättriges Kleeblatt erkennen.

»Ja, der bin ich«, antwortete ich ihm und ging auf das Fenster zu.

»Ich bin Musta aus Vigo«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand hin.

Wir gaben uns einen festen Handschlag. Er sprach weiter:

»Pass bloß auf, hier ist alle Welt mit Messern bewaffnet und hat böse Absichten. Hast du ein Messer?«

»Ich habe keine Probleme mit niemandem.«

»Das ist hier egal. Du bist Gallego und das reicht. Jeden Tag kannst du eine Überraschung haben. Diese Überraschungen zählen wir hier nicht mehr, verstehst du?«

Ich verstand ihn bestens. Wir redeten noch eine Weile und verabschiedeten uns dann. Seine Worte machten mich nachdenklich und ich entschied, mir ein Messer anzufertigen, wegen dessen, was alles passieren könnte. Ohne es zu wissen, hatte ich gerade den Menschen kennengelernt, der zu meinem engsten Freund werden würde. Manchmal findet man im schlechtesten Augenblick das Beste.

Ein paar Tage später kam Chico frei. Mich ließen sie die Zelle wechseln und auf den Haupthof hinausgehen, zusammen mit den anderen Gefangenen, in kleinen Gruppen. Es war ein großer Hof, ausgestattet mit einer Tenniswand, Toiletten und einer Cafeteria. Die Fenster des oberen Teils des dreigeschossigen Trakts wiesen in Richtung Hof. Ich trug einem der Gefangenen aus jenen Zellen auf, ein Messer, was ich hergestellt hatte, für mich aufzuheben. Immer, wenn ich auf den Hof kam, fand er sich am Fenster ein, bereit, mir das Messer zuzuwerfen, falls es Probleme geben sollte.

Auf diese Weise schafften wir es, die Metalldetektoren auszutricksen, die wir beim Ausgang auf den Hof durchschreiten mussten. Es kam darauf an, bewaffnet zu sein. Eine Waffe zu besitzen, war wichtig: Es unterstrich in den Augen der anderen die Bereitschaft zu kämpfen. Es war ein regelrechter Kalten Krieg.

Ich führte die Beziehung zu meinem Landsmann Musta mit kleinen Nachrichten weiter. Manchmal trafen wir auf dem Hof aufeinander und redeten über persönliche Dinge, über politische Ideologie oder die Zukunft. Einmal erzählte er mir aus seinem Leben. Er hieß Gabriel Pombo da Silva und war, obwohl er sich als Galizier fühlte, in Deutschland geboren, wohin seine Eltern vor Jahren ausgewandert waren. Genau wie ich war er Kind von Emigranten. Auch ihn hatten sie ins RETO[6] in Madrid geschickt, doch Jahre vor meiner Zeit dort. Wir lachten über diese Zufälligkeiten. Sie hatten ihn mit siebzehn Jahren wegen mehrerer Bankraube verhaftet. Nun büßte er eine fünfjährige Haftstrafe ab und befand sich seit vier Jahren im Gefängnis. Er gefiel mir. Eine einzigartige Zuneigung, gestählt auf dem Amboss unseres Pakts des gegenseitigen Vertrauens, begann, uns in einem gemeinsamen Gefühl zu verbinden: Freundschaft. Als sie ihn in die Beobachtungszentrale in Madrid gebracht hatten, um seine Haftbedingungen zu überprüfen, vermisste ich ihn sehr.

Im Monat August bekam ich Probleme. Einige Gefangene, ich wusste nicht welche, schickten einen anderen, um mir auf den Zahn zu fühlen. Dieser andere, genötigt, vor den anderen seinen Mut zu beweisen, fuhr mich auf dem Hof an. Es roch nach Streit, wie immer, wenn so etwas vorkam. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen was Sache war. Ein Gefangener kam auf mich zu.

»Hör mal!«Er war aufgeregt und rief mich an. »Hast du eine Zigarette?«

Ich bot ihm ein Päckchen Ducados an und blickte in Richtung der Fenster meines Trakts. An den Fenstern waren Gefangene zu sehen, darunter einer meiner Freunde, bereit, mir das Messer zuzuwerfen, sobald ich es verlangen oder brauchen würde. Ich gab ihm kein Zeichen.

»Gib mir Feuer«, bat mich der Gefangene und gab mir das Päckchen zurück.

Ich bot ihm mein Feuerzeug an, was er in der Tasche verschwinden ließ, nachdem er sich die Zigarette angezündet hatte. Er provozierte mich offensichtlich, woraufhin meine rechte Faust in Richtung seines Gesichts flog. Es fand ein Kampf statt, wir verwickelten uns in den Austausch von Fausthieben, rangen am Boden miteinander. Es war nicht leicht, von ihm loszukommen, doch als ich es schaffte, stand ich schnell auf und setzte dem Kampf den Schlusspunkt, indem ich ihm einen Tritt auf den Kopf verpasste. Zugleich stürmte eine Gruppe Schließer bewaffnet mit Schlagstöcken auf den Hof, um uns zu trennen. Zuerst brachten sie meinen Widersacher weg, sie schlugen ihn wiederholt mit den Knüppeln. Danach ließen sie die übrigen Gefangenen auf ihre Zellen gehen und ließen mich allein übrig. Sie kamen auf mich zu. Es war eine ganze Horde und die Schlagstöcke in ihren Händen wirken nicht gerade als Glücksbringer für meine körperliche Unversehrtheit, um die ich inzwischen ernsthaft besorgt war. Einer von ihnen richtete sich an mich:

»He, Sie, kommen Sie her und nehmen Sie die Hände aus den Taschen. Ich will sie weit entfernt vom Körper sehen, los, los!«

Ich nahm die Hände aus den Taschen der Sporthose und streckte sie vom Körper weg. Anschließend ging ich auf sie zu. Sie umringten mich.

»Ziehen Sie sich aus«, wies mich einer von ihnen an.

Ich begann mich auszuziehen, Turnschuhe, Sporthose, und als ich mir das Hemd abstreifen wollte, fing es an, Hiebe von allen Seiten zu regnen. Ich fiel betäubt zu Boden, und eine Reihe Tritte traf auf meinen Körper. Als sie die Lust verloren und es ihnen auszureichen schien, ließen sie von mir ab.

»Nimm deine Sachen, wir gehen«, befahlen sie mir.

Ich erhob mich so gut ich konnte und versuchte aufrecht zu stehen. Ich raffte meine Sachen zusammen und ging vor ihnen her in Richtung Isolationstrakt. Mein Kopf brummte, ein langes Piepen, das mir das Denken unmöglich machte. Ohne Zweifel würde die Verwaltung jene Anwendung von Zwangsmitteln als unabdingbar für die Aufrechterhaltung der Ordnung rechtfertigen. Die Strafvollzugsordnung sah es so vor. Die Gesellschaft konnte stolz sein ob der rigorosen Anwendung ihrer Gesetze und ob dieses Spektakels von zehn Männern, die einen anderen zusammenschlagen, nackt und ohne Verteidigung. Sie musste stolz sein, denn dies alles fand in ihrem Namen statt.

Sie steckten mich in eine der tubos, schlossen das Gitter, das die Tür schützt, und danach die Tür und gingen. Alleingelassen blickte ich in den Spiegel. Meine Lippen waren aufgesprungen und eine Schuhsohle hatte auf einer meiner geröteten Wangen ihren Abdruck hinterlassen. Mein Rücken und die Beine waren voll von Schwellungen, die der Mangel an Thrombozyten in meinem Organismus anderntags in heftige Blutergüsse verwandeln sollte. Ich fühlte mich erniedrigt und ohnmächtig. Die Nacktheit meines Körpers rief in mir ein Gefühl der Schutzlosigkeit hervor, weshalb ich mich anzog. Ich schwor vor mir selbst, dies alles nie zu vergessen. Im Moment konnte ich nichts anderes machen.


Einen Monat nach jenem Vorfall kam mein Freund Musta nach Zamora. Sofort nahmen wir über Nachrichten Kontakt auf und erzählten uns, was an den vergangenen Tagen passiert war. Sie hatten

ihm die Lockerung der Haftbedingungen abgelehnt und ihn zurückgeschickt. Im Übrigen fraß uns die Gefängnisroutine täglich weiter auf. Es gab keinerlei Beschäftigung oder Zeitvertreib als die Tenniswand. Die Haftbedingungen stimmten uns brutal, wie es auch in Teruel gewesen war. Morgen würde die Kopie von heute sein, übermorgen die von morgen, und so weiter bis in die Ewigkeit. Sie ließen uns zwei Stunden täglich auf den Hof, damit wir Luft schnappten, und danach ließen sie uns den Rest des Tages allein in der Zelle. Man übte an uns die härteste Repression aus. Eines Nachmittags hämmerten mehrere Häftlinge, darunter mein Freund, plötzlich an ihre Zellentüren, aus Protest gegen etwas. Ich wusste nicht, worum es ging, denn ich war noch im tubo isoliert. Ein Gefangener rief mich von seinem Fenster aus:

»He, Che! Che!«

»Was ist?«

»Sie schlagen Musta zusammen.«

Mehr brauchte ich nicht zu wissen, um zu erraten, was los war. Ich fing an, die Fensterscheiben zu zerschlagen und forderte die anderen Gefangenen rufend dazu auf, es mir gleich zu tun. Doch niemand außer zwei Menschen machte bei dem Protest mit. Die Angst terrorisierte sie, wie auch mich. Die Aussicht auf eine Gruppe Schließer, die in die Zelle kommt, um dich zu verprügeln gefiel niemandem. Jene eingepflanzte Angst war zusammen mit dem Knüppel das Arbeitswerkzeug jener Totschläger. Sie kannten keine andere Art zu handeln. Besoffen von ihrer Gewalt ließen sie von meinem Freund ab und kamen zur Zelle hoch, die ich belegte. Sie öffneten die Tür.

»Was ist mit dir los, du schwule Ratte?« schrie einer von ihnen.

»Macht das Gitter auf«, befahl der Dienstleiter einem anderen

Schließer.

Eher aus Angst denn aus Mut wollte ich verhindern, dass sie in die Zelle hereinkamen. Ich schwang in jeder Hand eine Glasscherbe und drohte ihnen: »Wer durch diese Tür kommt, ist ein toter Mann.«

In Wirklichkeit hätte ich mich nicht getraut. Ich war zu sehr aufgeregt.

»Tarrío«, redete der Chef der Gruppe auf mich ein, »lassen Sie die Glasscherben fallen und machen sie alles nicht noch schlimmer, das lohnt sich nicht.«

»Hier kommt keiner rein«, antwortete ich ihm bestimmt.

Sie gingen. Als sie wieder kamen, waren sie ausgestattet mit Helmen, Schlagstöcken, Schilden, Spraydosen und Handschellen.

»Tarrío, werden Sie freiwillig herauskommen?« schrie einer durch die Tür.

»Nein.«

Sie begannen Gas unter der Tür hindurch zu sprühen. Ich versuchte dagegenzuwirken, indem ich mich über die Kloschüssel hängte und mir eine Decke über den Kopf warf, doch das brachte nichts. Das Gas brannte mir in der Lunge und im Gesicht. Meine Augen brannten und tränten heftig. Ich hatte keine Erfahrung mit solcherlei Auseinandersetzung. Ich wusste nicht, dass die wirksamste Methode einem Gasangriff zu begegnen ist, sich flach auf den Boden zu legen und den Mund mit einem nassen Handtuch abzudecken. Es wurde mir unerträglich und nach fünf Minuten gab ich auf:

»Ist gut, ist gut... ich gebe auf!«

»Zieh dich aus und schieb’ die Scherben unter der Tür durch. Danach komm mit den Händen über dem Kopf heraus. Verstanden?«

»Ja, aber macht die Tür auf, ich ersticke...«

Ich schob die Scherben unter der Tür durch und fing an, mich auszuziehen. Durch das Guckloch beobachtete mich ein Auge. Als ich nackt dastand, ging die Tür auf. Eine große Anzahl Schließer wartete auf mich auf dem Gang. Sie öffneten das Türgitter und entfernten sich vom Zelleneingang.

»Los, komm raus...«

Ich ging hinaus, wie sie es mir gesagt hatten. Gleich nach dem Durchschreiten der Tür versetzte mir ein Schließer, der sich hinter dem Türrahmen versteckt gehalten hatte, einen Knüppelhieb von hinten auf den Kopf. Das war das Zeichen, und seine Kollegen machten alle mit bei dem Fest. Sie schlugen während etwa einer Minute auf mich ein. Schließlich steckten sie mich in eine leere Zelle. Ich lag mit den Händen auf dem Rücken auf dem Fußboden. Es war eine unbequeme Position. Dann gingen sie. Obwohl ich immer noch benommen von den Schlägen war, konnte ich hören, wie die Gefangenen, die den Mut gehabt hatten, es mir gleich zu tun, den Besuch der Schließer erhielten. Schreie, Angst... und eine schmerzhafte Stille, die Abscheu und Ohnmacht herausschrie, überschwemmte den Trakt.

Es kam die Nacht und die Kälte des Oktoberanfangs begleitete sie. Die Arme begannen einzuschlafen, bewegungsunfähig und ohne Blutkreislauf wegen des Drucks der Handschellen auf die Gelenke. Ihnen folgten die Füße mit einem doppelt unerträglichen Schmerz. Die Kälte strafte meinen nackten Körper und bereitete mir stechende Schmerzen in den Extremitäten. Die Unmöglichkeit, die Lage zu wechseln machte mir deutlich, mit welcher Sachkenntnis die Schließer ihre Arbeit getan hatten. Ich konnte nicht an mich halten und brach in Tränen aus. Es war die längste Nacht meines Lebens.

Niemals bescherte mir irgendeine der Nächte, die mich im Gefängnis erwarteten, einen derartigen körperlichen Zusammenbruch. Es war wirklich hart. Etwas Unvergessliches, was schreiend den Aufstieg des hasserfüllten Tyrannen in meinem Herzen verlangte. Hiernach bestand für mich kein Zweifel mehr: Es war die Rache einer Gesellschaft, die kleinmütig diese Mittelsleute mit ihrer eigenen effektiven Vollendung betraute.

Ich wachte auf dem Fußboden zusammengekrümmt auf und machte den stoischen Versuch, mich vor meinen Henkern nicht zu entwürdigen, indem ich etwa schreiend um die Beendigung der Bestrafung gebeten hätte. Am nächsten Morgen besuchte mich der Arzt.

»Die Fesseln müssen ihm abgenommen werden. Gebt ihm Kleidung und ein warmes Frühstück«, ordnete er an.

Man merkte, dass er an solche Ereignisse gewöhnt war, und dass er den Wiederherstellungsprozess, den er anzuordnen hatte, genau kannte. Ich hasste diesen Bastard von ganzem Herzen. Ich hasste die Gesellschaft. Hasste den Menschen insgesamt. Hasste, weil ich gelernt hatte, zu hassen.

Als sie mich losließen, brauchte ich eine Weile, um die Bewegungsfähigkeit meiner Glieder zurückzugewinnen. Sie waren steif. Sie ließen mich in meiner Zelle ankleiden und brachten mir Milch und Butterbrot zum Frühstück. Ich aß langsam, um Zeit zu gewinnen. Als ich fertig war, legten sie mir wieder Handschellen an, doch jetzt mit den Händen nach vorne und an einen Eisenstab des Türgitters, was mir erlaubte, am Boden ohne Schmerzen zu sitzen. Sie gingen. Ich erhielt angenehmen Besuch. Der für den Putzdienst Eingeteilte klopfte zweimal an die Tür und schob unter ihr ein paar Zigaretten und eine Nachricht meines Freundes Musta hindurch.

»Zünde mir eine an«, bat ich ihn.

Er zündete eine Zigarette an und schob sie mir herüber. Dann tat er so, als wischte er den Fußboden und ging. Ich dankte ihm für seine Geste. Ich rauchte die Zigaretten, eine nach der anderen, während ich die Nachricht las. Er schickte mir Grüße und wünschte mir Kraft. Dieser Vorfall würde uns ein für alle mal einen. Ein paar Tage später brachten sie ihn ins Gefängnis von Daroca; ich würde nach La Coruña zurückkehren, um an einem Prozess gegen mich teilzunehmen.

Gefängnis von La Coruña, November 1988

Auf der Fahrt im Transporter nach La Coruña begleitete mich die Hoffnung, Isa nach längerer Zeit einmal wiederzusehen. Es kam mir komisch vor, dass ich zuletzt keine Nachrichten von ihr erhalten hatte, ich war besorgt deswegen. Daran dachte ich, während ich durch das kleine vergitterte Fenster des Käfigs, in dem ich steckte, die schöne Landschaft Galiziens anblickte, wo ich geboren war. Der Kontrast der Dürre der kastilischen Ebenen mit dem Grün jener Berge war enorm.

In der Anstalt angekommen, schickten sie mich in die Isolation. Dort traf ich auf Lolín und Chafi, beides Freunde von mir. Sie standen unter Artikel 10. Vor Kurzem waren sie zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden wegen einer Geiselnahme in Verbindung mit bewaffnetem Raubüberfall auf eine Wohnung. Wir redeten über die Fenster darüber, als zu meiner Überraschung die Tür aufging und ich zum Empfang von Besuch abgeholt wurde. In einer der Besuchskabinen fand sich mein Vater vor.

»Na Alter, wie geht’s?«

»Gut, José. Ich habe erfahren, dass sie dich heute herbringen und angerufen, um dich sehen zu dürfen. Draußen sind Viqueira und Chico.

»Warum sind sie nicht mit hereingekommen?«

»Sieh mal, mein Sohn, ich muss dir eine schlechte Nachricht bringen und wir glaubten, es sei besser, wenn ich das allein tue«, erklärte er mir und blickte zu Boden; dann schaute er auf und mich ansehend sagte er es mir: »Isabel ist tot...«

Ich reagierte leblos, unfähig, diese Neuigkeit aufzunehmen. Mit dem Blick fest auf dem Fußboden, fragte ich fassungslos:

»Wie?«

»Ein Motorradunfall. Ein Auto erfasste sie, hatte die rote Ampel nicht beachtet... sie war schwanger. Aber José! Du wirst keine Dummheit tun!«

Ich hörte ihn schon nicht mehr. Ich drehte mich um und ging hinaus ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ich musste alleine sein um denken zu können. Wie so großen Schmerz ausdrücken? Wie würde irgendjemand so viel Liebe verstehen können? Ich flüchtete mich in mich selbst, allein in der Zelle. Dort weinte ich bitterlich um den Tod meiner Freundin, ihr mit dem Abschied von ihrer physischen Existenz die Letzte Ehre erweisend. Versunken in meinen Schmerz, ließ ich meine konfusen Gedanken umherstreifen, im vergeblichen Versuch, sie aus der Welt der Toten zurück zu holen:

Ich bin aufgewacht heute morgen, meine Liebe, und du warst nicht da;

ich suchte dich verzweifelt und verloren, und fand dich doch nicht.

Ich rief dich, doch erhielt keine Antwort, und weinte um dein Fehlen, kaputt.

Wer schleudert wie ich seine zerrissenen Schreie gegen den Zement im kalten Morgengrauen?

Ich hörte ein Schreien das mir von der Nässe eines zu Handschellen gemachten Grabsteins erzählte.

Ich weiß, Genossin, von diesem Mörderhass, von dieser Totschlägerwut, die man fühlt, wenn man weiß

dass sie uns ein gestriges Morgen erleben lassen, uns der Gegenwart beraubend.

Nun gehe in Richtung auf keinen Ort, der nicht der Tod wäre, Studierender der roten Ehre an den Universitäten des Blutes, warte ich auf meine Stunde, um mich mit dir zu vereinen beim letzten Angriff, vereint in der Tragikomödie des Lebens und des Nichts...

für immer.

Diese Nacht schlief ich nicht. Ein enormes Gefühl der Leere überflutete meine Zelle; eine Leere, größer als jemals. Ich musste dort auf irgendeine Weise herauskommen. Ich musste fliehen, ich brauchte es.

Am nächsten Morgen waren die wachhabenden Schließer so nett, mir den Flur der Isolationsetage geöffnet zu lassen, damit ich die Zelle putzen und ein bisschen mit meinen Mitgefangenen plaudern konnte. Wir redeten durch eine Gittertür hindurch.

Ich erhielt die besten Wünsche und das Beileid aller; sie wussten um die Bedeutung, die jenes Mädchen in meinem Leben gehabt hatte. Danach ging ich zu Lolín und Chafi. Ich erklärte ihnen meinen Wunsch auszubrechen und bat sie, mit mir zu kommen, doch sie wollten nicht mitmachen. Lolín übergab mir aber eine

neue Säge, wofür ich ihm sehr dankte. Ich redete mit niemandem sonst darüber und begann mit den Vorbereitungen. Wenn sie nicht mit mir kommen wollten, würde ich alleine abhauen.

Das Fenster der Zelle, die ich belegte, zeigte auf das Gelände, auf die Frontseite, wo der Eingang lag. Ein paar Meter entfernt befand sich das Dienstgebäude der Guardia Civil, von wo aus die Ablösungen in die Wachtürme gingen. Doch das würde kein Problem sein. Das wirkliche Problem stellten die zwei Türme dar, die diesen Bereich des Geländes überwachten, an den Ecken, einer auf jeder Seite. Ich würde es riskieren müssen und auf den Faktor Glück hoffen.


Sie brachten mich zusammen mit anderen Gefangenen zum Prozess. Es ging um den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs ohne Einverständnis dessen Besitzers. Alles lief ohne Zwischenfälle ab. Mir wurde eine Geldstrafe auferlegt, doch das war mir egal, was ich den Richter auch so wissen ließ. Seine Gesetze waren nicht meine. Am 26. November war ich mit dem Durchsägen des Gitterstabs am Fenster fertig. Ich hatte aus einem in Streifen gerissenen Bettlaken ein Seil geflochten. Gegenüber der Zelle stand eine Laterne von der Mauer ab. Die Idee war, das Seil über die Laterne zu werfen und an ihm hoch auf die Mauer zu klettern. Draußen würden Chico und Viqueira in einem Auto warten. Ich hatte ein Stück Spiegel, um die Guardias ungesehen zu beobachten.

Diese Nacht um vier Uhr dreißig ging ich von der Theorie zur Praxis über. Ich zog mir eine dunkle Sporthose an und bereitete mich darauf vor, die Zelle zu verlassen. Ich wickelte mir das Seil um die Taille. Dann kletterte ich auf die Fensterbank und riss den Gitterstab ab. Ich blickte mit Hilfe des Spiegels auf beide Seiten des Geländes: Ich war allein. Ich schlängelte mich durch das Loch im Fenstergitter und machte einen flinken Satz auf das Gelände herab, ohne Laut. Ich überquerte das Gelände und stellte mich ganz eng an der Mauer unter die Laterne. Mein Herz pochte beschleunigt, sie hatten mich nicht bemerkt. Ich wickelte mir das Seil vom Körper und machte mich bereit zum Wurf, als einer der Guardias Civiles mich sah.

»Beweg’ dich bloß nicht, Junge«, schrie er mir zu, seine Waffe entsichernd. Er gab seinen Kollegen über ein Funkgerät Bescheid, und diese kamen wild durcheinander aus ihrem Dienstgebäude gelaufen, in meine Richtung.

»Wirf dich auf den Boden!«befahl mir der Guardia auf dem Wachturm.

Ich warf mich hin. Man diskutiert nicht mit jemandem, der einem mit einem Sturmgewehr auf die Brust zielt. Mehrere Guardias umstellten mich, legten mir Handschellen an und brachten mich in ihr Gebäude. Dort verhörten sie mich. Ich hatte nichts zu sagen, als mein Pech zu verdammen. Ich hatte gespielt und verloren, das war alles.

Im Morgengrauen brachten sie mich ins Gefängnis zurück. Am Gitter erwartete mich eine Gruppe Schließer, angeführt vom Dienstleiter. Sie nahmen mir die Handschellen ab, führten mich in einen angrenzenden Raum und befahlen mir mich auszuziehen.

»Du wirst dein blaues Wunder erleben«, warnte mich der Dienstleiter, »Du wolltest uns wohl in die Suppe spucken?« fügte er noch hinzu, mich mit seinem Knüppel stoßend.

Die anderen mischten sich nicht ein. Ich erhielt eine Reihe weiterer Schläge, doch unternahm nichts zu meiner Verteidigung; das Gegenteil hätte die Schläge der übrigen Schließer herausgefordert. Als nächstes brachten sie mich in die Isolation, wo sie mich in eine Zelle steckten und mir beide Hände ans Bett fesselten. Sie ließen mich bis zum nächsten Tag so liegen. Dann kamen sie, um mich in die zweite Etage zu bringen. Dort befand sich Corrección, die Isolationsabteilung für Erwachsene. Sie stießen mich in einen Kerker ohne Fenster, dunkel, feucht und stinkend. Sie nahmen mir die Handschellen ab und ließen mich allein. Durch das kleine Gitterfenster in der Tür drang etwas Licht herein, das von den Leuchtstoffröhren im Gang herkam. Außer einer dreckigen Matratze, einem Eimer mit Essensresten, dem Waschbecken und dem Klo gab es in der Zelle nichts. Jene Kerker waren Erbstücke des Franquismus und von der inhaftierten Bevölkerung sehr gefürchtet. Ich begann, auf und ab zu gehen. Aufs Neue führten sie das vollständige Brechen meines Willens im Schilde, ohne Kompromiss, mittels Schmerzen und Psychologie. Oder wollten sie sich einfach an mir wegen meiner libertären Aktion rächen? Sie unterdrückten jeden menschlichen Kontakt und jeden Zeitvertreib mit dem Ziel, mich zum Nachdenken zu veranlassen. Die Einsamkeit sollte den Rest erledigen. Man stellte mich vor eine unbequeme Situation, in der ich alles anderen vorenthalten, sozial abgeschnitten von jeder Achtung und jedem Recht, mich meinen Gedanken stellen müssen würde und den Verlusten, die ich zu verschmerzen hatte.

Die Isolation war für die Beziehung zu anderen freien oder gefangenen Personen mit dem Tod des betroffenen Menschen gleichbedeutend. Der Isolierte musste sich seine eigene Welt schaffen, um die Einsamkeit zu überleben. Die einzige Begleitung, die kalten Wände und seine eigene Vorstellungskraft. So bestrafte die Verwaltung, dienlicher Henker der Gesellschaft, die einwilligend schwieg. So schuf man sich die Kriminellen von morgen. Ich sah es inzwischen kommen: Wenn die Sitzungen in Isolation es nicht schafften, den Willen des rebellischen Menschen zu brechen, wenn dieser sich nicht unterwarf, dann konnte sich diese Strafe bis auf ewig verlängern. Viele Menschen waren auf diese Weise in den Selbstmord getrieben worden; im Tod fanden sie den einzigen Ausgang aus der Folter im Gefängnis. Was mich anging, ich würde ihnen diesen Gefallen nicht tun.

Gefängnis von Zamora, Dezember 1988

Zwei Wochen später wurde ich erneut ins Gefängnis von Zamora verlegt. Ich traf bei meiner Ankunft auf Chafi und Lolín. Auch lernte ich Anxo kennen, einen jungen Mann aus Vigo, der wegen eines Bankraubs einsaß und der noch ein enger Freund von mir werden sollte. Die Tage wiederholten sich monoton. Es kamen die Weihnachtstage, und ein neues Jahr forderte unser Leben heraus. Keine Freude, kein ehrliches Lachen, nichts. Im Gefängnis ist kein Platz für Liebe, kein Platz für Frieden.

Im Januar holte man mich aus dem tubo heraus und wies mich in Trakt eins ein. Anxo brachten sie nach Trakt zwei. Wir erhielten aus Gewohnheit unsere Korrespondenz über Nachrichten aufrecht, die wir um Batterien wickelten, mit Faden oder geschmolzenem Plastik festgemacht, und die wir dann von einem Hof in den anderen über die Mauer warfen.

Ohne Beschäftigung, ohne Werkstätten oder Sporträume widmeten wir uns Spaziergängen oder spielten an der Tenniswand mit Bällen, die wir selbst aus Wolle und Brotkrumen herstellen mussten. Wir spielten um Tassen Kaffee als Einsatz, in Einzel- oder Doppel-Wettkämpfen. So ging das jeden Tag. Das Schlimmste war die andauernde Eintönigkeit. Doch diese sollte bald aufgebrochen werden.

Der Trakt hatte sich in zwei Fraktionen aufgespalten. Ein Roma aus Alicante namens Mariano Torres, der typische Knastmacker, hatte neue Streitereien im Trakt angefacht. Ich hatte vorher schon Probleme mit ihm gehabt. Ich hegte eine tiefe Abneigung gegen ihn: er hatte nämlich vor Jahren einen Freund von mir von hinten niedergestochen, mit Hilfe anderer Gefangener. Dieses Mal verwickelte er sich beim Hofgang in eine Diskussion mit Lolín, angefeuert von einer Gruppe Gefangener, die ihn unterstützte, und forderte ihn für den nächsten Tag zum Zweikampf heraus. Mein Freund schickte mir eine Nachricht, in der er um ein Messer bat und mir erklärte, was passiert war. Er wollte sich ihm stellen. Er würde keine Chance haben, weshalb ich ablehnte. Ich sagte den anderen Bescheid, damit sie ebenfalls ablehnen würden: Ohne Messer würde er nicht kämpfen können.

Meine persönliche Entscheidung war es, jenes Subjekt von dort zu entfernen, damit für die Zukunft jedes weitere Problem ausgeschlossen sein würde. Ich wollte ihm nebenbei einen Denkzettel verpassen, aus Rache. Weder ich noch meine Freunde hatten die Messerstiche auf unseren Freund in Teruel vergessen. Ich verschaffte mir ein Stilett. Ich schickte es über die Cafeteria in den Hof und gab Anleitungen, damit es in den Toiletten versteckt würde. Aus Vorsicht teilte ich niemandem meine Absichten mit.

Am Nachmittag des 12. Februar 1989 war ich in derselben Gruppe wie mein Widersacher mit dem Hofgang an der Reihe. Ich passierte den Metalldetektor ohne Probleme und ging in den Hof hinunter. Selbstsicher ging Mariano in Begleitung eines anderen Roma von einer Seite auf die andere. Ich ging in die Toiletten, holte das Stilett aus seinem Versteck und steckte es offen in die Jackentasche. Danach ging ich in die Cafeteria und bestellte drei Tassen Kaffee durch das Fenster der Bedienung. Anschließend rief ich ihn:

»Was willst du?« reagierte er.

»Ich bestelle Kaffee. Ich lade euch ein, ich will ein bisschen über die Sache mit Lolín reden.«

»OK.«

Ich ging den Hof mit auf und ab, während die anderen ihre Zuckerstücke unter den Kaffee rührten. Ich war mir sicher. Bei der geringsten Unaufmerksamkeit des Schließers im Wachhäuschen würde ich ihm einen Messerstich in den Unterleib verpassen, dort, wo es wirklich weh tut. Das würde die Schließer davon überzeugen, dass er hier Probleme haben würde und sie würden ihn in einen anderen Trakt bringen.

Sie gingen mit mir zusammen über den Hof. Wir drei gingen mit heißem Kaffee in der einen und Zigaretten in der anderen Hand spazieren.

»Mariano«, sagte ich, »es kann nicht so weitergehen, wir müssen die Vergangenheit begraben«, log ich ihn an.

»Solange ihr euch nicht in meine Angelegenheiten einmischt, ist alles in Ordnung, Che. Du musst nicht den Kopf für jemanden hinhalten, der es nicht versteht, sich alleine zu verteidigen. Wir sind hier im Gefängnis und so läuft das nicht, verstehst du?«

»Schau mal«, antwortete ich ihm und wechselte auf seine rechte Seite, »du weißt genau, dass du, wenn du etwas gegen meine Freunde machst, mich zwingst, mich in die Angelegenheit einzumischen. Natürlich bin ich moralisch gezwungen zu verhindern, dass ihnen Schaden zugefügt wird.«

»Das ist dein Problem, nicht meins...«

Während er antwortete, beobachtete ich, dass der Schließer begonnen hatte, Zeitung zu lesen. Bei der Kehrtwende in Richtung auf die andere Hofseite steckte ich die Hand in die rechte Tasche und erfasste den Griff des Stiletts. Ich sah ihm in die Augen und tat so, als ob ich aufmerksam darauf hörte, was er sagte, obwohl ich schon nur noch hörte, wie mein Herz in der Brust heftig pochte. Auf Höhe der Tür zum Friseur verpasste ich ihm einen Stich in die Magengegend und stieß ihn auf die Tür zu, wo er zusammengekrümmt hinfiel und sich mit den Händen den Magen hielt. Ich richtete mich an seinen Begleiter:

»Und was ist mit dir?« drohte ich ihm.

»Nichts, Che... bleib bitte ruhig.«

Andere Gefangene kamen herbei. Ich vereinbarte mit ihnen, dass niemand etwas über das Vorgefallene sagen würde, weder zu Gefangenen noch zu Schließern. Wir vereinbarten einen Verschwiegenheitspakt. Ich wickelte das Stilett in Plastik und warf es auf den Hof von Trakt zwei, wo sie es verschwinden lassen würden. Alles war gutgegangen, nur eins nicht: Der Messerstich war zu hoch gewesen. Die Klinge war anstatt geradezu in die Därme einzudringen nach oben abgerutscht und hatte die Hauptschlagader im Unterleib getroffen: Ich hatte ihn umgebracht.

Nach der Hofgangsstunde brachten sie uns zu den Zellen hoch. Sie bemerkten, dass ein Gefangener fehlte und gingen hinunter, um ihn zu suchen. Sie fanden ihn tot, wie ich vermutet hatte. Die Ironie des Schicksals hatte gewollt, dass das Messer, was sein Leben beendet hatte, dem Mann gehört hatte, den er Jahre zuvor feige von hinten niederstach; er starb als Opfer seines eigenen Gesetzes. Er hatte in demselben Moment die Möglichkeit akzeptiert umzukommen, in dem er sich sein eigenes Gesetz anmaßte und einen anderen Menschen tötete. Alle, die eine Waffe tragen, innerhalb oder außerhalb des Gesetzes, setzen sich der Gefahr aus, getötet zu werden, sobald sie das Recht zu töten für sich akzeptieren. Das war das ungeschriebene Gesetz, nach dem sich die Welt seit Anbeginn gerichtet hatte.

Wir wurden auf richterlichen Erlass isoliert. Die den Verschwiegenheitspakt mit mir eingegangen waren, hielten ihr Wort, den wiederholten Drohungen der Verwaltung zum Trotz. Doch das brachte nichts. So wie die Dinge standen, brannte das Stilett, das ich auf den Hof von Trakt zwei geworfen hatte, den Gefangenen in den Händen. Obwohl ich gebeten hatte, es zu verstecken, überließen sie das einem vollständig Unbekannten, was unverantwortlich war. Sobald er merkte, was er da in seiner Zelle versteckt hatte, übergab dieser Gefangene es den Schließern. Ich bekam das mit, als einer der Dienstleiter mit dem Messer in der Hand zu mir kam. Er zeigte es mir.

»Jetzt haben wir euch, Tarrío. Das ist doch deins, oder? Ihr werdet alle dafür büßen.«

»Ich weiß nicht, wovon sie reden, mein Herr...«

»Das Messer hat mir gerade einer deiner Mithäftlinge aus Trakt zwei gegeben und es klebt noch Blut daran. Jetzt bist du geliefert...«

Als er gegangen war, dachte ich über alles nach. Natürlich hätten sie in Kürze die Spuren an dem Stilett gesichert; was das Blut anging, so würde kein Zweifel bestehen. Es überraschte mich, das Messer in der Hand des Schließers zu sehen, immer noch in Plastik eingewickelt. Ich verfluchte meine Mitgefangenen wegen ihrer Inkompetenz und fragte mich, wer es gewesen war. Doch es war zu spät: der Vogel war verschwunden, verlegt an einen anderen Ort, den wir nicht kannten. Egal, wir würden uns vor Gericht sehen. An den folgenden Tagen wurden wir ständig auf das Polizeirevier und ins Gericht gefahren um verhört zu werden. Überwältigt von den Indizien gestand ich schließlich meine Verantwortung für jenen Tod und nahm meine Mitgefangenen von jeder Mittäterschaft aus. Das war das korrekte Verhalten.

Normalität kehrte in die Anstalt zurück. Ich wurde erneut in den tubo geschickt. Ein Jahr vor meiner Freilassung würde ich mich nun wegen Mordes verantworten müssen. Ich zahlte einen hohen Preis für meinen Exzess, doch tat mir der Tod jenes Mannes nicht leid; nicht einmal fühlte ich mich unglücklich angesichts dessen, was mich nun überrollen würde. Sie ließen mich meine Mutter über Telefon sprechen. Sie befand sich in der Schweiz, zusammen mit meinen Geschwistern; vor Jahren waren sie dorthin ausgewandert. Ich erzählte ihr, dass ich einen Menschen getötet hatte. Es war ein schwerer Schlag für sie, jene Worte aus dem Mund ihres Sohnes zu hören. An diesem Tag tötete ich auch in ihrem Inneren etwas. Trotz allem war sie die einzige Person, die mir echte und bedingungslose Liebe anbieten würde, immer.

Unterdessen kam eine Gruppe Gefangener aus Carabanchel nach Zamora. Dort hatten sie mehrere Aufstände angeführt. Zamora hatte zu jener Zeit einen ziemlich schlechten Ruf in den übrigen spanischen Anstalten, es war zum Synonym für Folter geworden. Die Prügel und die Amtsmissbräuche verhärteten sich, während die Generaldirektion des Strafvollzugs die Augen vor der Realität weiterhin geschlossen hielt.

Eines Morgens, ich war gerade vom Hofgang zurückgekommen, konnte ich durch ein Fenster sehen, wie eine Gruppe Gefangener dabei war, von Trakt zwei aus auf das Dach zu steigen. Es war ein Aufstand. An der Spitze Chafi, Graña und El Bolas aus Madrid. Ich befand mich auf dem oberen Geschoss, im tubo. Sie kamen bis zu meinem Zellenfenster und sprachen mich vom Dach aus an.

»Qué pasa, Che? Wie du siehst, wir haben die Schnauze voll von diesen Schweinen und sind hier rauf, um Forderungen zu stellen«, sagte Chafi.

»Ihr seid toll, doch passt auf wenn die Spezialkräfte kommen, mit Gummigeschossen und Rauchgranaten. Seht zu, was ihr machen könnt, um uns hier rauszuholen... Schöne Scheiße, die ihr da macht!«

»Einverstanden.«

Sie warfen uns Betttuchstreifen an die Fenster, an die wir mehrere Messer banden, damit sie sich verteidigen könnten. In der Zwischenzeit versuchten sie, durch das Dach zu brechen, um uns herauszuholen, doch das war zu schwierig. Sie würden allein aushalten müssen.

Nur zwei Stunden später fanden sich die Spezialkräfte auf dem Gelände ein. Die Genossen, die sich auf dem Dach befanden, bauten Barrikaden aus aufgeschichteten Dachziegeln, die auch als Munition dienen sollten. Beide Seiten versuchten, einen Dialog zu führen, doch man kam zu keinem endgültigen Ergebnis.

»Lassen Sie von Ihrem Handeln ab, sonst sehen wir uns gezwungen einzuschreiten«, schrie der Kommandant der Gruppe von mindestens sechzig Polizisten.

»Fick dich ins Knie, du Arsch«, antwortete einer der Gefangenen.

Die Feindseligkeiten steigerten sich weiter, und wir waren ohnmächtige Zeugen der Schlacht, die sich vor unseren Augen abspielte. Einige von uns unterstützten die Aktion und schlugen die Zellen kaputt, mehr konnten wir nicht tun. Die Stimmung war geladen mit Schreien und dem Knallen der Gewehre, die den Regen aus Schindeln, der vom Dach herkam, mit Gummigeschossen beantworteten. Fünf Minuten lang Krach; danach eine große Stille. Eines der Gummigeschosse hatte meinen Freund Chafi im Gesicht getroffen und hatte ihm ein Auge vollständig zu Brei zerdrückt. El Bolas rettete ihm das Leben, er hielt ihn im letzten Moment fest, fast wäre er hinunter gefallen. Dieser Vorfall setzte dem Kampf und dem Aufstand den Schlusspunkt. Die Gefangenen gaben auf, damit Chafi baldmöglichst ins Krankenhaus gebracht werden konnte, in die Notaufnahme.

Nach der Revolte kam die Depression. Zelle für Zelle beschlagnahmten Schließer und Spezialkräfte unsere Habe, einschließlich unserer Kleidung, sie ließen uns nackt in den Zellen zurück. Mehrere Genossen wurden zusammengeschlagen. Als Reaktion vereinbarten wir, in Hungerstreik zu treten. Wir verweigerten in beiden Trakten die Nahrungsaufnahme. Gegen unsere Maßnahme erging eine Reihe von Drohungen seitens der Direktion, deren einziges Ziel es war, unter uns eine Spaltung herbeizuführen, mittels Terror. Doch sie konnten niemanden mehr erschrecken, und obwohl eine große Anzahl Gefangener den Streik abbrach, machte die Mehrheit bis zum Ende mit.

Am nächsten Tag mietete die Gruppe »Mütter gegen Drogen«aus Madrid mehrere Autobusse für die Fahrt nach Zamora. Mission: Was mit uns dort geschah, publik zu machen. Mit Megaphon ausgestattet stellten sie sich vor den Trakt und begannen, die Schließer zu beschimpfen:

»Lasst die Kinder in Ruhe, Amtsmissbraucher, Kanaillen...«, schrie die Sprecherin.

Als wir sie hörten, stellten wir uns an die Fenster, zogen uns an den Gittern hoch und zeigten ihnen unsere Nacktheit als beste Beschreibung unserer Situation. Die erschrockene Direktion schickte ihre Totschläger, um uns mit Gewalt von den Fenstern herunterzuholen, doch es war zu spät. Die Mütter machten mit ihrem öffentlichen Protest mutig und verwegen weiter, die Schließer mit der ein oder anderen verdienten Beschimpfung beleidigend. Die meisten hatten ihre Kinder hier oder in anderen Anstalten. Viele von ihnen hatten sie verloren, wegen Drogen oder wegen AIDS. Ihre enorme Liebe brachte diese tapferen Mütter bis auf jenen Hügel, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegen die Ungerechtigkeit im Strafvollzug zu kämpfen, die von den berufsmäßig mit dem dreckigen Geschäft der Rache Betrauten ausging. Sie waren es, die gewannen. Die Direktion ordnete an, uns allen Besitz wieder auszuhändigen. Das Recht auf Hofgang wurde wiederhergestellt und die Misshandlungen hörten auf. Mehrere Verantwortliche, allen voran der Direktor, mussten ihre Posten auf Druck der Generaldirektion aufgeben, die auf diese Weise ihr Gesicht vor der Öffentlichkeit wahrte.

In der Zwischenzeit schrieb die Presse Artikel über mafiöse Seilschaften in den Gefängnissen, hinter denen ihrer Ansicht nach Chafi und ich steckten, um was dort stattgefunden hatte irgendwie zu rechtfertigen. Falls sie es schafften, uns vor der Gesellschaft als Mafiosi hinzustellen, würde diese die zu unserer Repression eingesetzten Mittel billigen. Die Journalisten ekelten mich an, sie trauten sich, das alles zu schreiben, und waren nie selbst in einem Gefängnis gewesen.

Sie logen unverhohlen und veröffentlichten Artikel, die von der Verwaltung diktiert worden waren, mit dem einzigen Zweck, ihr geschädigtes Image zu reparieren.

Obwohl ich bei dem anfänglichen Aufstand nicht dabei gewesen war, wurde ich für einen der Rädelsführer gehalten. Man bereitete meine Verlegung in ein anderes Gefängnis vor.

La Parda, Gefängnis von Pontevedra, April 1989

Das Gefängnis war siebzig Jahre alt. Es war alt, sehr alt. Ich usste mich beim Eintritt ausziehen, um die Aufnahmeprozedur zweier merkwürdiger Schließer zu absolvieren. Anschließend wurde ich in die Isolationsetage gebracht. Sie hatten dieselbe geräumt, um mir Einsamkeit und viel Ruhe zu garantieren, was Teil der aus Madrid angeordneten repressiven Sonderbedingungen war. Ich sollte vom Rest der Gefangenen ferngehalten werden. Sie wiesen mir eine ekelhafte, sehr kleine Zelle zu, deren Fenster auf einen kleinen Hof wies. In einer seiner Ecken sah ich deutlich den Guardia Civil auf einem der Wachtürme des Geländes, nicht weiter als zwanzig Meter entfernt. Er war die einzige Gesellschaft, die ich dort haben würde.

Trotz der Isolation konnten mehrere Freunde von mir, die sich in diesem Gefängnis befanden, Kontakt mit mir aufnehmen. Sie ließen mir eine Nachricht zukommen. Es waren Rolando, Miguel Expósito und sein Bruder Javier. Sie teilten mir neben ein paar persönlichen Dingen mit, dass der Gefangene, der für die Essensausgabe eingeteilt war, mit Vorsicht zu genießen sei; er war ein Spitzel. Zu wissen, dass ich nicht ganz so allein war wie die Verwaltung es wollte, gab mir Auftrieb.

Ungefähr um sieben Uhr dieses Nachmittags kam das Abendessen. Es brachte der Gefangene, vor dem ich gewarnt worden war. Ich streckte das Tablett hinaus, stellte es auf den Fußboden und bat höflich um die Suppenkelle.

»Gib mir die Kelle, ich fülle mir selber auf...«

Er gab sie mir. Ihn begleitete ein Schließer auf dem Gang und ein anderer, der hinter dem Gitter geblieben war, das in die Etage führt. Ich servierte mir ein wenig warme Suppe und ein Stück Tortilla. Danach richtete ich mich auf und ohne ein Wort zu verlieren schlug ich ihm ins Gesicht, mit der Kelle. Er schrie auf und führte sich die Hände ans Gesicht.

»Ich will dich hier nicht mal als Gemälde sehen«, warnte ich ihn.

»Tarrío, beruhigen Sie sich, was ist los?« mischte sich der Schließer ein.

»Nichts, was Sie etwas angeht.«

Ich nahm das Tablett auf, ging zurück in die Zelle und ließ die Kelle auf dem Fußboden liegen. Ihn sah ich dort nicht mehr wieder.

Die Tage in La Parda vergingen langsam. Dieser Hof nervte mich, mit dem Schließer, der mich die ganze Zeit von der einen Seite beobachtete, und dem Guardia Civil auf der anderen. War das Teil der Strafe für meine unverhohlene Rebellion? Ein Schmerzzuschlag zusätzlich zur Ungewissheit einer zukünftigen Haftstrafe wegen Mordes? Ich fühlte mich auf Null reduziert.

Mein Vater kam, um mich zu sehen, in Begleitung der Familie Rolandos.

»Hallo José, wie geht’s?« grüßte er mich.

»Schlecht, sie halten mich in Isolation gefangen, allein. Ich sehe niemanden, kann mit niemandem sprechen... ich werde noch verrückt...«

Wir redeten die ganze Besuchszeit lang von diesen Dingen. Als sie zu Ende war, verabschiedeten wir uns. Auf dem Rückweg in die Isolation konnte ich mit meinen Freunden sprechen. Einer von ihnen gab mir beim Handschlag einen Zettel. Ich verbarg ihn vor den Augen des Schließers, der mich eskortierte. In der Zelle las ich ihn. Ich erkannte Miguels Schrift:

Che, ich habe einen Fluchtplan erarbeitet, zusammen mit meinem Bruder. Es geht darum, die Schließer gefangenzunehmen, einen der Gitterstäbe in den Besuchszellen durchzusägen und von dort aus aufs Dach zu gelangen. Das alles während des Tages. Vom Dach aus springen wir auf das Dach des Wachdienstgebäudes, was sich unterhalb befindet, etwa vier Meter. Der Sprung ist nicht sehr schwer, und von dort aus auf die Straße... Kommst du mit?

Ich wartete auf den nächsten Besuchstermin, um ihnen mitzuteilen, dass ich mitgehen würde, dass ich dabei war. Es müsste der richtige Moment abgewartet werden und es müssten mehrere Messer hergestellt werden. Die anderen würden herunterkommen, um mir aufzumachen, nachdem die Schließer gefesselt und geknebelt waren. Es war ein guter Plan und ich fühlte Dankbarkeit meinem Freund gegenüber: Er hatte an mich gedacht. Er war Realist und wusste, dass mir viele Jahre Gefängnis bevorstanden, wegen des Todesfalls in Zamora. Vielleicht mehr, als mir meine Krankheit zum Leben übrig lassen würde. Jedenfalls würde jede Möglichkeit rauszukommen immer besser sein, als langsam in einer Zelle zu sterben, untätig. Ich zog die Gefahr einer Maschinenpistolensalve dem Gefängnis vor. Ich glaubte, der wirkliche Wert des Lebens bestehe nicht in dessen Erhaltung um jeden Preis, sondern darin, das Risiko einzugehen etwas Besseres zu suchen: Die wirkliche Freiheit, die mir die Chance eröffnen würde, mich selbst zu realisieren. Das Leben befand sich außerhalb jener Mauern.

Als ich mich an diesem Nachmittag fertig machte, um auf den Hof zu gehen, brachte mir einer der Schließer die Neuigkeit, die wir erwartet hatten.

»Tarrío, wissen Sie, heute ist Rolando niedergestochen worden.«

»Ach Quatsch, Sie scherzen...«, antwortete ich ihm.

»Nein, nein, es ist die Wahrheit! Wir haben ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht.«

»Idiot«, dachte ich für mich, während ich über den Hof ging. Stunden später brachte Radio Nacional in den Nachrichten, was wir hören wollten: Mehrere Personen waren mit Pistolen bewaffnet in das Krankenzimmer von Rolando Cancela Veiga eingebrochen, hatten die zwei Polizisten entwaffnet, die ihn bewachten, und flohen anschließend alle zusammen. Das würde meine Freunde und mich bei unserem Vorhaben ermutigen.


Am 27. Juni, mehrere Tage nach Rolandos Flucht, brachte Radio Nacional neue Nachrichten aus der Gefängnisunterwelt. Eingeweiht 1982, erlebte das berühmte Gefängnis von Puerto de Santa María seinen zweiten Aufstand in sieben Jahren. Die Gefangenen Fernández Varela, Maya Martos, Hidalgo García, Ortíz Jiménez und Zamoro Durán führten ihn an. Sie hatten mehrere Schließer als Geiseln genommen, um die Verhandlungen zu erleichtern. Diese Gefangenen, massiv unterstützt durch den Rest der inhaftierten Bevölkerung, brachten ein Tonband mit einer Reihe Forderungen in Bezug auf die Haftbedingungen in Puerto heraus. Auch forderten sie eine Reform des Strafgesetzbuchs. Sie forderten unabhängige und nicht der Behörde angehörige Ärzte für den Sanitätsdienst in den Gefängnissen, die sofortige Freilassung der AIDS-Kranken in terminaler Phase und andere für die in spanische Gefängnisse eingesperrten Männer und Frauen wichtige Dinge. Ich fühlte wie sie und fand mich in ihren Forderungen wieder. Ich verfolgte den Verlauf der Geiselnahme die ganze Nacht hindurch über das Radio. Das Tonband war dem Anstaltsdirektor Eduardo Roca ausgehändigt, jedoch nicht veröffentlicht worden. Plácido Conde, Gouverneur von Cádiz, forderte den Einsatz der GEOS[7] an, und das Leben in der Provinz kam zum Erliegen. In jenem Gefängnis befanden sich zu langen Haftstrafen Verurteilte; es waren hartgesottene und gefährliche Männer. Falls die Polizei einschritt, konnte es ein Massaker geben. Innerhalb der Anstalt wurden Barrikaden und Molotowcocktails gebaut, mit aus der Krankenstation entwendetem Alkohol. Draußen umkreisten mehrere Hubschrauber das Gefängnis, während die GEOS Position zum Sturmangriff einnahmen. Es konnte alles Mögliche passieren. Nach zwanzig langen Stunden der Verhandlungen gaben die Gefangenen allerdings auf und ließen die Geiseln frei. Die fünf Häftlinge, die den Aufstand angefangen hatten, wurden anschließend in die traurig berühmte Anstalt Herrera de La Mancha überführt und unter Sonderbedingungen gestellt, bewacht von der Guardia Civil. Sie würden es teuer bezahlen, es gewagt zu haben, sich mit dem System anzulegen und dessen Methoden öffentlich anklagen zu wollen.


Das Schicksal meinte es immer noch nicht gut mit mir. Mitten in der Fluchtvorbereitung überraschte mich die Nachricht einer erneuten Verlegung. Ich musste meine Sachen packen und die Anstalt in Richtung La Coruña verlassen, von wo ich am nächsten Tag ins Hochsicherheitsgefängnis von Daroca, Zaragoza, fahren würde. Meine Ausbruchsträume waren für den Augenblick zerplatzt, doch ich würde nicht von ihnen ablassen: ich würde bei der geringsten Chance auf einen Erfolg die Flucht versuchen.

Im Gefängnis von La Coruña wurde ich in die zweite Etage gebracht, Corrección. Ich konnte Kontakt mit José María Expósito aufnehmen, der mir zwei Sägeblätter und ein Stilett zukommen ließ. Ich verstaute die Klinge desselben zusammen mit den Sägeblättern in einem zylindrischen Plastikgefäß, welches ich mir verschlossen in den After einführte. Jene Metallstücke könnten zum Schlüssel für meine Freiheit werden; in meinem Leib würden sie sie nie finden. Ich fühlte mich sicherer.

Gefängnis Daroca, Zaragoza, Juli 1989

Die Anstalt Daroca, ein modernes Gebäude in gelblichem Farbton, galt als Hochsicherheitsgefängnis. Es gab fünf verschiedene Trakte, alle belegt von Gefangenen im geschlossenen Vollzug, erster Grad, im Alter zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig Jahren. Das Gebäude wurde dominiert von einem zentralen Turm, der es erlaubte, die Dächer aller fünf Trakte ständig zu überwachen. Auf jeder Außenmauer standen Wachtürme, von denen aus jeweils drei Guardias Civiles Wache hielten. Niemand dürfte sie übertreten, das war ihr Job. Es halfen ihnen dabei eine Anzahl Kameras, an strategischen Punkten auf das ganze Gelände verteilt, und ein paar deutsche Schäferhunde, die der Guardia Civil gehörten.

Ich war für Trakt eins, erste Phase[8] vorgesehen. Dort traf ich auf meinen Freund Musta. Wir umarmten uns.

»Na, du Ganove, hast du meine Nachricht erhalten?« fragte er mich.

»Ja, deine Freundin hat sie mir gegeben bei einem Besuch, den sie mir gemacht hat.«

Während wir weitersprachen, gingen wir den Hof auf und ab.

»Mir war von Anfang an klar, dass du hinter der Geschichte mit Torres steckst. Wie ich schon gesagt habe, du kannst für alles auf mich zählen; ich komme bald raus. Verstanden, Kollege?«

»Das wusste ich.«

Wir gingen weiter spazieren und schmiedeten Zukunftspläne. Unser Alltag hier hatte denselben Ablauf wie in den anderen Anstalten. Menschen gingen hin und her, Schritte, die nirgendwohin führten; Vom Gefängnis brutalisierte Menschen, die von dem getrennt worden waren, was sie am meisten schätzten oder liebten. Eine Unterwelt voll Freundschaft und voll Lüge, voll Blut, Hass, Schmerz und Repression. Das Gefängnis war die Kloake, die Müllhalde, wo die Guten und Anständigen sich der Menschen entledigten, die in der Gesellschaft Fehler gemacht hatten. Für mich war dieses Phänomen nicht neu; ich hatte das alles zuvor im Internat und in der Erziehungsanstalt gesehen. Sie nahmen dich als Kind mit und ließen dich als Greis los. Das war Teil des Business.

Der Straffällige wurde nicht verfolgt, weil er asozial war, man entfernte etwas von der Straße, weil es störte. Wie man einen Vater aus dem Haus wirft und ihn in ein Altenheim einschließt. Die Ge- sellschaft funktionierte so. Falls wir während unseres langen Aufenthalts im Gefängnis hätten beobachten können, dass diese Gesellschaft, die wir bestohlen und der wir den Krieg erklärt hatten, in Wirklichkeit besser war als wir glaubten, gerechter, humaner, tatsächlich anständig, hätten viele von uns glaube ich wohl versucht, mit ihr zusammenzuleben. Doch wir sahen in ihr nur Egoismus, Eitelkeit, Wettbewerb und Scheinheiligkeit. Man hatte eine fürchterlich hässliche und ungerechte Gesellschaft geschaffen, die uns alle hier und jetzt nach ihrem Vorbild formte. Wir alle trugen einen Teil der Verantwortung; niemand konnte sich rühmen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Während wir hier schimpften und kämpften, erfreuten sich die Politiker ihres Sonnenplatzes an der Macht und ihrer destruktiven Doktrin, armselig aus Leidenschaft. Wir, die Straftäter, waren nicht die wirklichen Feinde der Gesellschaft, wenigstens nicht die schlimmsten; die echten Feinde der Gesellschaft sind die Politiker und ihre Lügen, ihre uneingelösten Versprechen, ihre Kriege. Indem man viele Menschen einfach so in die Gefängniskloake warf, wurden zahllose Ungerechtigkeiten begangen. Doch wen interessierte das?


Mehrere Monate nach meiner Ankunft in Daroca bekam ich mit, dass eine Flucht vorbereitet wurde, vom Krankenhaus aus. Mir sagten sie als Erstem Bescheid, worüber ich mich freute. Ein Gefangener war soeben aus dem Krankenhaus gekommen und hatte die Fenstergitter dort halb angesägt hinterlassen. Nun fehlte nur noch ein Plan, um die Verlegung von Anxo und eines Madrileños namens Julepe zu provozieren; sie würden nach mir an die Reihe kommen.

Ich präparierte den Schließern einen Köder, inspiriert von Rolandos Flucht: sie selbst würden mir die Hinfahrkarte ausstellen. Ich sprach mit einem vertrauenswürdigen Genossen und bat ihn, mir einen Messerstich in den Magen zu verpassen, sobald wir auf den Hof hinausgehen würden.

»Du darfst mir nur die halbe Klinge hineinstechen, einverstanden?«

»Sei unbesorgt.«

Ich übergab ihm ein Messer und wir bewegten uns auf eine der Ecken des Hofes zu, wo die Schließer in den Wachhäuschen uns nicht sehen würden. Ich ergriff seine Schulter.

»Los jetzt«, sagte ich zu ihm und spannte den Bauch. Ich bereitete mich auf das Theaterspiel vor.

Ein fester Stoß, und die Klinge drang ein. Ich merkte es kaum. Ich ließ meinem Genossen Zeit, sich zu entfernen und das Messer zu verbergen, lief auf die Schließer zu und schrie:

»Man hat auf mich eingestochen, man hat auf mich eingestochen!«

Die anderen Gefangenen, die ja von der Wirklichkeit nichts wussten, umringten mich. Ich stellte mich schwer verletzt. Sie brachten mich auf die Krankenstation, wo man mir die Kleidung herunterzog und die Tiefe der Wunde maß.

»Er muss ins Krankenhaus«, ordnete der Arzt an.

Geschafft. Ich gratulierte mir.

Der Krankenwagen ließ nicht lange auf sich warten und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort checkte man mich durch, machte mehrere Tests und stellte dabei fest, dass die Magenwand nicht durchschnitten worden war. Trotzdem hielten die Ärzte es für angebracht, mich für einige Tage einzuweisen, falls irgendeine Komplikation auftreten sollte. Sie steckten mich in den Saal für Häftlinge. Dort traf ich auf einen Gefangenen portugiesischer Staatsangehörigkeit. Er erklärte mir:

»Schau, dieser ganze Abschnitt des Gitters ist angesägt. Es fehlt nur noch ein bisschen, wir sind seit vierzehn Tagen daran.«

»Es kommen noch zwei Genossen. Wir werden zwei Tage abwarten, ob sie es schaffen, eingewiesen zu werden. In der Zwischenzeit sägen wir weiter, einverstanden?«

»Gut...«

Ich blieb auf dem Bett liegen und blickte die Decke an. Vier uniformierte Bullen bewachten uns hinter der gepanzerten und mit Sicherheitsglas bestückten Eingangstür. Wir befanden uns im dritten Stock. Ich hoffte, meine Genossen würden so schnell wie möglich eintreffen, damit wir bald hier heraus kämen. Es würde leicht sein. Wir würden nur mit dem Sägen fertig werden müssen, aus Bettlaken ein Seil knüpfen und uns im Schutze der Nacht in den Garten abseilen, der zum Krankenhaus gehörte. Ein Kinderspiel von dort zu entkommen. Dieses Fenster bedeutete für mich und meine Genossen das Ende der Haft. Ich hatte nicht den leisesten Zweifel, dass wir es schaffen würden, weshalb ich mir die Zeit mit dem Überdenken technischer Details vertrieb: Wohin gehen und was tun, das war der wichtigste Teil.

Ungefähr um neun hatte es mein Freund Anxo geschafft eingewiesen zu werden und stieg in das Projekt ein. Diese Nacht arbeiteten wir ein bisschen an dem Gitter. Den Rest würden wir in der kommenden Nacht durchsägen. Falls Julepe nicht auftauchte, würden wir ohne ihn gehen.

Am nächsten Morgen erhielten wir Visite von den Ärzten.

»Sie zwei sind gesundgeschrieben«, sagte einer von ihnen und zeigte auf mich und auf Anxo.

»Hören Sie mal! Mir geht es sehr schlecht...«, sagte ich.

»Es tut mir leid, doch Sie haben genau wie Ihr Kollege nur eine Perforation des Bauchmuskels. Ihre Mägen sind in perfektem Zustand, weshalb es nicht mehr nötig ist, dass sie hier für längere Zeit verbleiben.«

Stunden später befanden wir uns auf dem Rückweg ins Gefängnis. Einmal mehr hatte der Zufall meine Ausbruchshoffnung zerstört. Doch ich würde es wieder versuchen. Ich gab nicht leicht auf, auch wenn es Schwierigkeiten gab. Der Portugiese versuchte es allein, scheiterte jedoch. Mir tat das leid, seinetwegen und wegen der verpassten Gelegenheit, denn das Krankenhaus würde die Sicherheitsmaßnahmen verstärken.


In Daroca spielte die landsmannschaftliche Herkunft die Hauptrolle. Wir Gallegos hatten den größten Einfluss in Trakt eins. Dort galten die Bedingungen der ersten Phase: die Gefangenen wurden in Zehnergruppen auf den Hof gelassen, zwei Stunden täglich. Wir kontrollierten die Cafeteria und die Essensausgabe, was uns größere Bewegungsfreiheit verschaffte, Nahrungsmittel, Zigaretten und Kaffee. Genauso war es in Trakt zwei mit den Madrileños. Dort durften die Gefangenen vier Stunden am Tag auf den Hof und hatten das Recht auf einen Fernsehraum. In Trakt drei gab es sechs Stunden Hofgang, mit Anrecht auf Sportfeld und vis-a-vis-Besuchstermine[9]. Dort übten die Catalanes den größten Einfluss aus. In Trakt vier waren die unter Artikel 10 Gestellten und die Protegidos[10] untergebracht. Der fünfte war der Isolationstrakt. Wir waren ungefähr 150 Gefangene in diesem Gefängnis. Bei Gelegenheit kam es zu Streit zwischen uns, der mit dem ein oder anderen Verletzten gipfelte, wenn nicht mit einem Toten. Doch generell lösten wir unsere Probleme, indem wir miteinander redeten. Es herrschte ein gewisser Respekt, und Anmaßungen waren in der inhaftierten Bevölkerung nicht gerne gesehen. Man bemerkte eine gewisse Reife, die in den Jugendstrafgefängnissen nicht existierte. Trotzdem war die landsmannschaftliche Herkunft immer noch eine der hauptsächlichen Problemfaktoren, denn wenn zwei Gefangene aneinandergerieten, rissen sie den Rest ihrer Landsleute und Freunde mit. Wir machten den hässlichen Fehler, mit dieser Beschränktheit weiterzumachen und nicht zu realisieren, dass wir alle einfache Strafgefangene waren, dass nur wir für uns da waren, und dass echter Respekt individuell erworben wird und nicht als Gruppe. Die Verwaltung tat nichts, um dies zu verhindern. Sie stellte keine Werkstätten bereit, damit wir Gefangenen beschäftigt sein konnten, uns einen Lohn verdienen oder sogar einen Beruf erlernen. Kein Kulturprogramm, keine Hilfestellung für die Besuche der Familien, die hunderte von Kilometern zurücklegten, um uns im Gefängnis zu sehen. Nichts von alledem wurde gemacht; zu teuer, zu viel Geld. Um ein paar Peseten zu sparen, brachte die Verwaltung gefährliche Männer hervor. Das würde die unmittelbare Zukunft zeigen.

Gegen Ende des Jahres kam Musta frei. Ein Verwandter von mir holte ihn in Daroca ab und nahm in mit, damit er La Coruña kennenlernte, wo ihm einige meiner Freunde vorgestellt wurden. Wie wir vereinbart hatten, gab man ihm eine Pistole, und ein Freund von mir beging mit ihm zusammen einen Banküberfall, damit er sich selbst finanzieren konnte.

Von draußen kam die Nachricht der Flucht meines Freundes Chafi aus dem Gerichtsgebäude von La Coruña. Ich stellte den Kontakt zu Musta her, und beide gingen nach Vigo, um sich Waffen zu besorgen. Meine Befreiung sollte vorbereitet werden, wobei Edmundo Balsa Franco, el Yando, mitmachte, den ich von draußen kannte, also alles Genossen. Meine Freunde besuchten Bankfilialen in verschiedenen Orten Galiziens, und mit der Beute finanzierten sie den Aufbau von Strukturen in Vigo und Orense. Ständig schickten sie mir Nachrichten und Fotos meiner neuen Bleibe. Alles war vorbereitet; jetzt fehlte nur noch, dass ich nach La Coruña gebracht wurde, zu einem der vielen Prozesse, die gegen mich noch anhängig waren. Dort würden sie versuchen, mich zu befreien.


In der Zwischenzeit schaffte ich es, an einen Posten im Economato[11] von Trakt eins heranzukommen, was mir täglich sechs Stunden Zeit auf dem Hof verschaffte, abzüglich der Zeit, die ich mit Servieren von Kaffee und der Bedienung der Gruppen beschäftigt war, die zum Hofgang herunterkamen. Weihnachten stand vor der Tür, und wir schafften, versteckt in ein Essenspaket von draußen, fünfzehn Gramm Haschisch zu uns hinein, die ich mit Anxo und anderen Freunden teilte.

Hasch war die einzige Droge, die ich noch zu mir nahm; den Rest hatte ich geschafft hinter mir zu lassen, was mich in meinem Selbstvertrauen stärkte. Wir rauchten ein paar Joints, um 1990 zu feiern, während unsere Gedanken nur um den einen Wunsch kreisten: Freiheit.

Doch 1990 brachte keine guten Neuigkeiten: Im Verlauf eines Überfalls auf ein Nachtlokal, dessen Beute kaum das Risiko hätte aufwiegen können, schossen meine Freunde auf den Besitzer der Bar, als dieser versuchte, sich in ein Büro einzuschließen, um die Polizei zu rufen. Zwei Gewehrschüsse zerbarsten eine Stelle in der Holztür, groß genug, dass Musta mit mehreren Pistolenschüssen durch das Loch sein Leben beendete. Ich erinnerte mich in der Zelle an seine Worte: Keine Gnade. Wütend beglichen meine Freunde ihre offene Rechnung mit der Gesellschaft auf ihre Weise.

Einen Monat nach diesem Vorfall, am Karnevalstag, erhielt ein Heroinhändler Besuch von drei Maskierten, die ihm ein Projektil des Kalibers 12 in ein Bein verpassten. Jene unnötigen Aktionen erregten die Aufmerksamkeit der Polizei. Diese ging nach den üblichen Methoden vor, um Diebstähle oder andere kleine Straftaten aufzuklären. Doch sobald Waffen im Spiel waren und Menschen, die bereit waren, sie zu benutzen, rauften sie sich zusammen und ermittelten die Wirklichkeit. Und das war gefährlich. Die Dezernate für Raubüberfälle aus La Coruña, Pontevedra, Orense und Vigo krempelten die Ärmel hoch und brauchten lediglich dreißig Tage, um den Ort ausfindig zu machen, wo in der Stadt Orense sie sich versteckt hielten, in Begleitung von drei Frauen. Sie hatten sie lokalisiert und schmiedeten nun den Plan zu ihrer Verhaftung: sie würden nicht lange fackeln.

Jenes Morgens verließ Musta in Begleitung eines anderen Mannes das Domizil, in dem sie sich versteckt gehalten hatten. Beide stiegen selbstsicher in ihr Mietauto und setzten sich in Richtung Innenstadt in Bewegung. An der ersten Ampel, an der sie hielten, stürmte eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Polizisten auf das Auto zu und hielt ihnen die Waffen vor. Sie gaben auf. Eine halbe Stunde später ging Yanko aus dem Gebäude und in Richtung Busbahnhof, um in seine Wohnung in La Coruña zu fahren. Eine Gruppe Polizisten verfolgte ihn. Im selben Augenblick brach eine weitere Gruppe Polizisten die Tür zu der Wohnung ein, in der sich Chafi befand, drang ein und nahm ihn fest. Es fehlte nur noch einer, um die Operation komplett zu machen.

In der Nähe des Busbahnhofs entschied sich die Polizei, in Aktion zu treten und den dritten Mann festzunehmen. Mehrere Polizisten näherten sich ihm. Mein Freund merkte, was los war, und es begann eine Schießerei über mehrere Straßen von Orense, die mit seiner Festnahme endete, nachdem er sich in einen Fluss gestürzt hatte. Alle waren eingefahren. Es hinterblieben eine zerstörte Familie und ein toter Bürger. Diese würden den Preis bezahlen für eine schlechte Strafvollzugspolitik, die den Hass und das Böse in jenen Ex-Sträflingen potenziert hatte. Die Schläge, die Amtsmissbräuche und die gemeinste Ungerechtigkeit der in spanischen Gefängnissen an jenen Männern stattfindenden Rachenahme hatten viel mit der Entwicklung dieser Bestien zu tun. Eine Sache ist es, jemanden zu zwingen, eine Haftstrafe zu verbüßen, doch eine ganz andere ist es, ihn konstant zu misshandeln mittels Prügel und unverhältnismäßigen Sondermaßnahmen, Armseligkeiten, die im Gefängnis an der Tagesordnung waren. Jener Todesfall erschien mir nicht trauriger als die Tode der Menschen, die im Morgengrauen an einem Strick aus Bettlaken hingen; nicht trauriger, als das schreckliche Siechen der terminal AIDS-Kranken, die in einer kalten Zelle starben, fern ihrer Lieben, ohne Hoffnung.

Meine Bestimmung war weiterhin der Economato. Mein aufbrausender Charakter ließ mich zuweilen hitzige Diskussionen mit einigen Gefangenen führen, die allerdings zu nichts weiter führten. Meine Art brachte mir häufig solche Probleme ein. Ich war ein echter Asozialer. Im Gefängnis triffst du auf alles mögliche, und ich konnte manchmal nicht verhindern, einigen dieser Subjekte gegenüber Abneigung zu empfinden. Für mich waren es keine Genossen, denn die suchte ich mir selbst aus. Zu zwanghaften Lügnern gemacht verdrehten sie alles, was sie erzählten. Einige kritisierten mich hinter vorgehaltener Hand; niemals würden sie den ausreichenden Mut zusammenbekommen, um es von Angesicht zu Angesicht zu tun. Sie redeten schlecht über mich, und am nächsten Tag boten sie die Hand an, grinsend, als Demonstration ihrer Falschheit. Andere krochen am Boden, wimmernd wie servile Würmer, ohne jedes Bisschen Persönlichkeit oder Stolz. Die Schlimmsten spionierten dich aus, um dich an die Verwaltung zu verraten, im Tausch gegen vergünstigte Haftbedingungen. Alle Trakte, alle Etagen, alle Höfe hatten ihre Spitzel. Immer gab es jemanden, der seine Freiheit auf Kosten der anderen zu erlangen suchte. Doch abgesehen von diesen Elementen war die Mehrheit der Gefangenen im ersten Grad, die ich kennenlernte, aufrechte und ehrliche Menschen, mit deren Diskretion man rechnen konnte. Einer derjenigen Gefangenen war Javier Ávila Navas, el Niño, wie wir ihn in unseren Zusammenhängen besser kannten. Er kam verlegt aus der Anstalt Alcalá-Meco 1, damals eine der härtesten in ganz Spanien. Gemeinsam mit anderen Gefangenen hatte er dort gerade eine Geiselnahme angeführt, um seinen Freund Juan Redondo Fernández aus den harten Sonderhaftbedingungen herauszubekommen, unter die man diesen gestellt hatte. Ich besorgte ihm Tabak, Nahrung und Kaffee. Mit mehreren Kaffeebechern in der Hand gingen wir zusammen über den Hof spazieren; ich wollte unbedingt erfahren, was geschehen war.

»Was war da los, in Meco, Niño?« fragte ich ihn, während wir schlenderten.

»Willst du, dass ich’s dir erzähle? Es ist eine ziemlich lange Geschichte...«

»Egal, wir haben genug Zeit. Los, erzähl’ sie mir.«

»OK«, er zündete sich eine Zigarette an und begann zu erzählen.

»Am 29. Dezember vergangenes Jahr verlegte man mich ins zentrale Justizvollzugskrankenhaus in Madrid, um mich an der Verrenkung zu operieren, die ich in der Schulter habe und die mir die UEI[12] beim Sturmangriff auf Trancho und mich in Ciudad Real beigebracht haben, während einer anderen Geiselnahme. Das war im Januar und Februar, und ich traf dort meinen Freund Redondo. Ihm ging es schlecht; nie hatte ich ihn so gesehen. Er war buchstäblich am Boden zerstört. Nur Haut und Knochen, kaum fähig, zwei ganze Wörter zu sprechen. Ich half ihm bei seinem Bad und redete mit ihm...«

»Was war mit ihm?« fragte ich neugierig.

»Sie hatten ihn in Trakt sieben, Isolation, in Alcalá-Meco gesteckt, du weißt ja, wie das ist. Mir kamen fast die Tränen, als ich ihn in diesem Zustand sah. Sie hatten sich unverschämt grausam an ihm ausgelassen. Ich bat ihn, mir zu erzählen, was mit ihm passiert war. Sie ließen ihn ohne Essen, sie rotzten ihm hinein oder sprühten ihm ein Spray drauf. Sie hielten ihn völlig isoliert von den anderen Gefangenen und hatten sogar versucht, ihn mit AIDS zu infizieren, mit einer gebrauchten, blutigen Spritze... zumindest haben sie ihn damit bedroht.«

»Scheiße, und warum ließ er das zu?«

Ich holte eine Zigarette heraus, er gab mir Feuer. Wir gingen weiter über den Hof, im Kreis.

»Was sollte er machen? In Trakt sieben in Meco ist alles vollautomatisch und man hat zu keiner Gelegenheit Kontakt mit den Schließern, außer wenn sie hereinkommen, um dich zu schlagen, und wenn sie das tun, tun sie es in der Horde. Er konnte nichts tun.«

»OK, klar...«

»Er hatte die Gefangenen, die er kannte und die in den anderen Trakten waren, seine Situation mitbekommen lassen. Doch niemand tat etwas, außer Anzeige zu erstatten, und das führte zu nichts, denn du weißt, dass sie sich mit den Anzeigen den Arsch abwischen. Die Wahrheit ist, dass sie eingeschüchtert waren und sich nicht trauten, etwas zu tun. Sie fürchteten die Repressalien der Schließer, das war normal. So standen die Dinge, als ich nach Meco kam«, er hielt einen Moment inne, als ob er im Kopf unvergessliche Erinnerungen ordnete, dann fuhr er fort: »Ich musste meinen Freund da rausholen, zu jedem Preis, und redete mit Conde und Losa, kennst du die?«

»Nur vom Hörensagen.«

»Na ja, jedenfalls redete ich mit denen und bat sie, mir zu helfen, die Schließer im Trakt zu entführen, um Juanito aus der Sieben herauszuholen. Sie sagten zu. Am Valentinstag also legten wir los«, er machte eine Pause und sprach weiter: »An diesem Morgen gingen Losa und Conde auf meinen Vorschlag hin hinunter zum Wachdienst und fragten nach einem Putzlappen, um den Essenswagen zu wischen. Das war kein Problem, denn die beiden waren eingeteilt, das Fressen zu verteilen. Den Schließern kam nichts verdächtig vor. Als sie ihnen aufschlossen, überwältigten sie sie und nahmen sie mit hoch in die Duschräume, wo ich mit einem anderen Schließer wartete, den ich festgenommen hatte.«

Ich unterbrach ihn und fragte: »In welchem Trakt wart ihr?«

»In Trakt drei war das...«

»OK, erzähl’ weiter...«

»Wir warteten bis die Ärzte vorbeikamen und nahmen sie fest. Es waren zwei junge Frauen: eine Ärztin und eine Assistentin. Ich erklärte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hatten, wenn sie tun würden, was ich sagte. Mir war unwohl dabei, die beiden Frauen dort festzuhalten, doch sie waren die einzige Garantie gegen die Stürmung«, erklärte er mir. »Ich beeilte mich, den anderen Gefangenen aufzuschließen und sagte ihnen, sie sollten mit Zeitungspapier und Matratzen alle Fenster des Trakts dichtmachen. Die Direktion hatte inzwischen mitbekommen, was los war und uns den Strom abgestellt. Sie forderten uns auf, die Geiseln frei zu lassen. Ich sagte nein; nur unter der Bedingung der Verlegung meines Freundes aus Trakt sieben, und der von Zamoro Durán, Ortiz Jiménez, Maya Martos und den anderen unter den Sonderbedingungen in Herrera de La Mancha, und dass ihnen die Verlegung in andere Anstalten garantiert würde. Außerdem gab ich ihnen eine Liste mit einer Reihe an Forderungen, unter anderem das Ende der Misshandlungen in den spanischen Gefängnissen und die Freilassung Sterbenskranker.«

»Das ist sehr gut, wir sollten das alle öfter machen.«

»Schlussendlich fanden sich ein Inspektor der Generaldirektion und Jiménez de Parga ein.«

»Und wer ist das?«

»Ein Idiot, er ist Sekretär des Defensor del Pueblo[13]. Ich las ihnen die Forderungen vor, die ganze Geschichte, du weißt...«

»Ja, aber was ist schließlich passiert?«

»Wir erreichten, dass das Ganze auf Radio Nacional gesendet wurde und dass sie Juanito aus der sieben herausholten, was nicht wenig ist, findest du nicht?«

»Absolut, das war eine schöne Geste...« sprach ich aus.

»Ja, das war es.«


Es war schwierig, echte Freundschaft in Haft zu beobachten, doch wenn sie auftrat, konnten enorme Gefühle daraus entstehen, die die Freunde bis zum bitteren Ende zusammenschweißte. Geschichten wie diese begeisterten mich. Das Gefängnis barg nicht nur Wüstlinge. Es gab wahrhaftige Menschen; Menschen des Worts, ehrliche Menschen mit ihren Prinzipien, Millionäre der Würde, des Stolzes und der Rebellion. Doch im Allgemeinen herrschte zwischen den Gefangenen Kameradschaft, nicht Freundschaft; die war den Herzen vorbehalten, die echter Liebe fähig waren, und nur denen.


Die Verhaftung derer, die mir hätten helfen können, aus dem Gefängnis zu fliehen, schüchterte mich nicht ein. Ich war nach wie vor entschlossen auszubrechen und würde jede Gelegenheit nutzen, solange meine Gesundheit es zuließ und mir Kraft blieb. Ich hatte den Termin für einen Prozess in La Coruña mitgeteilt bekommen, im Monat September. Dort würde ich etwas versuchen; inzwischen wollte ich mich in Form bringen.

Im März verlegte man mich wegen guter Führung nach Trakt zwei. Dort traf ich meinen Freund Bolas wieder. An einem jener Tage tötete ETA einen Schließer in der Anstalt Basauri in Bilbao mit einem Kopfschuss, als Repressalie für die schlechte Behandlung, die einige politische Gefangene in Haft erhielten. Daraufhin entschlossen sich die Schließer, in der Mehrheit Mitglieder der Gewerkschaft CESIF, in allen Anstalten in Streik zu treten. Das würde Chaos bedeuten. Wir hatten davor etwas Angst, denn ihr Recht auf Streik ausübende Schließer würden uns nicht auf den Hof hinausbegleiten, nicht in die Duschen, zu den Besuchsterminen und so weiter. Zwei Tage später begannen die Schließer zu streiken. In Daroca brach aus, was sich schon vor langer Zeit zu entwickeln begonnen hatte: Gewalt.

Mein Freund Bolas kam zu mir.

»José, wir gehen aufs Dach, kommst du mit?«

»Jetzt gleich?« fragte ich überrascht.

»Klar, heute Vormittag beginnt der Streik und sie werden uns nicht mehr auf den Hof lassen.«

»Wer ist noch alles dabei?«

»Auf unserem Hof alle.«

»Na dann los, aber ihr müsst hochkommen, um uns die Zellen zu öffnen.«

Die anderen Gefangenen machten ohne Ausnahme mit und der Aufstand begann. Einer nach dem anderen kletterten die Häftlinge, die sich auf dem Hof befanden, auf das Dach, unter den verblüfften Blicken der Schließer und der Guardias Civiles. Die Trakte waren in zwei Abteilungen aufgeteilt und hatten verschlossene Dachfenster, durch die Tageslicht auf die Gänge fiel. Eine Gruppe mit Messern und Eisenstangen bewaffneter Genossen schaffte es, eines dieser Fenster zu zerschlagen und in den Trakt einzudringen. Sie rissen Eisenstangen vom Dach ab und brachen damit unsere Zellentüren auf. Befreit gingen wir in Gruppen in die Trakte eins, drei und vier, wo wir die restlichen Gefangenen herausließen, die bei der Revolte mitmachen wollten. Unter ihnen befanden sich Ávila Navas und Juan José Garfia Rodríguez. Eine Stunde später bot die Anstalt Daroca einen verheerenden Anblick. Die elektrischen Leitungen waren abgerissen, die Laternen kaputtgeschlagen, die Zellen praktisch zerstört, genau wie die Solarzellen, die Economatos, Werkstätten usw. Siebzig Gefangene liefen von Trakt zu Trakt, bewaffnet mit Messern und Eisenstangen. Die Guardia Civil wartete bewaffnet mit Knüppeln und Gewehren auf den Moment zum Einschreiten. Dieses Chaos gab zusammen mit den Rauchsäulen, die von brennenden Matratzen an verschiedenen Ecken des Dachs ausgingen, ein apokalyptisches Bild ab.

Die Nachricht durchlief alle Anstalten über die Medien. Nanclares de Oca, Cáceres 2, Alcalá-Meco und Foncalent schlossen sich uns an. Die Verwaltung musste auf die Sicherheitskräfte des Staates zurückgreifen, um diese Lawine zu aufzuhalten.

Mit scharfen MPs und Gewehren mit Gummimunition kam der Sturmangriff der Guardia Civil über uns. Sie tauchten plötzlich auf und schossen auf alles, was sich bewegte. Sie zwangen uns zum Rückzug. Einige gingen in die Trakte hinunter; wir anderen stiegen auf die höchsten Dächer und verschanzten uns. Wir deckten uns mit Matratzen vor den Gummigeschossen und Rauchgranaten, die über unsere Köpfe flogen, und beantworteten von dort aus den Angriff, indem wir schwere Gegenstände hinunter warfen. Allerdings beschossen sie uns mit so viel Material, dass wir die ganze Zeit flach auf dem Dach liegen mussten. Es gab einen Moment der Panik, als es schien, das Dach würde durchbrechen; Wir mussten vorsichtig sein und keine übertriebenen Bewegungen machen, sonst würde die leichte Dachpappe brechen. Während alles dies geschah, hörte ich Bolas rufen:

»Eh, José...! José!«

Ich hob den Kopf leicht an und blickte in seine Richtung. Er lag auf dem Dach, und in seinem Gesicht stand ein Ausdruck von Schmerz, ich vermutete, er war von einem Gummigeschoss getroffen worden. Ich stand schnell auf und rannte über die Körper anderer Genossen hinweg bis zu seiner Position. Eine Rauchgranate flog pfeifend an meinem Kopf vorbei.

»Was ist passiert?«

»Ein Geschoss, ich kann kaum atmen...«

»Tut es dir sehr weh?«

»Ja.«

Ich überdachte die Situation. Wir waren verloren und das Aufgeben war nur eine Frage der Zeit. Ich stand mit erhobenen Armen auf und schrie:

»Nicht schießen, nicht schießen...«

Die Guardias Civiles hielten inne. Der befehlshabende Offizier ordnete Feuerpause an und wandte sich an mich:

»Was willst du?«

»Ich habe hier einen verletzten Genossen, er ist am Ersticken. Ich will ihn runterbringen, damit er behandelt wird; ich glaube, er hat ein paar Rippen gebrochen.«

»In Ordnung, doch nur, wenn ihr alle runterkommt, einverstanden?« Er erpresste mich.

Ich besprach mich mit den Genossen, und sie waren damit einverstanden, den Aufstand zu beenden. Wir vereinbarten, dass ich als Erster hinuntergehen würde, um zu sehen, was passiert.

»OK, wir geben auf«, rief ich ihm zu. »Aber ihr müsst uns garantieren, dass ihr niemanden verprügelt.«

»Du hast mein Wort, mein Junge.«

Ich hob meinen Freund an der Schulter hoch und brachte ihn bis zur Dachkante. Von dort stieg ich hinunter und schaffte es mit Hilfe anderer Gefangener, Bolas herunterzuholen. Gegenüber die Gruppe Guardias Civiles, die Gewehre im Anschlag. Ich hatte Schiss.

»Alles klar, jetzt die anderen«, forderte uns der Offizier auf. Die anderen machten sich an den Abstieg. Alles war zu Ende.

Glücklicherweise hatte Jironés nichts weiter Schlimmes, nur ein Hämatom in der Brust vom Aufprall des Gummigeschosses. Sie steckten uns in Gruppen in die Zellen von Trakt fünf. Alle aufständischen Gefangenen waren schon überwältigt und wieder eingesperrt worden. Wir waren die letzten. Die Guardia Civil hielt ihr Wort, die Schließer aber ließen sich ihrerseits so richtig an den Gefangenen aus, die Mehrheit wurde zusammengeschlagen. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt von Prügel verschont geblieben, wusste aber, dass sie mir früher oder später einen Besuch abstatten würden. Da gab es keinen Zweifel, es war die übliche Methode.

Als sie die Anstalt wieder unter ihrer Kontrolle hatten, begann die Selektion der für Rädelsführer des Aufstands gehaltenen Gefangenen. Schlussendlich ließen sie nur fünfzehn Gefangene in Trakt fünf, darunter Ávila Navas, Jironés, Julepe, Anxo, ich und andere aufständische Genossen. Doch nur für el Niño und Julepe beantragte man die Verlegung ins Gefängnis von Herrera de La Mancha. Beide waren ungerechterweise zu den Verantwortlichen für jenen Aufruhr gemacht worden. Einmal mehr strafte die Verwaltung willkürlich, ihr war jede Ausrede recht, um sich an denjenigen zu rächen, die ihnen Scherereien verursachten und die störten.

Die Guardia Civil war während der Streiktage für die Anstalt verantwortlich. Sie teilten uns das Essen aus, mit Gewehren, geladen mit Gummigeschossen, Schilden und Schlagstöcken, bereit, uns bei der geringsten verdächtigen Geste zu Brei zu schlagen. Die ersten Tage ließen sie niemanden auf den Hof, gaben uns keine Bettwäsche und Decken und ließen uns nicht duschen. Doch schließlich normalisierte sich die Situation und wir bekamen Zugang zu unserer Habe, zum Hof und den Duschen. Lange Tage der Isolation warteten auf uns.

Eines nachts kamen mehrere Schließer zu mir, bewaffnet mit Knüppeln. Sie öffneten die Zellentür.

»Tarrío, ziehen Sie sich aus und kommen Sie auf den Gang, wir müssen Sie durchsuchen.«

Nach dem Ausziehen ging ich auf den Flur hinaus und stellte mich mit den Armen an die Wand. Mit den Händen umklammerten sie ihre Schlagstöcke.

»Machen Sie die Beine breit«, befahl mir einer, den wir La Gitana nannten.

Ich gehorchte.

»Noch weiter, los!«

Ich gehorchte wieder. Dann regnete es eine Reihe Knüppelhiebe, einer davon zwischen die Beine. Ich hielt den Schauer so gut ich konnte aus. Als sie von mir abließen, ging ich zurück in die Zelle. Jene Aktion wiederholte sich an den folgenden Tagen regelmäßig bei diversen Durchsuchungen anderer Mitgefangener. Es war Teil der Spielregeln, ein Würfelspiel mit der Macht, von vornherein verloren. Im Gefängnis ist der Gefangene weniger wert als eine Kakerlake; er ist nur eine Nummer, ein Paket. Sie konnten mit einem machen, wozu auch immer sie Lust hatten. Wer konnte es sehen? Wer würde das filmen? Wie würde ein Gefangener belegen, dass er misshandelt worden war? Und falls er es belegen konnte, wer würde ihm zuhören? Die Strafvollstreckungsrichter waren mehr- heitlich Teil der Verwaltung. Die gelehrte Justiz war dem Umerziehungssystem gegenüber höchst nachsichtig, was sich klar an den hunderten von Verfahren erkennen ließ, die auf von Gefangenen erstatteten Anzeigen beruhten und zu deren Nachteil ausgingen oder eingestellt wurden.


Am 30. versetzte eine gute Nachricht den Trakt in Aufregung. Mehrere Stunden nachdem die Guardia Civil ihn zur Überstellung nach Herrera de La Mancha abgeholt hatte, war Javier Ávila Navas zum zweiten Mal erfolgreich ausgebrochen, durch einen Durchbruch im Boden des Gefangenentransporters, welcher mittels mehrerer Sägen geöffnet worden war. Wir begrüßten diese Nachricht mit Jubel und Applaus und wünschten ihm viel Glück.

Im Monat Mai endete unsere Bestrafung, und man holte uns aus der Isolation. Wir kamen nach Trakt eins, wo die Genossen uns mit großer Freude begrüßten. Wir gingen wieder begleitet und in Gruppen hinaus, womit der Gefängnispuls wieder normal war. Ich freundete mich mit Izquierdo Trancho an, einem Sträfling aus León, der ausgezeichnete menschliche Qualitäten besaß. Immer gingen wir zusammen spazieren. Wie ich war er ein Ausbrecher, wir sprachen dieselbe Sprache. Wir entschlossen uns dazu, einige draußen in Freiheit verübte Diebstähle zu gestehen, damit sie uns ins Gericht brächten und wir zusammen einen Versuch machen konnten. Wir wollten alles auf eine Karte setzen.

Ich organisierte mehrere Arbeitsniederlegungen, bei denen die Mehrheit der Gefangenen aus Trakt eins mitmachte. Wir ließen es sein, den Trakt zu putzen und verteilten kein Essen mehr. Wir riefen einen vollständigen Streik aus. Der Direktor wollte mich sehen, in Begleitung eines Dienstleiters und mehrerer Schließer.

»Tarrío, packen Sie ihre Sachen, Sie kommen wieder in Isolation«, kündigte er mir an.

»Ich?« fragte ich ihn, mich dumm stellend, »Aber ich habe doch gar nichts gemacht«, fügte ich noch zynisch hinzu.

»Sie haben nie etwas gemacht! Los jetzt...«

Ich räumte meine Sachen in ein paar Tüten und ging über die Flure der Abteilung bis nach Trakt fünf. Die Gefangenen riefen mir von ihren Zellentüren aus hinterher:

»He, Che, wo bringen sie dich hin?«

»In die Isolation. Sagt Trancho Bescheid, OK?«

Verschiedene Beschimpfungen drangen durch die Türen.

»Arschlöcher, Schweine, Hurensöhne...«

Wir fühlten uns durch die jüngsten Geschehnisse sehr einig, eine außerordentliche Kameradschaft.

In Trakt fünf wiesen sie mir eine Zelle zu. Der Direktor sprach zu mir in autoritärem Ton:

»Hier bleiben Sie. Und Sie haben Bedingungen der ersten Phase. Sie werden dieselben Rechte haben wie bis jetzt, doch Sie werden alleine auf den Hof gehen und sind von den anderen getrennt, bis Sie lernen, sich wie eine zivilisierte Person zu benehmen, und nicht wie ein Wilder.«

»Machen Sie, was sie wollen, doch ich bezweifle, dass Sie etwas damit erreichen.«

»Das werden wir schon sehen, Tarrío.«

Nachdem sie das Gitter und die Zellentür geschlossen hatten, holte ich Bücher aus meinen Tüten, Bettwäsche, Decken und ein Radio, und machte das Bett. Ich legte mich darauf, zündete mir eine Zigarette an und fing an, den King Lear von Shakespeare zu lesen, der mich sehr fesselte. Seit nunmehr drei Jahren befand ich mich in Haft ständiger Isolation unterworfen, ich hatte die Angst vor solcher Strafe verloren, und vor anderen Strafmaßnahmen auch, die die Direktion einsetzen wollte, um mich zu erpressen und zu beherrschen, jeden Tag. Das Gefängnis jagte mir keine Angst mehr ein. Ich verfolgte meine Projekte und wartete nur auf deren Reife, nichts weiter. Die Strafen würden mich nicht davon abhalten.


Zwei Wochen später holten sie mich dort heraus und ich kam zurück nach Trakt eins, wo Ruhe herrschte. Ich begann eine Freundschaft mit Juan José Garfia Rodríguez, einem bekannten Banditen aus Valladolid, und dank ihm bekam ich einen neuen Po- sten im Economato, den wir nun beide zusammen führten. Wir verbrachten den ganzen Tag mit Plaudereien über Ausbrüche und mit Schachspielen; wir nutzten auch den Sportraum, der endlich im Trakt eingerichtet worden war. Aus Bequemlichkeit fand ich mein gutes Benehmen wieder. Juanjo erzählte mir seine Geschichte. Sie hatten ihn in Valladolid nach einer Schießerei verhaftet, in der zwei Polizisten gestorben und einer verletzt worden waren. Sein Bruder Carlos hatte im Verlauf des Schusswechsels auch mehrere Kugeln abbekommen. Er stand vor einer Strafe von 112 Jahren Gefängnis, seine einzige Hoffnung war die Flucht. Er hatte es einmal geschafft, aus dem Gerichtsgebäude von Las Palmas zu flüchten. Doch er wurde beim Betreten eines Gebäudes erkannt und ein paar Stunden nach seiner Flucht gefasst. Jetzt wartete er auf seine Gelegenheit. Eine Gelegenheit, die einige Jahre später kommen und die ihn zu Spaniens Staatsfeind Nummer Eins machen sollte.


Im August erhielt ich Besuch von meiner Mutter und meinen Geschwistern. Sie hatten 1.500 Kilometer zurückgelegt, um mich zu besuchen, und diese Schweine wollten uns nur eine halbe Stunde zum Reden zugestehen, durch eine dreckige Plexiglasscheibe. Ich war stinksauer.

»Hallo, mein Sohn«, grüßte mich die unbestrittene Königin meines Herzens.

»Hallo Mutter, wie geht es dir?«

»Na ja, ziemlich müde nach der langen Reise, doch es hat ja alles geklappt. Schau, das ist dein Bruder Marcos!«sagte sie mir und hob ihn hoch auf den Stuhl.

Ich winkte ihm zu, und er lächelte schüchtern. Es war das erste Mal, dass ich meinen kleinen Bruder sah. Ein Sentimentalitätsanfall überkam mich, doch ich konnte mich beherrschen. Ich spielte mit dem Kleinen durch die Scheibe.

»Mein Sohn, was hast du gemacht? Der Direktor ist auf mich zugekommen und hat mir erzählt, du machst ihm viele Probleme.«

»Hör’ nicht auf ihn, Mutter. Ein Mann, der nicht erlaubt, dass wir uns umarmen nach so vielen Jahren, und der uns nur dreißig Minuten Besuchszeit gibt nach der langen Reise, ist nicht der geeignetste, um mir Lektionen in gutem Benehmen zu erteilen.«

»Na, ist egal, aber wie geht es dir?«

»Gut.«

»Ich weiß nicht, ich finde, du siehst gestresst aus.«

»Das ist, weil dieses Arschloch mich ankotzt...«

Wir redeten weiter. Ich begrüßte meine Geschwister und Antonio, den Ehemann meiner Mutter, ein Freund von mir, ein sehr anständiger Mensch. Sie waren gekommen, um mich zu sehen, und danach würden sie nach Galizien fahren, um den Familienurlaub dort zu verbringen. Die vorgeschriebenen dreißig Minuten Besuchszeit verstrichen, und wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln, das die Traurigkeit überdecken wollte, die diese Situation uns bereitete. Jener Schmerz im Gesicht meiner Mutter war die wirkliche Strafe, und nicht das Gefängnis. Ich sagte ihr nichts von meiner Krankheit.

Im September würde ich in die Anstalt von La Coruña verlegt werden. Dieser Wechsel würde mir eine Chance zum Ausbruch bieten. Ich würde versuchen, die Kenntnisse, die ich von diesem Gefängnis hatte, für die Flucht zu nutzen. Es begann für mich der mühselige Weg in die Freiheit...

Zweiter Teil: Auf dem Weg in die Freiheit

»Wenn alle Gefängnisse der

Welt alle ihre Gefangenen

freigelassen haben, weil man

keinen Grund findet,

sie nach dem Gesetz

einzusperren...«

Gefängnis von La Coruña, September 1990

Um drei Uhr dreißig nachmittags hielt der Transporter der Guardia Civil vor dem Gefängnis von La Coruña. Ich fühlte mich müde und schwindelig von der Reise, wollte endlich aus diesem Käfig heraus und wieder frische Luft atmen. Man holte uns in Handschellen heraus, paarweise, und wir nahmen unsere Decken aus dem Kofferraum, um uns dann, ständig überwacht von der Guardia Civil, in das Innere der Anstalt zu begeben. Dort in den Eingeweiden dieses alten Gefängnisses nahm man uns die Handschellen ab. Ich wurde von den übrigen Gefangenen getrennt und einer vollständigen Durchsuchung unterzogen. Dann kam ich in den Isolationstrakt in der dritten Etage, den man »Bunker« getauft hatte. Ich verabschiedete mich mit einer freundschaftlichen Geste von denen, die meine Reisegefährten gewesen waren.

Der Isolationstrakt war vor Kurzem auf derselben Etage wie die Abteilung für Jugendliche gebaut worden, gegenüber den Besuchszellen, der Krankenstation und der Frauenabteilung. Es war der sicherste Ort der Anstalt, denn er befand sich in dem für das Klettern unzugänglichsten Bereich. Dieses Mal würde man mir es nicht leicht machen. Sie wiesen mir eine der sechs Zellen zu, aus denen der Trakt bestand. Allein gelassen, legte ich mich auf die Matratze und schlief ein; ich war erschöpft.

Mehrere Stunden später wachte ich auf. Man schloss mir auf und übergab mir Tüten mit Kleidung.

»Tarrío«, sagte einer der Schließer, »Sie haben zwei Stunden Hofgang. Ich lasse Ihnen die Duschen offen, falls Sie duschen wollen.«

»Ich müsste im Economato einkaufen und Kaffee trinken«, antwortete ich ihm.

»In Ordnung, gleich kommt einer vom Economato und nimmt Ihre Bestellung auf.«

Ich zog mir einen Bademantel an, suchte saubere Wäsche zusammen, Seife und ein Handtuch, und ging auf den Hof, wo sich die Duschen befanden. Die Zellenfenster befanden sich nur einen Meter über dem Fußboden. In einer der Zellen befand sich ein Mann. Ich ging auf sein Fenster zu, klopfte an die Scheibe und rief ihn.

»Hallo«, grüßte ich ihn, »wer bist du?«

»Ich heiße Javier, hast du vielleicht eine Zigarette?«

»Jetzt nicht, aber später bringen sie mir welche aus dem Economato, ich gebe dir welche ab. Jetzt gehe ich erstmal duschen, später reden wir weiter.«

Nach einer langen Dusche ging ich auf den Hof, wo Javier spazieren ging. Ich schloss mich ihm an. Ich stellte mich vor:

»Ich heiße José, obwohl man mich hier mehr als Che kennt.«

»Ich habe von dir gehört.«

»Warum bist du hier?« fragte ich ihn.

»Eine Kugel mit Drogen fiel auf das Gelände und ich bin hingelaufen, um sie aufzusammeln.«

»Und der Guardia Civil?« wollte ich wissen.

»Ist nicht da. Der Wachturm ist im Umbau seit einigen Tagen...«

Super, dachte ich.

»Sag mal, warum gehst du so gekrümmt?«

»Das ist, weil sie mir alle vierzehn Tage eine Injektion Lagartil verpassen, dann lassen sie mich über eine Woche liegen. Doch die Wirkung lässt nach.«

Sein Blick war leer. In seinen Augen konnte man den Beginn von Verrücktheit erkennen, eine fortgeschrittene geistige Umnachtung, die seine Persönlichkeit insgesamt ernsthaft in Mitleidenschaft zog. Man war daran, ihn in ein menschliches Wrack zu verwandeln, mit Injektionen und andauernder Isolierung. Dieser Mensch brauchte Hilfe und Gesellschaft, nicht Ketten und Isolation. Trotz meines reservierten und menschenscheuen, oft teilnahmslosen Charakters interessierte ich mich für ihn und seinen Fall.

»Lass’ dir keine Injektionen mehr geben«, riet ich ihm.

»Ja klar«, er sah mir in die Augen, »einmal wollte ich mich weigern und sie verpassten sie mir mit Gewalt, nach einer Tracht Prügel.«

»Ich weiß nicht, Javier, doch wenn sie dir weiter dieses Zeug spritzen, landest du im Irrenhaus.«

»Ich weiß...«

Wir gingen jetzt jeden Tag zusammen auf den Hof. Ich gewöhnte ihn daran, mit mir zusammen Sport zu treiben, indem ich ihn an der Tenniswand herausforderte. Danach duschten wir und spazierten über den Hof, tranken den ein oder anderen Kaffee, den man uns vom Economato herunter brachte. Meine Gesellschaft half ihm, und sein Gehirn begann normal zu funktionieren. Er erholte sich und führte geistesgegenwärtige Konversationen mit mir, jeden Tag.

Einige Tage nach meiner Ankunft in La Coruña erhielt ich Besuch von meinem Onkel Suso. Wir sahen uns in der Besuchszelle.

»Hallo Che, wie geht es dir?«

»Gut, und Chico?«

»Gestern habe ich ihn gesehen; er hat mir diesen Zettel für dich mitgegeben«, antwortete er, holte ein Stück Papier aus seiner Tasche und hielt es an die Scheibe, damit ich selbst lesen konnte:


»Lieber Freund: Ich habe ernste Probleme mit der Polizei, sie suchen mich wegen mehrerer Überfälle. Ich muss aus La Coruña für einige Zeit verschwinden. Ich nehme die Waffen mit, ich werde sie brauchen. Ich habe deine Nachricht erhalten: Deine Bitte an mich muss eine Weile warten. Zur Zeit bin ich allein und ich habe Probleme. Sobald ich kompetente Leute an der Hand habe, die mir helfen, dich dort herauszuholen, kommen wir. Hab Vertrauen und Kraft. Wir werden es schaffen...«


Als ich das gelesen hatte, fühlte ich mich ein bisschen von ihm allein gelassen. Doch ich merkte, dass er es nicht so meinte, und dass er mich nach wie vor sehr schätzte. Er war nicht so unorganisiert, wie ich es gewohnt war, und er spielte nicht mit offenen Karten wenn er nicht sicher war, sein Ziel zu erreichen. Er kalkulierte die Risiken. Ich konnte ihm das nicht vorwerfen und auch nicht von ihm verlangen, sein Leben oder seine Freiheit für mich aufs Spiel zu setzen, einfach so, obwohl ich es für ihn getan hätte. Über allem stand unsere Freundschaft, auch über meinem Egoismus, und das war es, was er mir mitteilte. Ich wünschte ihm Glück und gab ihm Anleitungen, damit er sich mit mir so bald wie möglich in Kontakt setzen konnte.

»Onkel, ich hoffe, euch zu Hause geht es allen gut. Gib Chico meine Nachricht und sag ihm, er soll auf sich aufpassen.«

»Uns geht es gut. Pass

»Sei unbesorgt.«

Zurück in der Zelle legte ich mich hin, um über den Verlauf des Besuchs nachzudenken. Sobald er sich organisiert haben würde, käme Chico, um mich herauszuholen, dessen war ich sicher. Ich erinnerte mich an Fragmente aus der Vergangenheit. Ich hatte ihn zweimal aus Internaten befreit, einmal in Cáceres und einmal in Logroño; ich erinnerte mich an die hunderte von Kilometern, die wir zusammen zurückgelegt hatten, auf der ständigen Flucht, in die sich unser Leben verwandelt hatte, auf der Flucht zurück in die Straßen von La Coruña.

Oder als wir beide mit seinem Bruder Yves, mit Rolando, Julio El Carroña, José María Expósito und anderen zusammen an einem Tunnel gearbeitet hatten, damals vor Jahren, in der Abteilung für Jugendliche jener Haftanstalt. Wir waren nicht davor zurückgeschreckt, eines nachts dreihundert Meter über ein Feld zu robben, bis zur Mauer des Gefängnishofs der Jugendlichen, und darüber zwei in Zellophan eingewickelte Pakete zu werfen, die Meißel, Maßband, einen eisernen Vorschlaghammer ohne Stiel und einen Pickel enthielten. Falls sie uns überrascht hätten, wäre es schwierig gewesen, die Guardias Civiles davon zu überzeugen, dass wir keine entlaufenen Sträflinge waren. Einen Schritt weiter, und wir hätten uns eine Kugel eingefangen. Es ging jedoch alles gut; die Pakete landeten im Hof, wo sie ein Gefangener zu sich nahm und versteckte. Er hatte vorher einen Teil seines Fenstergitters durchgesägt. Obwohl der Tunnel schließlich wenige Meter vor der Fertigstellung entdeckt wurde, war es die Mühe wert gewesen, es zu versuchen. Es war schön, einem gefangenen Menschen bei der Flucht zu helfen; das oder selbst zu fliehen, war die höchste Erfahrung, die ein libertärer Mensch machen konnte. Es war nicht anständig, einen Freund in einem Kerker verfaulen zu lassen, gezwungen, sich einer miserablen Behandlung zu unterwerfen.

Ich entschied mich schließlich, auf eigene Faust zu handeln und es über den Wachturm in der dritten Etage zu versuchen, welcher sich laut Javier ja im Umbau befand. Ich wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, und auch nicht dasitzen und darauf war- ten, dass jemand kommt, um mir die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Ich würde für mich selbst einstehen. Ich schickte Nachrichten an die Frauen, an die Jugendlichen und die übrigen Abteilungen der Anstalt, damit sie für mich die vier Wachtürme des Geländes beobachteten. Ich hatte Freunde und Freundinnen, die ohne weiteres dazu bereit waren. Durch die Fenster der dritten Etage, die zu dem Hof wiesen, auf den ich jeden Nachmittag hinausging, erreichten mich mehrere Sätze Bettwäsche und Farbe im Ton der Fenstergitter. Auf die gleiche Weise erhielt ich mehrere Fünftausender Geldscheine[14], die mir bei erfolgreicher Flucht sehr helfen würden, für die ersten Ausgaben. Ich verwahrte sie im Mastdarm, zusammen mit einem Paar Sägeblätter. Das Stilett ließ ich verschwinden. Das Gefängnis war ein harter Dschungel, wo man nur ohne größeren Schaden überlebte, wenn man sich von allen möglichen Vorurteilen und Komplexen befreite.

Mein Stolz hing damals an der Fähigkeit durchzuhalten, bis ich es schaffen sollte zu fliehen. Ausbrechen war nicht leicht; es erforderte Aufopferung, Zeit und Kopfzerbrechen. Und Glück... viel Glück.


Eines Morgens bekam mein Freund Javier Probleme. Mehrere Schließer gingen in Begleitung des Arztes zu ihm, um ihm eine Injektion zu setzen, und wie wir es vereinbart hatten, weigerte er sich. Man drohte ihm damit, die Injektion zu erzwingen, und ich mischte mich ein.

»Was ist los, Javier?« fragte ich ihn und ging auf das Schließerhäuschen auf dem Hof zu, wo er mit dem Arzt diskutierte.

»Sie wollen mir eine Spritze verpassen, und ich will nicht...«

»Hören Sie mal«, sagte ich zu dem Arzt, »dem Jungen geht es gut. Er macht seit einer Woche Sport mit mir und braucht diesen Mist nicht...«

»Halten Sie sich da raus, Tarrío. Der Arzt bin ich, und ich beurteile, ob er eine Injektion braucht oder nicht.«

Die Leichtigkeit, mit der dieser Bastard mit Nervenarzttitel über die Gesundheit und das Leben meines Mitgefangenen entschied, machte mich wütend. Das war inakzeptabel.

»Sieh mal, du Schleimscheißer«, verkündete ich ihm durch das Fenster, »falls es dir einfallen sollte, unseren Trakt zu betreten, bringen wir dich um. Und das gilt auch für euch«, fügte ich noch hinzu, mich an die Schließer wendend.

Sie kamen nicht herein, benachrichtigten aber den Dienstvorsteher, der seinerseits zu uns in den Trakt kam, um mit uns zu reden.

»Tarrío«, sagte er zu mir, »geht das schon wieder los?«

»Schau, weder ich noch meine Mitgefangenen haben uns mit jemandem angelegt, bis diese Typen kamen und damit drohten, ihm zwangsweise Spritzen zu setzen«, sagte ich zu ihm, auf den Arzt und die Schließer zeigend.

»Also, Javier, wollen Sie die Spritze oder nicht?« fragte er ihn.

»Nein, ich fühle mich gut ohne sie.«

Nach dieser Bestätigung sprach der Dienstvorsteher mit dem Arzt, und jener ersetzte die Spritzen schließlich durch Beruhigungsmittel in Tablettenform. Wir hatten einen großen Schritt in Richtung auf seine Genesung getan.

Als wir am nächsten Tag über den Hof spazierten, fielen gleichzeitig mehrere um Batterien gewickelte Nachrichten herunter, aus Richtung des Hofs der Frauenabteilung, welcher von dem unseren nur durch eine Mauer getrennt war. Einer der Schließer im Wachhäuschen forderte mich auf, sie ihm herauszugeben.

»Tarrío, geben Sie das her.«

Ich ging auf das Häuschen zu, wickelte die Nachrichten vor seinen Augen auseinander und zeigte ihm die beschriebenen Zettel von Weitem.

»Sehen Sie, ich habe hier keine Drogen oder etwas anderes Verbotenes. Was den Inhalt der Nachrichten angeht: Der ist privat.«

»Geben Sie mir die Zettel«, er bestand darauf.

»Kommt nicht in Frage...«

Der Dienstvorsteher kam am nächsten Morgen zu mir, als ich mich in meiner Zelle befand. Er wies seine Kollegen an zu gehen, und man ließ uns allein. Er hieß Alberto und wir kannten uns schon seit langer Zeit.

»Sie ändern sich nie, was, Tarrío?«

»Und Sie anscheinend auch nicht.«

»Was war da los, gestern mit dem Beamten?«

Ich zündete mir eine Zigarette an und antwortete:

»Nichts Schwerwiegendes. Es gibt da eine Frau, mit der ich Schriftkontakt habe. Und da man nicht erlaubt, dass wir uns besuchen, schreibe ich ihr also Nachrichten, und sie schreibt mir. Was ist schon dabei?«

»Es ist verboten«, sagte er, während er sich flink eine Zigarette aus der Schachtel fingerte, »Gibst du mir Feuer?«

Ich gab ihm Feuer und antwortete:

»Schauen Sie, ich will ehrlich sein. Seit langer Zeit bin ich weg von Galizien und in eine Zelle gesperrt. Ich komme hierher, um meine Familie und meine Freunde zu sehen; um meine Ruhe zu haben, nichts weiter«, log ich ihn an, »Deshalb bitte ich Sie einfach, mich in Frieden zu lassen. Wenn Ihnen das mit den Nachrichten nicht passt, geben Sie uns einen Besuchstermin und fertig.«

»Wer ist die Frau?«

»Eine Freundin von mir.«

»Ich werde mit dem Direktor sprechen, damit ihr euch sehen dürft, aber ich will nicht, dass ihr weiter Nachrichten über die Mauer werft, und ich will keine Respektlosigkeiten gegenüber Schließern, einverstanden?«

»Ich wäre Ihnen dankbar...«

Diesen Mittag nach dem Essen schickte der Direktor nach mir. Nach einer Durchsuchung wurde ich in sein Büro gebracht.

»Mal sehen... was wollen Sie?« fragte er mich.

»Ich will einen Besuchstermin, und ich will in Ruhe gelassen werden.«

»Einen Besuchstermin, mit wem?«

»Trinidad Silva Iglesias.«

Er dachte einen Augenblick nach.

»Heute Nachmittag wird man Sie sich für zwanzig Minuten in einer Besuchszelle sehen lassen. Und wenn Sie bis einen Tag vor Ihrer Verlegung Ruhe geben, gestatten wir Ihnen ein vis-a-vis von mehreren Stunden mit ihr. Vorher nicht.«

Er beabsichtigte, mich zu manipulieren und mein gutes Benehmen zu erpressen. Fortgeschrittene Psychologie für Kinder.

»Das ist in Ordnung für mich«, antwortete ich ihm.

Diesen Nachmittag redete ich zwanzig Minuten lang mit der Frau, wie man mir garantiert hatte. Sie war genauso schön wie damals, als wir zusammen waren; vielleicht etwas fülliger wegen der Inaktivität im Gefängnis. Es tat mir weh, sie hinter Gitter gefangen zu sehen.

»Hallo, du Schlawinerin!«

»Hallo! Wie geht es dir?«

»Wie du siehst, in Ketten, doch guten Mutes.«

»Das ist eine Überraschung, dass wir uns besuchen dürfen. Zu Anfang glaubte ich, es würde vis-a-vis sein...«

Auf der anderen Seite der Besuchszelle lauschte eine Schließerin aufmerksam der Konversation. Auf meiner Seite, nah neben mir, tat ein Schließer dasselbe. Wie viele Intimitäten hatte er mit seiner Gegenwart vergewaltigt? Wie konnte man derart kleinlich sein und keinerlei Skrupel und Scham empfinden, um von Respekt gar nicht zu reden, und dort sitzen bleiben, sich nicht entfernen? Ohne Zweifel war das mit der Zeit und der Praxis am Ende Teil ihrer Schließerseele.

»Tarrío, kommen Sie zum Schluss. Die vorgeschriebene Zeit ist abgelaufen...«

»China, pass auf dich auf und viel Glück. Grüße an Pili.«

»Pass auch du auf dich auf.«

Ein Kuss auf die Glasscheibe war der kalte Abschiedsgruß. Wie viele Lippen wie vieler Männer und Frauen hatten sich auf dieses dreckige Glas gedrückt, wie viele Botschaften der Liebe und Zuneigung? Jene Bedingungen für fiktive Besuche waren erniedrigend, es war grausam. Was konnte schlecht daran sein, dass zwei Befreundete sich küssten? Was konnte schädlich daran sein, dass jene Bürger, die Familienmitglieder in Haft besuchten, sie anfassen konnten, umarmen, küssen? Die Verwaltung verfügte über ausreichende Mittel, um jene schmutzigen und vergitterten Kabinen in kleine Säle umzubauen, wo die Gefangenen, ihre Familien und Freunde ihre Emotionalität auf eine menschlichere Art und Weise entwickeln könnten, in wöchentlichen vis-a-vis- Besuchen. Verdienten die Familien der Gefangenen als steuerzahlende Bürger nicht erst recht eine bessere Behandlung, würdiger, menschlicher?

Ich begann die Vorbereitungen zu treffen. Niemand hatte es jemals geschafft, jene Mauern zu erklettern. Einmal hatte ein Gefangener es versucht, doch beim Ersteigen des Dachs lösten sich die Ziegel und er fiel ins Leere. Obwohl er sich alle Knochen brach, überlebte er den Aufschlag, was an ein Wunder grenzte. Vom Hof bis zum Dach waren es etwa dreißig Meter. Ich war körperlich in bester Form vom Gewichtheben in der Anstalt Daroca. Ich fand eine Stelle, von der ich glaubte, ich würde bis dort hinauf klettern können, meine ganze Kraft würde ich brauchen. Ich wollte es über die Frauenabteilung versuchen. Sie hatten die Mauer im Hof hochgezogen, damit die Männer in der dritten Etage von den oberen Fenstern aus nicht auf die andere Seite sehen konnten. Jetzt endete die Mauer nur zwei Meter unterhalb des Dachs. Der kranke Eifer, mit dem die Verwaltung jede Beziehung zwischen männlichen und weiblichen Gefangenen zu verhindern suchte, hatte sie dazu gebracht, diese Mauer hochzuziehen, über welche ich wiederum Zugang zum Dach bekommen konnte. Ich war für die Hilfestellung dankbar.

Diese Nacht begann ich damit, einen der Gitterstreben meines Zellenfensters anzusägen. Mein Freund Javier überwachte gleichzeitig die Fenster gegenüber, wo sich die Krankenstation befand. Die Hilfe der anderen Gefangenen erwies sich immer wieder als unschätzbar. In zwei Nächten sägte ich das Eisen durch. Trotz der täglichen Durchsuchungen, die bei mir stattfanden, stießen sie nicht auf die zersägte Stelle, wegen der Farbe, die mir die Genossen beschafft hatten. Danke!

Eigentlich hatte ich vor, das vis-a-vis abzuwarten und die Nacht darauf in Aktion zu treten. Aber ich traute dem Direktor nicht. Ich kannte die Methoden dieser Leute und fürchtete, nach dem Besuchstermin in eine andere Zelle verlegt zu werden oder dass die Bauarbeiten beendet sein würden. Die Freiheit hatte unbedingte Priorität, weshalb ich auf die sentimentale Seite verzichten musste. Ich dachte, ich würde sie vielleicht nie wieder sehen...

Die Nacht des 15. September fiel über das Gefängnis von La Coruña und lud verführerisch zur Flucht ein. Ich würde bis vier Uhr abwarten, um den Gefangenen Zeit zu geben einzuschlafen, und den Guardias Civiles, vor Langweile einzudämmern. Um diese Zeit würde es kalt sein, was sie dazu veranlassen sollte, sich in den Wachhäuschen aufzuhalten.

In der Zwischenzeit flocht ich ein Seil. Als es fertig war, feuchtete ich es an, um ihm größere Widerstandsfähigkeit zu geben. Ich hoffte es hielt. Ich zog mir eine schwarze Sporthose und eine Sturmhaube über, die mir beim Spähen über die Dachkante nützlich sein würde. Man würde mich im dunklen Bereich des Dachs nicht entdecken. Ich wickelte mir das Seil um den Leib. Um Punkt vier Uhr brach ich das Eisen aus dem Fenstergitter und kletterte nach draußen. Von diesem Moment an war ich physisch frei, ich hatte mich meiner Haft entzogen; und ich würde es bleiben, bis zu dem Moment, in dem sie mich wieder in einen jener Kerker steckten. Ich ging zu Javiers Fenster, und nach einem festen Händedruck übergab ich ihm einige Fotos meiner Familie und eine Adresse, an die er sie schicken sollte.

Nach diesen Details begann ich mit dem Klettern. Ich stieg auf die Fensterbank des Wachturms und von dort auf dessen kleines Dach. Von da aus kletterte ich an der Mauer vor den Besuchszellen hängend bis zum Dach einer kleinen Werkstatt neben der Krankenstation. Dann kletterte ich an einem Abflussrohr die Wand hinauf, von Fenster zu Fenster. Ich konzentrierte mich nur darauf, dort hinauf zu kommen, und versuchte, den Gedanken an einen Sturz zu unterdrücken. Am Fenster des dritten Stocks machte ich eine kurze Pause, hielt mich an dessen Gitter fest und holte Luft. Ich musste darauf vertrauen, dass es niemandem einfiel, das Fenster in diesem Moment zu öffnen und mich dort am Gitter hängend zu finden. Einen Meter weiter das Rohr hinauf, und auf der Höhe der Mauer zog ich mich an ihr hinauf und ruhte noch einen Moment aus, rittlings auf der Mauer sitzend. Danach stellte ich mich auf die Mauer, mit einem Fuß hinter dem anderen, denn sie war nur einen Ziegelstein breit. In dieser Position reichte ich mit der Brust an die Dachkante. Ich machte nicht den Fehler, den der Gefangene gemacht hatte, der sich vor mir daran versucht hatte, jene Wände zu erklimmen, räumte einige Dachziegel zur Seite und legte so festen Untergrund frei, um mich aufzustützen. Ich befühlte den Zement mit den Fingern und suchte die ideale Stelle um mich hochzuziehen. Das Dach fiel steil ab, was mir bewusst machte, dass ich herunterfallen würde, wenn ich es beim ersten Versuch nicht schaffte. Die Mauer, auf der ich stand, war zu schmal. Ich beruhigte mich mit tiefen Atemzügen durch die Nase und holte Luft, um meine ganze Kraft auf den Sprung zu konzentrieren. Ich machte einen Satz und landete mit dem Magen oberhalb der Dachkante. Für einen Augenblick bemächtigte sich meiner eine schreckliche Angst, doch ich schaffte es, sie zu vergessen, nahm noch einmal Schwung und schaffte es, mit Hilfe der Ellenbogen endgültig hinauf zu kommen. Uff! Von unten hatte mein Genosse die ganze Kletterei verfolgt und winkte mit der Hand. Ich grüßte zurück.

Ich schlich über das Dach der Frauenabteilung bis zum Dach des Trakts für Jugendliche und die Isolation. Ich ließ mich auf das Dach der Werkstatt herab, gegenüber des Wachturms, und stellte fest, dass der sich tatsächlich im Umbau befand und leer war. Die Sturmhaube warf ich auf den Hof, denn über die Dächer hatte ich es geschafft und würde sie nicht mehr brauchen. Ich wickelte das Seil aus und wartete ab bis zum Wechsel der Wachschicht. Eine Zigarette rauchend sah ich auf die Stadt hinaus. Eine Menge Erinnerungen kamen mir hoch.

Um fünf fand der Wachwechsel statt. Ich gab ihnen noch eine Weile, bis sie anfingen, sich arglos zu langweilen, und bereitete mich auf das möglichst geräuschlose Abseilen vor. Ich führte das Seil über einen Vorsprung, an dem der Stacheldraht angebracht war, den ich überwinden musste, um hinab zu gelangen. Ich band es nicht fest, sondern schlang es über den Vorsprung, wie man einen Faden durch ein Nadelöhr führt und hatte so ein doppeltes Seil. Auf diese Weise würde ich es von unten mit einem Zug ablösen können. Ich ließ die Enden auf das Gelände hinunter fallen. Eine halbe Stunde später kletterte ich über den Draht und ließ mich am doppelten Seil hinab bis auf den Boden ohne gesehen zu werden. Ich holte mit einem Ruck das Seil herunter und überquerte das Gelände, eng an der Mauer entlang, unterhalb des unbesetzten Wachturms. An einem der Seilenden war ein aus mehreren großen Batterien gefertigtes Gewicht angebracht, welches ich über das Metallgitter werfen musste. Ich wollte mich an beiden Seilenden hochziehen, so, wie ich auch herunter gekommen war. Vom Wachturm gegenüber, von der anderen Ecke des Geländes sah ein Guardia Civil nach draußen. An seiner Seite, an die Wand gelehnt, ruhte sein Sturmgewehr. Zu meiner Linken ging sein Kollege auf und ab, ohne meine Anwesenheit zu bemerken. Er war abgelenkt von der Musik aus dem Radio, das er zu seiner Unterhaltung dabeihatte. Ich warf das Seil über das Gitter, packte beide Enden und begann flink daran hochzuklettern. Aber als ich das Metallgitter schon fast mit den Händen greifen konnte, gab ein Knoten des Seils nach und brach auf, und ich fiel hinab. Ich schaffte es, auf die Füße zu fallen und es so vermied es so, mich zu verletzen, aber die Guardia Civil bemerkte mich und schlug Alarm.

»Eh, du da!« schrien sie mir von den Türmen aus zu und zielten mit ihren Waffen auf mich. »Bleib bloß stehen.«

Von der anderen Seite aus gab der Guardia Civil seinen Kollegen auf der Wache Bescheid. Ich hatte schon wieder verloren. Bald erschienen mehrere bewaffnete Guardias Civiles und näherten sich mir.

»Wirf dich auf den Bauch, die Hände auf den Rücken«, wies mich einer an. Ich gehorchte.

Er warnte mich: »Lass dir keine krummen Sachen einfallen«, gab seine Pistole einem Kollegen und sagte zu ihm: »Wenn er irgendwas macht, schieß.«

Danach kam er zu mir und legte mir Handschellen an. Ich richtete mich mit seiner Hilfe auf und wurde in die Räume der Wache gebracht. ich fühlte mich erschöpft und niedergeschlagen. Mein starrer Blick auf den Zementfußboden gab meine Niederlage wieder.

Auf der Wache brachten sie mich in einen kleinen Raum und wiesen mich an, mich auf einen Stuhl zu setzen. Einer von ihnen fragte mich: »Bist du schon lange außerhalb deiner Zelle?«

»Nein«, log ich ihn an.

»Warst du allein?«

»Ja.«

Er sah mich direkt an und fragte nach meinem Namen. Ich sagte ihn: »Ich heiße José Tarrío González.«

Von draußen, durch die Türen hindurch, hörte ich die Schließer aufgeregt mit den Guardias Civiles diskutieren. Sie wollten mich so schnell wie möglich zurück ins Innere des Gefängnisses bringen, wogegen sich die Guardia Civil verwahrte. Sie mussten mich in Gegenwart eines Anwalts verhören. Wir befanden uns in einem Rechtsstaat und es galten gewisse Gesetze... zumindest schien es so.

Ungefähr um zehn Uhr morgens brachten sie mich ins Innere der Anstalt. Es eskortierten mich mehrere Guardias Civiles, meine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Eine hübsche Schließerin beobachtete erstaunt die Szene vom Gefängniseingang aus. Sie war dafür da, die Ausweise der Familienangehörigen einzusammeln, die kamen, um ihre in dieses absurde Universum des Bösen eingesperrten Lieben zu besuchen. Ich Spaßvogel grinste sie breit an, mir fiel nichts anderes ein.

Hinter den Sperrgittern wartete eine Gruppe Schließer angeführt vom wachhabenden Dienstleiter auf meine Ankunft. Sie nahmen mir die Fesseln ab und behandelten mich zu meinem Erstaunen höflich und korrekt:

»Gut, Tarrío, Sie haben verloren. Wir werden uns also weitere Fluchtversuche aus dem Kopf schlagen und uns die Zeit, die uns hier noch bleibt, ruhig verhalten. Wir werden Ihnen einige Ihrer Sachen wiedergeben und anderes einbehalten. Du weißt, wie immer«, verkündete mir einer der Schließer, um dann noch hinzuzufügen: »Ich habe Befehl, Sie zu keinem Zeitpunkt auf den Hof zu lassen, weshalb Sie vierundzwanzig Stunden in Ihrer Zelle bleiben werden.«

»Nicht in meiner Zelle, in einer der Ihren wird es sein...« antwortete ich ihm und klärte dieses Missverständnis auf, das war mir wichtig.

Es war nicht meine Zelle, sondern eine Zelle des Staates und der Gesellschaft, in der man mir meine Freiheit und meine Rechte gegen meinen Willen entzog.

»OK, Tarrío, wir lassen es damit gut sein, einverstanden?«

»Von mir aus, ja.«

In Wirklichkeit waren meine Absichten ganz andere als ihre Pläne. Ich hatte beobachtet, dass der Eingang in die Frauenabteilung nicht mit einer Schließerin besetzt war und offen stand. Die Tür führte auf das Gelände gegenüber des Wachdienstgebäudes und sie lag genau neben dem Besucherbereich, und das hieß, dass ich, falls ich es bis dorthin schaffte, versuchen konnte, das Gefängnis zu verlassen, unter die Familienangehörigen gemischt, die mich nicht verraten würden. Daran dachte ich, als ich wieder in den Bunker gebracht wurde, den sie eigens geräumt hatten, und ich blieb allein. Sie ließen mich in die Zelle, die man mir angewiesen hatte, ein paar Decken, ein Radio und einige Bücher mitnehmen.

Ich war wieder isoliert, in meiner gewohnten Umgebung. Ich legte mich auf die Matratze und blickte an die weiße Decke mit einer bis zum Überdruss wiederholten Geste, eine Sturmflut von Gedanken im Kopf. Über mir befand sich die Galerie der älteren Strafgefangenen. Das hieß, ich konnte über die Fenster Dinge in Empfang nehmen, mittels Bindfäden. Ich brauchte ein Messer. Sonst nichts. Damit würde ich den Schließer im Trakt in Schach halten, vielleicht sogar mehrere, denn wahrscheinlich würde nie einer alleine kommen, um meine Zelle zu öffnen, doch das sollte kein Problem bedeuten.

Vor einem Messer, vor einer höheren Gewalt, hörten die Totschläger des Staats auf, Totschläger zu sein, wurden zu bescheidenen und sehr menschlichen Wesen. Nein, die würden nicht das Problem sein. Die Schließer überwältigt und gefesselt in den Zellen, würde ich mit den Decken ein Seil knüpfen und in den Hof der Frauenabteilung springen; ich würde die dortigen Schließerinnen überwältigen, eine oder maximal zwei, und sie mit den anderen Gefangenen einsperren, falls eine etwas Dummes machen oder man später andere der Kollaboration mit mir anklagen wollte. Das würde uns allen Probleme ersparen. Ich würde die Schlüssel an mich nehmen und unter den Besuch gemischt hinausgehen, denn es wäre Vormittag, wenn alle dreißig Minuten ein Besuch stattfindet. Falls es draußen auf dem Gelände schwierig werden sollte, nähme ich die hübsche Schließerin am Eingang als Geisel. Hatten die mich etwa mit Rücksicht behandelt? War ich nicht selbst Geisel der Beamten? Ich würde die Gefangenschaft nie akzeptieren und diese Einstellung konfrontierte uns auf ewig. Die Idee war akzeptabel, gefiel mir und ich entschied mich, sie so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen.

Zwei Tage später bat ich die andere Galerie um ein Messer. Am selben Nachmittag schickten sie es mir. Sie warfen es in eine Sportjacke gewickelt in den Hof, von einem Fenster aus. Ich musste es nur noch holen. Mit einem Haken an einem langen Faden wollte ich die Jacke hochfischen. Damit war ich beschäftigt, als sich die Tür zum Hof öffnete. Eine Gruppe Schließer nahm Jacke und Messer an sich. Gleichzeitig kamen zahlreiche Schließer in meine Zelle und legten mir Handschellen an.

»Diesmal bist du zu weit gegangen, Tarrío«, sagte der Chefschließer mit drohender Stimme.

»Aber, was ist denn los?« fragte ich nutzloserweise.

»Spiel dich nicht auf, Tarrío. Man hat dir ein Messer aus dem Galeriefenster geworfen, wir haben gesehen, wie du es holen wolltest, und da du ja allein im Trakt bist, ist klar, gegen wen du es gebrauchen wolltest«, erklärte mir einer von ihnen mit einer Urteilskraft, die mich bei so einem Typen erstaunte. Man brachte mich in die Isolation für Jugendstrafgefangene, steckte mich in eine Zelle, die Nummer Vier, gegenüber der Wachtürme der Guardia Civil. Dort schlossen sie mir die Hände an das Bett und machten mich bewegungsunfähig.

»So wirst du bleiben bis du von hier fortkommst...«

Um mich nach dorthin zu verlegen, hatten sie vorher den Trakt geräumt und die dort Einsitzenden herausgeholt. Sie wollten mich unbedingt alleine haben, obwohl ich in der Tat auch so schon einen großen Einfluss auf die anderen Gefangenen ausübte. Sie wollten jeden Kontakt zu ihnen verhindern. Ich bereitete mich auf die Nacht vor. Diese Stellung bereitete mir große Schmerzen in den Armen, doch das lehrte mich, die Dinge bei anderer Gelegenheit besser zu machen. Das war Teil des Spiels. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Viele Dinge sausen einem in solchen Momenten durch den Kopf.

Am nächsten Tag wurde ich in das Gericht von La Coruña gebracht, wo gegen mich wegen der Straftat des versuchten Haftentzugs verhandelt wurde. Im Lauf der Verhandlung informierte ich die Richterin über meine derzeitige Situation im Gefängnis, doch sie hörte nicht zu und achtete nicht auf meine Beiträge. Ich fuhr sie wütend an:

»Du Hundstochter! Das verstehst du also unter Gerechtigkeit? Ihr schickt die Leute munter ins Gefängnis, im Namen der Gerechtigkeit, und später vertuscht ihr die Folter und die Unregelmäßigkeiten, die dort vorkommen. Ihr prostituiert euren Beruf der Willkür der Behörden. Und du willst über mich richten? Sie sind bestimmt eine Frigide mit Minderwertigkeitskomplexen, was sich auf ihr Pygmäengehirn auswirkt, mit dem Sie geschlagen sind...«

Meine Worte riefen Unruhe im Saal hervor. Die Richterin war rot geworden. Sicherlich war sie an die schäbige Unterwürfigkeit der meisten Straffälligen gewöhnt, die täglich hier vorgeführt wurden, um verhandelt zu werden, meine Erklärung hatte sie beleidigt und schwer angegriffen.

»Führen Sie ihn aus dem Saal«, brachte sie hervor, die Wut zurückhaltend. »Und Sie wissen«, fügte sie an mich gewandt hinzu, »dass gegen Sie ein Verfahren wegen Missachtung des Gerichts eröffnet wird.«

»Señora!« antwortete ich ihr schon von der Tür aus, »mit ihren Urteilen wisch’ ich mir den Arsch ab, glauben sie mir...«

Die Polizei brachte mich aus dem Saal und in einem Fahrstuhl bis in den Keller hinunter.

»Ganz schön unverschämt, was, Tarrío?« sagte mir einer von ihnen.

»Nein, diese Arschlöcher machen mich fertig, ich kann sie nicht ertragen.«

Ich redete mit ihm in freundlichem Ton weiter, um ein Klima des Vertrauens zu schaffen, denn ich hatte vor abzuhauen, wenn sie mich zum Transporter bringen würden. Und in der Tat. Wir kamen nach draußen, wo der Zellenwagen geparkt stand. Der Polizist führte mich an den Handschellen, die meine Hände auf dem Rücken banden, als die anderen einige Meter Vorsprung bekamen. Da handelte ich. Ich nutzte eine Säule des Gebäudes, stieß mich mit dem Fuß daran ab, warf mich mit aller Gewalt nach hinten und streckte den Polizisten zu Boden, der die Handschellen allerdings immer noch mit einer Hand festhielt. Er schrie auf, ich antwortete mit mehreren Hackentritten in sein Gesicht, während ich ihn hinter mir her schleifte, ohne Erfolg. Schnell stürzten die anderen Bullen herbei, mit ihren Waffen, überwältigten mich und schleiften mich bis zum Wagen.

»Wenn wir im Gefängnis ankommen, kannst du was erleben«, drohten sie mir.

Im Gefängnis angekommen, stießen sie mich aus dem Transporter. Einer zog an meinen Haaren und drehte mein Gesicht nach oben. Der Rest hielt meine Arme. An der Eingangskabine zum Besucherbereich bedachte ich die Schließerin mit einem gewollten Grinsen, und sie sah mich wieder einmal sprachlos an. Sie fragte einen der Bullen neugierig: »Was ist passiert?«

»Er hat versucht abzuhauen und dabei einen Kollegen verletzt, der Hund.«

Wir gingen in das Innere der Anstalt. Mich erwartete eine Tracht Prügel aus Rache, das war in so einem Fall normal. Der Polizist allerdings, den ich angegriffen hatte, benahm sich wie ein echter Mensch und sagte, als wir gegenüber standen:

»He! Hast du gesehen, was du angerichtet hast?«

»Ich habe nichts gegen dich persönlich, ich wollte nur fliehen...«

»Das ist in die Hose gegangen«, antwortete er schon ruhiger, »aber du hast was drauf. Wie alt bist du?«

»Zweiundzwanzig.«

»Nehmt ihm die Fesseln ab«, wies er seine Kollegen an, und fügte an mich gewandt hinzu: »Hoffentlich hast du beim nächsten Mal mehr Glück, aber nicht bei mir«, er lächelte.

»Danke. Sie sind ein netter Typ.«

Ich vergaß die Geste dieses Mannes nie, er hatte mir das Recht auf Flucht zugestanden, das bewies seinen Wert als Mensch. So etwas war ein ehrenhafter Gegner: er hatte es ausgeschlagen, sich an einem Wehrlosen auszulassen, obwohl seine Kollegen ihn dazu ermuntert hatten.

An der Gittersperre holten mich der Dienstleiter und seine Bande ab. Nachdem ich neu gefesselt war, brachten sie mich in die Zelle, die ich heute morgen verlassen hatte. Ich wurde wieder an das Bett gebunden.

»Willst du essen?« fragte einer von ihnen.

»Ja. Und ich will Papier und Kugelschreiber, um über das hier an das Strafvollzugsgericht zu schreiben.«

Einer der Schließer lachte: »Der Strafvollzugsrichter war es, der Ihre Ruhigstellung autorisiert hat, Tarrío, bis man Sie nach Daroca bringt.«

Sie brachten mir Essen auf einem Plastiktablett und machten eine meiner Hände los, damit ich essen konnte. Ich aß langsam, um meinen Armen Zeit zu geben, sich zu erholen. Ich aß mit der linken Hand, auf dem Bett sitzend und mit dem Tablett auf den Knien, während ich die Gruppe Schließer beobachtete, die mit Spray und Knüppel bewaffnet um mich herum stand. Meinem Blick wichen sie aus. Sie fühlten sich nicht wohl. Ich kannte sie alle aus früheren Aufenthalten im Gefängnis, vor Jahren, bei den Jugendlichen. Ich redete mit dem ein oder anderen um Zeit zu gewinnen.

»Wozu hast du diesen Knüppel?« fragte ich ihn.

Diese direkte Frage überraschte ihn und es schien einen Moment lang, als ob er sich der Lächerlichkeit dessen bewusst würde, vor einem mit einem Arm ans Bett gefesselten Mann.

»Na ja, Tarrío, du weißt schon...«

»Du weißt schon, du weißt schon... Sie wissen eben nichts anderes zu sagen.«

»Ich handle auf Befehl, Tarrío. Außerdem sind Sie in letzter Zeit sehr gewalttätig. So werden Sie nichts erreichen...«

»Das heißt, dass Sie daran denken, mich mit dem Ding anzugreifen, stimmt’s?« war meine Antwort.

»Gegebenenfalls ja. Wenn Sie sich benehmen, nicht...«

»Kann ich rauchen? Meine Zigaretten liegen in der anderen Zelle.«

»Nur eine Zigarette«, mischte sich der Dienstleiter ein.

Man übergab mir eine spanische Winston. Ich zündete sie vorsichtig an und rauchte langsam. In der Zelle herrschte eine spannungsgeladene Stimmung und ein großes, ungemütliches Schweigen. Als ich mit der Zigarette fertig war, schlossen sie meine linke Hand erneut an das Bett und gingen.

Es brach die Nacht herein. Die Arme schmerzten mir ziemlich wegen meiner Bewegungsunfähigkeit, und die Gedanken sausten mir gewaltig im Kopf herum. Ich musste pissen, doch ich konnte niemanden rufen. Sie würden mich von hier aus nicht einmal schreien hören. Und wenn mir in dieser Lage etwas zustieße? Nichts würde passieren.

Der Richter würde dafür sorgen, dass alles nach einem natürlichen Tod aussähe, sie würden meine Leiche meiner Mutter übergeben und ihr zynisch des Staates Beileid ausrichten.

Diese Strafe regte mich auf. Sie schien mir nicht gerechtfertigt. Sollte ich nicht auf den Weg gebracht werden, meine Fluchtinstinkte im Zaum zu halten und für die Sicherheit der dort arbeitenden Schließer keine Gefahr darzustellen? Die hatten wohl das Recht sich zu verteidigen, ich gestand ihnen das zu – doch nicht auf diese miserable Art und Weise! Ich war nur auf eine erfolgreiche Flucht aus gewesen und nicht darauf, jemanden zu verletzen. Doch sie waren darauf aus, dem Menschen weh zu tun. Seine Moral zu brechen, seinen physischen Widerstand, seinen Willen. Bei der Anwendung ihrer Strafen zog die Behörde nicht den physischen und moralischen Schaden in Betracht, den sie bei dem Sträfling anrichtete, sondern achtete einzig und allein auf ihre eigenen Interessen. Eine primitive Lösung. In den Augen der Behörde und auch der Gesellschaft war diese Bestrafung legitim, doch Strafen war eine schwerwiegende illegitime Aggression seitens des Staats, war doch der Bestrafende um keinen Deut besser als der Bestrafte, allein schon wegen der Unverhältnismäßigkeit der Strafe. Nie ist es legitim, zu strafen, denn mit Strafen erzieht man nicht, Strafe ist Rache. Warum? Es liegt auf der Hand: Strafe resozialisiert niemanden, was ja der eigentliche Zweck der Behandlung ist, sondern ist einfach Bestrafung, repressive Aggression, der Gebrauch von Zwang auf physischer und nicht moralischer Grundlage. So wird einzig erreicht, dass sich das Individuum entsprechend umsichtig verhält, vorübergehend, unter dem Druck der Einschüchterung durch die Beamten und ihren Kanon an Machtmitteln und Strafmethoden.

Es war lächerlich, diese beschämende Doppelmoral. Wie wollten sie jemanden umerziehen, wo sie doch nicht einmal zu verzeihen wussten? Wie wollten sie gerecht sein, wo die Strafe ohne Vergebung zur bloßen Rachenahme wurde? Behörde und Gesellschaft sollten erwachsen genug sein, Neid und Bosheit, Niedertracht und Rache zu überwinden. Wie wollte man mir so zeigen, dass meine Regelverletzungen erforderten, dass sie die Verantwortung für mich übernahmen, dass ich Strafe verdiente, wo ich jeden Tag sehen konnte, wie die Vollstrecker jener Strafe an mir das Gesetz übertraten, ohne selbst bestraft oder dabei auch nur eingeschränkt zu werden?

Am nächsten Morgen zum Zählappell wurde mir verweigert, auf die Toilette zu gehen, und ich konnte nicht mehr anhalten und machte mir in die Hosen. Man gab mir kein Frühstück, und sie kamen nicht einmal herein, bis zum Mittagessen. Sie brachten mir ein Tablett mit warmen gekochten Kartoffeln, die ich hungrig unter den wachsamen Augen meiner Henker aufaß. Man erlaubte mir weder, die Kleidung zu wechseln oder zu duschen, noch kam ein Arzt, um mich zu untersuchen. Ich blieb den ganzen Tag lang auf dieselbe Weise gefesselt. Ich würde den nächsten Tag abwarten müssen, die Guardia Civil würde kommen um mich abzuholen. Es kam mir komisch vor, doch ich wünschte sie so schnell wie möglich herbei, damit sie mich aus dieser Lage heraus holte.

Diese Nacht war mir sehr kalt. Ich versuchte zu schlafen, doch ich schaffte das nur in Abständen. Die Arme quälten mich die ganze Zeit, obwohl die Matratze und die Kleidung, die ich anhatte, es etwas erträglicher machten.

In der Tat kam am nächsten Tag früh morgens die Guardia Civil und holte mich ab. Die Schließer brachten mich in Handschellen bis ans Gitter. Als ich eskortiert den Hof überquerte, verabschiedeten sich die Gefangenen aus der Jugendabteilung von mir:

»Alles Gute, Che, pass auf dich auf!«

»Sowieso«, antwortete ich ihnen und lächelte ihnen zu.

Auf der anderen Seite des Gitters tauschten sie meine Handschellen gegen welche von der Guardia Civil, die waren anders. Sie fesselten mich allein, die anderen Gefangenen befanden sich zu Paaren aneinander geschlossen. Sie alle würden mitfahren. Wir begrüßten uns alle bevor es los ging. Einer der Schließer warnte den Vorgesetzten der Guardia Civil vor mir:

»Passt auf mit dem, der ist Ausbrecher und ziemlich unruhig.«

»Wissen wir«, antwortete er. Dann wandte er sich an mich:

»Tarrío, ich hoffe, wir werden eine ruhige Fahrt haben. Du bleibst alleine. Wenn du auf die Toilette willst, drückst du auf die Klingel im Käfig und wir holen dich raus. Komm nicht auf dumme Gedanken und zwing mich nicht dazu, dich die ganze Fahrt über an den Sitz zu schließen, OK?«

In seiner Stimme lag keine Anmaßung, sondern Ruhe und Bereitschaft zum Übereinkommen. Er wusste mit mir umzugehen und tat dies mit Taktgefühl, weshalb ich ihn beruhigen wollte und antwortete:

»Immer mit der Ruhe, wenn sie mir eine Weile aufschließen, um im Gang die Beine zu strecken und aufs Klo zu gehen, reicht das. Was das Übrige angeht, es wird keine Probleme geben.«

»Gut.«

Sie brachten uns zum Transporter hinaus. Meine Mitreisenden zuerst, ich nach allen anderen. Mehrere Guardias Civiles begleiteten mich. Draußen am Eingang, lächelnd, die Schließerin, die die Pässe einsammelte. Sie bewegte den Kopf hin und her, und ich dachte, die spinnt. Ich belohnte sie mit meinem schönsten Lächeln und zwinkerte ihr komplizenhaft zu. Als ich an ihr vorbeikam, fand sie folgende Worte:

»Sie hören wohl nie auf zu lächeln, was, Tarrío?«

»Ich habe eben viel Spaß. Bis bald, guapa«, antwortete ich ihr gut gelaunt.

»Viel Glück!«

Sie steckten mich in einen der zwanzig Käfige des Transporters. Ich war froh darüber, alleine zu fahren, denn so hatte ich mehr Bewegungsfreiheit. Die Zellen waren so dreckig wie eh und je, doch schmutzig und vollgepisst, wie ich war, war mir das ziemlich egal. Außerhalb der Stadt schlossen sie mir auf, damit ich pinkeln gehen konnte. Ich ging auf dem Flur auf und ab, unterhielt mich mit den anderen Gefangenen und rauchte dabei eine Zigarette. Die anderen unterhielten sich von Käfig zu Käfig schreiend über ihre Fahrtziele, ihre Strafmaße und persönliche Dinge. Ich ging aufs Klo und pinkelte so gut es ging durch jenes Loch, bei voller Fahrt, und steckte mich dann wieder in den Käfig, damit der nächste an die Reihe kam. Wir lösten einander ab.

Am Nachmittag kamen wir in León an, wo man uns in die Zellen der Aufnahmeabteilung brachte, wir sollten dort die Nacht verbringen. Ich kam mit zwei anderen in ein Zelle und konnte meinem Mitteilungsbedürfnis nachgehen. Ich konnte mich in der Zelle über dem Klo mit mehreren Eimern Wasser duschen, das tat mir mal wieder gut.

Am nächsten Morgen fuhren wir weiter bis zum Madrider Gefängnis Carabanchel. Wir kamen nachmittags um drei an, müde und erschöpft von der Reise. Dort würden wir mehrere Tage bleiben, bis andere Transporter uns an unsere jeweiligen Zielorte brächten.

Sie begleiteten uns in Handschellen bis ins Innere der Anstalt und nahmen sie uns dort wieder ab. Die Guardia Civil hatte ihre menschliche Fracht nun abgeliefert und ging. Die Schließer führten uns in die Räume für die ED-Behandlung und nahmen uns die Tüten ab, in denen wir unsere Habe mitführten. Weil wir viele waren, kamen anschließend einige von uns in amerikanische Zellen, die sich von den normalen dadurch unterschieden, dass die Frontwand ganz aus Gitter bestand, wie in einem Zookäfig. Diese Zellen befanden sich im Keller, ein paar Treppen hinunter, unterhalb der Aufnahme. Dorthin also kam ich zusammen mit ein paar anderen.

Meine Compañeros scherzten und lachten. Ich machte nicht mit. Ich setzte mich auf einen Vorsprung und dachte an die Dinge, die Jahre zuvor hier geschehen waren, das hatten mir einige der ältesten Gefangenen erzählt. Ich versetzte mich im Geiste ins Jahr 1978. Damals war ich nur zehn Jahre alt gewesen. In der dritten Galerie dieses Gefängnisses war ein Tunnel entdeckt worden, und man überraschte darin mehrere Gefangene. Einer von denen, ein Anarchist namens Agustín Rueda Sierra war zu der Sache verhört worden. Man wollte die Mittäter an diesem Tunnelbau wissen, und das Verhör fand genau in der Zelle statt, in der wir gerade saßen. Im Beisein eines Arztes schlug man ihn dort tagelang. Agustín Rueda weigerte sich standhaft, mit der Direktion zusammenzuarbeiten und die Namen der Leute zu nennen, die mit ihm ausbrechen wollten. Das hieß für ihn: Jede Menge Prügel, mit dem Ergebnis, dass er Tage später tot war. Der damalige Generaldirektor der Strafvollzugsbehörde Jesús Haddad Blanco nahm die Schließer in Schutz, die jenen Mann geschlagen hatten bis er starb. Als Antwort auf den Tod von Agustín Rueda setzte die GRAPO dem Leben des Generaldirektors am 22. März mit einem Attentat ein Ende.

Ich stellte mir also die Szene vor. Ein nackter Mann, an die Gitter dieser Zelle gefesselt, weigert sich, seine Genossen preiszugeben und akzeptiert es, totgeschlagen zu werden. Ich fragte mich, wie viele Hiebe nötig waren, um dem Leben dieses Mannes ein Ende zu bereiten. Zwanzig, fünfzig, hundert? Bei diesem Gedanken stellten sich mir die Nackenhaare auf, und Schüttelfrost ergriff mich. Ich empfand Bewunderung für diesen Menschen, der gewusst hatte, Mensch zu sein, und ich empfand Ohnmacht und Schutzlosigkeit gegenüber der Gefängnis-Unterwelt.

Du schwebst in meinem Schatten,

Dein Ende erfüllt mich mit dunklem Rachdurst.

Du bist das versammelte ICH des Parlaments derer mit dem gleichen Namen,

Eine Stimme aus der Gesellschaft, wo die Widersprüche sich zuspitzen.

Im Namen unserer Krone lebst du wirkliche Loyalität,

Unsere Unterkunft möblierst du mit Gefühlen,

Die Zähne der Säge wanderten von meiner zur Deinen.


Hervorragendster Mieter in der Höhle meiner reinsten Gedanken!

Auf dem Kreuzgang der Totschläger drehen wir die Lautstärke aus

Und blasen wild zum Angriff

Bis unser Blut die Zweifel anderer nährt,

In Städten aus Eisen und Beton, mit Trommelwirbel in der Brust.


Du, Genosse, lässt im Herzen sich Fackeln entzünden.

An tausend Orten tragen wir schwer an der Ungerechtigkeit

Und setzen Solidarität gegen trauerndes Haareraufen.


Ein Mensch richtet seine Würde auf im, Trott der Masse

Er erklimmt Gipfel und hält der Ideen Stürme aus.

Am Höhepunkt des wilden Tanzes

Fallen aus der Leiche die Würmer


O lass die Sehnen wieder Blut pumpen,

widerspenstige Blutkörper in jede Faser,

bis dem Berg der Grund entzogen ist,

und alles im kalten Mondlicht daliegt.

In Memoriam Agustín Rueda

Stunden später kamen sie, um uns nach der ED-Behandlung in der Aufnahme in die amerikanischen Zellen der sechsten Galerie mitzunehmen. Man wies mir eine dieser schmutzigen und abstoßenden Zellen zu. Dort würde ich mehrere Tage warten müssen, bis sie mich zusammen mit anderen nach Zaragoza transportierten. Beim Hofgang traf ich Lolo, El Carmona, einen Freund von mir, den ich genau hier zu anderer Gelegenheit kennengelernt hatte. Wir gingen zusammen spazieren und unterhielten uns.

»Von wo kommst du jetzt, Lolo?«

»Aus Santander«, klärte er mich auf, »und jetzt geht’s nach Daroca, erster Grad.«

»Gut, dann werden wir wohl zusammen fahren.«

»Überm orgen, stimmts?«

»Ja.«

Gefängnis Daroca, Zaragoza, Oktober 1990

Eine Gruppe Schließer empfing uns in Daroca, nach einer anstrengenden Reise. Sie durchsuchten uns, führten uns durch einen Metalldetektor und wiesen uns dann Trakt Eins zu, dem Trakt für Querulanten. Dort traf ich auf José María Expósito. Von ihm erfuhr ich, dass der Ausbruch, den seine Brüder in Pontevedra vorbereitet hatten, während ich dort war, von der Polizei vereitelt worden war. Das tat mir Leid.

In der Anstalt herrschte Unruhe und es roch nach Stress. Vor kurzem hatte ein Häftling in unserem Trakt einen anderen umgebracht, mit einem Stich ins Herz; ein Begleichen offener Rechnungen, üblich unter uns. Außerdem war ein geschätzter Kamerad und Genosse aus Aufständen in Zamora, den wir als Rufino kannten, gerade erst mit einundzwanzig Jahren an AIDS gestorben.

Einige Stunden vor dem Sterben ließen sie ihn heraus, schon in Agonie; er erreichte Madrid nicht lebend, starb in dem Auto, das ihn nach Hause fuhr, in den Armen seiner Mutter.

Die Vorstufe von Gewalt lag in der Luft: Zorn, weswegen wir Besuch von einem Inspektor der Generaldirektion der Strafvollzugsbehörden erhielten. Zwei Gefangene aus jedem Trakt wurden ausgesucht, um mit ihm zu sprechen. Die Probleme aller anderen sollten zur Sprache kommen. Ein Genosse und ich wurden Sprecher von Trakt eins, den wir repräsentieren sollten. Das Gespräch fand in einem Büro der Krankenstation statt, das normalerweise leer stand. Mein compañero trat zuerst ein und ich wartete, bis ich an der Reihe war, bewacht von zwei Schließern in Gegenwart des Direktors. Als das Interview des anderen zu Ende war, ging ich in das Büro hinein. Dort, auf einem Stuhl sitzend, fand ich einen gut gekleideten und penibel frisierten Mann vor, der mich anlächelte. Offenbar wollte er ein vertrauensvolles Klima zwischen uns beiden schaffen. Er begrüßte mich:

»Hallo, wie geht’s?«

Ich setzte mich auf einen Stuhl, ihm gegenüber, und antwortete höflich: »Hallo...«

Sie sind José Tarrío, nicht wahr?« fragte er, während er auf eine Liste mit Namen blickte, die er auf weißem Papier bei sich hatte.

»Ja. Ich komme aus Trakt eins.«

»Gut gut, ich komme, um mich mit euch zu unterhalten, falls ihr mir etwas mitteilen wollt. Ihr wisst ja, vor kurzem ist hier ein Häftling gestorben, er wurde erstochen. Wir wollen damit Schluss machen und mit anderen Dingen, die in dieser Anstalt ablaufen, diese Anstalt hier war immer konfliktträchtig. Wie lebt ihr hier?«

»Schlecht, um auf Letzteres zu antworten. Was das Übrige angeht, es gibt Gewalt und wird sie immer geben, solange die Gefängnisse derart wilde Repression an den Häftlingen ausüben und sich darauf versteifen, alle Häftlinge an demselben Ort festzuhalten, ohne andere, menschliche oder mindestens logische Gesichtspunkte zu berücksichtigen...«

»Was für Gesichtspunkte?« unterbrach er mich.

»Die Gefangenen sollten in ihren jeweiligen Heimatprovinzen ihre Strafe verbüßen, um Konflikte wegen der Herkunft zu verhindern und die Brutalisierung zu vermeiden, die bei uns allen die Trennung von der Familie auslöst. Es ist schier unmöglich, dass unsere Familien hunderte von Kilometern zurücklegen, um uns für nur dreißig Minuten zu sehen, durch eine Scheibe. Außerdem gibt es hier weder Werkstätten noch sonstige Angebote. Die Leute hängen ihre ganze Hofgangszeit einfach nur herum, ohne eine andere Beschäftigung als spazieren gehen, und verbringen die restliche Zeit, zweiundzwanzig von vierundzwanzig Stunden, in eine Zelle eingeschlossen. Und so geht das jeden Tag der Woche, des Monats, des Jahres. Man verbietet uns die vis-a-vis-Besuche, wo wir doch für Jahre getrennt von unserer Familie sind und uns mit keiner Frau ins Bett legen. Das schafft Gewalt, mein Herr, bei Menschen, die meistens zu langen Gefängnisstrafen verurteilt sind.«

Ich machte eine Pause, um Luft zu holen und die Gedanken zu

ordnen. Ich fuhr fort:

»Wir Häftlinge im ersten Grad sind von uns aus schwierig. Deshalb sperren sie uns hier ein. Wenn wir obendrein noch einer erniedrigenden Behandlung unterworfen werden und man uns Grundrechte vorenthält, was erwarten Sie? Hier funktioniert nicht einmal die Krankenstation, wie sie es sollte; wir haben hier AIDS-kranke Häftlinge auf dem Hof, ohne wirksame medizinische Betreuung; die in dieser Anstalt hier ist wer weiß wie jämmerlich. Um einen einfachen Sportraum zu bekommen, haben wir die gesamte Anstalt zerstören müssen, was im übrigen heißt, dass Gewalt manchmal effektiv ist, und wenn sie es nicht ist, so ist Gewalt doch das Einzige, was man uns lässt. Wegen Kleinigkeiten werden Gefangene geschlagen, und das, mein Herr, hilft nicht. Ich behaupte nicht, dass Sie die Gewalt absichtlich schüren, doch ich behaupte, dass Sie sich weigern, von Ihren gemütlichen Sesseln und Ihrer menschlichen Inkompetenz aus die Realität zu sehen. Wir Gefangenen sehen diese Zusammenhänge wohl, im Knast brutalisieren wir täglich mehr, bis zur Grausamkeit und Gefühllosigkeit.«

»Caramba, sie lassen mir ja nicht viel Spielraum. Sie sehen die Dinge sehr negativ, Tarrío. Irgendetwas Gutes werden wir schon tun, nicht?« unterbrach er mich wieder. Seine rechte Hand spielte mit einem Bic-Kugelschreiber. Ich bekam Lust, zynisch zu werden:

»Sehen Sie mal. Ich weiß nicht, wozu Sie gekommen sind, doch sicherlich werde nicht ich es sein, der hier den Strafvollzugsterrorismus hochleben lässt, den Sie benutzen, um uns zu bestrafen. 1980 gab es 20.000 Gefangene in den spanischen Gefängnissen, heute zählen Sie 40.000. Ich glaube ehrlich, dass Sie inkompetent sind, dass Sie es nicht verstanden haben, ein Problem der Gesellschaft, das Ihnen anvertraut wurde, zu lösen. Wie viele Jahre haben Sie schon dieselben Probleme auf dem Tisch? Auf einen Sträfling, den Sie halbwegs resozialisieren, kommen fünf neue Straffällige. Sie haben das Gefängnis zu einem Geschäft gemacht, nicht zu einer Lösung.«

Ich holte noch einen Moment Luft und fuhr fort, ich war in Fahrt gekommen. »Das Gefängnis an sich ist Gewalt, mein Herr, es ist die Kriminalschule für Ersttäter wie mich; die Universität des Bösen... Ich und meine Mitgefangenen sind das Futter, von dem eure Gefängnisse leben, eure Gehälter, euer großes Geschäft. Nichts kann man von einer Person erwarten, die nicht zuhört, die keine Gefühle hat und die nicht daran denkt, anderen Interessen zu dienen als strikt ihren eigenen. Guten Tag...«, schloss ich, mich somit verabschiedend, und verließ das Büro.

Ich hätte mich noch eine Weile über ihn hermachen können. Nein, die würden nie etwas ändern. Die Strafvollzugsbehörde schickte immer diese Inspektoren, wenn etwas Schlimmes passiert war oder sie vermutete, es würde passieren. Damit versuchten sie, die Gemüter zu beruhigen, mit falschen Versprechungen, die niemals in die Tat umgesetzt wurden. Dieses Interview war pure Routine, bürokratisches Papiere-und-noch-mehr-Papiere-Vollschreiben und eine Rechtfertigung für die Arbeit jener, die von Madrid aus die Institute der Repression steuerten. Jene Papiere hielten als Belege her, mit denen sich die Verwaltung vor der Gesellschaft repräsentieren konnte, man zeigte Besorgnis über die Zustände in den Haftanstalten. Nein, nichts würde dieses Interview ändern, so, wie hunderte von Anzeigen nichts änderten, die von den Gefängnissen aus ihren Weg zu den Strafvollzugs- oder Untersuchungsgerichten machten. Die Lösung für die Probleme in den Gefängnissen hatte notwendig die Einigung der Gefangenen untereinander zur Voraussetzung. Entführungen, Aufstände, Unruhen, Streiks – nur mit noch mehr Gewalt konnte den zerstörerischen Haftbedingungen beigekommen werden. Ein bewaffneter Kampf in den Gefängnissen tat Not, und ein Volksaufstand, dessen Forderungen von den Medien der Bevölkerung übermittelt würden, genau wie die Angstschreie der zu Geiseln gemachten Henker. Der Kampf müsste alle Ecken eines jeden Gefängnisses erreichen, angefangen bei den Sonderbedingungen, über die geschlossenen Abteilungen und weiter in den zweiten Grad. Zumindest war das, was unter den grausamen Bedingungen von Herrera de La Mancha gedacht wurde, wo sich koordiniert von Javier Ávila Navas die APRE[15] neu gründete, zu Anfang bestehend aus fünf zu den genannten Bedin- gungen Gefangener. Mit solchen Ideen gingen Laudelino Iglesias, Luis Rivas Dávila, Vicente Sánchez, Antonio Losa López und Javier Ávila Navas, übrigens vor kurzem wieder verhaftet, zur Aktion über und gründeten eine der gewichtigsten und stärksten Organisationen der spanischen Strafvollzugsgeschichte. Damals konnte niemand von uns und noch weniger die Behörde sich vorstellen, was kurz darauf geschehen würde, wenn nämlich von der Theorie in die Praxis übergegangen wurde. Vorstellbar waren auch noch nicht die Maßnahmen zur Vergeltung, die der spanische Staat ergreifen sollte.

Die Zelle in diesem Trakt, in der ich saß, war schmal aber lang, was mir erlaubte, lange Spaziergänge zu machen. Den vergangenen Monat war ich ziemlich besorgt über meine Gesundheit gewesen; ich hatte die gewohnte Ruhe verloren, mit der ich mich stundenlang vor ein Buch setzen oder langatmige revolutionäre Ergüsse verfassen und an Familie und Freunde schicken konnte. Ich fühlte mich unruhig und öfters bekam ich Herzklopfen oder Erstickungsanfälle. Dann brauchte ich Platz und stellte mich vors Fenster, um die Luft auf meinem Gesicht fühlen zu können, damit dieser Druck vorüber ging, der auf mir lastete. Zusammen mit dem allgegenwärtigen Gedanken an AIDS fühlte ich deswegen eine ständige Paranoia und litt ziemlich darunter, denn ich assoziierte jedes Symptom mit dem Tod. Die Möglichkeit, dass der Tod mich im Gefängnis heimsuchte und dass diese kalten Wände mein letzter Eindruck sein könnten, drehte in meiner Vorstellungswelt ihre Runden. Mit den Ärzten hatte ich jeden Kontakt abgebrochen, denn ich hasste sie tiefgründig wegen allem, was sie machten und was sie mit den Gefangenen geschehen ließen. Ich hielt jene unangenehmen Momente also durch, so gut es eben ging. Ich war zu stolz, um jene Bastarde in Arztkittel um Hilfe zu bitten. Sie waren die Schande des eigentlich edlen Arztberufs, dessen Aufgabe es war, den Menschen zu helfen, und nicht, sie zu zerstören. Am meisten machte mich aber die Wirkung besorgt, die Rufinos Tod auf mich gehabt hatte. AIDS hatte nur dreißig Tage benötigt, um ihn in ein Nichts zu verwandeln, in einen Haufen Knochen, der einmal ein Mensch gewesen war. Es war beeindruckend und furchtbar. Sie hatten sich bis zum letzten Moment geweigert, Artikel 60 auf ihn anzuwenden, demzufolge die Behörde die Pflicht hat, alle Straf- und Untersuchungsgefangenen in der terminalen Phase jeder ärztlich bescheinigten tödlichen Krankheit freizulassen. Eine Sache war es zu sterben, und eine ganz andere, langsam dahinzusiechen in tagelanger Agonie, den Körper voll mit Nadeln, Schläuchen und eiternden Wunden.

Der Besuch des Inspektors der Generaldirektion änderte, wie wir vermutet hatten, nichts in Daroca. Die Bedingungen waren nach wie vor brutal und repressiv, zerstörerisch. Zweiundzwanzig der vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachtest du in der Zelle, wenn sie dich nicht in die Bestrafungszellen steckten, weil irgendeinem aus Langeweile brutalem Schließer nichts besseres einfiel. Gegenseitige Hilfe war verboten. So wurde zum Beispiel jemand, der dabei erwischt worden war, Kaffee von einem Zellenfenster an das nächste zu reichen, nach Trakt fünf gebracht und dort geschlagen, damit wir es von hier aus nicht hören und aus Protest an die Türen hämmern konnten. Danach schlossen sie ihn an das Metall seines Bettgestells und ließen ihn dort bis zum nächsten Tag, an dem sie ihm die Fessel abnahmen, und anschließend blieb er eine Zeit in Isolation. Unangreifbarer Terror. Manchmal verboten sie uns sogar, uns untereinander über die Fenster zu unterhalten, worauf wir aber normalerweise nicht achteten. Das bescherte uns Isolationsstrafen zwischen sieben und vierzehn Tagen, wenn nicht eine Portion Prügel. Sie hatten die Haft ersten Grades in der Geschlossenen in drei Phasen unterteilt: Die erste für die als böse eingestuften, die zweite für die halbwegs Umerzogenen und die dritte für denjenigen, den sie als an die Bedingungen angepasst einschätzten und als bereit für den Schritt vom ersten Grad in den zweiten, offeneren Vollzugsgrad. Diese behavioristische Individualtherapie hatte zum Ziel, uns in Gruppen aufzuteilen, gegründet auf das menschliche Verhalten beeinflussende Stimuli, sogenanntes »positives« Verhalten belohnend, »negatives« bestrafend. Wenn du dort heraus wolltest, würdest du dich anpassen müssen, dich einer erniedrigenden Disziplin unterwerfen, die darauf aus war, den Menschen seiner Persönlichkeit und Urteilskraft zu berauben. Den Passierschein von einem Trakt in den anderen verkauften sie dir als »Fortschritt«, als wären nicht das Gefängnis und seine Mauern das eigentliche Problem und schuld an unserer Unruhe und unserem Leiden. Um dein gutes Betragen zu belohnen, boten sie dir Besuch von deiner Familie oder deiner Frau als vis-a-vis an, einen Fernsehapparat oder Zugang zum Sportraum, als wären dies nicht in der Strafvollzugsordnung vorgesehene Rechte. Benahmst du dich nicht entsprechend, wurden dir die »Privilegien« wieder aberkannt und du wurdest eine Phase zurückgestuft. Das war Erpressung als Erziehungsmittel: Bist du gut, darfst du deine Mutter sehen; bist du böse, darfst du es nicht. Sie behandelten uns wie Kinder, versuchten, unseren freien Geist zu unterwerfen und dass wir unsere Strafe akzeptierten, dass wir das Gefängnis verstehen und annehmen. Das war hirnlos und teuflisch, einem der ambitioniertesten, repressivsten und schäbigsten Geister der Epoche entsprungen, dem des Generaldirektors der Strafvollzugsbehörden, Antoni Asunción.


Eine Woche nach jenem Besuch sandte mir José María Expósito über andere Gefangene eine Nachricht von Trakt zwei aus. Ich las den kleinen Zettel:

»Che, morgen wirst du fortgebracht, ein Schließer hat es mir erzählt. Ich werde dir Geld schicken, und wenn du noch etwas brauchst, lass es mich wissen. Du kommst nach Teneriffa 2. Pass auf dich auf. Ánimo. Dein Freund José María.«

Das war die Antwort auf meine Forderungen. Falls ich nicht weit genug entfernt war von La Coruña, schickten sie mich auf eine Insel in Afrika. In einem Anflug von Humor dachte ich, die schicken mich nicht noch weiter weg, weil sie keine Kolonien im Ausland mehr haben, wenigstens das. Könnt ihr euch vorstellen sie hätten mich nach Guinea geschickt, in die Sahara oder auf irgendeine verlorene Insel im Pazifischen Ozean? Fürchterlich! Andererseits kam es mir inkonsequent vor, dass dieser Schließer diese Information hatte durchsickern lassen. Trotz der ausdrücklichen Anweisung, mir unter keinen Umständen mitzuteilen, wann ich wohin gebracht wurde, um mich zu überraschen, hatte jener Wärter das meinem Freund erzählt, dessen bewusst, dass jener mich seinerseits informieren würde. Er tat mir einen selbstlosen Gefallen, einen Moment lang war er zu seiner Eigenschaft als Mensch zurückgekehrt und bevorteilte mich, wer weiß warum. Und ich hatte die Schließer für unfähig gehalten, zu denken! Ich glaube, dass einige von ihnen unglückliche Menschen waren. Eine Minderheit war oft mit der Arbeit als Henker der Gesellschaft nicht einverstanden. Mit Aktionen wie dieser rebellierten sie ein bisschen gegen die Robotisierung und Brutalisierung, dagegen, bloßes Werkzeug zu sein, ohne Gefühle, nicht mehr als ein Folterinstrument. Letzten Endes waren wir alle Menschen und wollten unser Gewissen auf irgendeine Weise zum Schweigen bringen, jene schwache Stimme in unserem Innern, die sich meldete, wenn wir Dinge gegen unsere Prinzipien taten. Oder etwa nicht?

Ich verabschiedete mich von Carmona und den anderen Kameraden. Ich packte meine Sachen zusammen und besorgte mir für die Reise alles Geld, das ich kriegen konnte. Dann bat ich einen Gefangenen, er solle am nächsten Tag bei mir zu Hause in La Coruña anrufen und meine Familie von meiner Verlegung unterrichten. Am nächsten Morgen, als die Tür der Zelle, in der ich einsaß, sich öffnete, fanden sie mich angekleidet und alle Sachen in drei Tüten gepackt. Ich war bereit für den Umzug. Ich fuhr ins Gefängnis von Carabanchel, für drei Tage meine Durchgangsstation, von wo mich ein anderer Transport in Richtung Cádiz brachte. Wir übernachteten in der Anstalt von Córdoba. Dort gab es Probleme bei der Durchsuchung, denn sie sperrten uns alle zusammen in zwei Zellen und befahlen uns, die Kleidung abzulegen und nackt Kniebeugen zu machen. Das kam mir erniedrigend vor und ich weigerte mich.

»Was?« sagte einer der Schließer überrascht, »Sie weigern sich, Kniebeugen zu machen?«

»Genau, und wenn Sie mich durchsuchen wollen, werden Sie das in einem anderen Raum tun müssen, denn ich werde mich nicht in der Öffentlichkeit nackt ausziehen.«

»Was ist los?« mischte sich ein anderer Schließer ein, »Sie sind wohl etwas Besseres als die anderen?«

»Nein, aber diese Art der Personendurchsuchung kommt mir nicht angemessen vor, und wenn die anderen das zulassen, ist das ihr Problem, nicht meins.«

Sie sperrten mich in eine der Zellen, allein. Die anderen Gefangenen nahmen sie mit ins Innere der Anstalt und kamen mich dann besuchen, in Begleitung des Dienstleiters, der stolz ein Rangabzeichen an seiner Brust trug.

»OK, Tarrío, wo liegt das Problem?« fragte er mich.

»Es gibt kein Problem, nur, dass ich mich weigere, wie Vieh behandelt zu werden.«

»Los jetzt, geben Sie uns die Kleidung.«

Ich zog mich aus und übergab ihnen die Kleidungsstücke, die ich getragen hatte, damit sie sie durchsuchen konnten. Als ich nackt dastand, befahl mir einer von ihnen: »Machen Sie Kniebeugen!«

»Nein«, antwortete ich.

Er sah den Dienstleiter fragend an und wartete auf einen Befehl. Jener wandte sich erneut an mich: »Nun gut. Wenn Sie sich so anstellen, kommen Sie direkt in die Disziplinierungszellen, ohne Tabak und Economato. Ihre Habe können Sie hier lassen, denn Sie werden sie nicht brauchen, wir werden Ihnen zwei Decken zukommen lassen.«

Nachdem ich mich angezogen hatte, brachten sie mich in die Isolationsabteilung und sperrten mich in eine Zelle. Sie war klein. In die Wand eingelassen, ein kleines Fenster, was auf die graue und triste Mauer von gegenüber wies. Kaum drang das Tageslicht herein. Jede Menge Staub und Asche. Ich begann in der Zelle auf und ab zu gehen, in Gedanken. Es kam mir erniedrigend und gemein vor, dass sie uns nackt Kniebeugen machen ließen, dass wir uns gegen- seitig unsere Ärsche vorzeigen mussten, nur aus kranker Laune einer Gruppe Schließerlehrlinge. Die Kniebeugen waren eine Beleidigung, jedenfalls empfand ich sie jedes Mal, da ich sie machen musste, als Beleidigung, und ein Mensch sollte nichts machen, was seine Liebe zu sich selbst verletzt, niemals. Wir Gefangenen mussten damit aufhören, mit der Verwaltung zu kollaborieren, indem wir uns ihren Launen unterwarfen. Bestrafung war vorzuziehen. Das war in der Tat nicht das Praktischste, doch war es das Würdigste. Wir konnten nicht weiter Kniebeugen machen, nackt und öffentlich, während andere Gefangene in anderen spanischen Gefängnissen Prügel und Sonderstrafe erleiden mussten, weil sie sich weigerten, mit dem Ziel, definitiv damit Schluss zu machen, endgültig Schluss zu machen mit allen Gefängnissen, Kniebeugen und erniedrigender Behandlung. Jetzt wurde ich bestraft, weil die anderen Gefangenen akzeptiert hatten, Kniebeugen zu machen. Hätten wir uns alle geweigert, wäre wahrscheinlich niemand bestraft worden, und wir hätten verhindert, dass dasselbe mit anderen Gefangenen gemacht wurde, bei einer anderen Verlegung. Es war eine Frage von Stolz und Würde.

Mit dem Abendessen brachten sie mir zwei schmutzige Decken, die nach Fäulnis rochen. Ich warf sie in eine Ecke und ging nach dem Essen weiter spazieren, die ganze Nacht hindurch, bis zum nächsten Tag, an dem die Fahrt nach Cádiz weitergehen würde, zusammen mit den anderen.

El Puerto de Santa María, 1. November 1990

Das berühmte Gefängnis von Puerto de Santa María tauchte durch die metallischen Gitterstäbe des Transporters der Guardia Civil vor meinen Augen auf. Gebaut aus rotem Ziegelstein stand es allein auf weiter Flur, bewacht von der Policía Nacional. Im Wagen wurde es plötzlich still, und die Handschellenschlüssel, das Gold und andere verbotene Objekte kehrten an ihre gewohnten Verstecke zurück. Das automatische Einfahrttor zum Anstaltsgelände ging auf, der Transporter fuhr hinein und kam vor der Tür für die Aufnahme zum Stehen. Wir waren da. In Zweierpaaren stiegen wir aus dem Wagen, nahmen unsere Sachen an uns und begaben uns in die Innereien des Gebäudes. Dort wartete eine Gruppe Schließer auf uns, die uns nach der ED-Behandlung zu den Disziplinierungszellen brachten, die sich in der sogenannten »Kuppel«, dem obersten Stockwerk befanden. Nach einer vollständigen Durchsuchung von Person und Habe sperrten sie jeden von uns in eine der Zellen. Die Kerker von Puerto de Santa María waren außerordentlich klein und erdrückend, brutal. Es war unmöglich, in ihnen auf und ab zu gehen, und das hieß, man musste auf dem Bett sitzen oder liegen bleiben. Letzteres war inzwischen erlaubt, vor Jahren mussten die Gefangenen dort den ganzen Tag sitzen oder stehen, es war verboten gewesen, sich hinzulegen, zu rauchen oder zu reden. Ich wusch mir das Gesicht im Waschbecken und urinierte in das daneben befindliche ebenerdige Klo. Dieses Loch war mit einer mit Wasser gefüllten Plastikflasche verschlossen, das war der Deckel, der Gerüche und nachts die Ratten fernhalten sollte. Ich blickte aus dem Aluminiumfenster: Gegenüber und unterhalb der Kuppel lag die Krankenstation der Anstalt. Es befanden sich mehrere Menschen darin, einer von ihnen sichtbar krank: er hatte AIDS. Das erkannte ich an seiner extremen Magerkeit. Verloren ging er durch den Saal, und seine Augen, schattig umrandet von der Nähe des Todes, hatten jeden Glanz verloren. Ich störte ihn nicht. Ich erinnerte mich an meinen Landsmann Fernández Mariño, der vor Jahren in diesem Saal gestorben war, an derselben furchtbaren Krankheit. Ich hatte ihn nicht gekannt, doch hatten wir gemeinsame Freunde, die mir von ihm erzählt hatten. Er war ein echter Rebell, ein geborener Kämpfer, einer der Anführer des ersten Aufstands mit Geiseln, der in diesem berüchtigten und gefürchteten Gefängnis stattgefunden hatte. Dank ihm und dank Antonio Mateo, der ebenfalls an AIDS gestorben war, wurden die schwersten Haftbedingungen der spanischen Gefängnisse geändert. Bedingungen, unter denen jahrzehntelang die härtesten Kriminellen des Landes gehalten und eingeschüchtert wurden. Es waren Leute wie sie, die in Begleitung von Ortíz Jiménez, Zamoro Durán, Maya Martos, Fernández Varela und Redondo Fernández die Geiselnahmen an Schließern mit Forderungen verbanden. Sie schlugen zurück und prangerten öffentlich, über die Medien, die unmenschlichen Zustände in den spanischen Gefängnissen an. Ohne Zweifel schuldeten wir ihnen viel, wir alle. Leute wie Fernández Mariño und Antonio Mateo verdienten es, dass ihrer mit vorzüglichstem Respekt gedacht wurde, denn sie waren unter anderem die ersten gewesen, die sich dem Kampf gegen das System verschrieben hatten, die für die AIDS-Kranken kämpften, die anfingen im Gefängnis zu sterben, unter den kalten, zynischen, gleichgültigen Augen der Behörde.

Am nächsten Tag, nach dem obligatorischen Foto und einem kurzen Gespräch mit einer Sozialarbeiterin, wurde ich nach Trakt zwei gebracht, wo sich mein Freund Anxo befand. Ich traf ihn auf dem Hof.

»Qué pasa, Anxo?« grüßte ich und umarmte ihn.

»Was machst du denn hier?« fragte er.

»Ich komme nach Teneriffa 2, bin hier auf der Durchreise... und du?«

»Ich komme aus Salto del Negro, Las Palmas. Sie erwischten uns noch auf dem Gelände, Garfia und mich, als wir versuchten, über die Mauer zu springen. Jetzt weiß ich nicht, wohin sie mich bringen.«

»Schöne Scheiße. Na ja, nächstes Mal klappt’s, oder?« Ich wollte ihn aufmuntern.

»Na klar...«

Wir gingen in Kreisen im rechteckigen Hof herum, unter einem blauen und sonnigen Himmel.

»Und hier? Wie ist es hier?«

»Locker, was die Schließer angeht. Anscheinend haben ihnen die letzten Geiselnahmen zu Denken gegeben. Ansonsten ist hier nicht viel los.«

»Ja, scheint so.«

Es stimmte. Das berühmt-berüchtigte Puerto de Santa María war nicht mehr die Hölle, die es früher gewesen war. Jetzt konnte man von Fenster zu Fenster reden, vor Jahren etwas Undenkbares. Die Gefangenen konnten denen, die in den Zellen saßen, Kaffee schicken, ohne Angst vor Prügel. Man schlug die Gefangenen nicht mehr unter jedwedem Vorwand, es gab keine nächtlichen Besuche mehr, die zur Einschüchterung gedient hatten. Hin und wieder ließ ein Schließer seine schlechte Laune heraus, wütete in jemandes Zelle und schmiss jemandes Sachen durch die Gegend, nicht mehr als Wutanfälle frustrierter Folterer, deren höchster Ausdruck von Leben es gewesen war, sich mittels schäbigsten und niederträchtigsten Missbrauchs selbst zu verwirklichen. Für sie gab es ohne harte Hand keinen Terror, und ohne Terror gab es keine Disziplin. Das war, was sie ihr ganzes Leben lang praktiziert hatten. Sie hassten uns, denn in ihren Augen waren wir nur der Abschaum der Gesellschaft, wo es doch auf Erden nichts miserableres gibt als den Beruf des Henkers. Sie lebten versteckt und in Angst und fürchteten ständig um ihr Leben. Auf der Straße hatten sie keine anderen Freunde als die anderen Schließer; die Gesellschaft verachtete sie. Sie wussten das, und das machte sie noch schlimmer, sie wurden böse und intolerant. Sie ertränkten jene Realität im Gefängnis, wo sie sich wichtig fühlten. Ja, Puerto hatte sich geändert, doch sie sich nicht, und bei der nächsten Gelegenheit würden sie zu den alten Gewohnheiten zurückfinden, zur Prügel und zur verkorksten Mentalität, die sie mehrheitlich kennzeichnete. Das Gefängnis änderte sich nicht, wechselte man nicht die Schließer aus, und ohne Zweifel waren die verantwortlich für viel Amtsmissbrauch und Folter, und solange sie blieben, würde es damit weitergehen.

Als ich ein paar Tage später über den Hof ging, brachten sie Juan José Garfia. Ich ging bis zur Zugangstür zum Trakt und wir redeten durch die Gitterstäbe.

»Mann!« rief er, als er mich sah, »du bist ja überall!«

»Damit meinst du wohl eher dich, oder?« fragte ich ihn lächelnd.

»Was machst du hier?« fragte er mich.

»Ich komme nach Teneriffa 2.«

»Da hast du Glück, denn ich habe gehört, da kann man gut abhauen. Viel Erfolg also...«

»Und was ist mit dir? Anxo hat mir schon das von Salto del Negro erzählt. Pech.«

»Ja, das war Pech.«

»Hast du Geld?«

»Nein, nicht eine Kröte. Ich hab alles auf dem Schiff für Bier ausgegeben.«

»Später schicken wir dir etwas, OK?«

»Gut.«


Zwei Wochen später fuhr ich los nach Teneriffa. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden, und gegen elf wurde ich in einem kleinen Transporter bis zum Hafen von Cádiz gebracht. Dort hielten wir vor einer riesigen Fähre mit Namen Manuel Soto, wie ich an ihrem Bug lesen konnte. Wir warteten einige Minuten und man ließ uns über eine Hängebrücke in die Garage der Fähre einfahren, wo schon andere Transporter, Lastwagen und Autos standen. Sie holten mich in Handschellen heraus und brachten mich zu den Zellen-Kabinen, neben den Maschinenräumen, unterhalb der Wasserlinie. Der Lärm der Motoren, die warm liefen, war ohrenbetäubend. In der Zelle befand sich ein Stockbett mit zwei Plätzen, ein Klo und eine Klappe in der Tür, durch die hindurch man mir die Handschellen abnahm und wodurch ich mein Essen bekam. Zwei Guardias Civiles bewachten mich. Die beiden waren freundlich zu mir und kauften mir mit dem Geld, das ich ihnen gab, in der Schiffscafeteria ein paar Bier und eine Schachtel Zigaretten. Es war eine entspannte Reise.

Dritter Teil: Auf dem Weg in die Rebellion

Was ist Freiheit? Was ist Sklaverei? Bestände die Freiheit des Menschen in der Empörung gegen alle Gesetze? Nein, insofern diese Gesetze natürliche, wirtschaftliche und soziale Gesetze sind, die nicht autoritär aufgezwungen werden, sondern in den Dingen, den Beziehungen, den Situationen selbst liegen, deren natürliche Entwicklung sie ausdrücken.

Ja, insofern als es politische und juridische Gesetze sind, die von Menschen anderen Menschen aufgezwungen werden, sei es mit dem Recht der Kraft, willkürlich; sei es heuchlerisch, im Namen irgendeiner Religion oder metaphysischen Doktrin; sei es endlich kraft jener Fiktion, jener demokratischen Lüge, die man das allgemeine Stimmrecht heißt.

MICHAEL BAKUNIN

Kanarische Inseln, Gefängnis Teneriffa 2, November 1990

Am dritten Tag, ungefähr um zehn Uhr morgens, lief die Manuel Soto im Hafen von Santa Cruz auf Teneriffa ein. Das kraftvolle Stampfen der Motoren verstummte und klang noch in meinen Ohren nach, als mir durch die Klappe erneut Handschellen angelegt wurden und ich zum Gefangenentransporter gebracht wurde, zusammen mit meinen Siebensachen. Von Santa Cruz ging es nach La Laguna und dort nach La Esperanza, dem Berg, auf dem das Gefängnis stand. Es war groß und seine grauen Mauern waren beeindruckend hoch. Eine lange Brücke, bewacht von einem Paar Guardias Civiles, spannte sich vom Eingang zu einer kleinen nahe gelegenen Hochebene, überquerte das Gelände und ein kleines Tal. Nachdem wir zwei enorme automatische Tore durchquert hatten, hielt der Wagen in einer kleinen Garage, von der aus man in die Aufnahmeabteilung gelangte. Dort übernahmen mich die Schließer, und nach der ED-Behandlung, dem nackt Ausziehen und einer vollständigen Untersuchung meiner Person und meiner Sachen wurde ich in einen der Trakte gebracht. Diese hatten die Form von allein stehenden Häusern und waren voneinander durch asphaltierte Wege und kleine Grünanlagen getrennt. Mittendrin entdeckte ich ein Schwimmbecken. Ich muss sagen, dass mich das schon erstaunte, so etwas war neu für mich. Mir wurde eine Zelle im Trakt für Neuaufnahmen zugewiesen, und, Überraschung auf Überraschung, ich durfte mich im Trakt bewegen, in den Economato gehen und mit den anderen zusammen im Speisesaal essen. Seit drei Jahren hatte ich mit niemandem mehr zusammen gegessen sondern immer einsam in der Zelle – es kam mir ungewohnt vor und verstörte mich. Ich kam an einen Tisch mit zwei Afrikanern, vor denen ich mich ernst und reserviert zeigte. Es war eigenartig, doch in diesem Moment hätte ich lieber allein in der Zelle gegessen als dort unter Menschen.

Nach dem Essen ging ich zusammen mit anderen Gefangenen zum Fenster des Kaffeeausschanks. Den leitete ein Transsexueller mit fülliger Brust, den alle als Lola kannten – Transsexuelle und schwule Männer gab es dort mehrere. Ich bestellte zwei Kaffee:

»Zwei schwarze Kaffee bitte.«

»Du bist der Neue, oder?« fragte sie neugierig. »Von wo kommst du?«

»Aus Zaragoza.«

»Aah, du bist Gote, von wo denn?«

»Was soll das heißen, Gote?«

»So nennen wir hier die Leute vom Festland.«

»Ich heiße José und komme aus La Coruña, ich bin Galizier.«

»Hübsche Gegend, Galizien. Ich heiße Lola.«

»Das weiß ich.«

Als der Kaffee serviert war, verabschiedete ich mich von Lola. Zu Anfang war es nicht ganz einfach, diesen Typen als Frau zu behandeln, doch aus Respekt vor seinen Gefühlen nannte ich ihn bei seinem weiblichen Namen. Das schien ihm zu gefallen, denn zur Siesta-Zeit, als er zusammen mit anderen Gefangenen den Trakt und den Essenssaal putzte, kam er bei mir vorbei. Ich war in die Zelle eingeschlossen. Deshalb redeten wir durch das vergitterte Guckloch in der Tür.

»Hallo«, grüßte sie mich.

»Hallo.«

»Wirst du hier bleiben?«

»Ja«, antwortete ich, »aber sie werden mich bald in die Isolation bringen, denn ich bin im ersten Grad und es kommt mir schon komisch vor, dass sie mich hier lassen.«

»Dann wirst du auf die andere Seite des Trakts kommen, auf die andere Seite jenes Wachhäuschens«, erklärte sie mir und zeigte mit dem Finger auf ein nah gelegenes kleines Gebäude.

»Gut.«

»Warst du schon duschen?« Sie ging zum Angriff über, mit einem vielsagenden Grinsen.

»Nein, noch nicht«, antwortete ich.

»Warum gehst du nicht jetzt?« – Sie lud mich ein.

»Nein danke«, blockte ich ab, »und hör auf, mich anzubaggern. Ich respektiere dich, wie du bist, doch das ist alles, verstehst du? Alles weitere ist überflüssig.«

»OK, einverstanden.«

Diesen Nachmittag wurde ich in den Trakt daneben verlegt, Isolation. Ich bekam eine Zelle im unteren Stockwerk. Die Behandlung war bis dahin korrekt gewesen, erstaunlich korrekt. Die Zelle, die man mir zugewiesen hatte, hatte eine Dusche neben dem Waschbecken und dem Klo, beide aus rostfreiem Edelstahl und in den Zement eingelassen. Ein steinerner Tisch und ein metallener Stuhl standen vor einem der beiden Zellenfenster, deren Gitter kreuzweise verschweißt waren. Ein Bett aus Stein und zwei kleine Schränke zur Aufbewahrung der Habe komplettierten das Interieur. Ich räumte meine Sachen ein und machte das Bett. Dann duschte ich und dachte auf dem Bett ausgestreckt nach. Alles dort war anders als was ich bisher erlebt hatte in den Gefängnissen auf dem Festland. Die lockere und entspannte Stimmung brachte mich durcheinander. Die Schließer hatten mir gegenüber Höflichkeit an den Tag gelegt, und die Zellen befanden sich in einem ziemlich bewohnbaren und hygienischen Zustand. Ich fühlte mich nicht von der Repression verfolgt wie in den Vollzugsanstalten ersten Grades, aus denen ich kam. Außerdem war ich nahezu entzückt: In diesem Komplex aus Anstaltstrakten und Mauern roch es nach der Chance auszubrechen. Die Brücke, die ich bei meiner Ankunft hatte sehen können, und die über das gesamte Gelände führte, hatte ich ständig vor Augen. Das Gefängnis war neu, und das hieß, dass sein Sicherheitssystem möglicherweise an irgendeinem Punkt auszuhebeln war. Die Frage war, an welchem. Alle Gefängnisse, absolut alle, hatten einen Schwachpunkt, aber nicht alle Gefangenen waren in der Lage, ihn auszunutzen. Am wichtigsten war, eine Gelegenheit wahrzunehmen, sobald sie sich bot und es eine Chance auf Erfolg gab. Versagte man, flickte die Direktion das Leck und verstärkte die Sicherheit in der ganzen Anstalt. So wurde auch, wenn einer von uns versagt hatte, die Generaldirektion von den von uns angewandten Methoden unterrichtet, welche sich dann darum kümmerte, die anderen Gefängnisse zu informieren. Dort wurden dann neue Maßnahmen aufgelegt, die Auswirkungen auf die Chancen anderer Ausbrecher hatten; die Hoffnung Vieler war die Flucht. Deshalb würde ich mich vor einem Versuch aufs Beste informieren müssen, es einfach so zu versuchen, war nicht angebracht.

Am nächsten Morgen ging ich mit den übrigen Gefangenen aus meinem Trakt auf den Hof. Zwei von ihnen waren Mitglieder von ETA[16], die anderen drei comunes[17] wie ich. Wir alle kamen vom Festland und waren ständig zusammen, und nur manchmal brachte man Gefangene aus anderen Trakten, die eine Zeit in Isolation verbringen mussten. Der Trakt hatte zwei Stockwerke, zwei kleine Höfe und einen Fernsehraum. Man erklärte mir, wie der Apparat funktionierte. Es gab reichlich und gut zu essen. Wir hatten ein wirklich professionelles Ärzteteam, einen Yogalehrer, eine gut sortierte Bibliothek und täglich vier Stunden Zugang zum Hof. Man erklärte mir auch, der Direktor würde mich wohl rufen, um mit mir zu sprechen, und was er mir möglicherweise sagen würde. Doch das würde ich schon sehen.

Auf meinem Spaziergang erteilte mir einer der Ärzte Visite, in einem kleinen Zimmer für die Sprechstunde, neben dem Aufenthaltsraum.

»Hallo, sagen Sie mir, wie Sie heißen?« fragte er mich.

»José Tarrío González.«

»Gut. Sehen Sie, ich habe ihrer Akte entnommen, dass Sie seit mehreren Jahren Träger von AIDS-Antikörpern sind, weshalb wir Ihnen eine Essenszulage verschreiben werden, zusätzlich zum normalen Essen. Sie wissen schon, Joghurt, belegte Brote und Obst. Sind Sie damit einverstanden?«

»Das finde ich hervorragend«, antwortete ich.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Zur Zeit gut.«

Wir füllten einige Formulare aus und verabschiedeten uns mit einem Händedruck. Niemals hatte mich auch nur irgendein Arzt so behandelt, derart professionell, wie dieser Mann es getan hatte. Bis jetzt hatte man sich in keinem Gefängnis darum gekümmert, mir besonderes Essen zuzuteilen, und er hatte das getan, ohne dass ich ihn gebeten hätte. Jener Arzt wusste es nicht, doch es war das erste Mal, dass ich einem von ihnen die Hand angeboten hatte. Das bedeutete mir viel.

Dank dieser Zulage widmete ich mich mehrmals die Woche dem Laufen über den Hof, um meinen Körper in Form zu halten, unerlässlich für einen Ausbrecher, wie die Luft für einen Vogel. Auch machte ich manchmal beim Yoga mit, ein Yogi gab uns Unterricht. Dafür brachten sie uns in Gruppen in den Aufenthaltsraum des Trakts, und dort saßen wir dann auf Decken, machten Atemtraining im Lotossitz oder Übungen wie den Sonnengruß. Yoga hatte bisher meine Aufmerksamkeit nicht sonderlich erregt, doch diese einfachen Übungen sollten mir zusammen mit den Yogabüchern, die ich daneben las, noch von großem Nutzen sein. Überhaupt las ich wieder mehr. Es gab eine gut bestückte Bibliothek, aus der mir die Lehrerin die Bücher brachte, die ich wollte, ohne Begrenzung der Anzahl. Dort entdeckte ich Albert Camus, dessen Werke mich beeindruckten, nahm Shakespeare wieder auf, und ich unterhielt mich mit Medea und den Troyanern von Euripides. Die Tragödie faszinierte mich. Jene Werke gaben eine authentische, wirkliche und wahrhaftige Wahrnehmung des Lebens wieder. Was uns diese unschätzbaren Kenner der menschlichen Psyche auf Pergament hinterlassen hatten, war das Leben an sich: Schmerz, Konflikt, Eitelkeit, Angstzustände, Lust, die ein oder andere Freude, Depression, Neid, Wut, Liebe (und Lieblosigkeit), der Tanz um das Goldene Kalb, und, schließlich, der Tod: unsere sterilen Anstrengungen und Eitelkeiten, zu Nahrung für die Würmer geworden, Mistdünger für die Erde.

Wie es mir angekündigt worden war, wurde ich an diesem Nachmittag in das Büro des Direktors gebracht. Begleitet von zwei Schließern durchquerte ich mehrere Gärten, bis in die Zentrale, wo sich die Leitung befand, neben der Krankenstation und dem Kino. Ich passte genau auf. Von dort aus gingen wir eine Treppe hinauf bis in den zweiten Stock, wo sich die Archive und die Amtsstuben der Gefängnisbürokratie befanden. Über eine Reihe Gänge und Türen gelangten wir bis ins Büro des obersten Befehlshabers. Dort ließen sie uns allein.

»Setzen Sie sich«, wies er mich autoritär aber höflich an.

Ich setzte mich ihm gegenüber und sah ihn direkt an.

»Ich werde klar und deutlich zu Ihnen sein, Tarrío. Mir ist bekannt, dass Sie ziemlich konfliktreich und schwierig sind. Ich hoffe, dass sich das hier ändern wird und dass Sie zur Mitarbeit bereit sind. Sie werden mitbekommen haben, dass wir Ihnen eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb des Trakts zugestehen. Benehmen Sie sich und Sie werden sehen, wie Ihnen das zugute kommt.« Das sagte er mir, ein Diskurs, den ich schon kannte, denn ich war ja schon über seine rhetorischen Künste aufgeklärt worden. Nach einer Pause fuhr er fort: »Ihre Akte zählt hier gar nichts, und Ihre Vergangenheit interessiert uns nicht, aber das, was Sie von jetzt ab tun. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, und ich finde es in Ordnung, was Sie mir anbieten, doch mit dem, was mir die Strafvollzugsordnung auferlegt, habe ich mehr als genug, weshalb ich Sie bitte, sich danach zu richten, und von mir aus wird alles gut laufen. Ich muss sagen, die Behandlung ist korrekt, wofür ich dankbar bin. Ich bin nicht daran gewöhnt, gut behandelt zu werden, wissen Sie?« fügte ich vorsichtig hinzu.

»Wir hoffen, dass Sie mitwirken und dass wir sie bald in einen zweiten Grad überführen können, verhalten Sie sich also entsprechend. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte.«

»Einverstanden.«

Beim Verlassen des Büros, am Ende des Ganges, auf dem Rückweg in den Trakt konnte ich für einen Moment die Brücke sehen, die genau dort endete. Ich prägte mir alles ein. Ich war entschlossen, etwas zu versuchen. Das Angebot der Verwaltung kam zu spät. Für sie war es wohl bequem, die Vergangenheit der Menschen mit einem Federstrich auszuklammern und nach Gutdünken Gelegenheiten und Privilegien zu verteilen. Mit was für einer Leichtigkeit machten sie aus einem Menschen ein Instrument! Es kann sogar sein, dass das alles gut gemeint war, doch ich würde mich nicht für Experimente in Psychologie der Pädagogik zur Verfügung stellen. Dem Vorschlag des Direktors würde ich schwerlich folgen können: Vergessen? All die Schikane, den Missbrauch, jene ständigen derart erniedrigenden Durchsuchungen, die Prügel und die Fesseln oder die Transporte in Käfigen? Die unterlassene medizinische Hilfeleistung an Tausenden von AIDS- und anderen Kranken, die Disziplinierungszellen, die Niederträchtigkeit von Menschen, die Menschen kaputtmachen? Vergessen, dass jemand Träger von AIDS-Antikörpern war und dass man ihn in kalten Zellen sterben ließ, nach jahrelanger Agonie, oder in den Sälen der Gefängniskrankenhäuser, ans Bett gefesselt? Die Behandlung vergessen, die man jenen Kranken angedeihen ließ, meistens junge Leute, die in die Fänge der Drogen geraten und mit der Welt der Kriminalität vertraut geworden waren? Was soll ich vergessen, Herr Direktor? Dass ich eines jener verabscheuungswürdigen Wesen war, die man allzu häufig in Haft sterben ließ, im Namen einer düsteren Rache, die den Bürgern aus dem Herzen sprach? Oder sollte ich besser sagen, den Henkern? Nie hatte ich meine Ablehnung des Systems, speziell des Strafvollzugssystems, verheimlicht. Das würde ich auch jetzt nicht tun. Ich war vollkommen davon überzeugt: Meiner zahlreichen Defekte zum Trotz waren in meiner Banditenseele mehr Größe und Liebe —worauf alle mit anklagenden Zeigefingern deuteten— als in der versammelten Mannschaft derjenigen, die meine Haft geplant, an ihr mitgewirkt und sie vollstreckt hatten. Ich würde nicht mithelfen, jenes System zu genehmigen, im Tausch gegen entsprechende Verheißungen, auch wenn das meine lebenslange Isolation bedeuten konnte.


Im Trakt herrschte Routine. Ich pflegte mich häufig mit einem der Politischen zu unterhalten, durch das Guckloch in der Zellentür. So manchen Nachmittag lieh er mir seine Schreibmaschine, damit ich Texte verfassen konnte, die ich anschließend an die Richter sandte, die mich verurteilt hatten —ich bedrohte sie mit dem Tod. Vielleicht würde man gegen mich ein Verfahren eröffnen, und dass würde mir die Chance bieten, während der Verhandlung öffentlich die Folter in den spanischen Gefängnissen anzuprangern, und bei jeder dieser Gelegenheiten würde ich mehr versuchen können. Es ging mir darum, auf irgendeine Weise am Krieg gegen die Menschen und Institutionen teilzunehmen, die für die Justiz verantwortlich waren. Und eine der besten Arten dies zu tun war auszubrechen, mit starkem Willen und Mut jene uns auferlegte Strafe zu unterlaufen, ihnen das Recht abzusprechen, uns zu bestrafen, und uns selbst zu befreien, mittels Rebellion— das war der Weg, der vor uns lag.

Ich provozierte eine Panne in meiner Zelle und versuchte so, in eine der Zellen in der unteren Etage verlegt zu werden, die auf die Brücke und die Wachtürme der Guardia Civil hinaus wiesen. Das schaffte ich auch, nach einem Gespräch mit einem Schließer. Von dieser Position aus konnte ich beobachten, dass die Familienangehörigen der Gefangenen über die Brücke in die Besuchsräume gelangten, wie auch die Schließer, die über die Brücke den Wachwechsel durchführten. Das Gelände hatte ein einziges Tor, durch das nur Versorgungslastwagen und Polizeitransporter fuhren. Der übrige menschliche Verkehr musste durch dieses Tor stattfinden, herein und hinaus. Es gab drei Kontrollen. Die erste außerhalb der Anstalt, wo die Ausweise aller Ankommenden eingesammelt und bei Verlassen der Anstalt wieder ausgehändigt wurden. Die zweite Kontrolle geschah von den zwei Wachtürmen genau in der Mitte der Brücke aus, hier saßen zwei Guardias Civiles und blickten über die Gefängnismauern. Die dritte Kontrolle fand in der Zentrale statt und bestand aus mehreren automatischen Türen, die den Zugang ins Innere der Anstalt oder in die Besuchsräume freigaben. Nachts war alles gut beleuchtet und die Guardias standen konstant Wache, sie setzten sich kaum ruhig hin. Doch ich fand einen kleinen Fehler in der Beleuchtung. Es war die Ausleuchtung der Brücke, die überwiegend von rechts kam. Sie traf auf das Betongeländer und ließ die rechte Innenseite der Brücke im Halbdunkeln. Wenn ich es schaffte, auf die Brücke zu gelangen, ohne gesehen zu werden, würde ich ganz eng am Geländer entlang über den Boden robben können, nicht im Blickfeld des rechten Turms, und im Schatten des Geländers auch vor den Blicken aus dem linken Turm geschützt. Außerdem würde die Nähe der beiden Türme, zwischen denen nur die zwei Meter breite Brücke verlief, die Guardias Civiles nicht daran glauben lassen, jemand könnte es wagen, sie dort zu überqueren, unter ihrer Nase. Das hoffte ich jedenfalls.

Ich erhielt Besuch von einem der Ärzte. Wir unterhielten uns in dem kleinen Sprechzimmer in unserem Trakt.

»Tarrío, wie lange ist es her, dass Sie Blutprobe und Lymphozytenkontrolle gemacht haben?«

»Die letzte war 88, in Pontevedra, aber man hat mir die Ergebnisse nicht mitgeteilt.«

»Das ist unmöglich, Tarrío...« unterbrach er mich überrascht, »mindestens alle drei Monate hätte man dich untersuchen müssen.«

»Schauen Sie in meine Akte. Ich lüge Sie nicht an, in der Akte steht meine komplette Krankengeschichte.«

»Das ist schwer zu verstehen, wirklich.«

Ich lächelte ironisch, als ob ich ihn dazu einladen wollte, aus einem Traum aufzuwachen.

»Wie auch immer. Wir werden die Untersuchung durchführen. Mal sehen, wie es um deine Abwehrkräfte bestellt ist, einverstanden?« Er kritzelte etwas auf ein Papier. »Wie geht es dir hier?«

»Besser als an anderen Orten, an denen ich war, aber seit einiger Zeit habe ich manchmal Herzrasen und nachts Erstickunsanfälle, dann geht es mir sehr schlecht.«

»Wie lange bist du schon in Haft?«

»Drei Jahre.«

»Nein, ich meinte, wie lange befindest du dich unter Isolationsbedingungen?«

»Drei Jahre.«

»Dann wundert mich das nicht«, sagte er, »sicherlich hast du Angstzustände und etwas Klaustrophobie. Ich verschreibe dir etwas, mal sehen, wie es dir damit geht, OK? Wenn die Ergebnisse der Blutuntersuchung da sind, komme ich zu dir und wir besprechen das.«

»OK, danke.«

»Gern geschehen, Mann, gern geschehen.«

Die Ergebnisse der Blutprobe zeigten einen geringfügigen Niedergang meines Immunsystems, noch oberhalb des Gefährlichen, denn ich hatte etwa noch 500 T4[18]. Ich wollte mich gründlicher informieren und redete mit einem Arzt darüber.

»Tarrío«, erklärte er mir, »die Krankheit ist wie du weißt unumkehrbar. Es bleibt nur die Hoffnung, dass der Virus noch eine lange Zeit braucht, sich zu entwickeln, was aber in deiner derzeitigen Lage nicht sehr wahrscheinlich ist.« Er nahm die Zigarettenschachtel, zündete sich eine daraus an und lud mich zum Rauchen ein. Ich nahm an, und er fuhr fort: »Wenn ich könnte, würde ich dich und alle anderen kranken Träger von Antikörpern freilassen, aber das geht nicht. Das Gefängnis ist in eurem Fall besonders zerstörerisch. Als Arzt kann ich das nicht akzeptieren, und als rational denkender Mensch auch nicht. Aber in diesem Fall steht das Kriterium der Richter über dem der Medizin. Obwohl es hart ist, kann ich die Freilassung eines Kranken nur dann beantragen, wenn er schwer krank ist und sich in einer terminalen Phase befindet; das heißt, am Rande des Todes.«

»Das wusste ich schon.«

»Doch in deinem Fall ist alles viel schlimmer, Tarrío, denn die Verlängerung der Isolation beeinträchtigt dich ernsthaft. Die Disziplinierungszellen rufen eine schwerwiegende Reaktion aus, ein psychisches Leiden, das sich wiederum auf das vegetative Nervensystem und das Gehirn auswirkt. Das spielt im Hinblick auf das Immunsystem eine Rolle, es setzt die körpereigenen Abwehrkräfte herab.«

»Das heißt, die Strafe, die man mir auferlegt, führt dazu, dass ich schneller sterbe, oder?«

»Genau das. Logisch wäre es, für euch Zentren anderen Typs zu schaffen, offener, und eher nach medizinischen Kriterien als nach Strafvollzugsvorschriften, doch die Wirklichkeit ist weit entfernt davon.«

»Was raten Sie mir im Hinblick auf Vorsorge?«

»Das Beste für dich wäre, aus der geschlossenen Abteilung herauszukommen. Mehr Hofstunden und mehr Platz, um dem Druck der Zelle die meiste Zeit entgehen zu können. Das würde deine Angstzustände hemmen und das Gefühl der Platzangst, das von drei Jahren in Zellen herkommt. Ich würde dir auch raten, mit dem Rauchen und Kaffee Trinken aufzuhören, und Yoga oder andere regelmäßige Übungen zu machen.«

»Ein bisschen mache ich schon.«

»Gut. Wie geht es dir mit den Medikamenten, die ich dir verschrieben habe?«

»Viel besser.«

»Also, Kopf hoch und pass auf dich auf, OK?« verabschiedete er sich.

Und es blieb nicht bei Worten. Während meines Aufenthalts auf Teneriffa zeigten sich die Ärzte, ausgenommen zwei von ihnen, mir gegenüber uneingeschränkt professionell und unabhängig von der Direktion. Außerdem bestärkte mich dieses Gespräch mit dem Arzt, der sich für meine Gesundheit einsetzte, in meinen Ausbruchshoffnungen und in meiner Haltung zum Gefängnis. Mein Kampf war legitim, wie es der Kampf aller war, die sich weigerten, im Gefängnis zu sterben oder zu leben.


Am 12. November überraschte mich eine Meldung in Radio Nacional. Im Gefängnis von Foncalent, Provinz Alicante war ein blutiger Aufstand ausgebrochen, mit mehrfachen Geiselnahmen. Gegen halb elf Uhr vormittags hatte Antonio Cortés, bekannt als El Zorro, mit einem Messer bewaffnet mehrere Schließer in Trakt vier in seine Gewalt gebracht. Von dort ging er in Begleitung anderer Gefangener, die er zuvor befreit hatte, in die Trakte zwei und drei. Dort ließen sie die übrigen Gefangenen frei. Die gesamte Anstalt wurde kaputt geschlagen. Die Ereignisse überschlugen sich. Es gab Streit, offene Rechnungen wurden beglichen und es gab mehrere schwer Verletzte und einen Toten. Am zweiten Tag des Aufstands entschied die Mehrheit der Gefangenen nach langen Verhandlungen, die Revolte zu beenden und in die Zellen zurückzukehren, das heißt, sie gingen nicht über Protest und das Formulieren von Forderungen hinaus. Andere Gefangene weigerten sich aufzugeben und wollten weitermachen. Sie wollten ausbrechen. Antonio Cortés, Vicente Gómez, Francisco Sánchez, Pinteño Sánchez und Héctor Guillén verschanzten sich in einer Galerie von Trakt drei, mit fünf Schließern als Geiseln. Sie forderten ohne Umschweife unter Androhung des Todes der Geiseln die Bereitstellung eines gepanzerten Transporters, Waffen und Geld. Die Verhandlungen waren hart. Die anderen Gefangenen wurden in die Zellen von Trakt zwei und drei gesperrt. In den Medien und seitens der Familienangehörigen der Verletzten und des Toten wurde deutliche und scharfe Kritik geübt.

Mir war klar, dass das Gefängnis und die Isolation diese Situation geschaffen hatten, und dass die Verwaltung entscheidend dafür verantwortlich war. Ich verstand die mörderische Wut einiger dieser Männer, die bereit waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, die genug von ihrer Lage hatten. In gewisser Weise fühlte ich genauso. Aber ich war nicht mit dem Tod jenes Gefangenen einverstanden und auch nicht mit den Gewaltausbrüchen und Messerstechereien, die unter Genossen stattgefunden hatten, als die Bestie im Menschen erst einmal freigelassen war. Ich verstand nicht, wieso sie einen Aufstand machen konnten, um sich gegenseitig umzubringen, statt sich auf gemeinsame Forderungen zu einigen, gegen die wirklich für den Strafvollzug Verantwortlichen. Jenes zur Schau Stellen von Rohheit würde die gesamte öffentliche Meinung unweigerlich gegen sie aufbringen, in der Folge gegen uns alle. Während wir alle gespannt abwarteten, was bei den Verhandlungen mit Antoni Asunción herauskam, bezogen GEOS[19] Stellung zum Sturm auf den Trakt, wo die Geiseln festgehalten wurden.

Alles war vorbei um zehn Uhr morgens am 15., nach drei Tagen. Es geschah in einem Moment der Unachtsamkeit der Gefangenen. Pinteño und Serra gingen in eine Zelle des Trakts, und einer der Geiseln schloss hinter ihnen die Tür und den Riegel. Sofort nutzten die anderen Schließer ermutigt von der Aktion ihrer Kollegen die Lage aus und überwältigten Francisco Sánchez, El Rojo, und streckten ihn zu Boden. Dann riefen sie durch die Fenster nach draußen und die GEOS überwältigten schließlich alle Gefangenen, verprügelten sie mit Baseballschlägern, zogen sie nackt aus und fesselten sie. Mir tat es leid für sie, denn sie hatten wirklich eine Menge Mut bewiesen und hoch gepokert. Ich dachte, hätten sie statt einen Gefangenen umzubringen einen Schließer exekutiert, sie wären vielleicht an ihr Ziel gekommen. Doch denken und reden war leicht: Schwieriger war es zu handeln.

Die Medien gehorchten der eintönigen Stimme ihres Herrn und fraßen sich an dem Thema satt, bezeichneten das Geschehene als wilden Akt einer Gruppe außer Kontrolle geratener Psychopathen. In den Nachrichtensendungen wurde kein Wort darüber verloren, was innerhalb der Mauern jenes Gefängnisses los war. Niemand erwähnte, dass Monate zuvor Unregelmäßigkeiten im Strafvollzug in der psychiatrischen Abteilung publik geworden waren, als eine Schriftstellerin bei einem Besuch feststellen musste, dass es kein medizinisch geschultes Personal gab und dass die Schließer für die Verabreichung der Medikamente an die Gefangenen verantwortlich waren, Leute ohne jedes medizinische Wissen, Laien in Sachen Psychologie oder Psychiatrie und über den Hauptschulabschluss nicht hinausgekommen. Auch nicht die ständige Folter, der die Gefangenen ausgesetzt waren, mit kalten Duschen, Fesselungen ans Bett, die ganze Monate dauerten, mit Prügel und dem willkürlichen Einsatz von Zwangsjacken. Daran erinnerte sich niemand, es wurde nicht erwähnt. Die Büttel mit der Schreibfeder prostituierten sich weiterhin vorbehaltlos, was mich schon nicht mehr wunderte. Sie waren total auf Linie, unterwürfig. Den Horror im Gefängnis kannten nur die wir dort lebendig begraben waren. Was wussten jene Irren schon vom Gefängnis? Wie diese Gefangenen konnten nur völlig Verzweifelte handeln, und Verzweiflung kommt, wenn jemand alle Hoffnung verloren hat. Diese ganze Gewalt war vom Gefängnis hervorgebracht worden, von dem, was täglich zwischen diesen Mauern stattfand, von dem, was die meisten Journalisten oder Bürger mit klingenden Namen sich weigerten wahrzuhaben, obwohl sie eigentlich in ihrem Inneren wussten, dass es geschah.


Ich für meinen Teil machte mich nur Tage später daran, eine der Gitterstreben in meinem Fenster anzusägen. Ich sägte nur auf einer Seite, und als ich fertig war, wickelte ich ein dünnes Pflasterband um die Stelle und malte es später in der Farbe der Gitter an. Um sie noch besser zu verbergen, hängte ich an das Gitter ein paar Strümpfe und eine Unterhose, wie zum Trocknen.

Eines Morgens kam einer der baskischen Gefangenen, derselbe, der mir das Pflaster und die Farbe gegeben hatte, und warnte mich vor einer bevorstehenden Durchsuchung. Er sprach mich an, als ich spazieren ging. »José, ich habe mitbekommen, dass sie eine Durchsuchung machen wollen.«

»Heute?« fragte ich.

»Ja, nachher.«

Und wirklich. Eine Stunde später erschien ein Trupp, angeführt vom Dienstleiter.

»Wenn Sie meine Habe durchsuchen, will ich dabei sein. Das sieht die Vollzugsordnung so vor.«

»Es spricht nichts dagegen, dass Sie dabei sind.«

Ich ging in die Zelle, räumte alle Bücher und anderes Lehrmaterial zusammen, das ich auf dem Tisch liegen hatte und packte es auf das Bett, genau wie die Kleidung. Dann setzte ich mich auf den Tisch. Mehrere Schließer mit Plastikhandschuhen fingen an, meine Sachen zu durchsuchen, während andere die Fenster von draußen untersuchten. Einer von ihnen wandte sich von der anderen Seite des Fensters aus an mich. »Ist die Wäsche trocken?« fragte er mich und zeigte auf die

Socken.


Ich fasste sie mit den Fingern an und antwortete: »Nein, ist noch feucht. Warum?«

»Weil es nicht erlaubt ist, Wäsche in die Fenster zu hängen.«

»Das wusste ich nicht.«

»Nächstes Mal hängen Sie sie in der Zelle zum Trocknen auf, einverstanden?«

»Ja, mein Herr...«

Zum Glück hatte ich sie am Morgen noch angefeuchtet, bevor ich aus der Zelle ging. Für den Augenblick war ich davongekommen.

Die folgende Nacht handelte ich. Ich hängte ein Handtuch zwischen die Gitter, um zu verhindern, dass mich einer der Guardias Civiles von den Wachtürmen gegenüber sehen konnte. In dieser Deckung riss ich den Streben heraus, und er gab an einem Schweißpunkt am nicht angesägten Ende nach, wie ich gehofft hatte. Ich warf ihn aufs Bett und ließ mich durch das Fenster nach draußen ab. Sofort bewegte ich mich krabbelnd weiter und überwand flink einen niedrigen Zaun. Von dort ging ich die Treppe des Trakts für Neuaufnahmen hinab, sprang über eine Mauer und bewegte mich auf die Krankenstation zu, durch die Gartenanlagen. Vor der Krankenstation hängte ich mich an deren Vordach, kletterte hinauf und lief über mehrere Dächer bis zur Zentrale, wo ich über ein Bürofenster bis auf das obere Dach gelangte. Wie ein Reptil robbte ich über das Dach und suchte die Brücke, bis ich genau über ihr war. Ich musste auf die Brücke hinunter springen und dazu fast sechzig Meter weit robben, zur einzigen Stelle, von der ich vernünftigerweise springen konnte, ohne mir die Beine zu brechen. Ich wartete fast eine halbe Stunde, und als die Guardias Civiles für einen Moment unaufmerksam waren, weil ein Streifenwagen um das Gelände herum fuhr, sprang ich ohne gesehen zu werden auf den Boden der Brücke und verbarg mich am Geländer auf der rechten Seite. Von dort bewegte ich mich mit dem Gesicht nach unten langsam vorwärts. Die Augen hatte ich auf den linken Guardia Civil gerichtet und wartete auf einen weiteren Moment der Unachtsamkeit. Einige Minuten später war es soweit. Der Guardia kehrte der Brücke den Rücken zu, um den Blick über das Gelände schweifen zu lassen, und ich kam an beiden Türmen vorbei. Ohne Zögern bewegte ich mich weiter, mit dem Geschmack des Erfolges im Mund und hämmerndem Herzklopfen. Ich hatte das Gelände verlassen, unter mir lag das freie Feld; es fehlten nur zwei Meter bis zur wiedererlangten Freiheit.

»Wenn du dich bewegst, schieß’ ich dich ab wie einen Hund, du Arschloch!« schrie ein Guardia Civil und zielte mit seiner Waffe auf meinen Kopf.

Er war aus der Tür des ersten Kontrollpostens aufgetaucht, mir blieb keine Zeit zu reagieren.

»Ich hab ihn, alles klar!« rief er seinen lächerlich gemachten Kollegen zu, die jetzt mit ihren Gewehren hinter mir standen.

Ich wollte sterben. Mehrere Flutlichtscheinwerfer leuchteten auf meine Position. Ich auf den Knien auf dem Asphalt, mit den Händen auf dem Kopf, besiegt und am Boden zerstört.

Stunden später wurde ich wieder in den Trakt gebracht und in eine Zelle gesteckt. Ich fühlte mich mutlos wegen der entgangenen Gelegenheit. Ich hatte alles gut berechnet, aber ich hatte nicht gewusst, dass zur ersten Kontrolle eine versteckte Kamera gehörte, die die ganze Brücke abdeckte und mithilfe derer sie mich im letzten Moment entdeckt hatten. Ich war angearscht. Es würde viel Zeit vergehen, bis ich wieder vor so einer Gelegenheit stand.

Der Gefängnisdirektor ordnete meine Isolation an. Ich ging also wieder alleine auf den Hof, was meine Beziehung zu den Schließern verschlechterte. Ich zeigte mich ihnen gegenüber giftig, bedachte sie ständig mit Beschimpfungen, ohne erkennbares Motiv. Ich ließ an ihnen den ganzen Frust aus und das ohnmächtige Gefühl, an diesem absurden Ort festgehalten zu sein.


Eines Nachmittags, als ich ins Büro ging, um zwei Briefe abzuholen, beobachtete ich durch die Fenster einen kanarischen Häftling im nebenan gelegenen Trakt für Neuaufnahmen, den ich aus dem Gefängnis Daroca kannte. Er war dort für den Putzdienst in Isolationstrakt fünf eingeteilt gewesen, wo er sich abgeschieden und ausgestoßen vom Rest der inhaftierten Bevölkerung befand — er war Vergewaltiger. In seiner Doppelfunktion als Schließergehilfe und Ordonnanz des Trakts stahl er das Geld derer, die ihm Einkäufe auftrugen oder verkaufte einzelne Zigaretten für hundert Peseten[20] an die Genossen, die die Lust zu rauchen nicht zurückhalten konnten — in der Isolation war das Rauchen verboten. Das alles in der Deckung des Schutzes, den ihm die Direktion angedeihen ließ. Jetzt war er hier und lächelte breit, er war im Grad aufgestiegen und plusterte sich vor seinen Landsleuten auf, die der bloße Gedanke an eine Verlegung in die Anstalten ersten Grades auf der Halbinsel über alle Maßen in Schrecken versetzte. Für sie war jener Bastard ein richtiggehender Held. Zurück in der Zelle entschied ich, ihm eine Lehre zu verpassen und zu bestrafen, was die Direktion belohnt hatte: Das ekelhafte Verhalten jenes Misthaufens. Zu diesem Zweck fabrizierte ich in jener Nacht ein metallenes Messer mit einem aus Stoffstreifen gemachten Griff.

Am nächsten Morgen meldete ich mich beim Arzt an. Gegen Mittag kamen sie, um mir aufzuschließen, und mit dem Messer im Hosenbund verborgen ging ich auf das Wachhäuschen zu. Ich holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche.

»Hören Sie«, sagte ich zu dem Schließer, der drinnen saß, »ich möchte diese Schachtel einem Freund geben, der dort drinnen ist, im Trakt für Neuaufnahmen.«

»Wem denn?«

»Er ist vor Kurzem aus Daroca gekommen, ich kann mich jetzt nicht an seinen Namen erinnern.«

»OK, geben Sie her«, antwortete er und öffnete die Tür.

Ich stürmte nach drinnen, holte das Messer aus dem Hosenbund und stieß den Schließer gegen einen kleinen Metallschrank: »Welcher Knopf öffnet die Tür in die Neuaufnahmen?«

»Der hier«, antwortete er erschrocken.

Ich drückte ihn und ging ins Innere des Trakts. Das Messer hielt ich in der rechten Hand. Ich ging auf den Hof, und als ich ihn gefunden hatte, ging ich auf ihn zu. Die anderen Gefangenen gingen eilig fort, und eine große Stille erfasste den Hof.

»Na? Erinnerst du dich nicht an mich?« grüßte ich ihn.

»Hör mal, Che, was hast du vor?«

Ohne ein weiteres Wort stürzte ich mich auf ihn und verpasste ihm mehrere Messerstiche in die Seite, ohne Tötungsabsicht. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen, nichts mehr. Er fing an zu schreien und ich ließ ihn los, er rannte bis zum Wachhaus, von wo sie ihn in die Krankenstation brachten, seine neue Zufluchtsstätte. Ich gab das Messer ab und ging in die Zelle zurück. Schon in der Zelle diskutierte ich mit dem Dienstleiter, der anordnete, mir einen Teil meiner Habe wegzunehmen.

»An deiner Stelle wäre ich schön ruhig!« drohte er mir.

»Fick dich ins Knie, du Hundesohn.«

»Der einzige Hund hier bist du, und außerdem noch räudig.«

»Du bist eine mutige Schwuchtel, so durch die geschlossene Tür...«

Einige Stunden nach diesem Zwischenfall kamen sie als Gruppe, um die Zelle zu durchsuchen, in der ich saß. Wenigstens kamen sie mit dieser Ausrede.

»Tarrío«, sprachen sie mich an, »wir müssen Ihre Habe durchsuchen. Wir haben Befehl vom Direktor, Ihnen Handschellen anzulegen, während Sie draußen warten.«

Sie öffneten die Tür und legten mir Handschellen an. Als ich gefesselt war, baute sich der Dienstleiter, den ich beschimpft hatte, vor mir auf: »Jetzt bist du schon weniger frech, was?«

Dieser Provokation folgte eine Reihe Fausthiebe, die ich mit einem Tritt beantwortete, der ihn sich krümmen ließ. Die übrigen Schließer warfen sich auf mich und machten mit bei der Schlägerei. Sie schlugen mich, bis ich am Boden war, und schleiften mich danach in die benachbarte Zelle. Dort nahmen sie mir die Fesseln ab, zogen mir die Kleidung aus und übergaben mir einen blauen Overall. Ein Rinnsal Blut lief von meiner Nase über die Lippen das Kinn hinunter. Nackt zog ich mir den Overall an und wurde dann erneut in Handschellen gelegt. Allein gelassen begann ich, in der Zelle auf und ab zu gehen. Ich war starr vor Wut, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich sie diesmal provoziert hatte, mit meinen ständigen Beschimpfungen. Die Strafvollzugsordnung sah solche Methoden vor, es war legal. Sie erfüllten ihre Pflicht als Henker, denn das war es, was ihr Beruf im Endeffekt war. Für sie war es normal und sogar heroisch, sich in der Gruppe über einen Gefesselten herzumachen; für mich war das nur scheußlich und feige. Ich von meinem subjektiven Standpunkt aus verstand damals nicht, dass vielleicht für sie Feigheit bedeutete, auf einen Unbewaffneten einzustechen, während es mir angemessen erschienen war. Wer war in Besitz der Wahrheit? In ein und derselben Welt lebten wir absolut verkehrte Welten. Ihr Begriff von Gerechtigkeit war Lichtjahre von meinem entfernt; was für sie ethisch und moralisch war, bedeutete für mich eine scheinheilige Farce. Ich tat nicht so, als würde ich andere Gesetze respektieren als die meiner Anarchie, einer Anarchie, die mich für die Rolle des Bösewichts vorsah. Im Laufe meines Lebens hatte ich verwundert beobachtet, wie die Fehler, die im Namen des mehrheitlichen Gemeinwohls gemacht wurden, Fehler blieben, während in meinem Fall dieselben Fehler zu Straftaten wurden, weil ich sie in meiner Eigenschaft als sozial Marginalisierter beging. Wenn ein Räuber von modern und bis an die Zähne bewaffneten Polizisten mit Kugeln durchlöchert wurde, fanden die Gesellschaft und die Medien dafür den Begriff »zu Fall gebracht«. War der zu Fall Gebrachte dagegen einer dieser Hüter des Gesetzes oder ein Bürger, geschah dem Begriff eine Verwandlung, und man sprach von Mord. Das Recht zu strafen (ius puniendi) hatte einzig der Staat inne. Man konnte strafen und töten, im Namen des Staates, nicht aus Rache oder Wut. Im ersten Fall zwang man Menschen dazu, selbständig oder als Ausführung eines Befehls zu strafen und zu töten, und beim Militär bekamst du die Grundausbildung. Egal ob jemand christlich war. Im Namen Gottes und des Vaterlands war alles erlaubt und man durfte vergewaltigen, überfallen, aufs Geratewohl plündern und ein sogenannter Held sein. Wer hatte jemals schlimmere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen als Kirche und Staat? Wenn du dich weigertest, schickten sie dich in den Knast: Viele junge Männer saßen in spanischen Gefängnissen hinter Gittern wegen Totalverweigerung, ganze Männer eingesperrt wegen Apologie des Friedens[21]. Im zweiten Fall wurdest du, wenn du überfielst oder tötetest, zu einem verabscheuungswürdigen Kriminellen, zum Mörder, denn du warst nicht im Besitz der hinreichenden Legitimität. Das System rechtfertigte seine Straftaten selbst. Es rechtfertigte sie seit dem ersten Krieg, der auf Erden stattgefunden hatte, bis zu den heutigen modernen. Und es tat das mit dieser Doppelmoral, einer in höchstem Maße zynischen Doppelmoral. Nein, sie waren nicht besser als ich, und ich nicht besser als sie; vielleicht war ich weniger scheinheilig, doch nicht besser. Wir alle waren in Evolution befindliche Tiere, und ob es uns gefiel oder nicht, es gab nichts Schlimmeres als das: Menschen, in denen noch viel von der Bestie steckte.

Drei Tage ließen sie mich unter diesen Bedingungen, Tag und Nacht in Handschellen. Am dritten Tag unter dem wiederholten Protest meiner Genossen kamen sie, um die Handschellen abzunehmen und mir Kleidung und Habe wiederzugeben. Im Monat Dezember sollte ich in die Anstalt Zamora gebracht werden, um an einem Prozess teilzunehmen. Dort wartete ein Strafantrag von neunundzwanzig Jahren Haft auf mich.

Gefängnis Zamora, Dezember 1990

Nach Transitaufenthalten in Puerto und in der Anstalt Córdoba kam ich in dieses alte Gefängnis. Ich war von der langen Reise, die ich hatte machen müssen, erledigt. Sie hatten auf dem Gelände gegenüber den Wachdienstgebäuden einen Kaffeeautomaten aufgestellt. Aneinandergekettet blieben Antonio Jara, ein bekannter Ausbrecher, und ich vor dem Apparat stehen, und wir tranken heißen Kaffee, der uns sehr gut tat. Dann rafften wir so gut wir konnten unsere Tüten zusammen. In kleineren Gruppen brachten sie uns dann in das Innere des Gefängnisses. Ich wurde in den tubo gebracht, die anderen in den normalen Trakt. Alte Erinnerungen kamen in mir hoch, immerhin hatte ich in diesen zylinderförmigen Disziplinierungszellen ein Jahr meines Lebens verbracht, von Sonderstrafe zu Sonderstrafe. Die Zellen waren immer noch genauso, nichts hatten sie an ihnen verändert, obwohl in der Anstalt im Allgemeinen vieles anders geworden war. Die Schließer legten übertriebene Höflichkeit und Respekt an den Tag, was mir nicht dazu zu passen schien, was ich aus der Vergangenheit von ihnen kannte. Die vom neuen Gefängnisdirektor auferlegte Pflicht, respektvoll mit den Gefangenen umzugehen, kränkte sie anscheinend über alle Maßen. Die Jugendlichen waren definitiv in die Anstalt Herrera de La Mancha verlegt worden, nach einer Reihe von Aufständen. Jetzt waren die meisten, die in Zamora einsaßen, ältere Gefangene, die vorher in Puerto de Santa María gewesen waren. Und das war der andere Grund dafür, dass die Schließer locker eingestellt waren: Sich an einem Haufen siebzehn- bis neunzehnjähriger Grünschnäbel auszulassen und dies mit in den härtesten Strafanstalten des Staates derb gewordenen Männern zu tun, waren verschiedene Dinge. Um dieses entspannte Klima herstellen zu können, waren viele Jahre ins Land gegangen, und viele von uns hatten zahllose Übergriffe und Folter über sich ergehen lassen müssen, doch unsere Anstrengungen hatten sich gelohnt. Das Zusammenleben an diesem Ort war erträglicher geworden.

Am nächsten Morgen brachten sie mich zusammen mit den anderen Gefangenen auf den Hof hinunter. Der Trakt war immer noch für den ersten Grad bestimmt. Ich traf meinen Freund Santiago Izquierdo Trancho, der dort seine Strafe absaß. Wir drückten uns in einer festen Umarmung.

»Hallo, du Held«, grüßte er mich, »wie geht’s?«

»Gut. Ich komme zum Prozess wegen des Toten. Und du?«

»Hier sitze ich ab.«

In dem Trakt hatte man einen kleinen Sportraum eingerichtet, in dem es Hanteln, einen Sandsack zum Boxen und anderes Sportgerät gab; auch hatten sie die Cafeteria neu eingerichtet, mit Fernsehapparat und Videorecorder, außerdem gab es noch eine Töpferwerkstatt. Unerhörter Luxus, verglichen mit dem, was ich von früher kannte. Jetzt, da ich neben meinem Freund durch diesen Raum ging, erinnerte ich mich an die kalten Wintermorgen, die wir auf diesem Hof verbracht hatten, ohne die Cafeteria betreten zu können. Auf jeden Fall kam mir das Ganze ziemlich luxuriös vor.

»Was für ein Strafmaß fordern sie?«

»Neunundzwanzig Jahre.«

»Rechne mit mindestens zwanzig«, weissagte er mir.

»Ja, sowas stelle ich mir vor.«

»Ich hab gerade einen Fluchtplan laufen, zusammen mit Carlos, und wir brauchen eine große Säge, denn sie haben doppelte Gitter eingebaut. Kannst du uns die besorgen?«

»Nein. Ich habe nur eine, und ich werde sie sobald ich kann benutzen.«

»Verstehe...«

Tranchos Ausdauer war bewundernswert. Er hatte auf seiner Habenseite eine lange Liste an Ausbruchsversuchen zu verzeichnen, doch nie hatte er es geschafft. Er hatte es wieder und wieder versucht, und er würde immer so weitermachen.

Er war ein Rebell. Die zehn Jahre Gefängnis, die meiste Zeit zu Isolationsbedingungen oder in der geschlossenen Abteilung, hatten seinen Idealismus und seine Rebellion nicht untergraben können. Wie nur wenige, weigerte sich mein Freund, leichte Kost für die Bestie Knast zu sein. Sein Verhalten machte mir Mut. Er stellte mir Carlos Esteve vor, seinen Partner bei dem Abenteuer, das er vor hatte. Sein Äußeres, insbesondere sein gutmütiges Jungengesicht, konnte mich da noch nicht die Kaltblütigkeit erkennen lassen, die er hinter seiner Intellektuellenbrille versteckte. Jahre später sollte dieser schmächtige Mann bei einem der spektakulärsten Ausbrüche, die jemals in spanischen und europäischen Gefängnissen stattgefunden hatten, die Hauptrolle spielen. Für den Moment beließen wir es bei einer herzlichen Begrüßung.

Während des Spaziergangs wurde ich gerufen, um mit den Sozialarbeiterinnen zu sprechen. Man brachte mich in ein Büro, wo sie auf mich warteten, in Lehnstühlen sitzend, hinter ihren Schreibtischen.

»Caramba!« rief eine von ihnen, »Sie haben sich aber verändert.«

Ich setzte mich hin, ohne auf diese Dummheit zu antworten.

»Wie geht es Ihnen, Tarrío?« fing die andere an.

»Sehr gut...«

»Wir haben Sie gerufen«, fiel sie mir gleich ins Wort, um Sie zu fragen, ob Sie etwas von uns brauchen. Ob Sie vielleicht möchten, dass wir bei Ihnen zu Hause oder bei einem Familienangehörigen anrufen, um ihnen mitzuteilen, dass Sie hier sind. Sie wissen wahrscheinlich schon, dass jetzt vis-a-vis-Besuche erlaubt sind.«

»Ich brauche nichts von Ihnen«, antwortete ich kurz angebunden.

»Sie sind ziemlich schroff, Tarrío«, sagte die Kollegin.

»Ich bin wie immer, wie vor zweieinhalb Jahren...«

»Die Dinge haben sich geändert...«

»Ja, aber das ist nicht Ihnen zu verdanken.«

Das gesagt, stand ich auf und verabschiedete mich. Ich war anderthalb Jahre in diesem Gefängnis gewesen und hatte alle möglichen Nöte ausgestanden, und sie waren nur ein einziges Mal zu mir in den tubo gekommen, um mich zu sehen, mit ihrem billigen nuttigen Lächeln. Sie waren dermaßen falsch, dass sie es nicht einmal dazu brachten, mich ans Masturbieren denken zu lassen, trotz der Abstinenz.

Was sollte diese Farce? Zamora war etwas, das ich nie vergessen würde, niemals. Ich war voll des Zorns auf diese Leute, ich glaubte ihnen kein Wort, ich konnte nicht glauben, etwas in oder an ihnen sei gut. Nicht nach all dem, was sie mir angetan hatten. Sie hatten ihre Zuständigkeit nicht wahrgenommen und waren dafür direkt verantwortlich, wie auch die Erzieher, die Psychologin, die Ärzte und dergleichen institutionelle Amtsträger. Ich übernahm meinen Teil Verantwortung in Form jahrelanger Gefängnishaft. Sollten sie die ihre wahrnehmen! Stattdessen waren sie daran Schuld, dass viele unserer Herzen voll Hass waren, voll des Gefühls der Ohnmacht und der Verzweiflung, andauernd Anmaßungen und Ungerechtigkeit aushalten zu müssen. Ein paar Tage später kam ich vor Gericht, um für meine gesellschaftliche Verantwortung geradezustehen. Der Prozess lief in der zweiten Kammer des Provinzialgerichts. Ich wurde vollständig durchsucht und in einen Transporter gebracht, umringt von acht Policías Nacionales. Die Zeugen waren zuvor in einem gesonderten Transporter dorthin gefahren worden, und man hielt mich über die ganze Verhandlung getrennt von ihnen. Der Gerichtshof war vollständig von der Polizei besetzt, aus Angst vor einem Attentat gegen meine Person durch die Familie des Toten. Für Romafamilien war neben anderer Bräuche eine solche Rache typisch. Und in der Tat waren sie die einzig legitimen Rächer, und nicht diese Herde Unbekannter, die sich dazu im Recht fühlte, jedermann ihre Form von Justiz aufzuzwingen. Als wir die Treppen zum Saal hinaufgingen, fand einer der Bullen die beruhigenden Worte: »Sei unbesorgt, Junge, bei uns bist du sicher.«

Was mir noch gefehlt hatte. Wäre nicht Augenblicke später über die Zeit verhandelt worden, die mir zum Leben blieb, mir wäre das alles ziemlich komisch vorgekommen. Jetzt würde man mich zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilen, um mir das Leben zu retten.

Bevor es in den Saal ging, redete ich mit meinem Anwalt. Ich hatte alles zugegeben und sie hatten die Waffe, da würde es nichts zu holen geben außer vielleicht einer Strafminderung. Ich bat meinen Anwalt um die Akte und las mir die Aussagen meiner Mitgefangenen durch. Darunter fand ich eine Eingabe, unterschrieben von einem Gefangenen, den ich nicht kannte. Er bat die Anstaltsleitung darum, nicht als Zeuge geladen zu werden. Ich merkte mir seinen Namen und wünschte mir, sie hätten ihn geladen, damit ich ihn kennenlernen konnte. Was die anderen Zeugen anging, war alles in Ordnung, sie hatten sich in der Sache fantastisch verhalten. Im Saal würden sie sich weigern, auf auch nur eine der Fragen des Richters und des Staatsanwalts zu antworten, wie wir es vorher im Gefängnis über Mitteilungen verabredet hatten.

Zu Beginn der Verhandlung brachten sie mich in den Saal. Er war groß, Bänke in Reihen auf braunem Holzfußboden, darauf die Fettärsche von Bürgern und Journalisten. Ich setzte mich, umringt von Polizisten, auf die Anklagebank, dem Gericht gegenüber. Dort, wie wartende Geier, zwei Magistraten und der Vorsitzende. Sie warfen mir ihren erloschenen Blick zu, ihren Blick, der daran gewöhnt ist, Männer und Frauen in Haft zu schicken, als Routine, nichts Besonderes. Zu meiner Linken sortierte der Staatsanwalt Papiere, versunken in sein Plädoyer, während mein Anwalt zu meiner Rechten mich durchdringend ansah, als wolle er entdecken, was meine ernste Mine verbarg. Hinter mir eine Gruppe Fotografen bei dem Versuch, Bilder für ihr Blatt zu schießen, um der Gesellschaft dann die Effizienz ihrer Justiz vorzuführen: Das hier war ein gefundenes Fressen für all diese Aasgeier.

Der Prozess begann mit der Verlesung der Anklagepunkte. Danach traten die Zeugen auf. Leute, die ich überhaupt nicht kannte und die nichts von mir wussten, traten auf den Plan und begannen unter Druck des Staatsanwalts über mich zu spekulieren. Die Gerichtspsychiater, die Monate nach der Tat zu mir ins Gefängnis gekommen waren um mich zu interviewen, stuften mich als Gewalttäter ein, als in mich gekehrt und ohne Respekt gegenüber dem Autoritätsprinzip. Sie lobten mein hervorragendes Erinnerungsvermögen, wie sie sich ausdrückten, und hoben hervor, dass ich mit zwanzig Jahren Shakespeare und Nietzsche las und ohne weiteres verstand – das war für sie außerordentlich. Diese Lobreden gefielen meinem intellektuellen Ego. Die Gefangenen, die bei den Vorfällen dabei gewesen waren, weigerten sich, wie wir verabredet hatten, die Fragen des Staatsanwalts zu beantworten, trotz der Drohungen des Vorsitzenden. Der Staatsanwalt rief dann den Menschen in den Zeugenstand, der mein junges Leben ins Gefängnis gebracht hatte, zu diesen Aasvögeln mit wichtigen Titeln. Er stritt ab, dabei mitgeholfen zu haben, und obwohl der Staatsanwalt seine Aussage laut vorlas, weigerte er sich, dessen Fragen zu beantworten. Er war beklommen, ihm musste ziemlich unwohl sein in seiner Haut. Da saß er, unwürdig und verschämt, er fühlte meine Augen messerscharf auf sich gerichtet. Als er aus dem Saal ging, begegneten sich unsere Blicke kurz. Meine Botschaft war deutlich: Ich behielt mir das Recht vor, die Rechnung zu begleichen. Dann war ich dran. In meinen knappen Antworten auf die Fragen des Staatsanwalts war nichts, was nicht schon ausgesagt gewesen wäre. Ich bekam langsam Schwindelgefühle und Kopfschmerzen. Wer kann echte Gerechtigkeit garantieren? Ich war nur ein Gefangener, der nach seiner Verurteilung durch den Abfluss der Gefängniskloake gespült wurde, ob nun irrtümlich oder zutreffenderweise. Nichts hätte geändert, jenen Eseln zu erklären, dass ich meinen Teil Verantwortung auf mich nahm, als Akteur beim Ausgleich offener Rechnungen mit unbeabsichtigt tödlichem Ausgang, und dass ich eine unterschiedliche Auffassung von sozialer und behördlicher Verantwortlichkeit hatte. Sie würden mich auslachen. Ich war der Angeklagte und war deshalb nicht glaubwürdig. Die Menschen waren nicht gleich vor dem Gesetz. Wie sollten wir gleich sein, wenn die mit Rechtsprechung Beauftragten sich als Höhere Wesen fühlten? Kein Mensch soll oder kann über einen anderen Menschen richten, ohne vorher in seinem eigenen Namen über sich selbst zu urteilen – selbst so wäre es schwerlich zu schaffen, objektiv oder gar gerecht zu sein. Es spielte keine Rolle, dass das Gefängnis selbst die Gewalt schürte, die mich auf diese Bank gebracht hatte. Es war nicht dasselbe, einen einfachen Sträfling abzuurteilen wie einen Gefängnisdirektor und damit das Justizministerium in die Verantwortung zu nehmen. Warum hatten sie uns alle wieder zusammengelegt, in dieses Gefängnis, trotz der Geschehnisse in Teruel? Dass dergleichen passieren musste, war klar gewesen, und nichts war getan worden, um es zu verhindern, weil es niemanden kratzte, dass sich ein paar Gefangene gegenseitig umbrachten. Was also sollte das alles hier? Weshalb richtete man jetzt über mich, und in wessen Namen? Der Gesellschaft? Der Gesellschaft war es vollkommen egal, dass ein Gefangener gestorben war, viele freuten sich sicherlich sogar. Einer weniger, bellten einige. Was sollte also der ganze Quatsch, wenn die Umstände, die den fraglichen Vorfall provoziert hatten, im Gefängnis immer noch an der Tagesordnung waren und weiterhin Leben und erneute unsinnige Prozesse kosteten? Ich wusste genau, dass mein Urteil von vornherein feststand und dass das alles eine Farce war, die eine hohe Strafe wegen Mordes formal legalisieren sollte. Die Wortgewandtheit des Staatsanwalts machte mir Spaß, als er jenen Gefangenen als Zeugen gebrauchte, wohl wissend, dass das leicht der Auslöser für ein neues Verbrechen sein konnte.

Zurück im Gefängnis versprach ich mir, Gerichtssprüchen keinerlei Bedeutung zukommen zu lassen. Ich weigerte mich, den Richtern zuzugestehen, über mich zu urteilen. Ich konnte ihnen nichts anerkennen, nicht einmal als Menschen, ihnen, die derart viele Leute in Haft schickten, und denen gleichgültig war, was dort mit ihnen geschah; sie kümmerte nicht, dass innerhalb der Mauern die in ihrer Amtsführung ach so hoch gehaltenen Gesetze gebrochen wurden. Ich würde mich selbst befreien oder bei dem Versuch sterben, doch ich würde die Haft nicht akzeptieren, bis zum letzten Atemzug nicht.


Weihnachten kam. Trancho lieh mir für einige Tage seinen Fernsehapparat und ich konnte mich in der Zelle mit den Kurven der spektakulären Marta Sánchez und ihrer bedeutenden Brust unterhalten. Der Krieg im Golf von Persien war inzwischen ausgebrochen und Spanien hatte mit schäbigster Untertänigkeit Flugzeugträger und heldenhafte Patrioten dorthin geschickt, aus Eitelkeit, Solidarität mit den Herren der Welt zu zeigen. Ironischerweise maß sich die Größe eines Volkes, die Größe der gefeierten Demokratie nach ihrem militärischen Potential. Es war ein bescheuerter Krieg, der uns zeigte, wie unnütz Staaten und Vaterländer waren, und der uns die Notwendigkeit klar machte, uns gegen diejenigen aufzulehnen, die sich in ihrem Militarismus und ihren nutzlosen Kriegen gefielen. Wie konnte die Gesellschaft mit verschränkten Armen dabei zusehen, wie sie junge Totalverweigerer – die einzigen Helden dieses Krieges – ins Gefängnis warfen, und wie ihre Leute, ihre Kinder, Eltern, Freunde und Brüder sich auf das Abschlachten vorbereiteten. Was war an all dem heldenhaft? Fühlte sich diese Gesellschaft moralisch legitimiert, über meine Fehler zu richten und zu bestrafen? Ohne Frage war Marta Sánchez sehr humanitär gewesen, sie hatte es gewagt, an den Golf zu fahren, um für die spanischen Soldaten zu singen – nichts war zu schade, um die Moral dieser Helden zu stärken. Schließlich war doch Weihnachten, oder?

Am 28. packte ich meine Sachen und verabschiedete mich von Trancho. Ich wünschte ihm Glück bei dem Ausbruch, den er zusammen mit Carlos plante, auf dass die beiden dabei die Freiheit erreichten. Hoffentlich würden wir uns wiedertreffen, doch nächstes Mal draußen auf der Straße. Nach einer Durchsuchung wurde ich von zwei Schließern bis zum Gefängniseingang gebracht, wo die Guardia Civil auf mich wartete. Man legte mir Handschellen an und nahm mir die Fingerabdrücke ab. Mit meinen Tüten in der Hand ging ich dann bis zum Gefangenentransporter, packte sie ihn den Kofferraum und stieg ein. Drinnen wartete eine angenehme Überraschung auf mich, doch noch hatte ich nichts mitbekommen. Ich setzte mich in einen der Käfige.

»He, José!« rief mich eine Stimme.

»Wer bist du?« rief ich zurück.

Es herrschte ein ziemliches Wirrwarr aus gleichzeitigen Unterhaltungen zwischen Gefangenen.

»Mensch, ich bins, Musta!« schrie er.

»Ach Quatsch! Wo bist du?«

»Ich bin hier, hinter dir, glaube ich. Wir fragen die Bullen, ob sie uns zusammen fahren lassen, OK?«

»Gut.«

Als die letzten Genossen eingestiegen waren, rief ich den Gruppenführer: »Guardia, hören Sie!«

»Was willst du?«

»Ich will in einen anderen Käfig und mit einem Freund zusammen fahren, er sitzt weiter hinten, seien Sie so nett.«

»Na gut, aber ich will eine ruhige Fahrt, verstanden?«

»Ja ja, keine Sorge...«

Als der Wagen in Fahrt war und die Guardias in ihren Kabinen, öffneten sie uns die Tür und wir umarmten uns auf dem Flur. Ich bedankte mich bei dem Genossen, der den Käfig wechselte, damit mein Freund und ich zusammen fahren konnten. Wir redeten in unserer Muttersprache[22].

»Na, wie geht’s?« fragte ich ihn.

»Mir, gut, und dir?«

»Mir auch. Ich war überrascht, von deiner Verhaftung zu hören und von der der anderen. Was ist passiert?«

»Wir haben viele Fehler gemacht! Unsere mangelnde Erfahrung... Und obwohl ich mich damit abgefunden habe, denke ich ständig an die Chancen, die wir hatten! Tut mir Leid für dich, ich wäre gern früher gekommen, um mit dir zusammen zu machen, worüber wir gesprochen haben.«

»Egal, denn wir haben Zeit und Lust, und das ist jetzt das Wichtige. Wir müssen unsere Fehler korrigieren, und der Rest kommt von selbst«, munterte ich ihn auf. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, eigentlich waren wir ja nicht hier verabredet...«

»Wo fährst du hin?« fragte er mich.

»Nach Teneriffa 2, da sitze ich ab. Es hat nicht viel gefehlt, um von da abzuhauen, und ich werde es nochmal versuchen.«

»Pass auf.«

»Na klar. Wo bringen sie dich hin?«

»Ich fahre zu einem Prozess nach Zaragoza.«

Wir verabredeten, wie wir kommunizieren würden, um den Kontakt nicht zu verlieren. Es war wichtig, voneinander zu wissen und informiert zu bleiben über Verlegungen oder andere Vorkommnisse. Es war leichter zu ertragen, wenn man die Gegenwart wahrer Freunde fühlte, die Gegenwart geliebter Personen ohne Vorbehalte. as war meine einzige wirkliche Familie. Immer war es so gewesen. Sie waren es, die mich im Internat begleitet hatten, in der Erziehungsanstalt und jetzt im Gefängnis. Und sie waren es, die mich unbedingt und bis zum Ende begleiten oder die eine Waffe in die Hand nehmen würden, um mich zu verteidigen oder zu befreien.

Sie hatten für die Verlegungen das Gefängnis von Carabanchel gegen das von Alcalá-Meco gewechselt, der Transporter hielt also vor Letzterem. Drinnen trennten sie uns. Obwohl wir beide im ersten Grad waren, wurden wir in unterschiedliche Trakte gebracht. Ich kam in eine Zelle zusammen mit Antonio Jara, mein Freund Musta kam in Trakt sechs. Wir würden nach drei Tagen beide weiterfahren und uns auf der Reise wiedersehen.

Im Trakt für Neuaufnahmen besorgte Antonio ein paar Joints von Bekannten von ihm. Er hatte außerdem eine Tüte mit verschiedenem leckeren französischen Käse dabei, mit dem wir uns vollfraßen. Wir legten uns auf die zwei Stockbetten, die es in der Zelle gab und rauchten mehrere Joints. Antonio Jara war ein bekannter Bankräuber und hatte eine der umfangreichsten Kriminalgeschichten des Landes auf dem Kerbholz. Er kannte mehrere Länder und war viermal aus spanischen Gefängnissen ausgebrochen. Ein richtiger Bandit. Ich hörte ihm gerne zu:

»Glaub mir, José, vierzig Jahre ist das beste Alter für einen Mann.«

»Und wie ist das so?« fragte ich ihn.

»Du hast Erfahrung, Reife, machst nicht mehr so viele Fehler wie als du jünger warst, und du kriegst immer noch einen hoch.«

»Das, wenn ich frei sein sollte, nicht?«

»Dieses Jahr noch komme ich nach Brasilien«, antwortete er überzeugt.

»Hoffentlich haben wir Glück, das brauchen wir.«

»Wie alt bist du, José?«

»Zweiundzwanzig.«

»Versuch es weiter, mit aller Kraft, und du wirst es schaffen«, sprach er aus.

Und wie vorhergesagt sollte es einer von uns beiden im nächsten Jahr schaffen auszubrechen. Doch im Moment waren das nur Träume, Projekte, Hoffnungen, unter deren Eindruck wir das Jahr 1991 begrüßten.

Wir verabschiedeten das alte Jahr mit einer weiteren Runde Joints. Man gab uns ein scheinbar weihnachtliches Essen und zwölf Trauben[23] in schlechtem Zustand, weshalb wir sie nicht aßen. Den französischen Käse aber aßen wir auf, und wir mampften süßes Backwerk, das wir im Economato gekauft hatten. Wir saßen am Tisch und unterhielten uns. Dann packten wir unsere Sachen für die Reise, die am folgenden Tag auf uns zu kam, drei Tage nach unserer Aufnahme in Alcalá-Meco.

In den amerikanischen Aufnahmezellen traf ich Musta wieder, und auch Garfia. Wir begrüßten uns und ich redete durch die Gitter mit meinem Freund: »Halte den Kontakt aufrecht, OK?«

»Na klar. Zweifle nicht daran. Ich verschicke die Briefe, wie du mir gesagt hast. Sei unbesorgt.«

»Vergiss nicht, mit Yanko und den anderen zu reden«, erinnerte ich ihn.

»Und du mit Alba.«

»Das ist praktisch schon passiert.«

Juanjo Garfia unterhielt sich angeregt mit Jara, Titi und Isidro, alles bekannte Ausbrecher und ging dann bis an das Gitter, wo Musta und ich miteinander redeten. »Wie sieht’s bei dir mit Geld aus?« fragte er mich.

»Beschissen.«

Er holte zweitausend Peseten aus seinem Portemonnaie und gab sie mir. Dann gab er mir noch ein paar Schachteln Zigaretten. Solche gegenseitigen Gefallen waren selbstlose Hilfe, sehr üblich unter uns Ausbrechern. Wir hatten viel Verständnis und Solidarität füreinander, denn wir kannten alle unsere Bedürfnisse, und das hielt uns zusammen in unserem kleinen Kreis.

»Viel Glück, José«, wünschte er mir.

»Danke, pass auch du auf dich auf, OK?«

Ich gab meinem Freund die Hälfte des Geldes und der Zigaretten, ich warf sie ihm durch das Gitter zu. Als der Transporter nach Cádiz bereit war, wurden ich und andere Genossen von der Guardia Civil gerufen und aufgefordert einzusteigen. Allein die Idee, schon wieder in so einen Käfig zu kommen drehte mir den Magen um. Ich raffte die Tüten mit meiner Habe zusammen und verabschiedete mich von Juanjo mit einem festen Händedruck. Dann ging ich an der Zelle vorbei, in der Musta steckte, ergriff fest seine Hand und verabschiedete mich: »Ich liebe dich, weißt du?«

»Das weiß ich, Bruder. Ich dich auch...«

Nach diesem Versuch Gefühle zu zeigen ging ich zum Transporter. Ich legte meine Tüten in den Kofferraum, und als wir alle in den Käfigen saßen, fuhren wir los in Richtung Andalusien, über die N-4. Ich hatte es geschafft, alleine in einem Käfig zu reisen, so war die Fahrt erträglicher. Die Verlegungen waren immer noch saumäßig. Um ein paar Groschen zu sparen, behandelten uns Behörden und Gesellschaft immer noch wie Vieh.

Gefängnis Puerto de Santa María 2, Januar 1991

In Puerto de Santa María angekommen, wurde ich zu meiner Überraschung in die neben dem eigentlichen Gefängnis und dem Gefängnis für Frauen gelegene Untersuchungshaftanstalt gebracht. Beide Anstalten waren durch eine Straße voneinander getrennt, über die die Transporter und Polizeifahrzeuge menschlichen Nachschub für die Gefängnisse brachten. In Puerto 2 brachten sie mich – nach einer erniedrigenden Durchsuchung, in deren Verlauf ich dem Schließer meine Eier hochheben und vorzeigen musste – in die Isolationsabteilung, wo sich eine Reihe Politischer der baskischen Organisation ETA befand. Ich lernte Paco und José Mari kennen, mit denen ich mich gut verstand, genau wie mit den anderen Politischen. Sie empfingen mich wunderbar, teilten alles mit mir, vom ersten Augenblick an. Ich würde dort bleiben müssen, bis der Transport nach Teneriffa mich abholte. Die Zwischenzeit war richtig angenehm. Diese Menschen, die von der Mehrheit der Spanier (also nicht der Basken) für blutrünstige Mörder gehalten wurden, zeigten mir gegenüber praktische Solidarität in jeder Hinsicht. Ihr Geld war mein Geld, ihre Bücher die meinen, ihr Essen das meine. Sie fanden außerordentliche Gesten für mich, zum Beispiel kochten sie mir abends Tee mit Honig, den sie mir mit Bindfäden über das Fenster zukommen ließen. José Mari brachte mir bei, was eine ausgewogene Ernährung bedeutet, lieh mir Bücher und schenkte mir ein kleines Radio mit Kopfhörern. Er schwärmte für Imkerei und gab mir lange Vorträge über das Einwirken der Bienen auf Landschaft und Ernte. Er war der geborene Naturfreak. Wir teilten viele Ansichten und es fiel uns nicht schwer uns anzufreunden.

Auf derselben Galerie befand sich auch Paco, ein ausgesprochen angenehmer Revolutionär. Er lieh mir häufig sein elektronisches Schachspiel aus oder verwickelte mich in ernsthafte und skandalöse Prügeleien auf dem Schachbrett. Ganze Nachmittage spielten wir miteinander über die Fenster hinüber Schach. Paco schaffte ich nicht zu besiegen, und ich war gar nicht so schlecht. Ich fühlte mich wohl bei diesen Genossen. Sehr wohl. Die beiden versorgten mich mit Obst, Bienenpollen und anderen Nahrungsmitteln, damit ich die Mängel des ekelhaften Gefängnisessens ausgleichen konnte. Sie gaben mir die Essenszulage, die mir die Ärzte dieser Anstalt verweigerten, ihnen lag meine Gesundheit am Herzen. Man ließ uns auf einen kleinen Hof hinaus, wo wir uns häufig mit Genossen von ihnen trafen, die aus der Galerie gegenüber kamen. Wir unterhielten uns aus dem Fenster rufend, wenn wir Lust hatten, meistens redeten sie allerdings auf Baskisch über ihre privaten Themen. Ich ging normalerweise mit José Mari und Paco spazieren. Mit ihnen verstand ich mich am besten. Wir stimmten in unserer Auflehnung gegen den spanischen Staat überein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Eines Nachmittags bekamen wir Besuch von mehreren Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid. Eine Zelle nach der anderen wurde geöffnet und die Insassen befragt. Als sie in meine Zelle kamen, wandten sie sich grinsend an mich: »Wie geht es Ihnen?« fragte mich einer.

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte ich zurück.

»Wir kommen um die Anstalt zu inspizieren. Haben Sie eine Beschwerde vorzubringen?« Mehrere Schließer und ein Dienstleiter waren mit dabei.

»Oh ja. Haben Sie mitbekommen, dass vor ein paar Tagen ein Gefangener im Nebentrakt geschlagen wurde? Darüber will ich mich beschweren, Sie haben also etwas zu tun. Obwohl ich Ihnen sagen möchte«, fügte ich hinzu, »dass ich nicht glaube, dass Sie in der Lage sind, auch nur irgendetwas zu tun und dass Sie das auch nicht im Ernst vorhaben.«

»Wir werden die Angelegenheit untersuchen müssen... Noch etwas?«

»Nein.«

Wir verabschiedeten uns kühl. Sie würden nichts unternehmen; das war immer dieselbe Geschichte, tausendfach wiederholt in den spanischen Gefängnissen. Reine Scheinheiligkeit und eine inexistente bürokratische Effizienz. Bis zu dem Punkt, dass ein Jahr später der Direktor dieser Anstalt und andere Schließer des Betrugs überführt wurden: Sie hatten persönliche Schulden mit dem Geld der Gefangenen beglichen. Als der Betrug herauskam, bei dem auch die Anstalt Ciudad Real eine Rolle spielte, wurde der betreffende Direktor in die Verwaltung von Puerto 1 versetzt, als stellvertretender Direktor. Das unterstrich den hohen Grad an Korruption in den spanischen Gefängnissen. Die Herren Inspektoren kamen vielleicht jetzt, um alles unter den Teppich zu kehren und ihren Teil zu kassieren, oder sie waren einfach inkompetent und stümperhaft bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion. Auf jeden Fall stützten sich in den Gefängnissen diese Leute gegenseitig, aus Korpsgeist und eil niemand von ihnen wissen konnte, ob ihm nicht morgen dasselbe passieren konnte. Deshalb machten sie sich furchtlos straffällig, denn falls sie erwischt würden, wurden sie zwar versetzt, bekamen aber in einer anderen Anstalt einen neuen Posten, sobald der Skandal sich gelegt hatte. So tricksten sie die veröffentlichte Meinung aus. Die Gefängnismauern verhinderten nicht nur, dass wir Gefangenen abhauten, sie dienten vor allem auch dazu, dass niemand sah, was hinter ihnen passierte. So funktionierte die von Antoni Asunción geleitete Behörde, eine Verwaltung geschaffen nach seinem Bild und unter seiner Regie.

Nach diesem unangenehmen Besuch gingen wir wieder in die alltägliche Routine über. Manchmal gingen Paco und ich mit Plastikmessern bewaffnet auf den Hof, setzten uns hin und schälten Obst, das wir dann schnitten und mit Honig, Pollen und Orangensaft mischten und an alle anderen verteilten. Manchmal saßen wir die zwei täglichen Stunden im Hof und tranken Kaffee oder Tee, den wir in der Cafeteria bestellten. Wir redeten über meine Verlegung:

»Sieht so aus, als ob du hierbleibst, was José?«

»Anscheinend. Ich weiß nicht, was los ist...«

»Wie ist Teneriffa so?« fragte José Mari.

»Gut. Du wirst sehen, diesmal schaffe ich’s«.

»Den Satz habe ich schon oft gehört«, er lächelte. »Zu Anfang eines neuen Jahres sagen das alle.«

»Du hast Recht, doch sei kein Spielverderber, Mann...« sagte ich und wir lachten beide.

Trotz der Hilfe meiner Genossen fühlte ich mich wieder schlechter. Nachts schwitzte ich viel, und leichte Fieberattacken brachten mir Schüttelfrost und ließen mich nicht schlafen. Ich hatte mächtige Erstickungsanfälle. Dann musste ich das Licht anschalten, die Fenster öffnen und abwarten, bis es vorbei war. Am nächsten Tag erzählte ich Paco davon, doch nicht alles: »Es geht mir zur Zeit nachts ziemlich schlecht, es ist bedrückend. Es fällt mir sehr schwer einzuschlafen.«

»Na, ich habe da ein paar Sophrologie-Kassetten in der Zelle, die hat man mir zur Entspannung geschickt. Wenn du willst, überspiel ich dir ein paar, damit du damit Übungen machen kannst.«

»Das wäre toll, Paco.«

»OK, sind schon unterwegs.«

Bei der Sophrologie ging es darum, Yoga-Techniken mit Selbsthypnose zu mischen. Den Körper sollte man mit tiefen und zusammenhängenden Atemzügen einschläfern, die Muskeln entspannen, angefangen an den Füßen hoch bis zum Kopf. Man spannte die Muskeln an und entspannte sie dann langsam, bis man sie nicht mehr fühlte. Das würde mir sehr weiterhelfen, immer, wenn ich es regelmäßig machte. Die Wirkung war erstaunlich. Außerdem hatte sich auf meinem Rücken und auf der Brust eine Akne aggressiv breit gemacht, die ständig eiterte und mein Hemd mit Blut und Eiter schmutzig machte. Das lag an der schlechten Ernährung und zu viel Fett im Gefängnisessen. Das glaubte ich wenigstens. Woran auch immer es lag, es war ziemlich unangenehm, ich konnte aber nichts machen außer abzuwarten bis es besser wurde und vernarbte.

Am 20. Februar wurde mir mitgeteilt, dass ich nach Zaragoza verlegt werden würde. Man bestellte mich zu einem Prozess. Die Fahrt nach Teneriffa wurde also verschoben. Alle gaben mir etwas Geld für die Reise, wofür ich dankbar war. Von diesen Menschen würde ich gute Erinnerungen mitnehmen und vor allem auch viel wertvolles neues Wissen.

Gefängnis Zaragoza, Februar 1991

Wir waren mehrere auf der Fahrt von Madrid nach Zaragoza. Unterwegs weigerte sich die Guardia Civil, uns einen Moment die Türen aufzuschließen, damit wir uns ein bisschen bewegen und aufs Klo zum Pinkeln gehen konnten. Also riss ein Genosse, dessen Tür offen war, die Klinke einer Käfigtür ab und öffnete uns, einem nach dem anderen. Er machte dabei die Türschlösser kaputt. Die Guardias Civiles schienen nach hinten kommen zu wollen, doch das war nur ein Manöver zur Einschüchterung. Sie trauten sich schließlich nicht. Wir verbrachten den Rest der Reise mit offenen Käfigen und unterhielten uns in Gruppen. Gegen Mittag kamen wir an unserem Ziel an und stiegen in Paaren aus dem Transporter. Wir nahmen unsere Sachen und gingen bewacht von den Guardias durch eine automatische Tür nach drinnen. Dort zeigte mich einer von ihnen bei den Schließern an: »Der da«, er zeigte auf mich, »der da hat ein Stück Eisen, das er von einer Tür abgerissen hat. Damit hat er unterwegs allen seinen Kollegen aufgemacht.«

»OK, wo ist das Eisen?« fragte mich der Dienstleiter.

»Ich habe nichts.«

»Das werden wir gleich sehen. Bringt sie in die Amerikanischen!« befahl er seinen Untergebenen.

Sie schlossen uns in die amerikanischen Zellen. Nach einer Weile kamen sie, um die anderen in ihre Trakte zu bringen, mich ließen sie dort allein. Der Gefangene, der das Eisen von der Tür abgerissen und uns aufgemacht hatte, wies jede Verantwortung von sich. Er war im zweiten Grad und wollte vor allem das nicht gefährden. Ich nahm ihm das nicht übel, er wahrte einfach sein Interesse. Er war ein Risiko eingegangen, als er uns alle herausließ, und ich war jetzt damit an der Reihe, auf diese Geste mit Schweigen zu antworten. Schließlich hatte der Guardia mich mit ihm verwechselt. Wir trugen recht ähnliche Kleidung, und das war ja nicht seine Schuld. Die Schuld trug der Guardia Civil, der sich mit dieser schäbigen Denunziation gerächt hatte.

Nach einer Weile brachten sie mir einen Plastikeimer und zwei Decken.

»Wenn Sie hier heraus wollen, geben Sie uns das Eisen.«

»Ich wiederhole: Ich habe nichts.«

»Wem hast du es denn dann gegeben?«

»Ich hab es durch das Loch im Klo auf die Straße geschmissen, bevor wir angekommen sind.«

»Gut, wenn das so ist, kannst du es uns ja beweisen«, dazu forderten sie mich auf und zeigten auf den Eimer.

»Kommt nicht in Frage...«

Es war eine unbequeme Situation: Ich hatte eine Säge in mir, die bedeutete jetzt Gefahr. Was das verdammte Eisen anging, sie würden mir nicht glauben da konnte ich sagen, was ich wollte. Ich sah den Eimer an, mit Abscheu. Sie wollten, dass ich dort hinein kackte und ihnen dann etwas gab, doch da konnten sie lange warten, ich hatte es überhaupt nicht eilig. Ich legte mich auf die dreckige Decke und war bereit, so lange wie nötig dort abzuwarten. Ich würde ihnen keinen Gegenstand geben und noch weniger die Freude, mich in diesen Eimer kacken zu sehen. Ich verbrachte so die Nacht, ohne Abendessen. Am nächsten Morgen bekam ich auch kein Frühstück. Ein Schließer kam zu mir: »Na, musst du nicht kacken?«

»Wieso, haben Sie Hunger?« – diese scharfsinnige und schlecht gelaunte Antwort fand ich für ihn.

»Was?«

»Nichts, nichts, ist egal.«

»Scheint, als müssten wir mit Gummihandschuhen kommen.«

Ich bekam kein Essen, am Mittag kam dafür der Dienstleiter in Begleitung anderer Schließer zu mir. Er redete durch das Gitter hindurch. »Na, Tarrío, werden sie uns das Eisen freiwillig geben oder nicht?« Er drohte mir.

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe kein Eisen, ich habe es weggeworfen.«

Sie öffneten die Tür und kamen in die Zelle.

»Ziehen Sie sich aus«, befahlen sie mir.

Ich gehorchte und zog mich aus. Sie suchten zwischen meinen Arschbacken, unter den Achseln, am Hoden und anderen Körperstellen. Es fühlte sich an wie eine Herde Nacktschnecken auf meiner Haut, doch ich beherrschte mich. Als sie fertig waren, ließen sie mich in Ruhe. Ich hatte meine Selbstachtung schwer verletzt. Nach dem Anziehen brachten sie mich in den Isolationstrakt. Ich hatte das Kräftemessen gewonnen und die Säge gerettet.

Sie sperrten mich in eine der Isolationszellen im zweiten Stockwerk. Das waren Einzelzellen, sauber und groß, mit doppelt vergitterten Fenstern, die auf die Straße hinaus wiesen. Ich trat ans Fenster. Jenes Stück Straße, diese Handbreit physischer Freiheit, ließ mich Sehnsucht fühlen nach anderen, vergangenen, zu Grunde gegangenen Zeiten, die in meiner Erinnerung wieder auferstanden.

Mein Gemüt schlug um. Was geschah, was passierte mit mir? In was verwandelte ich mich hier, zu was machten sie mich? Jener Fetzen Leben, die teilnahmslos über die Straße wandelnden Bürger, die fahrenden Autos, alles erinnerte mich daran, dass ich nur ein Toter war, ein eingesperrter Mensch, lebendig begraben in eine Welt aus Zement und Beton, bevölkert von Eisengittern. Eine armselige Welt, in der mir das Leben entglitt zwischen Zählappell und Zählappell, zu denen der Schließer das Innere des Grabes genau musterte, um sicherzugehen, dass ich noch da war. Es war schwer zu akzeptieren, dass die Jahre ohne dich verstrichen; es war schwer zu akzeptieren, dass die Leute verschwanden oder dich vergaßen, wo doch auch das Vergessen eine Form des Todes ist; es war schwer, in diesem Grab ein einfaches und bloßes Dasein zu fristen, mit Hoffnung und Erinnerung als einziger Nahrung. Jetzt, ans Fenster gelehnt und auf die Straße blickend, verstand ich die Tiefe des Abgrunds, in den ich von Menschen hinabgeworfen worden war. Hinter den Mauern, seiner Natur und seiner Zeit beraubt, ließ der Mensch das Leben hinter sich und ging dazu über, einfach nur zu überleben.

An diesem Nachmittag auf dem Hof leistete mir Tofi Gesellschaft, ein alter Freund aus dem Gefängnis Daroca, für den die gleichen Haftbedingungen galten. Wir grüßten uns mit festem Händedruck und gingen spazieren, unter dem scharfen Hundsblick des Schließers, der uns vom Turm, von seinem Hinterhalt aus bewachte.

»Wie geht’s, Tofi?«

»Gut.«

»Du glaubst nicht, was die gestern nach der Ankunft mit mir veranstaltet haben, wegen eines Scheißbullen. Bis eben war ich in den Amerikanischen.«

»Weiß ich schon. Haben ein paar Leute hier herumerzählt.«

»Weißt Du etwas von Niño?« fragte ich ihn.

»Er ist immer noch in Herrera, vor Kurzem lag er allerdings in Madrid im Krankenhaus. Jetzt geht es ihm wieder besser...«

»Ich habe gehört, dass er sich um die APRE kümmert und dass er sie neugründen will, mit neuen Statuten.«

»Ja, es sind schon in mehreren Anstalten Kopien verteilt worden, um zu sehen, wie die Leute drauf reagieren. Hast du noch keine davon abgekriegt?«

»Nein. Ich fahre seit ein paar Monaten ständig herum, von Anstalt zu Anstalt.«

»Ich habe oben eine in der Mappe. Nachher gebe ich sie Dir zu lesen.«

»OK.«

Ich fragte nach meinem Freund Musta, doch er war nicht mehr dort. Sie hatten ihn wieder nach Galizien geschickt. Nach ein paar Stunden Spazieren und einer guten Dusche verschluckten uns die Zellen wieder. Ich putzte meine Zelle und machte das Bett, um mich anschließend hinzulegen und die Statuten der APRE-Neugründung zu lesen. Sie waren geschrieben von Ávila Navas. Es waren drei maschinengeschriebene Seiten, und der Inhalt war sehr interessant.

Statuten der neugegründeten Vereinigung der Häftlinge unter Sonderbedingungen APRE (r)


Es besteht kein Zweifel, dass das fehlende Bewusstsein und das gesellschaftliche Desinteresse am Thema Strafvollzug der Folter, dem Amtsmissbrauch, Anmaßungen und Straftaten als Mittel im Strafvollzug einen »Freibrief« ausstellen. Aus diesem Grund entsteht APRE(r).

Die Realität im Gefängnis kennen nur diejenigen, die sie erleiden: Wir, die Gefangenen. Leider ist die inhaftierte Bevölkerung in zwei Gruppen gespalten: Die Konventionellen, deren einziges Streben es ist, ihre Strafe so schnell wie möglich zu verbüßen, und das zu »bequemen« Bedingungen, – und wir, APRE(r), die sogenannten Unverbesserlichen, ein Begriff, der immer noch passt, da wir auf unverbesserliche Weise unserer Eigenschaft als Menschen bewusst sind. Wir wollen unsere Strafen ohne Bequemlichkeit verbüßen und unsere Würde und die uns gesetzmäßig zugestandenen Rechte dabei verteidigen. APRE(r) ist durch zwei Phasen gegangen. In der ersten waren die einzigen Erfolge eine symbolische In- teressenvertretung, die für ein paar Leute verbesserte Lebensbedingungen brachten, und damit Enttäuschung, Streit und Uneinigkeit in Bezug auf neue Projekte. Das zerrüttete

die Organisation.

Doch das Wrack stand wieder auf, mit neuen Mitgliedern, gründete sich neu und schuf eine Struktur unabhängiger Basisgruppen, deren Aktivität sich gegen die Folterpraxis richtet und für einigermaßen würdige Lebensbedingungen in den Gefängnissen streitet, inklusive Kulturförderung, kreativer Beschäftigung, Sport oder anderen Formen der Weiterbildung.

Wir kämpfen für die ersatzlose Streichung der Sonderhaftbedingungen (Artikel 10 LOGP[24] und 32 und 46 RP[25]), die absolute Isolation, das Dahinvegetieren, die Annullierung der Persönlichkeit der Gefangenen. Wir erleiden eine vollständige Außer-Kraft-Setzung der Grundrechte und den Zwang repressiver Haftbedingungen, denen jede Grundlage in Gesetz und Verordnung fehlt, womit unsere Beschwerden um jeden Preis zum Schweigen gebracht und Protestaktionen vermieden werden sollen. Zu Isolation und Ausschluss jeder Kommunikation kommt hinzu, dass wir uns hunderte von Kilometern entfernt von unserer gewohnten Umgebung befinden, was für unsere Familien heißt, dass sie auf der Landstraße tödlich verunglücken können.

Wir glauben, dass in einer Demokratie nicht alles gelten kann. Die Demokratie ist nicht Eigentum einiger Weniger, die sie nach eigenem Wissen und Gewissen aushöhlen und setzen in dieses edle Rechtswesen von Gottes Gnaden, in Posten und Ämter öffentlicher Behörden, die sie selbst besetzen. Wir haben die Nase gestrichen voll davon, dass sie uns unsere Grundrechte aberkennen, diese Zuhälter der Demokratie, die im Schilde führen, ihre »Bürger« in Prostituierte eines sogenannten Rechtsstaats zu machen. Seit über einem Jahrzehnt ist die Konsequenz der Unregelmäßigkeiten und Mängel der sozialdemokratischen Strafvollzugspolitik, uns Gefangene pausenlos physischer Aggression, Amtsmissbrauch und Parteilichkeit der Schließer auszusetzen. Die Schließer sind ihrerseits nach den härtesten Kriterien des katholischen Faschismus ausgebildet, der Leitideologie des Militärregimes, welches der Demokratie voranging, bis vor fünfzehn Jahren.

Bewusst oder unbewusst hält die Verwaltung von Justiz und Strafvollzug jene Elemente im Dienst, die einst der weltliche Arm des Franquismus waren. Einige von ihnen sind durch die Ausübung politischen Opportunismus des richtigen Parteibuchs befördert worden und haben hinterlistig inquisitorische pädagogische Maßnahmen durchgesetzt und zusätzlich dafür gesorgt, im Strafvollzug maßgebliche Vorschriften für Sicherheit und Ordnung selbst und eigenmächtig auslegen zu können. Sie haben den Strafvollzug zu ihrer heiligen Festung gemacht. Es herrscht physische Gewalt, ausgeübt durch Mörder, und unsere Therapie ist gegründet auf Terror, Einschüchterung und Erpressung, was die Einhaltung der von ihnen gesetzten Regeln erreichen soll, unter Missachtung der geltenden Gesetze und leichtfertiger Verletzung der Rechte der Gefangenen durch andauernde Prügel wegen Dingen, wie etwa dabei erwischt zu werden, wie man durch ein Fenster mit jemandem redet, oder dabei erwischt zu werden, im Bett zu liegen. Unsere Körper haben es gelernt, sich unter so viel beamteter Gewalt zusammenzuziehen.

Man hat uns aufgrund falscher Tatsachen Disziplinarstrafen auferlegt, ein Betrug, den wir vor korrupten, regimetreuen und mehrheitlich von Totschlägern besetzten Gerichten anzeigen mussten, vor derselben Sorte Therapeuten des Schlagstocks, der Fesseln und der Sprays, die anschließend selbst über unsere Einstufung in die Grade der Vollzugsbedingungen entscheiden.

Wir können die Zahl der Genossen, die an diesem höllischen Drittwelt-Knastsystem gestorben sind, nicht genau angeben. Es gibt beabsichtigte Infektionen mit AIDS, es fehlt angemessene und glaubwürdige medizinische Betreuung, es fehlt jeder humanitäre Geist im Herzen des Staates. Wir gedenken unserer Genossen José Manuel Ruíz Verdugo, Francisco Carmona Gallardo, Juan José Piquero, Agustín Rueda Sierra (Folteropfer), Vicente Gigante Real... Es hat so viele Tote gegeben, dass wir ein ganzes Papierlager bräuchten, um alle Namen unserer unvergessenen Genossen aufzuschreiben.

Wir haben tausende Anzeigen eingereicht an die Gerichte und an die Generaldirektion, in denen wir von den physischen, psychischen und moralischen Aggressionen Zeugnis ablegen, deren Opfer wir sind, ohne dass bis jetzt geeignete Maßnahmen ergriffen worden wären, um hiermit Schluss zu machen. Vielmehr sind die postwendenden Resultate unserer Anzeigen die Verhärtung der Repressalien und der Hass der Henker.

Die absolute Gleichgültigkeit, der wir andauernd ausgesetzt sind und die Hoffnungslosigkeit, die daraus resultiert, haben ns verschiedentlich veranlasst, Aufstände auszulösen und Entführungen von Schließern zu organisieren. Diese Taten haben einerseits zur Erhöhung unserer Haftstrafen geführt; andererseits sind die Henker vollkommen straflos aus all dem hervorgegangen und konnten ihre niederen Instinkte ohne Weiteres an uns auslassen. Wir waren und sind Versuchskaninchen für psychische Folter, die darauf abzielt, die Persönlichkeit der Individuen zu annullieren.

Dass hier kein Zweifel besteht: Zu jeder Zeit hat die Generaldirektion genau Bescheid gewusst über die Prügel und die

Parteilichkeiten, die wir über uns ergehen lassen mussten, ohne Unterlass, und auch ohne Vermerk in unseren Akten. Man hält uns mit brutaler Gewalt nieder. Nicht zufrieden mit dem Resultat aus physischer und psychischer Bestrafung, die man uns angedeihen lässt, erpresst man uns, man spekuliert auf unseren Schmerz, man handelt mit unseren Träumen, indem man uns von unseren familiären und freundschaftlichen Beziehungen trennt und uns bewusst geografische Entfernungen auferlegt, als Methode zur sozialen Entwurzelung, und das ohne Rechtfertigung und nicht zur Besserung, einfach wegen unserer Weigerung vor der »Resozialisierung«, die man uns anbietet. Die Resozialisierung ist nur ein abstrakter Begriff, und was man mit uns anstellt, ist sklavisches Abrichten, durchgeführt von Syndikaten des Organisierten Verbrechens, den sogenannten Equipos de Tratamiento[26], deren therapeutisches Kriterium das Anstreben der absoluten Unterwerfung des Häftlings unter die herrschende Klassentrennung ist.

Wir zweifeln nicht daran, zuallererst die Verwaltung von Justiz und Strafvollzug für die Nachteile verantwortlich zu machen, die wir erfahren haben und immer noch erfahren. Wir glauben, dass die Bestrafungszellen, die Jahre in Isolation, die Verletzungen des moralischen Empfindens, die uns und unseren Familien beigebracht wurden, nicht mit Entschädigungsleistungen in Form von Geld wieder gut zu machen sind.


Da dieser »Rechtsstaat« uns bis jetzt gestattet, zu lesen, verstehen wir noch etwas, zum Beispiel, was der Artikel 121 der Verfassung des Landes S. eigentlich schützen will.

Wir fordern als Entschädigung für die Nachteile, die wir erlitten haben, folgendes:

1. Rückwirkende Verkürzung unserer Haftstrafen im Ausgleich für in Haft geleistete Arbeit um vier Monate pro abgesessenem Jahr.

2. Untersuchung und Aufklärung sowie Klarstellung der Verantwortung in den Fällen, in denen wir zu Disziplinarstrafen verurteilt worden sind, unter Beachtung von Artikel 15 der Spanischen Verfassung in Verbindung mit Artikel 3 der Europäischen Charta für Menschenrechte.

3. Sofortige Freilassung aller unheilbar kranken Gefangenen (AIDS) und Streichung der Bedingung, die Gefangenen müssen sich in terminaler Phase befinden. Schon in einem früheren Stadium der Krankheit muss auf sie das in Artikel 60 der Strafvollzugsordnung garantierte Recht angewandt werden.

4. Jedem Schließer, der wegen Misshandlungen angezeigt worden ist, ist der weitere Kontakt mit Gefangenen zu untersagen.

Uns ist bekannt, dass die Generaldirektion sich vorgenommen hat, eine Politik zu entwickeln, die eine Behandlung der Strafgefangenen unabhängig von ihrem Haftgrad anstrebt. Das sehen wir objektiv und beurteilen es als geeignete Maßnahme, die Idee der Resozialisierung zu verfolgen, was im Übrigen der Auftrag aus dem erklärten Willen der Bevölkerung hinsichtlich der Strafvollzugspolitik ist. Wäre angewandt worden, was das Gesetz vorsieht, hätte die Mehrheit der Mitglieder von APRE(r) heute einen Großteil ihrer Strafe, wenn nicht alles, bereits verbüßt. Wir wären in den Genuss der Beförderung in leichtere Haftgrade und von Hafturlauben gekommen. In der Realität, die man uns aufzwingt, dürfen wir jedoch nicht einmal vis-a-vis-Besuche empfangen, was ein Verbot bedeutet, Sexualität zu leben (das ist Folter), oder unsere Familienangehörigen zu umarmen. Wir kennen viele andere Gefangene und Fälle mit bedeutenden Haftstrafen oder sogar mit höheren als den unseren, als da wären: Drogenhändler, ehemalige Polizeibeamte, Vergewaltiger und rechtsextreme Terroristen; die haben bezahlte Arbeitsplätze inne, die genießen außergewöhnliche Hafterleichterungen sowie Urlaube, die leben im Gefängnis auf großem Fuß. Die Putschisten vom 23. Februar[27] zum Beispiel, die ein Komplott gegen die spanische Nation geschmiedet hatten, sind Begünstigte der Großzügigkeit der Demokratie. Uns ist die unantastbare Straflosigkeit bekannt, die solche Leute genießen, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch wurden noch keine Verantwortlichen dingfest gemacht für den Tod im Gefängnis von Foncalent im Januar 1987 der Gefangenen Elena Márquez Vaño, Isabel Plano Pérez und Teresa Pedraza González, obwohl öffentlich festgestellt worden war, dass es in diesem Zusammenhang Unregelmäßigkeiten gegeben hat, und also auch Verantwortliche. Und so könnten wir Jahrhunderte dabei zubringen, alle aufzuzählen: Den Fall GAL[28], den Fall El Nani[29], den Fall Agustín Rueda, hohe Tiere, Waffenträger des Staats, Magistraten, in den Drogenhandel Verwickelte, in Fälschungen offizieller Dokumente, dubiose finanzielle Machenschaften im Namen politischer Parteien, und ein langes etcetera täglich neuer Unverschämtheiten, die in diesem sich demokratisch verfasst nennenden Lande stattfinden; Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Herrschaften niemals eine Disziplinierungszelle von innen kennen lernen werden. Wir, liebe Freunde, sind leichte Opfer des Rauschgifts gewesen, das das Land überschwemmt, wir sind mehrheitlich zufällige Straftäter, Drogenabhängige, und statt uns zu heilen hat man uns in Gefängnisse geworfen, mit dem Ziel, die Ausbreitung der Rauschgiftkultur aufzuhalten, und man hat uns astronomische Strafen auferlegt, einfach weil wir einer niedrigen gesellschaftlichen Klasse angehören. Es ist traurig, doch zum Unglück für dieses Land gilt die Demokratie nur für einige Wenige, während wir uns in Disziplinierungszellen aufreiben, weil wir den Mut hatten, unsere Rechte einzufordern. Die meisten von uns sind mit AIDS infiziert, und man verbietet uns, unsere restlichen Tage mit unseren Familien zu verbringen.

Aus diesem Bewusstsein und mit dem kämpferischen Geist, der uns charakterisiert und kennzeichnet, mit moralischer und materieller Unterstützung von außen, die sich übrigens immer mehr ausweitet, streiten wir für eine gerechte Sache. Vor der Vollzugsaufsicht werden wir weiterhin die Anmaßungen der Schließer anprangern. Und zwar auf folgende Weise: Jeder, der die moralische Legitimität dazu innehat, ist Mitglied der APRE(r). Wir werden unsere Beschwerden, ob kollektiv oder individuell, immer zweifach vorbringen, mit dem Briefkopf der APRE(r). In diesen Beschwerden werden wir alle stattfindenden Verletzungen unserer Rechte anführen: Die Ablehnung unserer Anträge auf vis-a-vis-Besuche; die Anwendung unnötiger Härten in den Haftbedingungen; die Verbote, Räume in den Anstalten für kulturelle und sportliche Aktivitäten und zur Erholung zu gebrauchen; das Fehlen oder die Verspätung von medizinischen Untersuchungen; die Weigerung der Ärzte, Anträge auf Grundlage von Artikel 60 zu unterstützen; dass die sogenannten Begleitungs- und Therapieteams ganz oder teilweise fehlen oder sich nicht für uns interessieren; dass keine Informationsveranstaltungen und keine Persönlichkeitstests stattfinden; das mangelnde Interesse des pädagogischen Personals und dessen Weigerung, Insassen Ersten Grades Unterricht zu erteilen; und alles, was wir als ungerecht oder als Unrecht empfinden. In jeder Anstalt wird es einen Verantwortlichen für das Verfassen der Beschwerden und das Einholen unterstützender Unterschriften geben. Dieser wird eine Kopie an die Vollzugsaufsicht schicken und die andere behalten, bis er eine Adresse erhält, an die er sie senden kann. Sie werden immer im geschlossenen Umschlag und als Einschreiben mit Rückschein verschickt werden. Die Finanzierung der neuen APRE(r) wird kein Problem darstellen. Es geht darum, das Dossier, das draußen bereits vorliegt, zu vervollständigen, damit unsere Anwälte die Einhaltung unserer Rechte und den Schadenersatz, der uns zusteht, einklagen können. Auch wenn wir keine Parteigänger der Gewalt sind, schließen wir kollektive bewaffnete Aktionen für den Fall nicht aus, dass nach Erschöpfen aller rechtlichen Mittel uns nicht zuerkannt wird, was uns nach dem Gesetz zusteht.

Uns ist bewusst, dass uns in der bestehenden Ordnung nicht zugestanden wird, Gewalt einzusetzen, um unsere Ziele zu erreichen. Wir heiligen unsere Mittel nicht (wie es nach Macchiavells Maxime geschieht), doch wenn man uns hier in der dunkelsten Klandestinität massakriert, gebietet es der Überlebensinstinkt und ist es legitim, unser Recht auf Leben, auf physische und moralische Unversehrtheit zu erstreiten, Deshalb sagen wir:

BASTA YA! FOLGEN WIR DER DOKTRIN DES »ZENON«[30] UND GEHORCHEN

WIR NUR DER VERNUNFT!

MUT, GENOSSEN!

DIE JUSTIZ UND DIE DEMOKRATIE GEHÖREN ALLEN.

Herrera de la Mancha, im Januar 1991

Der Koordinator:

Francisco Javier Ávila Navas

Eine dieser Kopien war an Antoni Asunción, den Generaldirektor der Strafvollzugsbehörde geschickt worden. Der beschränkte sich aber darauf, dem Inhalt keine Bedeutung beizumessen. Was würden sie ihm anhaben können, jene in seine Gefängnisse gesperrten Männer, ihm, dem obersten Mandatsträger auf seinem Berg aus Macht und Ehrgeiz? Asunción war einer der ambitioniertesten Männer der PSOE[31], und nichts würde ihn aufhalten können. Er hatte das nur allzu gut demonstriert, anlässlich des Hungerstreiks der GRAPO in den Jahren 1989 und 1990, in dessen Verlauf der Gefangene José Manuel Sevillano vor Entkräftung starb und andere Mitglieder der bewaffneten Gruppe bedeutende Schäden davontrugen, wie im Fall Sebastián Rodríguez Veloso, der jetzt im Rollstuhl sitzt. Er war der Herr, und die Gefangenen seine Sklaven: Sollten jene sich trauen zu rebellieren, würden sie ohne zaudern unterdrückt werden, wie immer. Das Gesetz, die Gewalt und die Medien waren auf seiner Seite. Was war an einer Gruppe Gefangener zu fürchten? Sie würden es nicht wagen...


Die Nachricht im Radio überraschte mich am 25. Februar. Juan José Garfia, José Campillo, Antonio Vázquez und José Romera Chuliá schafften es, in der Nähe von Valladolid aus einem Transporter zu flüchten. Ich fühlte für sie alle eine enorme Freude, sie würden jetzt den Lohn für ihr Wagnis kosten, einen verdienten Lohn, vorbehalten nur den Mutigsten. Ich freute mich besonders für meinen Freund Juanjo: Er hatte es geschafft, er war frei. Nachdem sie an jenem Morgen die Anstalt Alcalá-Meco verlassen und festgestellt hatten, dass der Boden des Transporters verrottet war, beschlossen Juanjo, Campillo, Chuliá (der bekannt war als El Francés) und Vázquez, die Flucht zu versuchen. Mit dem Bein einer der Sitze als Stemmeisen schufen sie eine Öffnung im Bodenblech des Transporters, einen Durchbruch in den unteren Kofferraum, in den sie sich dann hinabließen. Obwohl sie es angeboten bekamen, wollten die übrigen Gefangenen bei der Sache nicht mitmachen. Je mehr hinaussprangen, desto besser für alle, wenn es dann galt zu rennen. Hinter der halboffenen Kofferraumtür bereiteten sie sich auf den Sprung vor. Sie würden es tun müssen, wenn der Transporter etwas langsamer fuhr, also beim Erreichen einer Stadt. Das wussten sie, und so machten sie es. In den Außenbezirken von Valladolid begann der Transporter, langsamer zu fahren, und in einer Kurve stürmten alle nach draußen, zur Verblüffung der Guardia Civil. Aus dem Begleitwagen sprangen zwei unbewaffnete Guardias, und einer der beiden, Julián Botella Nevado, holte José Romera Chuliá ein und überwältigte ihn. Salvador Gutiérrez, der jüngere der beiden Beamten hatte weniger Glück, er erreichte zwar Garfia, doch dieser schlug ihn mit mehreren Hieben auf den Asphaltboden und floh sofort und endgültig. José Campillo und Antonio Vázquez entkamen ohne sichtbare Verletzung und ohne größere Probleme. Die Flucht war erfolgreich verlaufen, außer für Romera Chuliá, der auf die nächste Chance warten musste, um es erneut zu versuchen.


Anfang März wurde mir der Prozess gemacht, aufgrund des Straftatbestandes der Beamtenbeleidigung. Ich hatte aus dem Gefängnis einen Brief verschickt, in dem ich einen Richter mit dem Tod bedrohte und von ihm die Zahlung einer Revolutionssteuer von drei Millionen[32] forderte. Ich wurde unter schweren Sicherheitsvorkehrungen vor den Richter geführt. Auf die Frage nach dem Grund für diese Drohungen antwortete ich: Aus Justizhass. Ich wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Im Gefängnis schaffte ich es, Zellennachbar von Tofi zu werden, auf der Stirnseite des Gebäudes. Von dort aus konnten wir beide die Straße sehen, und gegenüber befanden sich die Verwaltungsgebäude und die Offene Abteilung, über die Romera Chuliá vor einem Jahr die Flucht gelungen war. Nebenan stand das Wohnhaus des Direktors. Nachts gingen wir an unsere Fenster und unterhielten uns. Manchmal widmete sich mein Freund der Belagerung des Direktors und beschimpfte ihn mit Rufen über den Hof: »Hey du Arschloch! Ich weiß, dass du mich hörst. Wir wollen besseres Essen!«

Dann rief der Guardia Civil vom Wachturm dazwischen:

»Halten Sie das Maul!«

»Fick dich, du Idiot!«

Diese Situationen bescherten uns regelrechte Lachanfälle. Tofi war ein beherzter Typ, ein exzellenter Genosse, und die Tage, die ich dort mit ihm verbrachte, waren sehr unterhaltsam. Manche Nächte bekam ich wieder Herzrasen und ich rief ihn mit Klopfen an die Wand, damit er an die Tür schlagen konnte, falls es schlimmer wurde. Sobald es mir besser ging, legten wir uns wieder schlafen, das war immer erst im Morgengrauen. Obwohl ich an diese Attacken schon gewöhnt war, war es hart, sie in einer Zelle ertragen zu müssen, allein, mit einem unruhigen und besorgten Genossen nebenan, der bereit war, im Fall einer Verschlimmerung gegen die Tür zu schlagen. Sofern es sie gab, war die Kameradschaft zwischen den Gefangenen etwas Wunderbares, was mich nach wie vor begeisterte. Ohne Zweifel etwas Schönes und Erhabenes.


Sie brachten mir das Urteil im Prozess von Zamora: Achtzehn Jahre Gefängnis. Jenes Papier zerstörte definitiv jedes denkbare Band mit der Gesellschaft. Diese trug vermittelt durch ihre Institutionen dafür Sorge, mich für immer aus ihrer Welt verschwinden zu lassen. So funktionierte das System. Man verfolgte dich, bedrängte dich, man führte Buch über deine Fehler, und wenn du es am wenigsten erwartetest, warfen sie dich in einen Kerker. Jetzt würden sie auf den nächsten losgehen. Und so auf alle die Frauen und Männer, die die schöne neue demokratische Welt nicht akzeptierten.


Am Morgen des 18. März gingen Javier Ávila Navas und seine Kumpel von der Theorie zur Praxis über. Die Nachricht erreichte das ganze Land über Radio- und Fernsehwellen: Im Gefängnis Herrera de La Mancha hatte eine Gruppe Gefangener im Sondertrakt mehrere Geiseln genommen und sich verschanzt. Alles war an diesem Morgen passiert, während die Ärztin die Häftlinge in den Zellen zur Visite aufsuchte. Normalerweise hatten diese Zellen eine Gittertür, die jeden Kontakt verhinderte, außer an diesem Tag. Eine dieser Türen war durchgesägt und also offen. Sie hing an einem Draht, damit der Schließer nichts merkte. Als sie in die Zelle von Ávila Navas kamen, warf sich dieser auf sie, mit einem Messer bewaffnet, und nachdem er sie überwältigt, in die Zelle gesperrt und die Schlüssel an sich genommen hatte, eilte er, seinen Genossen Rivas Dávila und Losa López zu öffnen, die sich im selben Trakt befanden. Draußen auf dem Hof überwältigten Sánchez Montañés und Laudelino Iglesias weitere zwei Schließer und brachten sie unter ihre Kontrolle. Danach gingen sie in die Wachstube und schlossen einen Schließer, einen einfachen Guardia Civil und einen Gruppenführer dort ein. Der Alarm ging los. Die Gefangenen schlossen eine sofortige Flucht aus und bauten mit Matratzen und von den Zellentüren abgerissenen Gittern Barrikaden auf den Fluren des Trakts, bereiteten Molotov-Cocktails vor, mit denen sie im Fall einer Stürmung den Trakt in Brand setzen konnten. Die vier Geiseln, drei Schließer und die Ärztin, wurden in unterschiedliche und immer neue Zellen gebracht, damit die Spezialkräfte, die sich sicherlich bald einfinden würden, sie nicht lokalisieren konnten. Sie waren zu allem entschlossen. Die Guardia Civil drang in die Anstalt ein und bezog Posten um den Sondertrakt, sie belagerten ihn. Die Kraftprobe hatte begonnen. Von nun an war es Nervensache. Wie ein Tauziehen, an beiden Enden zogen die Parteien mit all ihrer Kraft, und wer nur einen Millimeter preisgab, würde verlieren.

Es begannen die Verhandlungen. Sie fanden vor Ort statt, über die Barrikaden. Die Verwaltung hatte für die Verhandlungen drei Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid und die Strafvollzugsrichterin geschickt, das hatten die verschanzten Gefangenen gefordert. In Repräsentation der Gefangenen las Ávila Navas die Liste der Forderungen, die Ursache für diese Entführung waren:

1.- Beendigung aller Folter in allen Gefängnissen in Wort und Tat.

2.- Sofortige Entlassung der Schließer, die uns in Alcalá-Meco dazu angeregt haben, in der Anstalt eine Gruppe zur Ermordung der gewichtigsten politischen Gefangenen zu bilden, im Tausch gegen verbesserte Haftbedingungen.

3.- Angemessene Ausstattung der Jugendstrafanstalt Madrid, wohin die gefangenen Frauen aus Yeserías verlegt werden.

4.- Beendigung der Folter, der Prügel und der Misshandlungen in der psychiatrischen Anstalt Alicante (Foncalent), Abteilung für akute Fälle, wo man die Kranken monatelang ans Bett fesselt, weshalb diese ihre Notdurft auf sich selbst verrichten, ohne Zugang zu ihrer Habe, wofür die Hauptverantwortliche Frau Doktor María Ángeles López ist.

5.- Ehrliche Untersuchung und Feststellung der Verantwortung in Bezug auf die Erhängungen, die in den staatlichen Anstalten stattgefunden haben wegen der beabsichtigten Nachlässigkeit der Schließer, die ihrerseits andere Einsitzende mit Übervorteilung erpresst haben, damit sie nicht an der Aufklärung dieser Morde mitwirken. Weiterleitung der Anzeigen wegen beabsichtigter Ansteckung mit AIDS durch Austausch unseres Rasierzeugs, dessen Einbehaltung und spätere Ausgabe ohne jede Kontrolle.

6.- Sofortige Freilassung aller unheilbar Kranker, wie es Artikel 60 der Strafvollzugsordnung vorsieht.

7.- Anwendung von Artikel 60 auf AIDS-Kranken, solange das Virus sich in einer mittleren Entwicklungsphase befindet, und nicht nur wenn es sich praktisch schon um Leichen handelt, wie in dem Ausspruch vergangenen Jahres von Generalstaatsanwalt Leopoldo Torres. Sein fehlender humanitärer Geist ist uns bekannt.

8.- Sofortige Aufhebung von Artikel 10 des Strafvollzugsgesetzes, dessen erster Abschnitt Untersuchungsgefangene und dessen zweiter Abschnitt Strafgefangene jahrelang im Ersten Grad, erste Phase belässt: Das sind 22 Stunden am Tag in der Zelle, und das wissend um die gewaltfördernde Wirkung der Isolation.

9.- Dass das Maximum der Isolation als Disziplinarstrafe nicht mehr 42 Tage betrage; 14 Tage sind schon grausam, und es hat nur zur Folge, dass die Gefangenen gegenüber der Bestrafung abstumpfen.

10.- Dass unsere derzeitige Regierung sich nicht länger an durch Rauschgiftsucht bedingte Straftäter auslasse, an den Opfern der Überschwemmung des Landes mit Drogen, und dass man ihre Krankheit und die ganze Dimension dieses Problems ins Blickfeld rücke. Kranke bestraft man nicht, man heilt sie.

11.- Dass die Strafvollzugspolitik nicht nur in der Theorie und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit fortschrittlich sei; dass die Resozialisierung als solche nicht nur ein vollkommen abstrakter Begriff bleibe und man über das Leben und die physische Integrität der Gefangenen wache und dabei deren Ideale respektiere. Dass man auch die soziale Verwurzelung der Gefangenen berücksichtige und dass sie ihre Strafen in Anstalten in der Nähe ihrer Herkunftsorte ableisten sollten.

12.- Dass man das Recht auf Kultur und Sport respektiere, und dass man mehr entlohnte Aktivitäten und Arbeit anbiete.

13.- Abschaffung des Einkaufsverbots im Economato als Sonderstrafe.

14.- Dass man den Familienangehörigen der Gefangenen den ihnen gebührenden Respekt entgegenbringe, solange sie sich auf Anstaltsgelände aufhalten.

15.- Einschluss der Möglichkeit in das Strafgesetzbuch, nach fünf Jahren in Haft die Freiheit zu erlangen.

16.- Dass den Gegangenen während der Verhandlung ihrer Disziplinarverfahren Beratung mit Zeugen und Anwalt offenstehe, da sie sich vor korrupten Tribunalen befinden, bei denen Schließer gleichzeitig als Richter und als Henker auftreten, und die Disziplinarstrafen die Haft zusätzlich verlängern. Die fehlende Verteidigung verletzt die Spanische Verfassung in ihren Artikeln 24 und 119.

17.- Dass die »fortschrittliche« Strafvollzugspolitik den »gefährlichen« Gefangenen gegenüber entgegenkommender sei, die doch einfach Gerechtigkeit fordern, und dass sie ihre Großzügigkeit nicht mit ultrarechten Terroristen und Drogenbossen aufbrauche.

18.- Dass man uns wegen dieser illegalen Festnahme von Schließern nicht den Prozess mache, motivierte uns doch stets und einzig das schlechte Funktionieren der Justizverwaltung.

Die Verwaltung wurde von den Forderungen der Gefangenen unterrichtet. Man weigerte sich, sie öffentlich zu machen, nach der Richtlinie, vor allen Dingen und trotz der Gefahr für Menschenleben diese erschütternden Anklagen der Situation im Strafvollzug auf spanischem Territorium zu verdunkeln. Man konnte nicht zulassen, dass die Gesellschaft über die Realität in dieser Unterwelt, in der die Diktatur weiter Kurs hielt, aufgeklärt wurde. Es wurde eine Desinformationskampagne für die Medien entworfen. Und so verloren die wichtigen Tageszeitungen mit Ausnahme von Egin[33] und diverser Radioprogramme auch keine Zeit, überwacht und realitätsentfremdet wie sie waren, die Gefangenen als verantwortungslose und gemeingefährliche Verrückte zu bezeichnen. Übrigens stellte keiner dieser Berserker des Informationshandwerks klar, dass die Sonderbedingungen, die für diese Gefangene galten, illegal und abgeschafft waren, laut Königlichem Dekret Nr. 787 von 1984. Es war dasselbe Theater wie immer. Sie beachteten das Gesetz nicht, verletzte allerdings jemand anderes als der Staat das Recht, wurde er als irrer Faschist hingestellt. Scheinheiligkeit, Unrecht, Schwachsinn. Die Verantwortungslosigkeit und Prostitution der Medien war einfach abstoßend und widerlich.

Nichts war berichtet worden über Herrera de La Mancha, traurig berühmt für die dort stattfindende Folter der Gefangenen der COPEL[34] in den Jahren 79, 80 und 81, als man die Gefangenen nachts und in Handschellen aus ihren Zellen holte und sie dann aus absolut unangreifbarer Position unerhörte Prügel spüren ließ, mit dem Zweck, Geständnisse zu zurückliegenden Raubüberfällen oder Verrat von Genossen zu erpressen, Verrat zum Beispiel der politischen Gefangenen von ETA. Diese Geschichten sind in dem Band Herrera, Prisión de Guerra[35] zusammengefasst. Nein. Warum auch den Bürgern die ganze Wahrheit erzählen, damit jene für sich selbst entscheiden konnten, ob das alles gut oder schlecht war? Wie würden die Medien und der Staat aufrecht erhalten können, jene subversiven Männer seien gefährliche herzlose Psychopathen, falls diese achtzehn Forderungen die Bürger erreichten? Mit jedem Wort erzählte dieser Text in menschlichem Ton von ungeheurer Solidarität. Wie würde der Staat rechtfertigen können, dergleichen solidarisches Handeln mit harter Repression zu überziehen und geheim zu halten? Inzwischen waren jedoch die Anhäufung von Lügen vor der Gesellschaft seitens der angeblich demokratischen Medien und die Spannung in und um die Anstalt weiter angewachsen. Die UEI der Guardia Civil hatten ihre Stellungen zum Sturm bezogen. Die Gefangenen setzten auf die Ärztin. Schwerlich würden die Spezialkräfte eingreifen, wenn sie sich im Trakt befand. Die Ärztin war schwanger, was die Operation noch erschwerte. Man würde das Risiko nicht eingehen und die Verantwortung für eine mögliche Verletzung des Fötus nicht tragen wollen, oder sie von den wilden Bestien, die sie gefangen hielten, umbringen zu lassen.

Die Wirklichkeit sah anders aus: Im Sondertrakt wurde diskutiert, die Ärztin freizulassen. Das war eine schwierige Entscheidung, denn das würde bedeuten, die Wahrscheinlichkeit eines Sturmangriffs auf neunundneunzig Prozent zu erhöhen. Doch die Schwangerschaft warf ernsthafte Zweifel an der Legitimität der Gefangennahme dieser Frau auf, denn ein unschuldiges Wesen wurde zusätzlich mit hineingezogen. Deshalb wurde auch ihre Freilassung beschlossen, trotz der Aussicht auf einen Erstürmungsversuch. Und wirklich, Stunden später sollte auf diese in einem schwachen Moment gezeigte menschliche Geste hin grünes Licht für das Eingreifen der Sicherheitskräfte gegeben werden. Als die Ärztin freigelassen worden war, verloren die übrigen Geiseln ihren Wert, man würde über sie hinwegsehen und ihr Leben geringschätzen. So dachte, so funktionierte die Verwaltung.

Am Morgen des 19., ungefähr um drei, überschlugen sich die Ereignisse. Das Einsatzkommando bekam den Befehl, die Geiselnahme zu beenden, und griff ein. Als Erstes waren Explosionen und das Knattern von Maschinenpistolen zu hören. Alles ging dann sehr schnell. Die fünf Gefangenen wurden neben einer Geisel angetroffen, überwältigt und dann mit Baseballschlägern brutal zusammengeschlagen. Das war eine übliche Methode bei der Aufstandsbekämpfung, um auch alle übrigen Gefangenen zu terrorisieren. Am Ende wurden drei der Gefangenen ins Krankenhaus eingeliefert, die anderen beiden wieder eingesperrt und die Geiseln befreit. Die Erstürmung hielt die Forderungen auf, sie hatten die Öffentlichkeit nicht erreicht. Die Verwaltung konnte zufrieden sein.

Die Jugendstrafgefangenen in Herrera de La Mancha allerdings, die gerade erst aus der Anstalt Zamora gebracht worden waren und die wussten, was geschehen war, fingen am darauf folgenden Tag einen neuen Aufstand an. Um ihre Solidarität mit den verprügelten Sondergefangenen zu zeigen, stiegen die Gefangenen in Gruppen auf die Dächer. Die Unruhen dauerten nur ein paar Stunden, die Zeit, die die Guardia Civil benötigte, um die Jugendlichen bestial zurückzuschlagen, mit Prügel einzudecken und blutig in ihre Zellen zurück zu stoßen. Diese Vorfälle waren nur ein Vorzeichen für das, was noch alles unternommen werden sollte aus Solidarität mit jenen mutigen Männern, denen das Unrecht nicht gleichgültig war.


Als das Verfahren, wegen dessen ich mich in Zaragoza aufhielt, stattgefunden hatte, teilte man mir mit, ich werde nach Teneriffa 2 zurückkehren. Ich hatte Aufenthalt in der Madrider Anstalt Alcalá-Meco. Dort lernte ich Julián El Cajas kennen; ich teilte zwei Tage lang die Zelle mit ihm. Wir redeten über Ausbrüche und beschlossen zu versuchen, den Fußboden des Transporters aufzuschneiden, der uns nach Cádiz bringen sollte. Wir beschafften uns zwei Sägeblätter, bauten Griffe dafür und einen Spiegel, mit dem wir die Eskorte im Auge behalten konnten, und mehrere Metallstücke, um die Türschlösser damit zu blockieren. Julián war ein wirklicher Spezialist, was die Transporter anging. Das hieß, dass wir große Chancen hatten es zu schaffen, wenn alles gut ging. Am Morgen kam der Transporter, um uns abzuholen. In den amerikanischen Zellen der Aufnahmeabteilung traf ich auf einen Landsmann. Er kam auf mich zu und grüßte mich. Er hieß Teixeira.

»Bist du es, Che?«

»Ja, und wer bist du?«

»Ich bin ein Freund von Anxo und Musta. Sie haben mir viel von dir erzählt und ich wollte dich gerne kennenlernen«, antwortete er und streckte mir die Hand hin. Wir begrüßten uns.

»Gut. Wohin fährst du?« fragte ich ihn.

»Nach Puerto, und du?«

»Ich auch nach Puerto.«

Als der Transporter in Bewegung war, schon außerhalb Madrids, machten wir uns am Fußboden zu schaffen. Wir öffneten einige Türen, darunter die Teixeiras und anderer Gefangener, damit sie sich in den Gang stellen und uns decken konnten. Die Guardia Civil sollte uns nicht sehen können. Auf den Boden gekniet sägten wir abwechselnd an dem Blech. Es würde uns eine Menge Arbeit kosten. Wir schafften es, für den Anfang ein Loch zu machen. Aus Sorge, die Guardia Civil könnte wegen der Ansammlung im Gang Verdacht schöpfen, mussten wir unsere Arbeit aber einstellen. Wir verschoben es auf den Folgetag. Nachmittags kamen wir in der Anstalt Córdoba an und blieben dort über Nacht. Wir ruhten uns aus und fuhren am nächsten Tag früh morgens weiter. Schon in Fahrt baten wir darum, auf die Toilette gehen zu dürfen, und blockierten dann die Türschlösser, damit sie offen blieben. Wir öffneten anderen Gefangenen die Türen und machten uns wieder an die Arbeit. Nach einer Weile sagte Julián, er sei überzeugt, wir hätten eine schlechte Stelle zum Sägen erwischt.

»Das klappt nicht, José, wir kommen sehr langsam vorwärts. Wir können nicht schneller sägen, sonst bricht uns das Sägeblatt, und dann haben wir verkackt«.

»Lass und zwei Stunden weiterarbeiten, und wenn wir nicht voran kommen, verdecken wir die Stelle und machen ein anderes Mal weiter, entweder wir oder andere Genossen. Was denkst du?«

»OK.«

Wir gingen wieder auf den Gang hinaus und versuchten weiter, das Blech durchzusägen und aufzuhebeln, doch wir schafften es nicht. Deshalb gingen wir dazu über, Zigarettenasche und anderen Dreck zu sammeln und damit die Ritze im Blech zu verdecken. Wir hatten es versucht, und das schwierigste Stück Arbeit war jedenfalls getan. Das würden andere Gefangene ausnutzen können und an ihr Ziel kommen. Viel Glück!

In Puerto de Santa María kam ich nach Puerto 2, wo ich Paco und andere Politische wiedertraf. José Mari war ins Justizvollzugskrankenhaus in Madrid gebracht worden, um sich untersuchen zu lassen. Diesmal hielten sie mich nur zwei Tage in Cádiz fest.


In Herrera war unterdessen eine neue Geiselnahme geschehen. José Antonio Apón Mercader, bekannt als El Africano, hatte einen Schließer überwältigt und sich mit ihm zusammen in seiner Zelle verschanzt, um seine Solidarität mit den Sondergefangenen auszudrücken und das Ende der Prügelorgien an ihnen seitens der Schließer zu fordern. Die Geiselnahme dauerte nur zwei Stunden. Sie erstürmten die Zelle.

Auf der anderen Seite der Mauer machte Juan José Garfia weiter. Die Presse berichtete über die Entführung eines Oberstleutnants der Guardia Civil und von einer Schießerei, bei der ein Guardia aus nächster Nähe im Gesicht getroffen wurde. Beides wurde Juanjo zugeschrieben. Die Jagd auf diesen Mann ging weiter, in diesem Fall allerdings schoss der Gejagte zurück und sollte ihnen wenig Freude bereiten. Hoffentlich erwischten sie ihn nicht.

Was mich anging, nach drei Tagen in Puerto 2 holten sie mich ab und brachten mich gefesselt in einem Gefangenentransporter an Bord der J.J. Sister, mit Ziel Santa Cruz, Teneriffa.

Gefängnis Teneriffa 2, Santa Cruz auf Teneriffa, März 1991

Auf Teneriffa hatte sich einiges verändert. Mein Freund Anxo Fernández und sein Genosse Lisardo González Reyes hatten gerade erst ohne Erfolg eine Flucht versucht. Die Disziplin war strenger geworden und die beiden waren in härtere Anstalten verlegt worden. Man wies mir eine Isolationszelle zu. Ich bekam Schwierigkeiten, als ich Anstalten machte, mit den anderen zu reden oder ihnen Zigaretten zu bringen.

»Tarrío!« schrie mich ein Schließer an.

»Was ist?«

»Die Guckfenster werden nicht aufgemacht und es wird nicht durch sie hindurch geredet!« sagte er mir, »Und es werden den Disziplinarbestraften auch keine Zigaretten übergeben«, fügte er noch hinzu.

Ich hörte nicht auf ihn und verteilte die Schachtel Zigaretten, die ich bei mir hatte, unter allen Sonderbestraften. Ich zündete jedem von ihnen durch das Guckfenster hindurch eine Zigarette an, damit sie rauchen konnten.

»Sie haben einen Aktenvermerk, Tarrío.« Er drohte mir.

»Was ist denn los? Macht es Ihnen Spaß, die Leute unter Entbehrungen leiden zu lassen?« warf ich ihm an den Kopf.

»Es ist laut Vollzugsordnung verboten, und das wissen Sie.«

»Verboten, menschlich zu sein, stimmt’s? Schreib doch die Berichte, die du willst...«

»Sie können sicher sein, dass ich das tun werde.«

Vor die Zellenfenster hatten sie neue Gitterstreben geschweißt, senkrechte diesmal. Sie hatten die Tür, die in den Nachbartrakt führte, blockiert und am anderen Ende des Trakts eine neue geschaffen, die nun direkt auf den Hof hinaus führte. Die Brücke hatte ein zentrales Tor bekommen, die nachts geschlossen gehalten wurde und nur tagsüber offen stand. Ohne Zweifel hatten sie die Sicherheit verstärkt. Ich redete über das alles mit Juan Caamaño, einem Gefangenen aus Valladolid, der in diesem Trakt als Gefangener ersten Grades einsaß.

»Krass, wie die hier jetzt drauf sind, was Caamaño?«

»Ja, seit du versucht hast abzuhauen und dann Anxo und Reyes, sind sie unerträglich geworden. Alles verbieten sie, und sie prügeln die Leute ohne jedes Motiv. Sie drehen durch...«

»Arschlöcher!«

»Hör mal, hast du noch Tabak?«

»Ja.«

»Gib mir etwas.«

»Warte mal kurz...« Ich suchte in meinem Gepäck nach zwei Schachteln Zigaretten und knüpfte dann eine Leine aus Bettlakenstreifen. Ich trat wieder ans Fenster, band ein Stück Seife an die Leine und rief ihn: »Caamaño!«

»Ja?«

»Häng was aus dem Fenster, ich schick dir was.«

»Hab den Besen draußen!«

»OK, los geht’s!« Ich warf die Seife bis auf seine Höhe und über den Besenstiel hinüber. Er fing sie auf.

»Hast du’s?«

»Ja.«

Ich band an das andere Ende die Zigaretten und eine Streichholzschachtel und ließ es los. »Los, hol’s dir!«

»Wo kommst du denn gerade her, Che?«

»Von verschiedenen Orten. Ich war in Zamora und in Zaragoza, bei Prozessen...«

»Hier ist’s ziemlich beschissen, wie du siehst.«

Ja, beschissen. Warum verbot man den Gefangenen zu rauchen, wo sie doch einzig zum Entzug ihrer Freiheit verurteilt waren? Welchen Sinn hatte es, eine Person in der Einsamkeit einer Isolationszelle Entbehrungen erleiden zu lassen, zusätzlich zu den Entbehrungen, die allein schon das Sklavendasein im Gefängnis mit sich brachte? Man bezweckte, mittels Leiden den individuellen Willen zu brechen, um die Entfremdung des Menschen zu erleichtern. Deshalb würde man meine Tat mit Isolationshaft bestrafen. Ich hatte den Schmachter einiger Gefangener gestillt und damit gegen die Regeln verstoßen. Meine Gefangenenakte war voll davon: Verstöße wie dieser hatten in meiner Gefängnislaufbahn schon über zwei Jahre Isolationshaft bedeutet.

Ich verteilte weiter Tabak an die Sondergefangenen, und viele Aktenvermerke schlugen für mich zu Buche. Dank der Ärzte wirkten sie sich nicht aus. Die sprachen sich nämlich gegen die Verlängerung meiner langjährigen Isolation aus. Sie beurteilten derartige Bedingungen als unbedingt schädlich für meine Gesundheit und setzten die Isolationsbedingungen für mich trotz des Drucks der Anstaltsleitung außer Kraft. Obwohl ich Zugang zum Economato, zum Aufenthaltsraum und zwei Stunden täglich auch zum Hof hatte, ließen sie mich allerdings immer noch nur allein hinaus, mit der Ausrede, es gebe keinen zweiten Gefangenen mit diesen Vorschriften. Auf Anweisung der Direktion wurde in meinen Postverkehr eingegriffen und von draußen eingehende Post für mich aufgehalten, mit einer Begründung, die mir nicht mitgeteilt wurde. So wollten sie Druck auf mich ausüben. In der Bibliothek bekam ich ein paar Bücher von Albert Camus, Der Teufel und der liebe Gott von Sartre und etwas von Schopenhauer, einem deutschen Nihilisten, den ich noch nicht kennengelernt hatte. Ich konnte mir auch ein paar karierte Schreibhefte besorgen, in denen ich am Tisch sitzend die Gedanken festhielt, die mich nach der Lektüre überkamen, oder beim Umherstreifen in einsamen Träumen. Ich begeisterte mich fürs Schreiben und es verstrich kein Tag, an dem ich nicht einen Gedanken oder ein Gedicht in jene Hefte schrieb, die zu meinen Vertrauten geworden waren.

Nachts bekam ich Besuch von Schließern, die von draußen das Gitter und mein Bett ableuchteten und mich dabei absichtlich aufweckten. Ich bedachte sie dann mit Beschimpfungen, doch sie lachten und kamen ein paar Stunden später wieder, zu einer neuen sogenannten Kontrolle. Eines nachts, ich hatte die Provokationen satt, füllte ich einen Eimer mit Wasser und kauerte mich unter ein Zellenfenster. Dort wartete ich und rauchte Zigaretten, bis die Gitterkontrolle vorbeikam, was auch nicht allzu lange dauerte. Am Fenster angekommen, leuchteten sie auf das Bett, waren erstaunt, mich nicht darin zu finden, und riefen mich: »Tarrío, treten sie heraus, dass wir sie sehen.«

Ich antwortete nicht und provozierte damit, dass sie bis an das Fenster herankamen. »Tarrío, lassen Sie diese Dummheiten und zeigen Sie sich!« riefen sie aufs Neue.

Ich nahm den Eimer, stand schnell auf und schüttete ihnen das Wasser entgegen.

»Du Arschloch!« beschimpften sie mich, »jetzt kannst du was erleben.«

Ich hatte sie voll erwischt und sie gingen vor Wasser triefend weg. Ich musste lachen, obwohl ich wusste, dass ich Probleme bekommen würde. Ich zog mich an und bereitete mich auf das Schlimmste vor.

Ein paar Minuten später kamen sie in den Trakt. Es kam ein knappes Dutzend, Knüppel schwingend, angeführt vom Dienstleiter, wie ich durch die Ritze im Guckfenster hindurch feststellen konnte. Sie öffneten es. »Tarrío, wir müssen sie in eine andere Zelle bringen«, erklärte mir einer von ihnen.

»Kommt nicht in Frage.«

»Willst du, dass wir Gewalt anwenden?«

»Probiert’s doch«, antwortete ich und hatte auch schon den Stuhl in der Hand. Ich riss ihm eines seiner metallenen Beine ab.

»Hören Sie, Tarrío, verkomplizieren Sie nicht Ihre Situation.«

»Die einzigen, die meine Situation verkomplizieren, seid ihr, und eure Nachtbesuche sind zum Kotzen.«

»Gib uns das Stuhlbein und nichts weiter passiert, einverstanden?« sagte ein Schließer, der an das Guckfenster getreten war.

Sein Atem stank nach Alkohol.

»Nein.«

Sie beratschlagten und gingen dann. Sie kamen zu meiner Überraschung nicht zurück, schickten aber am frühen Morgen einen der Ärzte. Er sollte mit mir sprechen und mich dazu bringen, mein Verhalten zu ändern.

»Tarrío.«

»Was ist?«

»Kann ich mit dir in der Zelle reden?«

»Einverstanden, aber dass bloß kein Schließer in die Nähe kommt.«

»Nein, nur wir beide, OK?«

»OK.«

Er bat einen Schließer um die Zellenschlüssel, öffnete und trat ein. Hinter ihm schlossen sie die Tür. Wir redeten.

»Was war gestern los?«

»Ich weiß nicht, wie lange sie mich schon jede Nacht aufwecken... Ich habe Wasser auf sie geschüttet. Sie waren besoffen und haben mich provoziert...«

»Und was wirst du jetzt tun?«

»In Hunger- und Durststreik werde ich treten, bis sie mich in Ruhe lassen und mich mit jemandem zusammen auf den Hof lassen, und sie sollen mir das Radio und die elektrische Orgel wiedergeben, die sie mir weggenommen haben.«

»Warum haben sie dir die weggenommen?«

»Um mich zu ärgern und mir die Zelle schwerer erträglich zu machen. Es ist klar, dass der Direktor und sein Stellvertreter mir meinen Fluchtversuch nicht verzeihen, das ist ihre Rache. Ach, was weiß ich...«

»Ich werde mit ihnen reden, mal sehen, was wir ausrichten können, aber tritt nicht in den Hunger- oder Durststreik, denn damit schadest du dir selbst.«

»Egal, ich mache es, ich bin entschlossen.«

»Wie du willst. Besser, du gibst mir das Eisen und den Stuhl. Sie werden nichts Schlimmes mit dir machen, ich gebe dir mein Wort.«

»Nehmen sie sie mit.«

»Ich werde mit dem Direktor darüber reden, das verspreche ich dir.«

»Gut.«

Ich frühstückte nicht. Ich aß nicht zu Mittag und nicht zu Abend. Ich erklärte mich in Hunger- und Durststreik und legte mich auf die Pritsche. Ich verweigerte den Hofgang und überhaupt das Verlassen der Zelle, außer um Tabak im Economato zu kaufen. Jeden Tag erhielt ich Visite von den Ärzten, die vergeblich versuchten, mich zur Aufgabe des Streiks zu bewegen. Ich hatte zwei Schriften an das Gericht aufgesetzt und machte darin dieses und die Verwaltung verantwortlich für das, was mit mir geschah. Ich erhielt den Streik während der fünf Tage aufrecht, die sie brauchten um zu entscheiden, meinen Petitionen nachzugeben. Einer der Ärzte teilte es mir mit.

»Tarrío«, sprach er mich an, »sie werden dir das Radio und die Orgel geben, und du wirst nicht mehr alleine auf den Hof gehen. Das mit der nächtlichen Kontrolle werden sie weiterhin machen, doch sie werden versuchen, dich nicht aufzuwecken oder mit der Lampe anzuleuchten. Was sagst du dazu?«

»Wer hat das gesagt?« fragte ich nach.

»Joaquín, der Direktor, hat mir es gerade eben gesagt.«

»OK, sagen Sie ihm, ich lege den Streik nieder.«

»Gut.«

Diese Maßnahme sollte uns allen nützen, denn sie würden sonderbestrafte Genossen mit mir zusammen hinaus lassen, was wiederum die Verteilung der Zigaretten im Trakt vereinfachen und die strikte Disziplin der Isolation etwas lockern würde. Zumindest etwas hatten wir mit all dem gewonnen. Was mich anging, mit der Orgel und dem Radio würden die Tage schneller und unterhaltsamer vergehen. Gleichzeitig suchte ich einen Komplizen und die nötigen Dinge, um einen neuen Ausbruchsversuch zu unternehmen.

Ich erhielt Besuch von einer Psychologin. Wir unterhielten uns in dem kleinen Krankenzimmer unseres Trakts.

»Hallo, Tarrío, wie fühlen Sie sich?«

»Sehr gut.«

»Machen Sie immer noch weiter mit dem Streik?«

»Nein, nicht mehr.«

»Die Direktion schickt mich«, sagte sie in ernstem Tonfall. »Wir wollen wissen, ob Sie an Ihrem Benehmen festhalten oder ob Sie mit uns zusammenarbeiten wollen.«

»Wie ist denn mein Benehmen?« fragte ich sie.

»Kommen Sie, Tarrío, sie wissen genau, was ich meine. Sie lehnen jede Zusammenarbeit ab, lassen es ständig an Respekt gegenüber denen fehlen, die hier arbeiten, die ihr Bestes tun. Und Sie zeigen sich unzugänglich für jeden Versuch des Dialogs. Es ist sehr schwer, einen Dialog mit Ihnen zu führen...«

»Aber wir reden doch, oder?«

»Ja, was wir aber möchten ist, dass Sie mitarbeiten und uns erlauben, Sie hier herauszuholen und in einen anderen Trakt einzuweisen. Glauben Sie nicht, dass Sie noch viel länger in dieser Situation aushalten, am Ende wird es Ihnen Leid tun. Wir sind das System, und gegen das System zu rebellieren, ist zwecklos. Alles, was Sie so erreichen, ist noch ein paar Jahre mehr in solchen Zellen zu verbringen, wo Sie doch Zugang zu gewissen Vergünstigungen bekommen könnten...«

»Hören Sie, Fräulein, das System, was Sie so hochleben lassen, kümmert mich einen Dreck. Dass man Menschen in Sonderzellen einsperrt, ohne Zigaretten, halte ich für unnötigen Sadismus. Was Ihr Programm angeht, behalte ich meine Meinung lieber für mich, um Ihre Sensibilität nicht zu sehr zu fordern. Ich will nur klarstellen, dass es zum Himmel stinkt.« Ich machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Was den Dialog angeht: Sie sind die am wenigsten Geeigneten, mir mangelnde Kommunikationsbereitschaft vorzuwerfen, können Sie doch nicht einmal zehn zusammenhängende Wörter formulieren, ohne dass sich in ihnen eine Drohung oder eine Erpressung verbirgt. Das Problem, gnädiges Fräulein, liegt nicht bei mir. Das Problem besteht darin, dass Sie die Strafvollzugsordnung nicht umsetzen, sie sogar durch ihre Anmaßungen andauernd verletzen. Sie erfüllen Norm und Gesetz nicht. Statt hier bezahlte Arbeitsplätze für die Gefangenen zu schaffen, schaffen Sie kleine Diktaturen. Zwangsarbeit ohne Lohn, Sonderstrafen ohne Ende für diejenigen, die sich nicht ihrem hochgelobten Besserungsplan unterwerfen. Wie soll ich mit denen einen Dialog führen, die sich auf die Folter stützen, auf Anmaßung und Erpressung? Glauben Sie mir, Sie sind nicht so professionell, ehrenhaft und gut, wie Sie glauben...«

Meine Worte überraschten sie.

»Wer hier gefangen ist, weil er das Gesetz übertreten hat, sind Sie und nicht ich. Es kann sein, dass diese Einrichtung nicht perfekt ist, wir glauben aber an unsere Arbeit und wir verrichten sie anständig. Und wissen Sie, die meisten Gefangenen hier arbeiten und verkürzen ihre Haftstrafe auf die Hälfte. Ich zweifle allerdings daran, dass Sie das jemals schaffen, mit einer derart herausfordernden Art...«

»Wir werden ja sehen«, antwortete ich, stand auf und sah die Unterhaltung als beendet an.

Jene Worte waren eine Warnung. Sie betonten, dass ich ihnen total unterworfen war, und dass sie alles mit mir machen konnten, was sie für meine Besserung als zweckdienlich erachteten. Es war bekannt, dass ich HIV-positiv war, und dass sich das auf mein Gemüt auswirken musste. Dieser Umstand und die Disziplinierungszellen, das Eingreifen in den Postverkehr, einziger emotionaler Halt im Gefängnis, war doch das Gefängnis zu weit entfernt von der Familie, um anderen Kontakt haben zu können, das alles würde mich zum Nachdenken veranlassen und ich würde nachgeben.

Das zu erreichen bedeutete für sie einen Erfolg vor der Behörde in Madrid. Für sie war ich nur ein Versuchskaninchen, an dem man verschiedene Repressionsmethoden ausprobieren konnte. Und wirklich waren wir, seit man Männer und Frauen in Ketten legte, Versuchskaninchen von Ärzteteams, Erziehern, Psychiatern und Gefängniswärtern. Die Erfolge dieser Forscher der Entmenschlichung und Folter bedeuteten für uns, die Kaninchen, von der Verwaltung zuerkannte Vorteile, Beförderungen. Das klingt hart, es war aber so. Jeder Mensch konnte diese Erfahrung machen: Einfach, weil er einen Fehler gemacht hatte, kam er ins Gefängnis und versuchte dann, dort drinnen seine Würde zu erhalten, seine Gefühle und Werte. Das System lebt von Menschenfleisch. Es zwingt dich, vor der Erpressung, vor der Strafe klein beizugeben. Die Psychologin hielt in ihrem Diskurs diese Methoden hoch, machte mit diesen verabscheuungswürdigen und schäbigen technokratischen Bütteln gemeinsame Sache, die mit ihren Prozessen und ihren Strafen ohne Zaudern in den benachteiligten Klassen Leben beendeten, vor allem aber in den widerständigsten. Dieses ganze System der Unterdrückung war auf die allgegenwärtige Drohung mit Strafe gegründet, und das funktionierte nicht. Das System war schwerfällig und unsinnig, denn statt Mitmenschlichkeit zu fördern, zerstörte es diese. Es förderte vielmehr die Niedertracht derjenigen, die es durchsetzten, und den Hass und die Gewaltbereitschaft derjenigen, die es erlitten.

Die Pressebüttel stellten das auf den Terror des Gefängnisses gestützte System üblicherweise nur geschminkt dar, und die Richter ließen dieses System zu, mit der Macht gepanzert, die ihnen verliehen worden war, und die sie unangreifbar machte, zu falschen Heiligenfiguren. Wenn etwa eine Misshandlung oder ein Zwischenfall vor den Richter gebracht wurde, beschränkte sich dieser darauf, der Strafvollzugsbehörde gute Arbeit zu bescheinigen. Dann legten wir Berufung ein und zogen vor das Provinzialgericht, das seinerseits die Entscheidung des Richters ratifizierte. Schließlich zogen wir vor das Verfassungsgericht, und ein paar Jahre später gewannen wir vielleicht den Fall, aber dann verlegten sie uns in eine andere Anstalt, und dort ging alles von vorne los. Alles verlief in festen Bahnen, ohne Abwege, auf legale Art und Weise: demokratisch eben.

Ich schaffte es, über Telefon mit der Außenwelt zu sprechen. Ich bekam mit, dass mein Freund Chico wieder verhaftet und eines Bankraubs angeklagt worden war. Von nun an würde ich ganz allein auf mich gestellt sein.

Ich entschied, mit Caamaño zu reden, um im Trakt eine Geiselnahme zu organisieren und als Schließer verkleidet auszubrechen. Er versprach mir, die Sache zu durchdenken und darauf zurückzukommen.

Der Sommer kam und mit ihm die Hitze. Ich ging in die Sonne, wurde etwas braun, und das heilte in gewissem Grad die Akne, die meinen Rücken und Teile der Brust bedeckte. Dabei half mir ein kanarischer Gefangener, den sie in die geschlossene Abteilung gesteckt hatten. Mit Wattebausch und Jod gemischt mit Alkohol reinigte er mir jeden Tag die Wunden. Wir kannten ihn als Malaje, er war ein großartiger Genosse, wir schätzten ihn sehr wegen seiner einfachen und direkten Art. Dank seiner Hilfe vernarbten die meisten Wunden.

Im Trakt herrschte täglich dieselbe Monotonie. Es war unerträglich heiß, weshalb ich normalerweise mehrere Eimer Wasser mit in den Hof nahm, um dort nackt zu duschen. Danach legte ich mich in die Sonne. Nachmittags setzte ich mich an den Tisch und schrieb Gedichte und Gedanken in meine Hefte. Ich dachte sogar daran, ein Buch über dies alles zu schreiben, doch ich gab die Idee wieder auf. Mir fehlte dazu das Vertrauen in meine Fähigkeiten als Erzähler. Ich war noch nicht bereit dazu, also machte ich mit kleinen Gedanken weiter, deren einziger Leser Malaje war. Er warf mir meinen bluttriefenden Stil vor, der in allen Texten zu spüren war. Doch das war meine Sicht der Dinge, mein Bild vom Menschen, meine Art, die Abscheu davor auszudrücken, was zwischen diesen Mauern vor sich ging.

Das Essen war nach wie vor gut, und auch die Behandlung durch die Ärzte war korrekt. Ich hatte kein Herzrasen mehr gehabt seit der Behandlung mit Tranxilium-50-Tabletten, die sie mir verschrieben hatten. Ich konnte nachts jetzt tief schlafen. Mein Verhältnis zu den Schließern verschlechterte sich allerdings weiter, fast bis ins Unerträgliche. Ich hasste sie und sie hassten mich, das war unausweichlich.

Eines Nachmittags im Juli führte ich eine Diskussion mit einem von ihnen. Er hatte mich vor der eigentlichen Uhrzeit in die Zelle einschließen wollen. Ich weigerte mich, in die Zelle zu gehen und forderte ihn auf, mich doch hinzubringen. Also ging er Verstärkung holen, und eine Gruppe Schließer erschien im Trakt. Ich zerbrach einen Besenstiel und verschanzte mich im zweiten Stock. Der Dienstleiter redete von unten auf mich ein:

»Tarrío, lassen sie den Stock los und gehen sie ihn Ihre Zelle.«

»Nein, bis nicht meine Hofgangszeit abgelaufen ist.«

»Willst du, dass wir raufkommen und dich runterholen?« war seine Antwort.

»Das hängt von Ihnen ab. Dem, der hochkommt, schlage ich auf den Kopf...«

Als ich das gesagt hatte, kamen sie in Gruppen die Treppe herauf und blieben einige Meter vor mir stehen.

»Tarrío, geben Sie mir den Stock«, bat mich der Dienstleiter.

Wenn ich ihnen den Stock gab, würden sie mich genauso verprügeln. Also weigerte ich mich weiter: »Nein, und komm bloß nicht näher...«

Sie hörten nicht auf mich und kamen Stufe um Stufe weiter die Treppe herauf. Als sie bei mir angekommen waren, schlug ich einen von ihnen mit dem Besenstiel, und sofort waren wir in eine Keilerei verstrickt, im Laufe derer ich zu Boden gestreckt, getreten und schließlich bis in meine Zelle geschleift wurde. Sie durchsuchten meine Zelle und zerrissen vor meinen Augen die Familienfotos und mehrere Briefe und warfen alles auf den Fußboden. Sie beschlagnahmten mein Schreibheft und zerschlugen die Orgel und das Radio. Als sie mit ihren Gemeinheiten fertig waren, schlossen sie mich in die Zelle ein.

»Das nächste Mal brechen wir dir die Beine, verstanden?« drohte mir der Dienstleiter durch das Guckfenster. »Ich will keine einzige Beschwerde der Beamten über dich hören, vergiss das nicht.«

Als sie weg waren, machte ich mich daran, die zerrissenen Briefe und Fotos aufzusammeln und sortierte die ganze Unordnung ein bisschen. Ich schaffte es, einige Fotos mit Tesafilm zu kleben, andere musste ich wegwerfen. Das Radio konnte ich reparieren, die Orgel allerdings nicht. Ich war wütend. Ich wusch das Blut ab, das aus meinem Mund lief und sah in den Spiegel. Eine Wange war entzündet und auf meinem Rücken zeichneten sich rot die Schläge ab. Juan Caamaño rief mich. Wir redeten über die Fenster:

»Was ist passiert?«

»Nichts. Hast du darüber nachgedacht, was wir besprochen haben?« fragte ich zurück.

»Ja, und ich bin einverstanden.«

»Gut. Wir reden noch darüber.«

»Wie geht es dir?«

»Ich fühle mich ein bisschen zerquetscht, doch sonst gut und voller Tatendrang.«

Am nächsten Tag schaffte ich es während des Spaziergangs, einer Tür zwei Metallstücke abzureißen, aus denen ich zwei Messer machen konnte. Ich gab ein Stück an Caamaño und machte mich selbst an das andere. Ich verpasste dem Stück Metall eine scharfe Spitze.

Just an diesem Nachmittag erschien der Strafvollzugsrichter in der Anstalt und schickte nach mir. Ich willigte ein, mit ihm zu sprechen und wurde zu ihm gebracht, in eins der zentralen Büros. Er wartete auf mich zusammen mit dem Staatsanwalt. Er begrüßte mich und ich antwortete höflich.

»Nehmen Sie Platz«, lud er mich ein. »Wir sind hier, weil uns Anzeigen von Ihnen und einigen Mitgefangenen von Ihnen vorliegen, in denen Sie von Misshandlungen im Isolationstrakt reden. Was haben Sie dazu zu sagen?« fragte er mich und zeigte auf einen Stapel Schriftsätze auf der Metallplatte des Schreibtischs, die meinen Namen und meine Handschrift trugen.

»Sehen Sie die geschwollene Wange?« – ich zeigte sie ihm vor. »Also das ist nur eine kleine Kostprobe für das, was hier andauernd vor sich geht. Noch mehr Beweise sind diese Abdrücke«, fuhr ich fort und zeigte den Rücken, »Sie werden sicher zustimmen, dass ich mir die nicht selbst beigebracht haben kann.«

»Wann ist das passiert?« fragte mich der Staatsanwalt.

»Gestern.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil ich mich geweigert habe den Hofgang abzubrechen, als meine Stunde noch nicht um war.«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte der Staatsanwalt. »Die Anstalt hat, falls Sie das noch nicht wussten, Anzeige gegen Sie erstattet wegen des Angriffs auf einen Beamten mit einem Stock. Außerdem haben wir Ihre Akte gelesen. Vor Kurzem haben Sie in ähnlicher Weise einen anderen Beamten mit einem Messer angegriffen, um anschließend einen Ihrer Mitgefangenen niederzustechen. Sie haben an Streiks und Aufständen teilgenommen, und Sie haben mehrmals versucht auszubrechen. Wie erwarten Sie, dass wir Ihnen glauben, bei so einer Akte?«

»Sehen Sie, es stimmt, dass ich einen Schließer mit einem Stock geschlagen habe, doch das geschah in Notwehr. Sie halten mich die meiste Zeit über isoliert, sie greifen ohne richterlichen Beschluss in meinen Postverkehr ein, sie machen meine Habe kaputt, sie drohen und erpressen die ganze Zeit, übertreten die Vollzugsordnung bei mir, wenn es ihnen passt, Sie wollen doch nicht, dass ich mich obendrein auch noch ungestraft zusammenschlagen lasse? Wenn Sie Ihre Arbeit täten, könnten wir uns das alles schenken...«

»Die Schuld tragen Sie und nicht wir. Sie stellen eine Gefahr für ihre Mitmenschen dar und Ihre Isolation und Ihre Haft ersten Grades werden vorsichtshalber verlängert, bis Ihr Verhalten zeigt, dass Sie bereit sind, mit anderen Menschen zusammen zu leben.«

»Ich sehe schon, dass Sie schnell übereingekommen sind«, antwortete ich. »Haben Sie sich jemals gefragt, warum es im Gefängnis Gewalt gibt? Ich bin HIV-positiv, meine Herren, und uns, die AIDS-Kranken, ermordet man praktisch ohne Zaudern. Ich spreche nicht von unvermitteltem Mord. Mit Straf- und Disziplinarmaßnahmen wirkt man andauernd auf den Gesundheitszustand und die Kräfte derjenigen ein, die sich wie ich im Gefängnis befinden. Es reicht euch nicht, uns die Anwendung von Artikel 60 zu verweigern, ihr müsst uns auch noch verprügeln, unterwerfen und bedrängen mit euren Normen. Obwohl das alles passiert, bleiben Sie gelassen, hochmütig und unnahbar. Diese Missachtung des Lebens der anderen, die Sie und der Staat täglich unter Beweis stellen mit Ihrer Verbohrtheit und ihrer stolzen, kranken Arroganz, tötet jedes positive Empfinden und jede Menschlichkeit in denen, die das erleiden, unter anderem in mir. Sie sind also in hohem Maße mitverantwortlich für die Gewalt, die Sie uns ankreiden. Sie verurteilen die Leute und schicken sie in Haft, doch dafür, was dort geschieht, übernehmen Sie nicht die Verantwortung. Das ist das Problem, und kein anderes, meiner Meinung nach...«

»Gut«, unterbrach mich der Richter, »benehmen Sie sich und ich werde veranlassen, dass Sie zusammen mit Freunden von Ihnen auf den Hof gehen können und dass Ihnen Ihre Rechte zugestanden werden, sofern Sie sich das wegen guter Führung verdient haben. Alles hängt von Ihnen ab.«

»Das heißt also, dass Sie nichts unternehmen werden, nicht wahr?«

»Ich wiederhole: Alles hängt von Ihrem Benehmen ab.«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, doch falls es einen Zwischenfall gibt, geben Sie dann nicht mir die Schuld. Laden Sie nicht alle Verantwortung auf mich...«

»Ist das eine Drohung?« fragte der Staatsanwalt.

»Nein, die Wahrheit. Sie wissen auch, dass die Justiz immer gleich ausgewogen ist: Die Waage neigt sich zu Gunsten der Mächtigen, mittels eines Systems von Kautionen, Vorteilen und juristischen Tricks, und sie bleibt genauso herum geneigt stehen bei uns, die wir kein Geld haben, mit dem wir uns verteidigen könnten. Erzählen Sie mir nicht, sie glauben an Ihre Methode, und erzählen Sie mir auch nicht, ich soll mit verschränkten Armen dabeistehen, während Sie darüber entscheiden, was mit meinem Leben passiert.«

»Mit solchen Ideen werden Sie noch viel Zeit im Gefängnis verbringen, Tarrío«, antwortete der Staatsanwalt.

»Wir werden tun, was wir können«, fügte der Richter kühl hinzu.

Ich ging wieder in die Zelle. Dort schrieb ich einen Zettel für Juan Caamaño mit Strategien für die Geiselnahme und die anschließende Flucht. Es ging darum, mehrere Schließer gefangenzunehmen, sie einzuschließen, uns ihre Kleidung anzuziehen, auf das Gelände hinaus zu gehen und von dort aus nach draußen. Wir vertrauten darauf, das alles gut laufen würde. Ich wünschte mir von ganzem Herzen es werde gutgehen, um dieses ganze Pack zu ärgern und sie alt aussehen zu lassen. Ich war sicher, dass ich es schaffen würde, ich musste es tun.

Am Morgen des 5. Juli brachten sie einen minderjährigen Gefangenen in den Trakt. Ein Kind. Ich wusste nicht, was er getan hatte, damit sie ihn hierher brachten, doch als die Gruppe Schließer ihn in eine der Zellen steckte und Gas versprühte, hämmerte ich an die Tür und beschimpfte sie.

»Was ist los, Tarrío?« fragte einer von ihnen.

»Ein Haufen feiger Folterer, das ist los!« schrie ich.

Sie öffneten die Tür. Sie drangen mit ihren Schlagstöcken in die Zelle ein und schlugen mich, ohne mir Zeit zur Reaktion zu lassen. Dann gingen sie, nicht ohne mir vorher zu drohen. Im Gefängnis ist es verboten, den anderen zu helfen oder öffentlichen Widerspruch gegen die brutalen Methoden zu äußern. Nichtsdestotrotz mussten wir Gefangenen uns weiter gegenseitig helfen, wenn wir das alles mit einem Mindestmaß an Würde überleben wollten.

Am Nachmittag erhielt ich unangenehmen Besuch von einem Schließer, den ich aus dem Gefängnis Zamora kannte. In jenem Gefängnis hatte er die Gelegenheit genossen, mich zusammen mit seinen Berufskollegen zusammenzuschlagen, und jetzt wollte er mich mit der Erinnerung an diese für ihn heldenhafte Tat unter Druck setzen.

»Was gibt’s, Arschloch?« sagte er zu mir durch das Guckfenster. »Hast du immer noch nicht genug Prügel abbekommen? Heute habe ich Wache, pass also auf, denn beim kleinsten Anlass kriegst du eins drauf. Erinnerst du dich etwa nicht mehr an mich?«

Ich erinnerte mich bestens.

»Na klar erinnere ich mich an dich«, antwortete ich und ging auf die Tür zu.

»Gut, ich will den ganzen Nachmittag über nichts hören, verstanden?«

Ich antwortete nicht auf diese Provokation. Eine Stunde nach diesem Besuch schlossen sie mir auf, damit ich auf dem Hof spazieren gehen konnte. In einem der Turnschuhe hielt ich ein selbstgemachtes Messer aus Eisen versteckt. Dieser Hundesohn würde seine offenen Rechnungen alle auf einmal bezahlen müssen. Ich brachte das Messer problemlos durch die Kontrolle, die man mir jedes Mal angedeihen ließ, wenn ich die Zelle verließ. Er befand sich in der Nähe der Tür zum Hof, dort ging ich hin. Auf seinem Gesicht stand das typische Mackertum jemandes geschrieben, der sich von seiner Uniform beschützt fühlt, von seiner Dienstmarke und von einem ganzen System; jemandes, der weiß, dass er straflos handeln kann, ohne Angst vor Recht und Justiz, denn wer wenn nicht er selbst war dort einziges Gesetz und einziger Richter? Er wollte mir gerade etwas sagen, als meine Faust auf sein Gesicht traf, was ihn nach hinten taumeln und zu Boden fallen ließ. Völlig überrascht davon, dass ein Gefangener es gewagt hatte, gegen ihn zum Schlag auszuholen, rappelte er sich auf, ging auf die Wachstube zu und kam mit einem Knüppel bewaffnet wieder heraus.

»Jetzt kannst du was erleben!« brüllte er wütend mit drohender Gebärde und warf sich auf mich.

Ich bückte mich, ging halb in die Knie und zog das Messer aus dem Schuh. Als er es sah, hielt er an, ließ den Schlagstock los und hob die Hände, um mir zu zeigen, dass er sich nicht wehren würde. Sein Gesichtsausdruck war ein Gedicht: »Ruhig, Tarrío, bitte...«

Ich ging auf ihn zu, ergriff ihn am Hemd und zwang ihn, vor mir auf die Knie zu gehen. Ich stach mit dem Messer in Kopfhöhe auf ihn ein, und das Messer traf auf eine seiner Hände, mit denen er vor Schreck zitternd sein Gesicht schützte.

»Jetzt bist du nicht mehr so obercool, was?« schrie ich ihn an, ich war außer mir. »Seid ihr nur mutig, wenn ihr in der Herde vor einem wehrlosen nackten Kind steht?« fügte ich hinzu und meinte die Prügel von Zamora.

»Beruhige dich, Mann, beruhige dich, wir werden das hier in Ruhe über die Bühne bringen, OK?« redete ein anderer Schließer von der anderen Seite her auf mich ein.

»Mach keine Dummheiten, Tarrío, bitte beruhige dich...«

Ich sah meine Geisel an. Ich spürte den Wunsch ihn umzubringen, doch ich entschloss mich nicht dazu, aus Furcht vor den Konsequenzen, die diese Tat mir einbringen würde. Ich hatte immer noch Hoffnung, und ich würde Chancen haben, sie in die Tat umzusetzen. Deshalb ließ ich ihn los.

»OK, du Schwein, diesmal kommst du noch davon. Falls du dich eines Tages rächen willst und es noch einmal wagst, mich zu verprügeln, schwöre ich, dass ich dich ohne Zögern umbringe. Ist das

klar?«

»Ja, Tarrío, ich versprech’s dir, alles klar...«

Ich ging zu meiner Zelle. Sie schlossen die Tür, und ich entledigte mich des Messers. Ich gab es über das Fenster an Caamaño weiter. Ich legte mich auf das Bett, verstört und in gespannter Sorge darüber, was nun geschah. Nach einer Weile erschien eine größere Gruppe Schließer im Trakt, legte mir Handschellen an und brachte mich in eine andere Zelle. Weder schlugen sie mich noch drohten sie mir, sie beschränkten sich darauf, mich in eine andere Zelle zu stecken und mir so meine Sachen vorzuenthalten. Sie fragten mich nach dem Messer, und ich antwortete, ich hätte es das Klo hinunter gespült. Dann ließen sie mich allein, gefesselt in einer leeren Zelle. Später kam der Schließer zu mir, auf den ich eingestochen hatte. Er hatte die Hand verbunden und kam in Zivilkleidung. Ich vermutete, sie hatten ihn krankgeschrieben. Wir redeten durch das Guckfenster miteinander.

»Sieh mal, Tarrío, ich weiß, dass das in Zamora nicht in Ordnung

war, aber ich habe nur Befehle ausgeführt wie alle Beamten«, entschuldigte er sich. »Was heute passiert ist, hat mich die Sache anders sehen lassen, wirklich. Ich habe mit meinen Kollegen geredet, damit sie wegen der Sache nicht zu Repressalien gegen dich greifen...«

»Gut«, antwortete ich ihm, verwundert über seine Haltung.

»Wir alle hier werden mit der Zeit immer brutaler. Glaube nicht, dass es mir leicht fiele, hier so zu arbeiten, doch von irgendwas muss man ja leben.«

»Es ist besser Hunger zu leiden als zu foltern, um es auszuschließen«, bekam er zur Antwort.

»Ja, aber irgendjemand muss diese Arbeit doch machen... Hör mal, an dem Messer war kein Blut oder so, oder? Ich sage das wegen HIV, du bist ja positiv...«

»Nein, es war sauber.«

»Nun ja, ich muss los. Tut mir Leid, dass alles so laufen musste.«

»So ist das Gefängnis«, antwortete ich und fasste damit alle möglichen Übel in diesem einen unheilvollen Begriff zusammen. Die Männer und Frauen dieser Welt täten gut daran, ihn an einem nicht allzu fernen Tag abzuschaffen.

Einen Tag nach diesem Vorfall kam Juan Redondo Fernández in die Anstalt, ein bekannter Ausbrecher aus Jaén. Er war von der Insel Ibiza verlegt worden. Seine Ankunft bedeutete, dass Juan Caamaño aus unserem Trakt fort musste. Er schaffte es noch, die zwei Messer in unserem Trakt zu verstecken. Er gab mir über das Versteck Bescheid und wünschte mir Glück. Aus Sicherheitsgründen wollte der Direktor nicht mehr als zwei Gefangene in diesem Trakt haben, das erleichterte unsere Überwachung. Sie brachten mich wieder in eine andere Zelle und nahmen mir die Fesseln ab. Auch bekam ich meine Sachen zurück. Zur Hofgangsstunde konnte für ich einen Moment bis zu dem Guckfenster der Zelle gehen, in die sie Juan Redondo gesperrt hatten, und mich einige Minuten mit ihm unterhalten. Er hatte einen festen, durchdringenden Blick, der von einer runden Brille etwas abgemildert wurde, von deren Gestell eine Kordel herabhing, die hinter dem Hals zusammenlief.

»Hallo, ich heiße José«, stellte ich mich vor.

»Ich heiße Juan.«

»Garfia hat mir viel Gutes über dich erzählt«, sagte ich ihm.

»Also, wenn du etwas brauchst, sagst du es mir, OK?«

»Im Moment brauche ich nichts. Wie ist es so hier?«

»Es ist OK, obwohl die Schließer ziemliche Arschlöcher sind. Wirst du schon noch merken.«

»Gut, ich räume erstmal ein bisschen auf. Wir unterhalten uns noch, José.«

»Alles klar.«

Ich ging auf dem Hof spazieren. Die Gegenwart von Juan freute mich, ich vertraute darauf, dass wir zusammen etwas Gutes anfangen würden. Wenn wir uns erst einmal besser kennten, würde ich ihm den Ausbruch vorschlagen, den ich mit Caamaño vorbereitet hatte, damit wir es zu zweit machten. Drei erfolgreiche und zehn versuchte Ausbrüche bescheinigten ihm Erfahrung, und ich zweifelte nicht daran, dass wir für den Ausbruch aus Teneriffa 2 übereinkommen würden.


Am 10. des Monats gab es neuen Aufruhr in Herrera de La Mancha. Víctor Llopis, Cristóbal Moral, Vázquez Ayude und Benito Toledano nahmen mehrere Schließer und eine Psychiaterin als Geiseln und befreiten andere Gefangene, die dann bei dem Aufstand mitmachten. Sie hatten nicht die Flucht im Sinn, sondern die Lage in den Gefängnissen allgemein und die Forderungen von APRE(r) publik zu machen. Die brachten sie mit erhobenem Messer vor. Sie forderten die Sendung ihrer Liste mit Forderungen in mehreren Punkten im Rundfunk, darunter die Einstellung aller Folter in spanischen Gefängnissen, die Freilassung aller AIDS-Fälle und anderer unheilbar Kranken. Sie klagten die Absicht der Verwaltung an, soziale Gefangene dazu zu veranlassen, ein Mordkommando gegen relativ wichtige Politische zu bilden. Sie forderten eine Verbesserung der medizinischen Betreuung der Gefangenen. Während der Geiselnahme, die notwendig war, um in der Öffentlichkeit gehört zu werden und die Verantwortlichen zu Verhandlungen zu zwingen, versetzte Cristóbal Moral einem anderen Gefangenen, der wegen Vergewaltigung einsaß, mehrere Messerstiche und brachte ihn damit um. Vergewaltiger zu sein war im Gefängnis sehr gefährlich, und das war der Grund für diesen Tod. Das Gesetz der Gefängnisunterwelt war oft, vielleicht allzu oft grausam und hart. Wir anderen Gefangenen konnten nicht ertragen, dass die Vergewaltiger sich mit uns zusammen auf den Höfen aufhielten, das war alles. Dieser Tod würde der Gesellschaft und der Behörde zeigen, dass die sozialen Gefangenen keine Vergewaltiger akzeptierten, nicht in den Höfen und nicht in den Anstalten, und dass diese verabscheuungswürdigen Wesen nicht zu unserer Welt gehörten. Ein Vergewaltiger genoss unter Gefangenen überhaupt kein Ansehen und lebte in ständiger Angst, entdeckt zu werden, weshalb Vergewaltiger sich gewöhnlich in anderen Abteilungen befanden, getrennt von den übrigen Gefangenen und von der Verwaltung beschützt. Oder sie arbeiteten als Ordonnanz in der Küche oder anderen Verantwortung bedeutenden Posten. Von der Masse im Gefängnis verachtet, sahen sie sich dazu gezwungen, Spitzel und ausführende Hand der Schließer zu werden, ihrer einzigen Freunde dort. Es war ein schwerer Fehler gewesen, diesen Vergewaltiger mit den anderen Gefangenen den Hof teilen zu lassen, wie auch der Moment ein Fehler gewesen war, ihn umzubringen. Denn selbstverständlich verstand das die Öffentlichkeit nicht: Es erschien zynisch und scheinheilig Menschenrechte einzufordern, hatte man gerade einen Mord verübt. Wie solch ein Missverhältnis erklären? Man würde es nicht verstehen. Das Gefängnis und die schreckliche Gewalt, die seine Mauern bei den dort eingesperrten Menschen erzeugten, waren unbekannt. Trotz dieses Todesfalls gingen die Verhandlungen weiter. Die Verwaltung lenkte ein, nach achtundzwanzig Stunden Geiselnahme, und veröffentlichte die Forderungen im Tausch gegen die Freilassung der Geiseln, um deren Unversehrtheit man zu fürchten begann. Radio Nacional brachte mehrfach das von den Geiselnehmern diktierte Kommuniqué, und diese ließen die Geiseln frei, als sie sicher waren, dass alle Forderungen wie ausgehandelt über den Äther geschickt worden waren. Dann stellten sie sich. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Diese Aktion gab den Medien viel zu Schreiben her, besonders den sensationalistischen. Die Lettern APRE(r) kamen nun häufig auf den Meldungs- oder Meinungsseiten vor, und die Organisation bekam Gewicht. Sie war von vielen Sondergefangenen sehr gut aufgenommen worden. Immer mehr Missbräuche der Vollzugsbeamten wurden vor Gericht gebracht, was die Generaldirektion offensichtlich beunruhigte. Als Reaktion schickte die Generaldirektion einen Rundbrief an alle Anstalten mit dem strikten Befehl, in die mündliche und schriftliche Kommunikation derjenigen Gefangenen einzugreifen, die für verantwortliche oder aktive Mitglieder von APRE(r) gehalten wurden. Das war illegal, doch sie konnten es tun, denn sie zählten auf die unterstützende Billigung der meisten Strafvollzugskammern. Es wurden auch Maßnahmen ergriffen, um gewisse Häftlinge, die nach Einschätzung der Direktion größeren Einfluss auf die gefangene Bevölkerung oder in anderer Weise mit der Arbeit von APRE(r) zu tun hatten, weit weg zu verlegen. Wieder einmal setzte die Generaldirektion mit Überwachung und Repression ihre eigenen destruktiven Vorstellungen durch, statt einmal zuzuhören und zu versuchen, die Unregelmäßigkeiten im Gefängnisbetrieb anzugehen, statt die angezeigten Missbräuche aufzuklären, die AIDS-Kranken freizulassen, bessere medizinische Versorgung zu ermöglichen, bessere Ernährung, kurzum statt die geltende Strafvollzugsordnung einfach umzusetzen.

Juan Redondo und ich bekamen Vertrauen zueinander. Ich erzählte ihm von meinem Ausbruchsprojekt. Er informierte mich über eine andere Chance, die es auf dem Schiff gab:

»Auf dem Schiff gibt es eine gute Möglichkeit abzuhauen, hast du das nicht mitbekommen?«

»Nein«, antwortete ich, »es sei denn, wir überwältigen sie, wenn wir aus den Zellen herauskommen...«

»Mehr oder weniger genau das. Ich weiß, wie die Tür aufgeht.«

»Wie denn?«

»Wenn es so weit ist, sag ich es dir«, war seine Antwort. Er behielt sich diese Information vor, um sicherzugehen, dass ich sie nicht auf eigene Rechnung ausnutzen können würde, falls ich früher als er auf die Reise ging. »Wir können eine Verlegung provozieren und es gemeinsam versuchen. Dein Plan ist gut, aber auf einer Insel nehme ich an, dass wir keine großen Chancen haben es zu schaffen, während wir uns von Cádiz aus leicht auf dem Festland verlieren können. Was sagst du dazu?«

»Wie schaffen wir es, dass sie uns zusammen verlegen?« fragte ich, fasziniert von der Idee.

»Wir organisieren eine Geiselnahme und machen so nebenbei auf alles hier aufmerksam. Nach einer Geiselnahme kommt immer eine Verlegung.«

»Gib mir ein bisschen Zeit, damit ich darüber nachdenken kann, OK?«

»Gut, wenn du einverstanden bist, sagst du es mir, und falls nicht, mach ich es eben allein. Ich würde verschiedene Forderungen stellen, um unsere Genossen zu unterstützen.«

»Ich sag dir Bescheid.«

Ich dachte die ganze Nacht darüber nach. Es war eindeutig, dass wir auf dem Festland mehr Möglichkeiten hätten als auf dieser Insel. Und ich war eindeutig gegen die Verwaltung und ihre Methoden. Der Kampf der anderen Gefangenen war mir nicht gleichgültig. Deshalb entschied ich, es sei wirklich ein passender Moment, um von der Theorie zur Tat zu schreiten. So konnten wir die anderen unterstützen und uns selber weiterbringen. Schlimmer als das, was dabei alles passieren konnte, war es, ständig in eine Zelle gesperrt zu bleiben. Also sagte ich am nächsten Tag zu meinem

neuen Genossen:

»Juan, ich werde dir bei der Geiselnahme helfen, doch nur bis die Forderungen im Radio gebracht werden. Wenn wir es erst einmal geschafft haben, den Problemen in den Gefängnissen Gehör zu verschaffen, lassen wir es gut sein und konzentrieren uns dann darauf, von dem Schiff abzuhauen«, ich machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich will, dass das Thema AIDS in den Forderungen vorkommt, obwohl du bestimmt schon daran gedacht hast, oder?«

»Einverstanden. Ich schreib dir die Forderungen auf und du prüfst, ob du mit ihnen einverstanden bist. Jetzt müssen wir erst einmal einen Termin beim Vollzugsrichter bekommen und ihm eine Falle stellen.«

»Du hast mehr Erfahrung als ich bei so etwas. Wir gehen am besten so vor, wie du es für richtig hältst. Wenn mir etwas auffällt, sage ich es dir. Was die Messer angeht: Ich habe zwei Stück im Trakt versteckt.«

Wir stimmten schnell überein. Abgesehen von unserer Absicht auszubrechen teilten wir die Verachtung der Gefängnisbehörde. Jetzt fehlte nur noch, dass Juan ein Gespräch mit dem Richter erhielt, und zu handeln. Der Richter würde die passende Geisel sein, denn er war der Hauptverantwortliche für die Schweinereien, die in dieser Anstalt stattfanden, war es doch seine Aufgabe darüber zu wachen, dass die Rechte der Gefangenen respektiert wurden.

Sie ließen mich wieder alleine auf den Hof gehen. Man hatte strikte Anweisung gegeben, Juan und mich auf keinen Fall außerhalb unserer Zellen zusammentreffen zu lassen. Sie hatten Angst, dass genau das geschehen würde, was schon nicht mehr aufzuhalten war. Ich schickte einer Freundin einen Umschlag mit meinen wertvollsten Familienfotos und zerriss den Rest. Dasselbe machte ich mit allen Briefen, sie landeten im Papierkorb. Juan bereitete seinerseits die Liste der Forderungen vor und ließ sie mir zukommen. Sie bestand aus dreizehn Punkten, unter denen die folgenden hervortraten:

- Sofortige Freilassung aller unheilbar kranken Gefangenen.

- Gründliche Untersuchung des physischen und mentalen Zustands der Sondergefangenen Javier Ávila Navas, Laudelino Iglesias, Luis Rivas Dávila, Antonio Losa López und Vicente Sánchez Montañés, deren momentaner Aufenthaltsort unbekannt ist, und die vermutlich fortwährend gefoltert werden.

- Bekanntmachung der Absicht der Behörde, eine Todesschwadron im Gefängnis zu schaffen, deren Auf gabe es sein soll, politische Gefangene zu ermorden, im Tausch gegen Vorteile im Vollzug. Das ist einer Reihe sozialer Gefangener in Alcalá-Meco vorgeschlagen worden.

- Ende der Misshandlungen von Gefangenen in allen spanischen Gefängnissen und Ende der Schikane gegen Familienangehörige und Freunde.

- Verlegung derjenigen Gefangenen, die es beantragen, in Anstalten in der Nähe ihres Herkunftsorts, um Fa milienbesuche zu erleichtern und der Entwurzelung entgegenzuwirken, die die schlechte Strafvollzugspolitik in Sachen Verlegungen zur Zeit bewirkt. Dieser Punkt geht in erster Linie HIV-Positive an.

- Bereitstellung von Zentren mit minimalen Sicherheitsauflagen und offenem Vollzug für alle HIV-positiven Gefangenen, in denen die notwendige medizinische Betreuung stattfinden kann und in denen den Gefangenen ein Arbeitsplatz geschaffen wird, wie es die spanische Verfassung für alle Bürger vorsieht. Das ist Aufgabe des Staats.

Ich ließ Redondo wissen, dass ich mit allen aufgeführten Punkten einverstanden war. In der Tat bestärkten mich die Forderungen in dem Willen, diese Aktion durchzuführen. Absolut niemand konnte den legitimen Gehalt dieser Forderungen abstreiten. Unsere juristische Beistandslosigkeit zwang uns, sie unter Anwendung von Gewalt vorzutragen. Konnten wir diese Forderungen überhaupt mittels Dialog und auf dem Dienstweg voranbringen, mithilfe der Justiz, deren Aufgabe es war, die Beschwerden der Bürger zu behandeln? Unsere Beschwerde war die von Leuten, die nichts hatten, gegen die gerichtet, die alles hatten. Hatten wir auch nur irgendeine reelle Chance, hiermit Recht zu bekommen? Wie wollten sie uns ein Gehalt auszahlen, uns mit Wohnung oder Arbeit ausstatten, wenn sie nicht einmal in der Lage waren, dies den ehrbaren Bürgern zu garantieren? Wer würde einem HIV-positiven ehemaligen Sträfling Menschlichkeit, Arbeit und Glaubwürdigkeit anbieten? Wer, und wenn, wie viele würden das tun? Gesellschaftlich betrachtet bereits tot, der Rechte beraubt, die wir sowieso nie wirklich genossen hatten, gab es für viele von uns gar keinen Platz mehr in der Außenwelt. So unheilbar krank, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Wohnung – wohin gehen? Was tun? Die Bestrafung durch die Gesellschaft würde uns bis auf ewig verfolgen, der Schatten der Gefängnishaft uns wohin auch immer begleiten, unmöglich zu vergessen, und dann würden wir wie heute keinen Ausweg finden. Keine Chance, wir saßen in der Falle.

Im Trakt gab es Schwierigkeiten. Gegen Mittag erschien eine Gruppe Schließer und stieß einen minderjährigen Gefangenen an Händen und Füßen gefesselt vor sich her. Sie warfen ihn eine Zelle. Ich genoss gerade meine Kaffeestunde und unterhielt mich durch eine Tür hindurch mit Juan. Ich unterbrach das Gespräch, um einen der Schließer zu dem Warum dieser miesen Behandlung zu befragen:

»Hören Sie, was ist los, dass Sie meinen Genossen so behandeln?«

»Nichts, was euch etwas anginge.«

»Es geht mich etwas an, weil es mir wichtig ist. Sie können mit dem Jungen nicht so umgehen, gefesselt an Händen und Füßen. Nehmen Sie ihm wenigstens die Handschellen ab...«, so versuchte ich es.

»Bis der Dienstleiter es nicht anordnet, nein.«

»Rufen Sie wenigstens den Arzt, damit er sich die Wunden ansieht.«

»Der Arzt weiß Bescheid.«

Als die Schließer den Trakt verlassen hatten, ging ich zu der Zelle, in die sie den Gefangenen gesteckt hatten, öffnete das Guckfenster und sprach mit ihm. Er lag flach auf dem Boden, das Gesicht entzündet von den Schlägen, Hände und Füße blau unter dem Druck der Fesseln, die in seine Gelenke einschnitten.

»Bleib ruhig, gleich kommt der Arzt«, sagte ich zu ihm. »Haben sie dir wehgetan?«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe im Essensraum einen Schließer geschlagen...«

»Ich rede gleich mit dem Arzt, damit man dir die Fesseln abnimmt, OK?«

»OK.«

Als der Arzt in den Trakt kam, in Begleitung des Dienstleiters, ging ich auf ihn zu und sprach ihn an: »Hören Sie, der Junge hat geschwollene Hände und Füße, Sie müssen ihm die Fesseln abnehmen.«

»Ich gehe jetzt zu ihm, Tarrío«, antwortete er mir.

»Was machen Sie hier?« mischte sich der Dienstleiter ein.

»Ich habe gerade Hofgang und nutze mein Recht auf Besuch der Cafeteria.«

»Nun gut, gehen Sie wieder auf den Hof und gehen Sie spazieren.«

»Nicht bis Sie meinem Genossen die Fesseln abgenommen haben.«

»Beruhige dich, Mann, ich gehe ja schon rein und sehe ihn mir an«, redete der Arzt auf mich ein und versuchte vergeblich, mich zu besänftigen. »Geh nach draußen, ich komme gleich hinterher und rede mit dir, einverstanden?«

»Ich will hoffen, dass Sie anordnen, ihm die Fesseln abzunehmen, denn falls nicht, zwingen Sie mich dazu, hier einen Aufstand zu machen.«

»Sie haben einen Aktenvermerk wegen Drohungen...« sagte einer der Schließer zu mir, der die Diskussion mitgehört hatte. Er bewegte sich auf uns zu.

Ich ging aus dem Trakt, ohne zu antworten. Letzten Endes wurde aus der Sache nichts Größeres, denn der Dienstleiter genehmigte dem Arzt, die Fesseln abzunehmen. Er kam, um mir das mitzuteilen, wofür ich ihm ehrlich dankbar war. Nach der Stunde Hofgang ging ich wieder bis zur Zelle, in der der Gefangene saß, öffnete das Guckfenster in der Tür und ließ ein paar Streichhölzer und einige Zigaretten hineinfallen. Dann ging ich in meine Zelle. Bevor er mich einschloss, teilte mir der Schließer mit, dass diese Geschichte mich eine neuerliche Disziplinarstrafe kosten würde. Armer Idiot.

Am 26. Juli erschienen der Vollzugsrichter und ein Staatsanwalt in der Anstalt, um Juan und andere Gefangene zu befragen. Gegen zwölf Uhr mittags schickten sie nach ihm, und er wurde von mehreren Schließern bis in die Zentrale gebracht. Das Gespräch dauerte fast eine ganze Stunde und drehte sich die ganze Zeit um die Lage im Gefängnis. Als es zu Ende war, brachten sie ihn zurück in den Trakt und begegneten mir. Meine Tür stand offen und ich war gerade dabei, Essensreste in einen Müllsack zu werfen. Als Juan an mir vorbeikam, sagte er: »Sie sind hier. Kümmer du dich um den hier...«

Ich ging sofort in meine Zelle und holte das Messer aus seinem Versteck. Ich steckte es ein und ging sofort wieder hinaus und auf den Schließer in der Wachstube zu, während Juan gerade mit einem Erzieher redete, den er aufgehalten hatte. So schaffte er es, vor seiner eigenen Zellentür stehenzubleiben.

»Hören Sie«, sagte ich, »ich muss auf den Hof hinaus und ein paar Zeitschriften holen, die man mir heute morgen dort hingelegt hat.«

»Ich werde sie holen und gebe sie Ihnen dann.«

»Komm schon, Mann, mach nur einen Moment auf und ich hole sie.«

Das wollte er nicht, stand aber auf, ging auf den Hof und suchte die Zeitschriften, die es nicht gab. Er musste die Tür aufmachen, damit wir alle festnehmen konnten, ohne dass einer Alarm schlagen konnte. Dieser Schließer war zu misstrauisch. Wir mussten aber auf jeden Fall zur Tat übergehen und erst einmal den Schließer und den Erzieher, selbst ehemaliger Schließer, festnehmen, in der Hoffnung, genug Zeit zu haben, um bis in die Zentrale zu kommen, bevor sie mitbekamen, was los war. Daran dachte ich, als mich der Schließer im Trakt ansprach: »Tarrío, ich muss hinter Ihnen abschließen.«

»Einen Moment, ich warte auf ein paar Zeitschriften, haben Sie Schlüssel? Sie sind nämlich auf dem Hof und Ihr Kollege scheint sie nicht zu finden...«

»Ich kann die Tür nicht aufmachen, Tarrío.«

Dann erschien der andere Schließer: »Tarrío, ich habe nichts gefunden.«

»Lassen Sie mich hinaus, sie sind ganz sicher dort.«

»Na gut, aber mein Kollege soll dir aufmachen«, antwortete er und ging in seine Stube.

Als der Schließer, der sich auf unserer Seite befand, den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn herumdrehte, ergriff ich ihn am Hemdkragen und warnte ihn: »Mach keinen Scheiß und geh vorwärts!« Dann wandte ich mich an Juan: »Los, los, hier ist offen...«

Mit einem Stoß beförderte er den Erzieher in seine Zelle. Zu ihm steckten wir den Schließer. Wir schlossen die Tür hinter ihnen, legten den Riegel vor und rannten auf den Hof, mit einem Stuhl und einem Tisch aus dem Aufenthaltsraum. In der Wachstube versuchte der andere Schließer mit einem Walky-Talky die Zentrale zu unterrichten, wir mussten also schnell sein. Wir stellten den Tisch in den Hof an die Mauer und den Stuhl oben drauf.

Juan stieg auf den Stuhl und hängte sich mit den Händen an den Dachvorsprung. Sofort kletterte ich an ihm hoch und zog ihn dann von oben an den Armen hinterher. Wir sprangen auf die andere Seite und rannten durch die Gärten auf das Zentrum zu. Wir liefen die Treppe der Krankenstation hinunter und auf die Tür zu, die in die Zentrale führte und noch immer offen stand. Wir begegneten einem Schließer, der eine Sprühdose in der Hand hatte, von der ich ihn mit dem Messer drohend befreite. Juan nahm die Handschellen an sich, die dem Schließer gerade aus der Tasche gefallen waren und rannte hinter mir her. Ich durchquerte die Tür und lief schnell die Treppe hinauf, doch ich kam nicht rechtzeitig. Als sie mich kommen sahen, schlossen sie die Tür und ließen davor eine vor Schreck heulende Sozialarbeiterin stehen, die ich als Geisel nahm. Durch die gepanzerten Scheiben der Zentrale sahen mich Schließer, Erzieher, der Richter und der Direktor mit den Umständen entsprechenden Gesichtern an. Ich verlor keine Zeit und lief die Treppe wieder hinunter, um meinen Genossen Juan zu suchen. Ich fand ihn im Untergeschoss, wo die Telefonzentrale lag, mit zwei Schließern auf dem Boden liegend, zu seinen Füßen.

»Sie haben die Tür vor mir zugeschlagen, aber ich habe die hier«, informierte ich ihn.

»Gut, lass mich ihr die Handschellen anlegen«, sagte er und ging hinaus.

Als er durch die Gittertür gegangen war, stand einer der Schließer auf und versuchte sie zu schließen. Er überraschte damit Juan, der ihm den Rücken zuwandte. Obwohl ich es schaffte, mich auf ihn zu werfen und ihn zu Boden zu ringen, konnte ich nicht verhindern, dass die Tür unter ihrem Eigengewicht ins Schloss fiel. Ich war zusammen mit zwei Schließern in der Telefonzentrale eingeschlossen. Die Tür ließ sich nur von draußen öffnen, und die beiden hatten keine Schlüssel.

»Was jetzt?« fragte ich Juan unschlüssig durch die Fensterscheibe.

»Geht sie nicht auf?«

»Kannst du vergessen! Und die Schlüssel sind anscheinend oben in der Zentrale.«

»Ich gehe hoch, mal sehen, was sich machen lässt. Bleib in der Zwischenzeit ruhig und pass’ auf die beiden auf, OK?«

»Alles klar. Pass du auf dich auf.«

»Keine Sorge.«

Er legte der Sozialarbeiterin auf dem Rücken Handschellen an und veschwand treppaufwärts. Ich setzte die beiden Schließer auf Stühle und band sie daran fest. Ich war ziemlich nervös. Hier mit zwei Geiseln eingeschlossen zu bleiben, war im Plan nicht vorgesehen. Ich bewegte alle Schränke, die in der Telefonzentrale standen, zur Tür, um mich hinter ihnen verschanzen zu können, falls sie versuchten, hereinzukommen. Es gab auch einen Fernsehapparat, den ich anschaltete, um aus den Nachrichten mitzubekommen, was draußen los war. Ich musste abwarten.

Verschiedene Telefonapparate klingelten. Von überall her rief man mich an.

»Wer ist da?«

»Bist du Tarrío oder bist du Redondo?« fragte mich eine Stimme.

»Tarrío, was willst du und wer bist du?«

»Ich bin Offizier der Guardia Civil und möchte mit einem von euch reden.«

»Rede«, lud ich ihn ein.

»Tut den Geiseln nichts und wir greifen nicht ein, einverstanden?«

»Wir werden schon sehen, was passiert. Halte deine Leute bloß fern von uns, denn da kannst du sicher sein: Wenn sich hier im Umkreis von fünf Metern eine Uniform der Guardia Civil blicken lässt, schicken wir euch eine Portion Hackfleisch, alles klar?«

»Niemand wird sich euch nähern, da hast du mein Wort drauf, aber bleibt ruhig und tut niemandem etwas.«

Ich antwortete nicht und legte den Telefonhörer auf. Das würde sich gut auf die psychologische Studie, die sie von mir machten, auswirken. Sie würden nachdenken und einsehen, dass im Moment wir am Drücker waren und nicht sie. Gleich darauf bekam ich einen Anruf von Juan: »Bist du es, José?«

»Ja, ich bins. Wo bist du?«

»Hier oben mit noch fünf Geiseln, in der Cafeteria. Wir haben alles: Wasser, Essen, Kaffee... Wir können so lange wir wollen hier aushalten. Jetzt geht es darum, dich da rauszuholen.«

»Gut. Was kann ich tun?«

»Warte bis jemand herunterkommt und dir aufschließt, und telefoniere nicht, falls ich dich noch einmal anrufen muss. Pass auf, dass sie dir keine Falle stellen, wenn du rausgehst...«

»Bis gleich also« antwortete ich und legte auf. Dann sagte ich an die Schließer gewandt: »Damit ihr es wisst, wir gehen gleich. Dass euch bloß nichts Dummes einfällt, ich bring euch um!«

In diesem Augenblick begannen heftige Schläge im Stockwerk über mir. Ich wurde nervös und hielt die Geiseln mit dem Messer in der Hand fest. Ich wusste nicht, dass diese Schläge von Juan stammten, der einen Hammer in der Hand hatte und auf die gepanzerten Glasscheiben in den Türen des Zentrums einschlug. Ein Telefon klingelte. Ich nahm ab. Es war der Direktor.

»Tarrío, sagen Sie ihrem Freund, er soll damit aufhören, die Glasscheiben kaputtzuschlagen, wir bringen Ihnen jetzt sofort die Schlüssel, damit Sie da rauskommen.«

»Nur die Ärzte sollen runterkommen. Niemand sonst, verstehst du mich?«

»In Ordnung, aber tun Sie niemandem etwas.«

Als die Schläge nachließen, rief ich Juan an: »Juan, sie kommen und bringen mir die Schlüssel, du kannst aufhören.«

»Weiß ich. Ich musste einiges kaputt machen, um sie zu überzeugen. Wenn du hoch kommst, klopf an die Tür und pass gut auf. Trau diesen Schweinen nicht, José.«

»OK.«

Ich band die Schließer zusammen. Sie würden mir als Abwehr dienen, um sicher die Treppe hinaufzukommen. Ich schob die Schränke zur Seite und wartete auf die Ankunft der Ärzte. Sie brauchten nicht lange. Ich redete mit ihnen durch die Fensterscheibe: »Habt ihr die Schlüssel mit?«

»Ja.«

»Los, macht auf, aber keine Tricks. Und wenn jemand versteckt im Treppenhaus auf mich wartet, geht er besser jetzt, sonst haben die beiden hier verspielt. Ich bin zu allem entschlossen, ich warne euch.«

»Es ist niemand da, Tarrío, nur wir. Wir werden aufschließen, aber wir erwarten, dass du uns in Ruhe lässt und uns nicht festhältst.«

»Alles klar, macht auf.«

Sie schlossen auf und traten zurück. Ich ging aus dem Telefonzimmer mit den Schließern als Schutzschild vor mir her, das Messer dicht am Hals eines der beiden. Ich ging die Treppe ohne Probleme hinauf, unter den gespannten Blicken aller, die das Manöver verfolgten, von der anderen Seite der Glasscheiben her, die Juan zerschlagen hatte. Einer der Ärzte bat mich um einen Gefallen, bevor wir oben ankamen:

»Tarrío, da oben ist ein blondes Mädchen, die, die du als erste festgenommen hast. Sie ist die Freundin eines Kollegen von uns. Wir haben uns dir gegenüber gut benommen und bitten dich, sie freizulassen...«

»Einverstanden, aber nur sie.«

»Danke.«

Ich ging die Stufen bis nach oben hinauf, klopfte an die Cafeteriatür und rief Juan: »Juan, mach auf.«

»Kommst du allein?« fragte er mich misstrauisch.

»Mit wem dachtest du, dass ich komme? Ich bringe die beiden Schließer mit.«

Die Tür ging auf und ich ging mit den beiden Geiseln hinein. Wir schlossen sie ab und schoben schnell einen Kühlschrank als Blockade davor. Wir hatten insgesamt siebzehn Geiseln. Sie alle saßen in der Reihe auf dem Boden, mit Stricken um die Handgelenke. Die Cafeteria war ziemlich groß. Es gab eine Küche, einen Tresen, mehrere Tische und Stühle und ein Klo. Vom Fenster aus konnte ich die Krankenstation sehen, sie lag genau gegenüber. Mein Genosse überreichte mir ein großes Küchenmesser.

»Nimm, das ist besser«, sagte er grinsend.

»Hast du schon mit ihnen gesprochen?« fragte ich ihn.

»Ja, ich habe dem Direktor schon alles was wir wollen vorgelesen, jetzt fehlt nur noch, dass es im Radio gebracht wird.«

»Hör mal, Juan«, unterbrach ich ihn, »ich will die Blonde freilassen, die wir am Anfang festgenommen haben. Sie ist die Freundin eines der Ärzte, und die beiden waren fair zu mir. Ich habe es ihnen versprochen.«

»José, das hier ist kein Spiel, weißt du das?« antwortete er mir sichtlich genervt. »Lass uns in die Küche gehen.«

In der Küche ging die Unterhaltung weiter:

»Wir können gleich zu Anfang keine Leute rauslassen, das könnten sie fehlinterpretieren.«

»Wir haben genug Geiseln und anscheinend sind sogar Leute von draußen dabei, wir können es uns also erlauben.«

»Ist gut, aber lass uns ein bisschen warten.«

»Einverstanden.«

Ich ging aus der Küche und sah mir die Geiseln an. Unter ihnen waren die Psychiaterin, zwei Erzieher, drei Schließer, ein paar Sozialarbeiter und zwei achtzehnjährige Jungen, einer Kellner und der andere Sportlehrer. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie uns mit so vielen Geiseln stürmen würden. Teneriffa war eine Insel, und in Kürze würden wir ihre Familienangehörigen vor dem Gefängnistor stehen haben. Die Behörden würden zögern einzugreifen. Es war eigenartig, doch jetzt, da ich die Bestie in mir hervorgekehrt hatte, mahnten alle zu Vernunft und Menschlichkeit. Jetzt, da wir Gewalt anwendeten, wollten alle Dialog. Man ließ uns im Gefängnis sterben ohne eine andere Zuwendung als Knüppel und Isolation, man brachte uns auf demokratische Art und Weise geradewegs um. Und nun bat man um Mitgefühl, wo doch sonst in ihrem festgefügten kranken Stolz kein Platz für so etwas war. Welche Mitmenschlichkeit verdiente jemand, der bar elementarster Gefühle in seinem Herzen nur Platz hatte für ein Schlüsselbund, in dessen Klimpern noch der letzte Schmerzensschrei eines Gefolterten nachklang? Die hier hatten verdient, dass wir sie nackt auszogen, fesselten und sie ordentlich verprügelten, damit sie selber einmal die Früchte ihrer ehrenhaften Arbeit als Henker der Gesellschaft schmeckten. Doch das würde uns auf ihr Niveau sinken lassen. Zwischen ihnen und uns gab es große Unterschiede. Es war zu leicht, sich an einem gefesselten Nackten auszulassen, wenn man die Macht dazu hatte. Schwieriger und edler war es, das nicht zu machen. Nein, wir würden ihnen nichts tun, es sei denn, die Polizei versuchte den Sturmangriff, und das wussten sie. Dann, wenn jemand mit Macht ausgestattet ist, zeigt er, wie er wirklich ist. So benimmt sich dann ein Rohling eben wie ein Rohling, ein Dummkopf eben dumm. Noble Gemüter auf ihre Weise und der Sadist unausweichlich auf die seine. Es zeigte sich nichts als die Natur der Leute. Nun, da es so weit war, beschränkten wir uns also darauf, unsere Absicht zu verfolgen, ohne auf Abwege zu geraten, ohne Rache.

Eine Stunde später ließen wir das blonde Mädchen laufen, womit ich mein Wort hielt und den Ärzten für ihre Fairness danken konnte. Auch lockerten wir den anderen nacheinander ihre Fesseln, damit sie aufs Klo gehen konnten, wenn sie mussten. Ich übernahm es, sie zu bewachen, während Juan sich um die Verhandlungen kümmerte, die stecken geblieben waren. Man wollte die Liste der Forderungen wegen ihrer Wirkung nicht öffentlich machen. Also verlangten wir die Vermittlung der damaligen Abgeordneten von Izquierda Unida[36] Cristina Almeida, die sich über das Radio an uns wandte. Sie bat uns um die Freilassung der Geiseln und die Zurücknahme unserer Forderungen und sprach dann von Demokratie und Vernunft. Es war eine Enttäuschung. Sie würde uns nicht helfen, allerdings nicht, weil sie nicht wusste, dass wir ein gehöriges Stück der Vernunft für uns beanspruchen konnten, die sie in ihrem Radiobeitrag vorgebracht hatte, sondern weil es sie vielleicht ein paar Wählerstimmen kosten konnte, uns öffentlich auch nur etwas Legitimität anzuerkennen. Wie falsch diese politische Dickfelligkeit sein konnte, war unverschämt. Deshalb machten wir mit der Geiselnahme weiter und erhielten unsere Forderung aufrecht. Wir ließen Decken kommen, mit denen wir die Fenster zuhängten, damit sie uns nicht beobachten oder ins Visier nehmen konnten. Es vergingen die Stunden, und die Spannung stieg. Es war Nervensache. Wir wussten, dass wir schließlich aufgeben mussten, doch nicht bevor wir nicht unsere Forderungen an die Öffentlichkeit gebracht hatten, und über den Äther in die anderen Gefängnisse, wo die Genossen das Ihrige tun würden.

Als die Nacht hereinbrach, setzten wir die Geiseln um und wechselten uns mit der Bewachung ab. Wir ließen sie alle ungefesselt, bis auf den Schließer, der dafür verantwortlich gewesen war, dass ich im Telefonzimmer eingesperrt blieb. Er trug Handschellen. Er bat mich darum, sie ihm abzunehmen.

»Tarrío, könnt ihr mir nicht die Handschellen abnehmen?«

»Ich hab keinen Schlüssel.«

»Sie sind an dem Bund, den du mir vorhin abgenommen hast.«

»Ich hab keinen Schlüssel, du Idiot, merk dir das.«

Wir saßen im hinteren Bereich der Cafeteria auf Stühlen. In der Stille war die ganze Spannung zu spüren, und in den Gesichtern der Geiseln die Angst. Eine Erzieherin und eine Sozialarbeiterin weinten unaufhörlich und umarmten sich gegenseitig, und einer der Jungen machte sie nach. Mehrere Radioapparate waren angeschaltet und auf verschiedene Frequenzen gestellt, so dass uns ständig Nachrichten von draußen erreichten. Die ganze Insel befand sich in Aufregung. Sicherheitskräfte umringten das Gefängnis und warteten auf Befehle und den Fortgang der Geschehnisse. Man hatte sich immer noch nicht dazu entschlossen, unsere Forderungen zu veröffentlichen. Es sah danach aus, dass es die ganze Nacht so weitergehen würde.

In der Bar fanden wir Wein und Bier, aber wir tranken zu zweit nicht mehr als zwei Dosen. Ich trank mehrere Tassen Kaffee, um nicht schläfrig zu werden. Eine der Sozialarbeiterinnen bat mich um etwas Kaffee.

»Darf ich auch Kaffee trinken?«

»Na klar, wer verbietet es dir denn?« antwortete ich. »Du kannst Kaffee für alle machen, außer für die Schließer. Da steht die Maschine.«

Sie brühte ein paar Tassen Kaffee auf und verteilte sie unter ihren Kollegen. Ich holte eine der Torten aus der Vitrine und mehrere Tüten Erdnüsse. Das war mein Abendessen.

»Werdet ihr uns loslassen?« fragte mich eine Sozialarbeiterin beim Essen.

»Wenn im Radio kommt, was wir fordern, ja.«

»Was fordert ihr denn?«

»Verbesserungen.«

»Und denkst du nicht, dies ist eine schlechte Art und Weise das zu fordern?«

»Würdet ihr auf uns hören, forderten wir es auf andere Weise?« fragte ich sie.

»Weiß ich nicht... aber ihr könntet es doch versuchen, oder?«

»Es würde nichts dabei herauskommen.«

»Weißt du, dass du da gerade meine Geburtstagstorte isst?«

»Mach keinen Quatsch!«

»Wir haben gerade meinen Geburtstag gefeiert, als dein Freund kam...«

»Willst du ein Stück?« lud ich sie ein.

»Nein, jetzt nicht.«

»Da verpasst du was, denn sie schmeckt sehr gut. Sag deiner Kollegin«, fügte ich hinzu und zeigte auf die weinende Sozialarbeiterin, »sie kann sich beruhigen, alles wird gut ausgehen.«

Gegen zwei Uhr morgens klingelte das Telefon. Es war der Direktor, der uns mitteilte, dass Antoni Asunción im Fernsehen über das Thema Gefängnis sprechen würde.

»Wollt ihr euren Chef sehen, im Fernsehen?« fragte Juan die Geiseln.

»Ja«, antwortete einer von ihnen.

Wir stellten den Apparat so hin, dass alle etwas sehen konnten und drehten die Lautstärke hoch. Nach ein paar Minuten erschien das Bild eines redenden Generaldirektors des Gefängniswesens. Er bat um die Gefasstheit und die Professionalität der Beamten im Strafvollzug. Seiner Politikerrede fehlte jede Sensibilität für die schwierige Situation, in der sich seine Untergebenen befanden. Wir mussten lachen, als unsere Geiseln begannen, ihn wüst zu beschimpfen. Der höchste Amtsinhaber der Behörde trug nichts Sinnvolles zur Lage bei, weshalb wir uns dazu entschlossen, in diesem Moment eine der Geiseln freizulassen, da sie von dieser Rede peinlich berührt waren. Juan rief mich zu sich: »Hör zu: Wir werden einen von ihnen mit einem Zettel rauslassen, den er dann selbstständig zum Radiosender bringt, als Gegenleistung für seine Freilassung.«

»Einverstanden. An wen denkst du?«

»An den Erzieher mit kommunistischem Parteibuch. Ich rede gleich mal mit ihm.«

»OK.«

Kurz darauf ließen wir eine der Geiseln frei mit einem Papier, das unser Kommuniqué für die Presse enthielt, verfasst in mehreren Punkten. Juan hatte mit ihm ausgemacht, dass er auf eigene Faust hinging, ohne sich mit dem Direktor abzusprechen, zum Besten der anderen Geiseln. Nur eine Stunde später hörten wir ihn über das Radio. Er bestätigte, dass es allen gut ging und dass wir ihn korrekt behandelt hatten. Er verlas einen Teil des Kommuniqués, aber nicht alles. Er beging so Verrat an seinen Kollegen, die immer noch in unserer Gewalt waren, um seinen eigenen miserablen Arbeitsplatz zu retten. Im schlimmsten anzunehmenden Fall würden wir wenigstens die Hälfte unserer Forderungen zu Gehör gebracht haben. Für den Moment war das ein Schritt in die richtige Richtung. Gegen sechs Uhr morgens kamen wir mit dem Gefängnisdirektor zu einem Abkommen. Wir würden die Geiseln freilassen im Tausch gegen zwei Metallsägen und die Publikmachung der fehlenden Punkte. Wir hängten zwei Schnüre aus dem Fenster und holten die Sägen zu uns hinauf. Dann warteten wir ab, bis die Forderungen im Radio liefen. Es vergingen nur ein paar Minuten, und Juan kam, um mir Bescheid zu sagen, dass alle Punkte genannt worden waren.

»Sie haben alle Punkte im Radio verlesen«, teilte er mir mit.

»Dann verhandeln wir das Ende, oder?«

»Wir können noch weitermachen...« antwortete er. Er wollte noch nicht aufgeben.

»Wir haben alles gemacht, was wir abgesprochen hatten, und wir haben die Verlegung und unseren Fluchtplan vor uns. Hiermit noch länger weiterzumachen, hat keinen Sinn.«

»Na gut, aber ohne Eile, ich traue denen nicht.«

Wir riefen den Direktor wieder an und verlangten die Anwesenheit des Dienst habenden Richters, des Bischofs von Teneriffa und von Mitgliedern des Roten Kreuzes als Bedingung für die Beendigung der Geiselnahme. Wir ließen drei Geiseln sofort frei, zum Zeichen, dass wir unseren Teil einhalten würden. Gegen sieben erschienen die Dienst habende Richterin und die Leute vom Roten Kreuz in der Anstalt. Nicht so der Bischof. Das teilten sie uns über Telefon mit, und nachdem wir es überprüft hatten, ließen wir nacheinander die Geiseln frei. Als Letzte gingen wir nach unten und benutzten dabei zwei Geiseln als menschliche Schutzschilde. In Gegenwart der Richterin und der Rotkreuz-Mitglieder gaben wir die

Messer ab und stellten uns. Es war zu Ende.

Eine große Gruppe Schließer brachte uns in die amerikanischen Zellen der Aufnahmeabteilung. Nach dem Ausziehen und der Durchsuchung legten sie uns Handschellen an und ließen uns in getrennten Zellen allein. Ich setzte mich auf den Fußboden und sah dabei zu, wie die Leuchtstoffröhre an der Decke die Zelle erhellte. Unsere Hoffnungen ruhten auf einer gemeinsamen Verlegung. Diese Frage verzweifelte mich. Und wenn sie uns trennten? Ich vertraute darauf, dass sie es nicht tun würden. Darüber grübelte ich nach, als Rufe an mein Ohr drangen:

»Hoch leben die Beamten! Tod den Geiselnehmern!«

Ich rief Juan:

»Was ist los?«

»Hörst du diese Rufe?«

»Ja, das sind die Gefangenen in der Aufnahme. Du weißt schon, besonders Geschützte und Ordonnanzen.

»Wie ekelhaft!«

Juan hatte Recht. Es waren die Gefangenen, die besonderen Schutz genossen, und die Ordonnanzen, die sich Applaus und Belohnung von denjenigen einbringen wollten, die sie hier im Gefängnis befehligten und kontrollierten. Es war deren Art, ihre absolute Treue den Schließern gegenüber zu zeigen, den einzigen, die sie hier schätzten.

Nur Feiglinge konnten ohne Würde leben, ohne Ehre, und sich auf diese Weise unterwerfen, im Tausch gegen vorteilhaftere Bedingungen. Leider waren die Gefängnisse voll von Individuen wie diesen.


Mittags wurden wir einzeln von einer Gruppe Schließer in den Isolationstrakt gebracht. Sie gaben uns Kleidung und Bettwäsche und teilten uns mit, dass Befehle aus Madrid vorlagen, denen zufolge sie uns keinesfalls auf den Hof lassen durften. Wir mussten vierundzwanzig Stunden am Tag in den Zellen bleiben, und falls wir doch einmal die Zelle verlassen mussten, nur mit Handschellen auf dem Rücken. Da so die Dinge standen, trat ich in Hungerstreik und schnitt mir Pulsadern auf, um meinen Verfall zu beschleunigen. Ein Arzt kam, um mich in der Zelle zuzunähen, eskortiert von den Schließern.

»Tarrío, wie fühlst du dich?«

»Angeekelt von so viel Zelle.«

»Du fügst dir mehr Schaden zu als du denkst, wenn du dich weigerst zu essen und dich verletzt«, erklärte er mir, während er mir die Adern zunähte. »Was du hast, ist wahrlich kein Scherz, Tarrío, und jede schwerere Infektion oder Mangelerscheinung lässt dich binnen Monaten den Löffel abgeben.«

»Wenn Ihnen so viel an meiner Gesundheit liegt, lassen Sie mich auf den Hof.«

»Das geht nicht, aber ich will versuchen, dass man dich eine Weile in den Aufenthaltsraum lässt, obwohl ich fürchte, dass du dort Handschellen tragen musst.«

»Versuchen Sie es. Ich ertrage es nicht, den ganzen Tag hier eingesperrt zu sein.«

»Wir werden tun, was wir können, aber schneide dich nicht noch einmal. Ich werde dir auch Medikamente schicken, damit du ruhiger bist, einverstanden? Es wird dir gut tun, sie einige Tage lang zu nehmen, während sich eure Situation klärt.«

Die Ärzte schafften es, dass man mich eine Stunde am Tag in den Aufenthaltsraum ließ, auf dem Rücken gefesselt, doch sie erreichten nicht das gleiche für meinen Freund Juan, weshalb ich schließlich nicht mehr hinaus wollte. Entweder kamen wir beide raus oder keiner von beiden. Den Hungerstreik legte ich allerdings nieder. Ich musste Kraft gewinnen, um bei der Verlegung in Form zu sein.


Eine Woche nach unserer Aktion führten auf dem Festland Juan José Garfia Rodríguez, der vor kurzem in Granada verhaftet worden war, Pablo Andrés Jiménez und Salvador Estarlich einen weiteren Aufstand durch, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Lage im Gefängnis Badajoz bekanntzumachen. Eigentlich war eine Geiselnahme geplant gewesen, doch ein Fehler von Estarlich ließ diese scheitern, als ihm die Geiseln davonliefen. Mit einem Schlüsselbund öffnete er Juanjo und Andrés und den anderen Gefangenen im Isolationstrakt, darunter El Boca, ein bekannter Vergewaltiger, und die Brüder Izquierdo, die am Massaker von Puerto Hurraco[37] beteiligt gewesen waren. Letztere wurden alle als Geiseln genommen. In der Nähe des Gefängnisses fand zeitgleich eine Demonstration statt. Deshalb dauerte es nicht lange, bis zwanzig als Eingreiftruppe abgerichtete Guardias Civiles, die die Demonstration begleitet hatten, in die Anstalt eindrangen und sich mit ihrem gesamten Gerät vor dem Isolationstrakt aufbauten. Die Gefangenen drohten, die Geiseln umzubringen falls sie eingriffen, doch niemand kümmerte das Leben des Vergewaltigers oder das der beiden betagten Mörder. Also begann die Guardia Civil ihren Einsatz. Sie kamen in den Trakt herein und überwältigten nach einer enormen Schlägerei die Gefangenen ohne Konsequenzen für deren Geiseln. Das war Pfuscharbeit gewesen, aber sie hatten es wenigstens versucht, was nur sehr wenige Leute im Gefängnis für sich beanspruchen konnten. Einige Gefangene warfen ihnen vor, dass sie El Boca nicht umgebracht hatten, doch Jahre später stellte sich heraus, dass dieser Gefangene nicht schuldig an der Vergewaltigung gewesen war, wegen der man ihn verurteilt hatte. Sie hatten also richtig gehandelt, gerecht.


Ich erhielt Besuch von zwei Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid. Man brachte mich in Handschellen vor sie. Sie saßen im Büro des Direktors, hinter dem Schreibtisch. Ich nahm Platz.

»Also gut, Tarrío, was ist passiert?« fragte mich der Anführer der beiden.

»Es ist passiert, dass ich die Nase voll davon habe, eingesperrt zu sein und davon, dass Sie mit mir machen was Ihnen passt. Ich bin seit Jahren im Gefängnis und war eigentlich für zwei Jahre hierhin gekommen. Das ist passiert: Ihr macht mir mein Leben kaputt.«

»Das haben Sie selbst zu verschulden, oder nicht?«

»Nein. Seit ich in La Coruña ins Gefängnis gekommen bin, wurde ich in besondere Zellen gesperrt, ohne Grund, angeblich wegen zurückliegender Vorkommnisse. Ich trage daran nicht die Schuld, und auch nicht daran, dass man auf mich Artikel 10 anwendet und mich isoliert, und ich dann plötzlich wieder in den Normalvollzug komme. In Zamora wurde ich dann wieder in den ersten Grad eingestuft...«

»Das werden wir anhand Ihrer Akte prüfen müssen, ich glaube aber nicht, dass es so war«, fügte der Kollege hinzu.

»Wenn Sie es sagen, haben Sie sicher Recht, und ich lüge«, warf ich zynisch ein.

»Wo hattet ihr die Messer her?« wollte der andere wissen.

»Sag ich Ihnen nicht.«

»Gut, ich habe Ihnen aber sehr wohl etwas zu sagen. Wenn wir in Madrid noch einmal davon hören, dass sie so etwas oder etwas Ähnliches machen, gebe ich Ihnen mein Wort darauf, dass wir Sie in ein Loch stecken, und dass Sie dort nie wieder herauskommen, verstehen Sie mich?«

»Ich verstehe Sie genau...«

»Wer hatte die Idee zu der Geiselnahme?«

»Wir beide.«

»Sie wollen mir nicht sagen, woher Sie die Messer hatten?«

»Nein.«

»Dann ist das alles.«

Im Isolationstrakt begann der Einbau verstärkter Sicherheitsmaßnahmen. Eisengatter kamen vor die eigentlichen Zellentüren, und der Hof, über den wir entkommen waren, erhielt von oben ein gekreuztes Gitter. Sie bauten einen Bunker. Wir wussten nicht, dass das nur ein Vorgeschmack für das war, was die Generaldirektion des Strafvollzugs seit Monaten ausbrütete, unter dem Regiment Antoni Asuncións und seines Statthalters, Gerardo Mínguez. Wir bekamen Zugriff auf zwei veraltete Tageszeitungen, in denen von der Geiselnahme die Rede war. Eine schrieb, dass wir beide wegen mehrerer Morde und Vergewaltigungen im Knast saßen, worüber wir uns sehr entrüsteten. Wir verstanden, dass das ein Teil der Desinformationskampagne der Behörde an die Medien war, um uns vor der Gesellschaft in Verruf zu bringen und uns wie Mörder und Vergewaltiger aussehen zu lassen. Eine der unzähligen Gemeinheiten, die sie anwandten. Juan schlug vor, die Zeitung zu verklagen, doch wir sahen schließlich davon ab. Was machte es aus, was andere dachten? Das Einzige, das im Moment wichtig war: So bald wie möglich zusammen verlegt zu werden.


Am 11. Juli explodierte Puerto de Santa María. Ernesto Pérez Barrot, Antonio Losa López und Manuel Cabello Martínez hielten die Schließer in Trakt eins in Schach und verschanzten sich mit ihnen im Economato. Im Namen von APRE(r) forderten sie von den Vertretern der Generaldirektion, die nach Cádiz gefahren waren, verbesserte Haftbedingungen. Sie übergaben eine Liste an Forderungen, die in allen Medien publik gemacht werden sollte. Julio Romero Amador, ein Gefangener aus Jaén, der während der Geiselnahme frei herumlief, nutzte die Gelegenheit, um eine offene Rechnung mit einem anderen Gefangenen zu begleichen. Das Opfer war Miguel Anguita, den er, nachdem er ihm die Zellentür geöffnet hatte, niederstach und köpfte. Dieser Sadismus machte alle Verhandlungen zunichte, spätestens als Julio Romero mit dem Kopf seines Feindes in der Hand auf den Überwachungsbildschirmen zu sehen war. Ein gigantischer Fehler, der jeden Versuch weiter zu verhandeln unmöglich machte.

Mit dem Scheitern der Verhandlungen und nach vierundzwanzig Stunden Geiselnahme ließen die Gefangenen es gut sein, ließen ihre Geiseln frei und stellten sich. Obwohl Julio Romero auf eigene Rechnung gehandelt und nichts mit APRE(r) zu tun hatte, schrieb man diesen Mord der Organisation zu, um sie zu diskreditieren. Und so kam es, dass nach der Enthauptung dieses Gefangenen begonnen wurde, die Sonderhaftbedingungen FIES anzuwenden – mit vorbehaltloser Zustimmung der Strafvollzugsgerichtsbarkeit. Die Behörde benutzte einen Mitschnitt der Überwachungsbilder aus Puerto, auf dem Julio Romero zu erkennen war, wie er den Kopf seines Feindes hoch hob, um die Richter von der Notwendigkeit zu überzeugen, für alle Gefangenen, die mit APRE(r) zu tun hatten, Sondermaßnahmen zu ergreifen. Das waren Maßnahmen, die zur schwersten Menschenrechtsverletzung und Beugung der Demokratie seit Amtsantritt der PSOE-Regierung werden sollten. Ein von allen drei Gewalten gemeinsam geschmiedetes Komplott: von Judikative, Exekutive und Legislative.

Im Isolationstrakt von Teneriffa lief alles wie gehabt weiter. Wir wussten es nicht, doch wir sollten die ersten sein, auf die FIES angewandt wurde. Man bereitete unsere Verlegung in die Anstalten Badajoz und Valladolid vor.

In manchen langweiligen Nächten unterhielt sich Juan damit, die Schließer zu ärgern, die aus ihrer gepanzerten Wachstube heraus den Trakt überblickten.

»Gebt auf!« rief er ihnen unter der Zellentür hindurch zu. »Lasst die Handschellen und die Knüppel fallen! Ihr seid umstellt!«

Ich mischte mich dann ein und half ihm: »Lass den Knüppel los und Hände hoch, du Wicht!«

Dann mussten wir laut lachen. Diese humorvollen Momente halfen uns sehr dabei, die Isolation zu ertragen, ohne Hofgang. Seit zwanzig Tagen waren wir nicht aus diesen Kerkern herausgekommen, deren metallene Gruftplatten nur geöffnet wurden, um uns unser Essen auszuhändigen, und das immer in Gegenwart einer größeren Gruppe mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffneter Schließer. In dieser Lage waren unsere konstant rebellische Haltung und die Gesellschaft, die wir uns so gegenseitig zuteil werden ließen, waren Humor und aufmunternde Worte alles, was wir hatten. Dies und zwei Eisensägen, und die Hoffnung, bald aus dieser hässlichen und verrückten Unterwelt ausbrechen zu können.

Wenn wir dies zu nutzen wussten, war das mehr als genug, denn es gab nichts Mächtigeres und Stärkeres als den Mut, den einem der Versuch gibt, die entzogene Freiheit wiederzuerreichen. Eine Freiheit, von der wir in gewissem Sinne schon jetzt etwas hatten, denn wir rebellierten ja gegen die Sklaverei und den systematischen Gehorsam, wir dachten und handelten für uns selbst und nicht nach irgendwelchen vorgegebenen Benimmregeln, Normen oder Doktrinen, mit denen wir nicht einverstanden waren. Und das war es auch, was uns von anderen Gefangenen unterschied. Wir waren draußen keine systemfeindlichen Outlaws gewesen, um hier im Gefängnis Vorschriften zu akzeptieren, die man uns aufzwang. Ein Mensch sollte man bewaffnet wie unbewaffnet bleiben, in Freiheit wie in Gefangenschaft. Im Gefängnis gab es viele Männer und Frauen, die mutig einen Raub oder einen Überfall durchgeführt hatten, die aber nicht in der Lage waren, angesichts eines einfachen Strafvollzugsbeamten würdevoll und aufrecht zu bleiben. Diese Tatsache ließ uns täglich verbale Auseinandersetzungen mit Gefangenen führen, die zu einem miserablen Lohn als Maurer arbeiteten oder damit beauftragt wurden, unseren Hof zu vergittern und Gatter vor die Zellentüren zu schweißen. Gefangene, die andere Gefangene lebendig begruben, um selbst Vergünstigungen zu erhalten und so bald wie möglich auch die Freiheit, auch wenn es die Freiheit anderer verminderte.

Hör auf das Leiden der Menschen, du Monster!

Unmenschliche, eiskalte, mechanische Bestie.

Grausames Instrument in Menschenhand gegen den Menschen.

Furcht ist die zähflüssige Nachgeburt

siechtumsschwangerer grauer Morgen.

In der Dunkelheit deiner Eingeweide

schaffst du Schmerz und ewige Einsamkeit.

Das Blut gefriert. Keine Liebe, keine Gegenwart.

Nur Schweineaugen mustern dich hier drinnen:

Ja, ich bin noch da!

Du spuckst Gebeine schwacher Toter

in Reih’ und Glied aus ihrem gläsernen Grab.

Wie konnten sie es wagen, sich in deinen Eingeweiden breit zu

machen?

Dummheit, Schwachsinn, Unvernunft.

Zum tödlichen Abgrund, zum kollektiven sentimentalen Suizid

lädst du täglich ein,

du lauerst im Dunkeln dem Weinenden und Leidenden auf.

Essenz des Bösen,

Reste von Träumen an Blutrot,

als die Menschen das Wort der Gnade vergaßen,

entfernt auch alle Liebe aus euren Herzen!

Bestie!

Die Kinder, die du austrägst, sind bereit zur Geburt,

zerschlagen die Ketten ihrer Haft und Ängstlichkeit.

Rennt, Sträflinge, rennt!

Dass euch die Zuhälter eurer Mutter nicht einholen:

Sie wollen eure Seele knechten und euch versklaven.

Am 23. August hatte ich kaum zu Mittag gegessen, als ein Trupp Schließer in der Zelle erschien: »Tarrío, packen Sie Ihre Sachen, sie werden verlegt.«

Ich gab Juan über die Neuigkeit Bescheid und packte meine Sachen in zwei Tüten, die man mir übergeben hatte.

Ich war überglücklich, dort herauszukommen, wir waren ja seit einem Monat ununterbrochen eingeschlossen. Definitiv war jetzt der Moment zum Handeln gekommen, um die zweite Phase unserer Aktion zu beginnen: Die Flucht. Sie brachten mich in Handschellen in die Aufnahmeabteilung und steckten mich in eine der amerikanischen Zellen. Ich schritt die Zelle auf und ab und genoss gerade eine Zigarette, als sie meinen Freund Juan brachten. Sie brachten ihn in Handschellen und steckten ihn in die Zelle nebenan. Wir begrüßten uns mit einer Geste, redeten aber nicht. Ich schickte ihm aber über einen der Schließer die Hälfte meines Geldes. Das mir zustehende sogenannte Hausgeld war mir gerade erst ausbezahlt worden.

Ungefähr eine Stunde später kam ein Paar Guardias Civiles, um uns abzuholen. Ein dritter wartete in dem Transporter, in dem sie uns zum Hafen fahren würden. Der Gruppenführer, ein Gefreiter, schien ein arroganter eingebildeter Macker zu sein und uns beeindrucken zu wollen. Ich hielt ihn für einen Angeber. Das würde uns nützen, denn Wächter dieser Art unterschätzten einen Gefangenen am ehesten. Schon allein das Tragen einer Waffe und einer grünen Uniform gab ihnen dieses Selbstbewusstsein. Nachdem sie uns die Fingerabdrücke abgenommen hatten, mit denen unsere Übergabe an die Guardia Civil beurkundet wurde, legte man uns neue Handschellen an, brachte uns nacheinander zum Transporter und ließ uns einsteigen. Zwei andere Gefangene saßen schon im Wagen und würden uns auf der Überfahrt begleiten. Wir stellten uns vor. Einer war Kolumbianer, der andere Engländer. Sie fuhren nach Carabanchel, um von dort in ihre Herkunftsländer abgeschoben zu werden. Nachdem der Papierkram erledigt war, fuhren wir in Richtung Hafen und unterhielten uns dabei angeregt. Wir hielten vor einer riesigen Fähre, der J.J. Sister. Der Transporter stand an einer Metallbrücke, die in die Garage des Fährschiffs führte und von mit Maschinenpistolen bewaffneten Guardias Civiles bewacht war. Sie gewährten unserem Transport Vorrang in der Warteschlange und wiesen ihn in die große Garage ein. Dann brachten sie uns einzeln in die Arrestzellen hinunter, neben den Maschinenraum, unter die Wasserlinie. Wir alle vier kamen in dieselbe Zelle. Es gab zwei Pritschen und zwei Stühle. Die Zelle nebenan war von zwei Gefangenen belegt, die aus Puerto de Santa María kamen und nach Salto del Negro fuhren, in das Gefängnis auf Gran Canaria.

Juan kannte die beiden und redete mit ihnen durch ein Loch in der Holzwand zwischen den beiden Zellenverschlägen. Ich sah mir inzwischen die Zelle an und begutachtete die Stühle, die man hingestellt hatte, damit wir uns setzen konnten, bis wir die anderen zwei in Las Palmas absetzten und zwei von uns in die freigewordene Zelle wechselten. Die Beine beider Stühle wurden von verschweißten Metallstücken zusammengehalten. Ich ging aufs Klo und holte die Säge aus ihrem Versteck. Dann drehte ich einen der Stühle um und begann zwei dieser Metallstücke anzusägen. Sie würden meinem Genossen und mir als Messer dienen. Ich bat Juan, solange ich an den Stuhlbeinen sägte, die Kabine der Guardias im Auge zu behalten. Sie lag genau gegenüber, zwei Meter entfernt. Als eins fertig war, machte Juan mit dem anderen weiter und ich passte auf. Als wir so weit waren, versteckten wir beide in einer Matratze. Sie würden gute Messer abgeben. Wir würden sie brauchen. Juan nahm mich zur Seite und wir gingen aufs Klo, um ungestört zu reden.

»José«, sagte er, »ich traue diesen beiden Typen nicht, die mit uns fahren, wir sollten sie nicht aus den Augen lassen.«

»Mach dir keine Sorgen, was sollen sie machen? Sie müssen die ganze Überfahrt mit uns verbringen, und ich denke nicht, dass sie gefährlich sind...«

»Lass uns auf jeden Fall auf die beiden aufpassen. Sie gefallen mir nicht...«.

Misstrauen war typisch für Juan und viele andere Gefangene, denn es gab Fälle von Verrat an Mitgefangenen, um selbst Vorteile zu bekommen. Die Behörde belohnte dergleichen Niederträchtigkeit fürstlich, denn das verlieh ihr Augen und Ohren überall, besonders dort, wo ihr Schäferhundsblick und ihre Ohren sonst nicht hinkamen. Es war dieselbe Methode, die die Polizei draußen mit Straffälligen anwendete. Sie ließen zu, dass Dealer straflos weitermachten und gaben ihnen Hilfestellungen in ihrem Geschäft, wenn jene sie über ihre Kundschaft und das Geld, das diese ausgab, auf dem Laufenden hielten. Stimmte ein Betrag mit der Beute aus einem Raub überein, wussten sie gleich, wer es war. Keine Institution und auch nicht der Strafvollzug funktionierte ohne ein Netz aus Spitzeln. Verrat wurde großzügig belohnt. Wollten sie etwas über einen bestimmten Gefangenen herausfinden oder ihn einfach aus der Nähe beobachten, brauchten sie nur einen Verräter zu gewinnen, der ihn im scheinbar freundschaftlichen Gespräch zum Reden brachte. Oder sie legten die beiden zusammen in eine Zelle. Es war traurig aber wahr und latent immer gegenwärtig, auch wenn nur eine Minderheit bei so etwas mitmachte. Das schuf ein Klima des Misstrauens. Wir wollten darauf achten, dass unsere Begleiter uns nichts anmerkten.

Wir liefen aus und setzten Kurs auf Las Palmas de Gran Canaria. Dort kam eine Gruppe Guardias Civiles zu uns herunter und holte die beiden Gefangenen aus der Nachbarzelle ab. Wir verabschiedeten uns herzlich von ihnen. Dann lichteten wir wieder Anker und fuhren in Richtung Cádiz. Als wir schon auf hoher See waren, legten sie uns Handschellen an, mit den Handgelenken durch den Schlitz in der Tür gesteckt, durch welches auch das Essen kam. Héctor Chivita und ich kamen in die Zelle nebenan. Sie nahmen uns auf die gleiche Weise die Handschellen wieder ab. Juan blieb mit William Humphreys in der anderen Zelle. Die Guardias nahmen die Stühle mit, ohne zu merken, dass zwei Metallstücke fehlten, was uns erleichterte. Ich wäre lieber mit meinem Freund Juan gereist, auf diese Weise konnten wir aber die Gefangenen im Auge behalten, die uns begleiteten, und das war auch wichtig. Es konnte alles Mögliche passieren.

Juan gab mir die Metallstücke durch das Loch zwischen den beiden Zellen. Ich versteckte sie in der Matratze meiner Pritsche. Diese Zelle war genauso wie die andere, der einzige Unterschied war hier eine Treppe aus hohlen Metallstreben, die auf das obere Bett führte. Die Toiletten beider Zellen waren gleich geschnitten und hatten Bullaugenfenster auf den Flur hinaus. Wir konnten uns sowohl hier als auch in den Bullaugen der Zellentüren von Zelle zu Zelle sehen. Die Scheiben in den Bullaugen waren aus dickem Plexiglas. Der enge Flur verband die beiden Zellen mit der Kabine der Wache, in der sich nur noch die zwei Guardias Civiles aufhielten. Über das Bullauge konnten wir feststellen, dass die Zellentüren mit dicken Eisenriegeln abgeschlossen waren, die quer über die ganze Tür liefen und in einem Scharnier saßen. Der Riegel lief durch eine eiserne Öse im Türrahmen, in deren Mitte ihn ein Vorhängeschloss in seiner Stellung festhielt – wie man es im Mittelalter machte. Eine einfache aber effektive Art, und bis jetzt war auch noch niemand aus diesen Zellen ausgebrochen. Außer den Pritschen gab es noch zwei Ventilatoren an der Decke. Dieser winzige Raum, zwei Meter breit, einen Meter lang, würde zwei Tage lang unser Universum sein. Wir konnten uns kaum bewegen, wenn also einer aufstand, legte sich der andere hin.

Nach einer Weile holten sie uns einen nach dem anderen heraus, damit wir aus unseren Tüten die Toilettenartikel holen konnten, die wir brauchten. Als ich an der Reihe war, legten sie mir Handschellen an und öffneten die Zelle. Zwei Wächter brachten mich zu der Kabine, in der unsere Habe zurückgehalten wurde, wir durften sie nämlich nicht mit uns nehmen. Ich bückte mich und suchte Seife, Zahnpasta und eine Zahnbürste. Der Gefreite nutzte die Gelegenheit, um mich zu provozieren:

»Eh, hör zu, ich wünsche eine ruhige Fahrt, verstanden?«

Erstaunt drehte ich mich kurz um und musterte ihn. Ich verstand nicht, warum er sich so aufspielte. Also gab ich ihm als Antwort nur ein Lächeln.

»Guck mich nicht so an, ich bin schon mit Schlimmeren als dir umgegangen...«, er ließ nicht locker.

Dann verstand ich ihn. Er provozierte mich, um sich vor seinem Kollegen aufzuführen, der seinem Alter nach zu urteilen neu war in der Truppe. Er war ein Angeber, ein großer und starker allerdings, bewaffnet mit einer Neun-Millimeter, weshalb ich nicht auf seine Provokationen einging. Als ich meine Sachen gefunden hatte, schlossen sie mich wieder in die Zelle.

Etwas später kam das Essen. Die Wächter reichten es uns auf Plastiktabletts durch die Schlitze in den Türen. Als der Gefreite sich bückte, um ein Tablett vom Fußboden aufzuheben und es mir zu geben, konnte ich an seiner rechten Hüfte den Griff einer Pistole im Hosenbund stecken sehen. Auf dem Schiff mussten sie Zivilkleidung tragen, das sah das Bordreglement so vor. Der Kapitän wollte nicht, dass die Passagiere wussten, dass man Gefangene mitnahm, das könnte sie beunruhigen. Ich rief Juan:

»He, sieh mal genau hin. Schau auf den Hosenbund dieses Bullen.«

Er ging ans Fenster und sah sie.

»Hat der andere auch eine?« fragte er mich.

»Ich denke schon, ich hab sie aber nicht gesehen.«

»Also für jeden eine...«

»Na klar«, antwortete ich vergnügt.

Nach dem Essen unterhielten wir uns durch das Loch hindurch und Juan teilte mir seinen Plan mit. Danach wollten wir zuerst versuchen, von drinnen die Schrauben abzusägen, die die Metallöse hielten, durch die die Eisenstange mit dem Vorhängeschloss lief. Die Muttern dieser Schrauben befanden sich auf der Innenseite der Zellen. Wenn wir es schafften, diese Muttern durchzusägen, würde die Öse mit dem Schloss und der Stange und damit die ganze Tür nachgeben. Anschließend bliebe nur noch, unsere Wächter festzunehmen. Dafür mussten wir aus den Metallstücken zwei Messer herstellen. Sobald wir im Hafen lagen, würden wir die Flucht ergreifen. Die Idee war realistisch. Jetzt würde es erst einmal darum gehen zu prüfen, ob das Eisen so weich war, dass wir es leicht sägen konnten, denn falls nicht, würde die Operation sehr schwer werden, die Muttern saßen nämlich an einer schwierigen Stelle ganz eng an der Wand. Problematisch war auch, dass die Muttern an den metallischen Türrahmen festgeschweißt waren. Wir vertrauten aber darauf, sie durchsägen zu können, bevor wir im Hafen von Cádiz ankamen. Wir verloren keine Zeit und fingen in Ruhe an zu sägen. Der ohrenbetäubende Lärm der Motoren verhinderte, dass man uns hörte. Den beiden Gefangenen, die uns begleiteten, trugen wir auf, die Kabine der Wache im Blick zu behalten, wozu sie sich ohne Weiteres bereit erklärten. Das gab uns absolute Sicherheit bei der Arbeit.

Zum Abendessen stellten wir unsere Arbeit ein. Beide hatten wir Blasen an den Händen, doch das Schlimmste war, dass wir kaum voran gekommen waren. Das war ein schlechtes Zeichen. Wir aßen ohne zu sprechen. Ich beobachtete dabei meinen Zellengefährten, den Kolumbianer, und fand ihn auch nicht gerade vertrauenerweckend. Er war verunsichert, und das könnte gefährlich werden. Wir beschlossen, bis zum nächsten Tag nicht mehr zu sägen, denn der Motorenlärm war nachts weniger intensiv als bei Tag. Ich nutzte allerdings die Zeit und verpasste den beiden Metallstücken Klingen. Juan legte sich hin, um sich von der Grippe zu erholen, die er seit Tagen mit sich herumschleppte und die ihn immer noch schwächte, er hatte etwas Fieber. Während ich also diese Metallstücke schärfte, dachte ich an die Waffe meines derzeitigen Wächters. Ich hatte sie gesehen. Ich dachte daran, wie ich in ihren Besitz gelangen könnte, und ich dachte an die beiden einfachen aber tödlichen Messer, die in der Matratze versteckt lagen, und schlief darüber ein.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück nahmen wir die Arbeit wieder auf. Wieder machten wir uns ans Sägen, bis zum Mittagessen. Meine Hände sahen furchtbar aus, voll neuer Blasen, und ich hatte bisher nur eine der Muttern durchgesägt. Juan hatte aufgegeben, denn er konnte die Säge nicht mehr festhalten. Die Tür lag auf der rechten Seite der Zelle, die er belegte, und er konnte nur mit der linken Hand sägen, dabei war er Rechtshänder. Wir begannen zu zweifeln, denn es war nicht so leicht, wie wir zunächst gedacht hatten. Wir diskutierten das durch das Loch:

»Juan, ich glaube, das wird nicht gutgehen. Wir schaffen es nicht, die Schweißnähte dieser Muttern durchzusägen...«

»Wir können sie festnehmen, sobald sie in Cádiz die Tür aufmachen und mit ihnen beiden als Geiseln hinausgehen«, schlug er mir vor.

»Das ist nicht so leicht, Juan. Dort warten andere Guardias Civiles auf uns, und dann noch die Grenzposten, und sie werden uns nicht aufmachen, bevor nicht der Gefangenentransporter da ist«, ich machte eine Pause und fuhr dann fort: »Außerdem machen sie uns einem nach dem anderen auf. Und falls einer von uns es schafft, sie beide zu überwältigen, werden wir es aus Cádiz heraus kaum schaffen. Zu viele Probleme auf einmal, Juan.«

»Wir müssen sie wie auch immer kriegen...«

Schließlich ließ ich es sein, an den verhassten Muttern zu sägen. Wir prüften die Holzdecke und machten sie kaputt. Wir hofften, so in die Kabine der Guardias zu gelangen, doch als wir hinter ein Blech kamen, stießen wir auf mehrere Lagen kreuzweise verlegter schwerer Holzbretter, die uns nicht weiter vordringen ließen. Es war zum Verzweifeln. Schweißgebadet legte ich mich rücklings auf die Pritsche und zündete mir eine Zigarette an. Nach allem, was wir getan hatten, um hier hinzukommen, verdienten wir es nicht, dass diese zwei Dummköpfe uns im nächsten Gefängnis abgaben wie zwei Kartoffelsäcke.

Wir aßen in der Stille. Mit vollem Magen legte Juan sich hin, um seine Grippe auszukurieren, und ich unterhielt mich mit dem Kolumbianer. Er war glücklich darüber, dass wir unsere Versuche eingestellt hatten und wir eine ruhige Fahrt haben würden. Er erzählte mir seine Geschichte. Er war nach Spanien gekommen, um Drogen zu schmuggeln, und sie hatten ihn bei der ersten Gelegenheit erwischt. Er gehörte zu einer armen kolumbianischen Familie und hatte so versucht, seiner Misere zu entkommen. Seine Geschichte ähnelte der hunderter Südamerikaner im Gefängnis. Die Großen im Drogengeschäft benutzten besonders Frauen, um Stoff nach Spanien und ganz Europa zu bringen. Falls einer von ihnen verhaftet wurde, überließen sie ihn seinem Schicksal, während sie selbst ihre Luxusvillen und ihre wundervollen Autos genossen und weiter diese Männer und Frauen ausbeuteten, die in Armut lebten. Im Gefängnis gab es viele Leute, die hier niemals gelandet wären, hätten sie einen gerechten Lohn, eine feste Arbeit und eine würdevolle Wohnung gehabt. Doch war das Leben: War es nicht ein Drogenbaron, der einen ausbeutete, so war es ein Wirtschaftsboss, ein Militär oder ein Politiker.

Der Nachmittag verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Gegen acht servierten sie uns das Abendessen und wir aßen mit Appetit. Juan war immer noch krank und lag im Bett. Ich legte mich also auch hin und hörte Musik aus einem kleinen Abspielgerät mit Kopfhörern, das mir mein Mitreisender geliehen hatte. Wenn uns morgen nichts einfiele, würden sie uns in der Anstalt Puerto 1 abgeben und von dort aus in die soeben eingeweihten Sondergefängnisse bringen, wo wir für unsere Forderungen und Aufstände erst richtig bezahlen sollten. Wir mussten von dort fliehen, aber wie? Ich überlegte hin und her, und der Schlaf überraschte mich dabei.

An diesem 25. August 1991 frühstückten wir und ließen alle möglichen Ideen, die wir hatten, Revue passieren. Die Gedanken kreisten die ganze Zeit darum, unsere Wächter hier zu Geiseln zu nehmen, oder die Schließer in Puerto 1, sobald wir dort ankamen, um neuen Forderungen Gehör zu verschaffen. Wir kamen aber zu keinem Ergebnis. Zur Essenszeit, neun Stunden vor Ankunft der J.J. Sister im Hafen von Cádiz, kam uns die erste gute Idee.

»José«, rief mich Juan durch das Loch in der Wand. »Ich werde das Plexiglas des Bullauges verbrennen und versuchen, die Essensklappe aufzumachen, mal sehen, ob wir das Vorhängeschloss aufbrechen können.«

»Und die Guardias?« fragte ich ihn.

»Ich glaube, die sind nicht da.«

Auf diese Idee hin kam mir auch eine. Darauf hatte ich gewartet.

»Hast du einen Notizblock mit Draht in der Zelle, Juan?«

»Ja.«

»Benutze den Draht dazu, in das Bullauge im Klo ein Loch zu schmelzen. Dann versuche, den langgezogenen Draht durchzustecken und damit den Riegel der Essensklappe aufzuschieben. Sonst füllt sich alles hier mit Rauch und wir hätten keine Zeit...«

»OK, los gehts.«

Wir machten uns an die Ausführung unseres neuen improvisierten Plans. Juan bereitete den Draht gut vor, und ich hämmerte mit aller Kraft gegen die Zellentür um sicherzugehen, dass unsere Wächter gerade nicht da waren. Niemand reagierte auf die Schläge. Sie waren bestimmt nach oben gegangen, um zu essen oder entspannt etwas zu trinken, so kurz vor der Ankunft in Cádiz. Was konnten ein paar Gefangene im Kerker schon ausrichten, wehrlos und unbewaffnet? Diese Fehleinschätzung war alles, was wir im Moment brauchten.

Wir verbesserten die ursprüngliche Idee mit dem Draht aus dem Notizblock. Mein Genosse stellte aus einer Bettfeder einen großen Haken her. Wie ich ihm vorgeschlagen hatte, brachte Juan das Ende der Bettfeder mithilfe eines Feuerzeugs zum Glühen und schmolz damit ein Loch in den dicken Kunststoff des Bullauges. Als wir soweit waren, bedeutete mir Juan mit einem Zeichen, an das Loch in der Wand zu treten, durch das wir kommunizierten.

»José«, sagte er, brich die Messer auseinander und steck sie in eins der Rohre der Leiter. Du wirst sie aufsägen müssen. So schaffst du eine starke Brechstange...«

»OK, mach ich gleich. Wirst du die Essensklappe aufmachen können?« fragte ich ihn.

»Ich glaube schon.«

»Viel Glück dabei!«

Ich folgte den Anweisungen meines Genossen und sägte eins der Aluminiumrohre der Treppe auf, die am Stockbett stand. Dann brach ich die Messer entzwei, steckte drei der vier Stücke in das Rohr und stellte so eine Brechstange her. Das vierte Stück, etwa zehn Zentimeter lang, würden wir als Messer gebrauchen. Ich sah noch einmal durch das Bullauge im Klo und zeigte Juan die Brechstange mit einem breiten Grinsen. Mein Teil war gemacht, jetzt war er dran. Er steckte den Draht durch das Loch im Kunststoff des Bullauges und führte es geschickt zum Riegel an der Essensklappe. Nach ein paar Versuchen schaffte er es, den Riegel einzuhaken, aber ohne Erfolg, der Draht rutschte wieder ab, als er an ihm zog. Er versuchte es noch einmal, und wieder rutschte er ab. Es war zum Verzweifeln. Schweißgebadet versuchte er es noch einmal mit Geduld. Er hakte sich an dem Riegel ein, zog an dem Draht, und dieses Mal bewegte er sich und gab die Klappe frei. Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, öffnete er sie, streckte seinen Arm hinaus und zog den Riegel an der Essensklappe meiner Zelle auf. Wir steckten die Brechstange durch den Bügel des Vorhängeschlosses an der Tür seiner Zelle. Er zog am einen Ende und ich am anderen, mit den Armen durch die Essensklappen. Wir brachen dieses beschissene Vorhängeschloss auf. Juan kam aus der Zelle und nahm das Messer, das ich ihm gab. Er lief zur Kabine der Guardias. Darin war niemand, also lief er wieder zurück zu mir, brach das Schloss auf und befreite mich. Wir hatten es geschafft!

Wir durchsuchten die Kabine der Guardias Civiles nach Waffen, es gab aber keine. Wir nahmen also an, dass die beiden ihre Pistolen bei sich trugen.

»Juan, die beiden sind bewaffnet. Wir müssen aufpassen.« warnte ich.

»Keine Sorge. Wir werden warten, bis sie herunterkommen und greifen sie uns dann. Du hau mit der Stange auf sie ein und pass auf, dass sie ihre Waffen nicht ziehen. Ich fessle sie.«

»Hör mal, wenn es irgendein Problem gibt, hau ohne Zögern drauf, ja? Die sind fähig uns umzubringen.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen.«

Wir warteten hinter der Kabinentür versteckt auf die Rückkehr der Guardias. Ich hatte Angst, das würde mir helfen. Die Angst ist ein sechster Sinn, und bringt man den etwas unter Kontrolle, entwickelt man den heftigsten Überlebensdrang und funktioniert an seinen Grenzen. Aus allen Drüsen strömen Epinephrin, Norepinephrin und die Endorphine, mit dem Effekt, der gemeinhin als Adrenalinschub bekannt ist. Er vervielfacht die übliche Reaktionsähigkeit und Kraft. Ich wusste, dass es uns eine Kugel und eine gescheiterte Flucht einbringen konnte, wenn wir nicht genau aufeinander abgestimmt und effektiv handelten. Ich vertraute voll darauf, dass wir es schafften. Wir setzten auf den Überraschungseffekt als unseren Vorteil, doch noch war nichts entschieden. Es vergingen nicht einmal fünf Minuten, als wir schon Schritte auf der Treppe hörten, die zu uns herunter führte.

»Das sind sie, José«, warnte mich Juan flüsternd.

Wir stellten uns mit Eisenstange und Messer nebeneinander hinter die Tür, bereit zum Losschlagen. Es beruhigte mich, dass Juan da war, ich fühlte grenzenloses Vertrauen. Ich hatte den besten Genossen zur Seite, den man sich in dieser Lage wünschen konnte. Er war genau der Richtige für so eine Aktion. Als sich die Tür öffnete, sprangen wir auf wie Raubtiere. Sofort war der Guardia Civil, der hereingekommen war, am Boden. Während Juan mit dem scharfen Messer auf seinen Hals drückte, hielt ich seine Hände fest und durchsuchte ihn nach seiner Waffe. Er war unbewaffnet.

»Dieser hat keine Knarre dabei.«

»Wo ist dein Kollege?« fragte ihn mein Genosse.

»Oben in der Kabine, die wir auf dem Oberdeck haben«, antwortete der junge Guardia Civil erschrocken.

»Und die Waffen?« fragten wir ihn.

»Auch oben in der Kabine, weggeschlossen. Der Kapitän erlaubt uns nicht, sie hier zu tragen.«

Wir fesselten ihn und richteten ihn auf. Er hatte sich in die Hosen gemacht, die waren jetzt also nass.

»Willst du die Hose wechseln?« bot ihm Juan an.

»Nein, ist egal.«

Ich setzte ihn auf einen Stuhl und band seine Füße an die Stuhlbeine. Dann nahmen wir das Geld aus seiner Brieftasche und gingen zu den anderen beiden Gefangenen, die mit uns zusammen gefahren waren.

»Wollt ihr mit uns abhauen?« luden wir sie ein.

»Nein, danke. Wir kommen bald raus...« antworteten uns beide.

Der Kolumbianer war blass vor Angst. Ich bot ihnen Zigaretten an, und nachdem wir ihnen Feuer gegeben hatten, schlossen wir sie in eine der Zellen und blockierten die Tür mit einem kaputten Vorhängeschloss. Dann gingen wir zurück, um auf den zweiten Guardia Civil zu warten, der seinem Kollegen zufolge noch etwas brauchen würde, um herunterzukommen. In der Zwischenzeit redeten wir mit ihm:

»In welcher Kabine seid ihr oben?«

»In der siebenundsiebzig.«

Ich nahm seine Brieftasche in Augenschein. Er hieß Manuel Jesús Plasencia und leistete gerade seinen Wehrdienst bei der Guardia Civil ab. Neben dem Ausweis steckte ein Foto von einem Mädchen.

»Ist das deine Freundin?«

»Ja«, antwortete er sichtlich unbequem berührt von meinem Eindringen in sein Privatleben.

»Alles klar, hier, nimm«, sagte ich und steckte ihm die Brieftasche in die Hemdtasche.

Ich wusste genau, was er in diesem Moment fühlte.

»Gut«, warnte ihn Juan, »jetzt werden wir uns deinen Kollegen greifen. Wenn du schreist oder versuchst, ihm Bescheid zu geben, bist du ein toter Mann, hast du das verstanden?«

»Ja.«

Wir suchten in der Kabine herum und fanden unsere Gefangenenakten. Wir lasen unterhaltsame Dummheiten, die Psychologen und andere Studierte der Menschheit über uns geschrieben hatten. So bekamen wir mit, dass Juan ein gefährlicher Paranoider war, und dass ich meine Zeit darauf verwendete, den Richtern Briefe zu schreiben und zu versuchen auszubrechen. Wir fanden auch ein paar Briefe, die man uns nicht ausgehändigt hatte. Als wir des Lachens müde wurden und nicht mehr weiterlasen, zerrissen wir alles und zerstörten in erster Linie alle Fotos, um keine Bilder von uns herumliegen zu lassen. Es beunruhigte uns, dass der Guardia so lange brauchte um wiederzukommen und befürchteten das Schlimmste. Ich steckte mir eine Zigarette nach der anderen an, während ganze Stunden langsam verstrichen und die Spannung immer weiter anstieg, und dazu noch die Aufregung darüber, was noch alles passieren würde.

»Sie haben sicher alles mitgekriegt, José, und sie warten oben schon auf uns.«

»Bleib ruhig, Juan, und beweg dich nicht von der Tür weg, er kann in jedem Augenblick auftauchen.«

Mehrere Stunden später kam er, gegen sechs. Er öffnete die Tür, und sofort warfen wir uns auf ihn, streckten ihn mit dem Messer am Hals zu Boden. Ich durchsuchte ihn schnell, doch er war wie sein Kollege unbewaffnet. Er hatte die Waffe in der oberen Kabine gelassen und die Schlüssel an der Rezeption abgegeben. Wir fesselten ihn und steckten ihn in die leere Zelle. Wir banden ihn dort am Bettgestell fest, nicht ohne ihm vorher 20.000 Peseten abzunehmen und zusammen mit den 10.000, die wir dem anderen abgenommen hatten, unter uns aufzuteilen. Dann banden wir den Kollegen an seine Seite und ließen die beiden in der Zelle zurück. Wir schlossen die Tür und hängten das Vorhängeschloss davor. Einen Moment lang sah ich mir den Gefreiten durch das Bullauge an. Er war jetzt ein gefallener Held und hatte sich unterworfen. Es war leicht für mich, ihm jetzt eins auszuwischen, da er so erschrocken und wehrlos war. Ich hatte mir versprochen, ihm eine Abreibung zu verpassen wegen seiner Angeberei, doch das hätte mich auf sein Niveau sinken lassen, und ihn zu töten brächte uns nur Probleme bei der Fahndung. Nach dieser Demütigung würde die Guardia Civil jeden Stein nach uns umdrehen. Und auch so würde Santiago Rivera Rodríguez sich von nun an vielleicht hüten, Menschen in Ketten zu provozieren oder zu Objekten seiner Mackerspiele zu machen.

In der Kabine, die die Guardias Civiles belegt hatten, die jetzt in einer unserer Zellen saßen, wechselten wir die Kleidung, um die Fahndung zu erschweren. Ich zog mir eine blaue Polyesterhose, die Schuhe einer der Guardias und ein schwarz-weißes Hemd an. Das alles gekrönt von einer blauen Marinemütze. Ich rasierte mich vor einem Spiegel und ließ diese Aura eines Seewolfs auf mich wirken: Ich fand mich unwiderstehlich. Juan hatte sich eine Jeans angezogen, Stoffschuhe, ein grünes Hemd und eine Schirmmütze, mit der er seine kahlrasierte Glatze verstecken konnte. Gegen acht Uhr abends verstummten die starken Motoren der J.J. Sister. Wir lagen im Hafen.

Ich lieh mir ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln von einem der Guardias und packte sie in eine Tasche, dazu eine Straßenkarte. Ich hängte mir die Tasche über die Schulter. Wir folgten einer Gruppe Passagiere in Richtung Ausgang und gingen eine Wendeltreppe hoch bis auf Deck 4. Wir dachten an die Möglichkeit, die Tür von Kabine 77 aufzubrechen und die Waffen an uns zu nehmen. Wegen des dichten Verkehrs von Passagieren ließen wir es aber sein. Unbewaffnet zu gehen würde den Sicherheitskräften eine gewisse Ruhe verleihen, denn es war nicht dasselbe nach zwei Flüchtigen zu fahnden wie nach zwei Bewaffneten. Auf Deck 4 dieses enormen Fährschiffs trennten wir beide uns und trafen uns im Warteraum unter die Passagiere gemischt wieder. Wir warteten ungeduldig darauf, dass sie den Laufsteg bis an die Luke heranführten, damit wir über die Brücke zum Zoll gehen konnten.

Es waren fast zwanzig Minuten vergangen, als der Steg mit der Brücke verbunden und der Weg zum Zoll frei war. Die Tore des Warteraums öffneten sich, und vor uns lag die Freiheit. Der Eindruck war überwältigend. Ich blieb wie versteinert, als eine Gruppe Guardias Civiles auf der Brücke auftauchte und in eiligen Schritten an Bord kam. Ich sah unvermittelt Juan an, der ein paar Meter entfernt stand. Wir hatten keine Zeit zu reden, aber wir wussten beide, dass wenn sie unseretwegen gekommen waren, wir die Passagiere als Geiseln nehmen und einen Ausweg verhandeln mussten. Wir konnten jetzt nicht aufgeben und uns ausliefern. Als sie den Steg hinaufgekommen waren, traten sie in den Warteraum und gingen zur Rezeption. Es waren sechs und sie sprachen freundlich mit der Rezeptionistin, was uns beruhigte. Wenn die wüssten! Der Lautsprecher im Saal richtete sich an uns, erst beglückwünschte man uns zur Auswahl dieser Fährlinie und gab dann das Signal zum Verlassen des Schiffes. Unter den Ersten kamen wir nach draußen. Während wir die Brücke überquerten, konnten wir eine große Gruppe Guardias Civiles an der Garageneinfahrt darauf warten sehen, dass die Hängebrücke geöffnet wurde. Am anderen Ende der Brücke, die wir von der Meeresbrise gestreichelt hinabliefen, kontrollierten zwei Guardias die Passagiere und baten um die Ausweise.

»José, wenn sie uns anhalten: Ich halte einen fest und du nimmst ihm die Waffe weg.«

»Nimm den rechten...« sagte ich ihm.

Wir kamen auf die Höhe der Zollkontrolle und waren bereit loszuschlagen, doch man hielt uns nicht an. Wir gingen also weiter eine Treppe hinunter bis in eine große Halle. An einem langen Tresen durchsuchten drei Guardias Civiles alle Taschen und Koffer der Passagiere. Einer von ihnen rief mich: »Hören Sie mein Herr, lassen Sie mich bitte Ihre Tasche sehen?« forderte er mich höflich auf.

»Selbstverständlich«, antwortete ich höflich, öffnete die Tasche und zeigte ihm den Inhalt, den er oberflächlich kontrollierte.

»Vielen Dank und gute Reise«, fügte er hinzu und machte auf die Tasche ein weißes Kreidezeichen.

»Danke.«

Ich ging schnell aus dem Gebäude und suchte meinen Freund Juan. Er stand am äußeren Ende des Tresens. Er war nicht gegangen, was wohl jeder andere getan hätte, sondern er hatte auf mich gewartet, um mir helfen zu können falls ich Probleme bekam, auch wenn er so die Freiheit aufs Spiel setzte, die zu erreichen ihn elf Jahre gekostet hatte. Diese Geste zeigte seine wichtigsten Charakterzüge: Sicherheit, Ernsthaftigkeit und Freundschaft. Als ich bei ihm angekommen war, gingen wir zusammen aus dem Gebäude und nahmen gleich in der Nähe ein Taxi, das wir in den Ort Puerto de Santa María fahren ließen. Wir kamen dort an und bezahlten den Fahrer. Eigentlich hatten wir den Taxifahrer nach halber Strecke entführen und ihn in den Kofferraum sperren wollen, damit ich selbst das Steuer übernehmen konnte, direkt über die Autobahn nach Sevilla, ohne weitere Zeit zu verlieren. Wir verloren uns im Ort und gingen in eine Cafeteria, um etwas zu uns zu nehmen. Wir kauften mehrere belegte Brote, ein paar Flaschen Wasser, Orangen und Zigaretten für mich. Ich musste überrascht lachen, als der Zigarettenautomat zu mir zu sprechen anfing, um mir das Wechselgeld zu geben und sich zu bedanken. Mit diesem Einkauf in der Tüte gingen wir aus dem Ort und durchquerten die Felder. Als es Nacht wurde, gingen wir in ein großes Waldstück und bauten als Versteck im Unterholz einen kleinen Unterstand aus Zweigen und Blättern. Dort würde uns niemand suchen. Jetzt waren wir endlich frei. Ich klopfte meinem Kameraden auf die Schulter und war wirklich froh.

»Wir haben sie ganz schön verarscht, was?« Ich musste lachen.

»Ja, aber wir müssen hier auch wieder herauskommen.«

»Wir kommen noch weit, du wirst sehen...«

Wir holten die Karte und etwas zu Essen heraus. Während wir aßen, gingen wir die Möglichkeiten durch, die uns die Landstraßen eröffneten. Wir wollten ein Auto stehlen und zusammen bis nach Sevilla fahren. Wir würden nachts fahren, gegen fünf Uhr morgens, wenn die Polizeikontrollen wegen der Müdigkeit am laschesten waren.

»Was hast du vor, Juan?« fragte ich meinen Genossen. Ich lag auf dem Rücken und ruhte aus.

»Ich glaube, wir könnten in Sevilla eine Bank ausrauben, um Geld zu beschaffen und damit eine Weile untertauchen... und du?«

»Ich habe die ein oder andere Verpflichtung mit guten Freunden, die im Gefängnis sitzen. Ich will ihnen helfen abzuhauen und dann in ein lateinamerikanisches Land gehen, wo sie mich vergessen. Ich würde die Zeit, die mir bleibt, in Frieden leben, mit dem Geld aus irgendeiner Bank... Auf jeden Fall helf ich dir, die Bank in Sevilla auszurauben, ich brauche auch Geld.«

»Wir müssen unbedingt in Kontakt bleiben, ich habe nämlich auch gute Freunde im Gefängnis, und zusammen haben wir mehr Chancen ihnen zu helfen. Nebenbei rächen wir uns für alle Gemeinheiten, die sie uns im Knast angetan haben...

Ich war frei. Nach vier Jahren ununterbrochener Isolation, eingesperrt in kleine Räume aus Beton, füllten sich meine Lungen jubelnd mit frischer Luft. Meine Augen, gestraft vom Kalkweiß der Wände und dem tristen Grau der Mauern, genossen wieder Bäume und Vögel, die umherflogen und ihr Nest suchten, um sich zur Nachtruhe zu begeben. Die Nacht erlöste uns, süßer als ich je geträumt hatte, von der Hitze des Tages. Dieses Wiedersehen mit der Natur war wie die Schönheit einer Blume auf sich wirken zu lassen, vor ihr stehenzubleiben um zu betrachten, wie sie delikat Farbe und Parfüm versprühte. Wie konnte man eine Person in eine kalte drei Quadratmeter große Zelle sperren und ihr jahrelang das alles vorenthalten? Was war unter dem Strich das schlimmere Verbrechen, einen Menschen mit solcher Grausamkeit zu bestrafen oder ein einfacher Raub eines Gutes, einer Sache, deren Tageswert am Markt ermittelt wird? Erst in diesem Moment verstand ich den Schmerz wirklich, den sie mir zugefügt hatten, nicht nur wegen meiner Gefangenschaft, sondern weil diese Gefühle in mir abgestorben gewesen waren. Das Gefängnis war so bösartig und widerwärtig wie das schlimmste Verbrechen, das man verüben konnte. Es wurde allerdings im Namen von Justiz und Gesellschaft verübt.

Zwei Tage lang blieben wir dort versteckt. Die Hitze war unerträglich und hunderte Mücken stachen uns unaufhörlich. Unsere Körper waren voll von ihren Stichen. Die zweite Nacht überredete ich Juan dazu, diesen Ort zu verlassen und ins Dorf zu gehen, um ein Auto zu stehlen. Wir gingen aus dem Waldstück und überquerten mehrere Felder bis wir zur Bahnlinie kamen. Wir gingen an der Bahnlinie entlang weiter und kamen an ein Industriegebiet.

»Wir können nicht weitergehen, José, sie könnten uns sehen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Lass uns bei diesen Häusern nachsehen, ob wir ein Auto finden, das wir klauen können«, schlug er vor und zeigte die Straße hinunter.

»OK, alles klar«, stimmte ich zu.

Wir gingen durch ein Wassermelonenfeld und umrundeten ein zweistöckiges Haus, das an der Straße lag. Juan brach eins der Fenster auf und stieg ein. Ich wartete draußen.

Nach einer Weile kam er wieder: »Steht leer, komm rein, es gibt etwas zu essen.«

Ich stieg auch hinein. Das hier war eine Bar und ich glaubte nicht, dass sie leerstand, denn es gab alle möglichen Getränke, Automaten und Essen. Ich fühlte mich unsicher in diesem Lokal. Es gefiel mir nicht. Juan sprang über die Theke und ich wollte in der Küche ein Messer suchen, als die Lichter im Lokal angingen und wir Geräusche im oberen Stockwerk hörten. Ich hatte Angst.

»Juan, lass uns gehen, das hier gefällt mir nicht...«

»Gehen wir hoch und sehen nach, wer da ist?« schlug er vor.

»Quatsch, lass uns gehen!« rief ich und ging nach draußen.

Ich hielt das Fenster offen und half meinem Genossen herauszukommen. Wenn sie die Polizei gerufen hatten, bekämen wir Probleme. Wir konnten nicht in der Bar bleiben. Wir konnten nicht sicher sein, dass sie uns nicht hereinkommen gehört und die Polizei verständigt hatten. Wir versteckten uns im Garten eines Einfamilienhauses und hofften, dass sie uns dort nicht suchen würden. Wir wollten das Auto stehlen, das dort geparkt stand. Wir sahen nach, wie wir am besten in das Haus hineinkamen, die dort Wohnenden gefangen nahmen und die Autoschlüssel fanden. Wir würden uns umziehen, duschen und etwas essen. Aber alle Fenster waren vergittert. Wir öffneten das Auto mithilfe einer Säge und schlossen es von drinnen kurz. Wir schafften aber nicht, es zu starten und die Lenkradsperre auszurasten. Wir mussten es lassen. Als letzten Ausweg beschlossen wir schließlich, auf den Tagesanbruch zu warten, bis sie die Haustür öffneten, um so eindringen zu können. Es wurde Tag, und es verstrichen mehrere Stunden, ohne dass die Tür sich geöffnet hätte. Dort zu bleiben war gefährlich, also gingen wir wieder in die Felder. Wir hatten ganz offensichtlich kein Glück, das war ein schlechtes Omen. Ich hatte eine schlimme Vorahnung, weshalb ich mich entschloss, mich von Juan zu trennen, gleich hier.

»Juan, ich gehe auf eigene Faust weiter«, erklärte ich ihm. »Zu zweit ist es risikoreicher, und allein haben wir größere Chancen es zu schaffen und den anderen zu helfen.«

»Einverstanden. Wo sehen wir uns wieder?«

»In La Coruña. Kennst du den Park Los Cantones?«

»Ja...«

»Dort also, vor der Statue von Rosalía de Castro mit einem Adler und einer Schlange.«

»Am 1. Dezember sehen wir uns also dort, OK?«

»Bis dann, Juan, und pass gut auf dich auf.«

»Viel Glück!«

Wir verabschiedeten uns mit einem festen Händedruck. Ich folgte der Bahn in Richtung Rota und durchquerte das Industriegebiet in die Büsche geduckt auf der anderen Seite der Schienen. Es war heiß, sehr heiß, und ich fühlte mich erstickt und erschöpft. Ich war schon seit Stunden den vierzig Grad der Sonne von Cádiz ausgesetzt und fast dreißig Kilometer gelaufen. Jetzt fehlten nur noch weitere zwölf bis Rota. Ich setzte mich um Luft zu holen in den Schatten eines alleinstehenden Baums, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Es gab in der Nähe einen Brunnen mit schmutzigem Wasser, in dem mehrere Tierchen und ein paar Kaulquappen schwammen. Ich ging hin und benutzte mein Hemd als Filter, trank ein wenig von diesem Wasser, das mir bekam, obwohl es fürchterlich schmeckte. Dann ging ich zurück in den Schatten des Baumes und streckte mich erschöpft aus. Die Geschichte ging wieder von vorne los. Auf der Flucht zu sein war wieder die einzig denkbare Freiheit für mich. Doch wohin fliehen? Wo blieb freies Land, wo die Gerechtigkeit uns alle zu Gleichen machte und niemand andere verfolgte und einsperrte?

Ich sah auf die weiten Felder hinaus. Ich war nicht frei, ich war nur ein flüchtiger Libertärer, auf der Flucht vor dem Joch der Überwachung durch System und Gesetz. Ich sollte nicht frei sein, solange auf dem Antlitz der Erde andere Menschen existierten, die bereit dazu waren, mich abzuschießen oder einzusperren und in Ketten zu legen. Ich sollte nicht frei sein, solange eine kalte Gefängniszelle auf mich wartete.

Vierter Teil: Auf dem Weg in die Repression

Oft habe ich euch von einem, der ein Unrecht begeht,

reden hören, als sei er nicht einer von euch,

sondern ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.

Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und Rechtschaffene nicht

über das Höchste hinaussteigen kann, das in jedem von euch ist,

so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen

als das Niedrigste, das auch in euch ist.


KHALIL GIBRAN, Von Schuld und Sühne

San José de Calasanz, La Coruña, November 1979

Das Taxi hielt vor der riesigen Schule. Das altertümliche Internatsgebäude von San José de Calasanz schien mir regelrecht die Hölle zu sein. Die graue Kälte dieses staatlichen Internats erschreckte mich. Hier also würde man von jetzt an meine Vormundschaft und Erziehung übernehmen. Meine Eltern zu Hause versuchten derweil, die Finanzen und ihr Zusammenleben in Ordnung zu bringen. Ich stieg aus dem Taxi, und meine Mutter nahm mich an die Hand. Ihr Gesicht drückte gewaltigen Schmerz aus. Der Hungerlohn, den sie für das Putzen fremder Wohnungen verdiente, reichte nicht aus, um die Mägen von vier Kindern zu füllen, geschweige denn ihre Schulbildung zu bezahlen. Sie hatte keine andere Wahl und litt darunter. Mit hastigen Schritten gingen wir die Treppen hinauf bis zum Eingang. Meine Mutter drückte die Klingel an der schweren Holztür, und nach einer Weile öffnete uns eine in die Jahre gekommene Aufseherin.

»Hallo, guten Tag«, grüßte sie uns.

»Guten Tag«, antwortete meine Mutter höflich. »Ich bringe meinen Sohn. Ich würde gerne erst einmal mit der Direktorin sprechen...«

»Wir haben Sie erwartet. Das Jugendamt hat uns avisiert, dass Sie heute kommen.« Sie lud uns zum Eintreten ein.

Die Aufseherin führte uns durch einen Speisesaal und über mehrere Flure, die stark nach Putzmittel rochen, bis ins Büro der Direktorin, die sie uns als Doña Petra vorstellte.

»Hallo«, begrüßte sie meine Mutter. »Ist das Ihr Sohn José?« fragte sie und strich mir über das Gesicht.

Ich wich ihrer Hand aus.

»Er ist ein bisschen schüchtern«, entschuldigte sich meine Mutter und streichelte mich an den Haaren.

»Das wird sich legen. Es gibt hier viele Kinder und er wird schnell Freunde finden.«

Sie erledigten den bürokratischen Vorgang für meine Übergabe in die Obhut des Internats. Nach ein paar Unterschriften kam der gefürchtetste Moment. Wir würden uns trennen müssen, bis meine Mutter sich um mich kümmern und definitiv wieder mit nach Hause nehmen konnte. Ich wusste, dass die Verantwortung für diese Entwicklung in dem Benehmen meines Vaters zu suchen war, eines alkoholkranken Mannes, dessen einzige Sorge im Leben war, sich zu betrinken und in den Puff zu gehen, um anschließend betrunken nach Hause zu kommen und meine Mutter zu schlagen.

»Ich muss gehen, mein Sohn. Versprich mir, dass du dich gut benehmen wirst«, bat sie mich und versuchte die Tränen zurückzu-halten, die rebellisch darum rangen, aus ihren braunen Augen zu laufen.

Ihre kühlen Hände, gestraft von den Putzmitteln und der Arbeit, strichen mir über den Hals, als ich meine Mutter umarmte. Es war der Versuch, das bereits Unausweichliche hinauszuschieben.

»Sorgen Sie gut für ihn, bitte«, bat sie die Direktorin.

»Das werden wir, gnädige Frau, doch jetzt müssen Sie gehen, sonst wird es für ihn nur schlimmer.«

»Auf Wiedersehen, mein Sohn«, verabschiedete sie sich und küsste mich. »Ich werde bald kommen und dich besuchen.«

»Auf Wiedersehen, Mama.« Ich sagte ihr lebewohl.

Als meine Mutter in der Tür verschwunden war, fühlte ich eine große Leere um mich herum: die brutale Unermesslichkeit einer neu zu entdeckenden Welt. Eine Nonne nahm sich meiner an und brachte mich in den dritten Stock, wo die Schlafräume lagen. Dort wies sie mir einen kleinen Spind mit einer Nummer zu, der dreiundzwanzig. Diese Nummer würde von jetzt an auf allen meinen Sachen und Kleidungsstücken zu finden sein. Sie wies mir auch eins der vierzig Betten zu, die es in dem Schlafraum gab, und die in vier Reihen à zehn standen und den Spinden entsprechend nummeriert waren. Am Ende des Schlafsaals ging es in die Dusch- und Waschräume. Der Schlafsaal war kalt und hatte keine Heizung. Er wurde von einer Reihe Leuchtstoffröhren an der Decke erhellt. Ich fühlte mich allein und brach in bittere Tränen aus, die Nonne versuchte vergeblich, mich zu trösten.

Sie brachten mich zum Mittagessen in den Speisesaal im Erdgeschoss hinunter. Es gab dort zwanzig Tische, von denen einige nicht besetzt waren. An den Tischen saßen Kinder in Gruppen. Sie ließen für einen Moment das Essen sein, um mich neugierig zu beäugen. Man hieß mich an einen Tisch mit drei gleichaltrigen Kindern setzen, die von nun an meine Tischgefährten sein sollten. Ich fühlte mich unwohl und fehl am Platz und konnte kaum etwas essen. Weil das am ersten Tag normal war, ließen sie es zu.

Als wir mit dem Essen fertig waren, brachten sie uns in Gruppen in den Schlafsaal zur Siesta. Wir mussten uns die Zähne putzen und die Hände waschen, bevor wir uns in die Betten legten. Als wir lagen, gingen sie, schlossen die Tür und überließen uns der Obhut der Ältesten. Mein Nachbar, der auch am Tisch neben mir gesessen hatte, sprach mich an.

»Wie heißt du?« fragte er mich leise.

»José«, antwortete ich ihm von meinem Bett aus.

»Ich heiße Ángel. Bist du Waise?«

»Nein. Sie haben mich hergebracht, weil wir zu Hause Probleme haben...«

»Ich habe keine Eltern und bin schon viele Jahre hier. Willst du mein Freund sein?« bot er mir an.

»Gern!« Ich nahm an.

Am Nachmittag, zwei Stunden später, öffneten sie die Tür und brachten uns in die Klassenzimmer, die im zweiten Stock lagen, neben der Kapelle. Ich kam in die fünfte Klasse, zusammen mit meinem neuen Freund, was mich etwas tröstete. Den Unterricht erteilte ein Lehrer, den alle Don Jorge nannten. Wie Ángel mir schon vor dem Eintreten in den Klassenraum erzählt hatte, hatte dieser Lehrer die hässliche Angewohnheit, die Kinder mit einem Gasflaschenschlauch zu schlagen – den hatte er immer dabei. An diesem ersten Schultag saß ich nur in meiner Bank und beobachtete den Fortgang des Unterrichts. Als die Stunde zu Ende war, gingen wir auf den Hof in die Pause. Der große steinerne Hof lag vor dem Speisesaal, neben der Küche und den Gärten, durch die hindurch man zu einem Basketballplatz kam, den allerdings niemand benutzte. Wir spielten mit Murmeln oder andere Gruppenspiele, wie das beliebte Stein, Schere, Papier. Ich fühlte mich gehemmt, setzte mich auf die Treppen zum Fußballplatz und sah den anderen Kindern beim Spielen zu. Ángel und zwei Freunde von ihm kamen dazu, um mir Gesellschaft zu leisten.

»Hallo José«, begrüßte er mich, setzte sich an meine Seite, und seine Freunde setzten sich dazu.

Ángel war zwölf, dreizehn Jahre alt und sah dünn und kränklich aus. Dieser Junge mit den dunklen Augen und dem breiten Grinsen sollte mein Komplize werden, ein Bruder für mich während meines Aufenthalts hier.

»Das sind Juan und Miguel«, stellte er mir die Zwillinge vor. Wir begrüßten uns mit Handschlag.

»Wirst du lange hier bleiben?« fragte mich Miguel.

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich. »Zu Hause gibt es Probleme zwischen meinen Eltern, und bis sie sich nicht vertragen, glaube ich nicht, dass sie kommen um mich abzuholen, es sei denn für ein Wochenende.«

»Genau wie wir«, sagte Juan.

»Komm, wir spielen Murmeln«, schlug Ángel vor und bot mir welche von seinen an.

»Nein, keine Lust...«

»Komm!« Er nahm mich am Arm und brachte mich bis zu einem kleinen Rechteck aus Beton, wo ein paar Kinder spielten.

Ich nahm die Murmeln, die er mir angeboten hatte, und wir spielten bis zum Abendessen. Die Nonnen hatten dabeigesessen und auf uns aufgepasst. Nun riefen sie uns zum Essen.

Sofort nach dem Abendbrot wurden wir wieder in den Schlafsaal gebracht. Wir putzten uns die Zähne und legten uns in die Betten, unter der Aufsicht von drei Nonnen, Doña Pepita, Señorita Nieves und Doña Conchita. Letztere war die Schlimmste von allen, wie ich mit der Zeit noch feststellen sollte. Als wir alle im Bett lagen, gingen die Lichter aus, und sie schlossen die Tür ab. Obwohl es verboten war zu sprechen, wünschte Ángel mir eine gute Nacht.

»Gute Nacht«, antwortete ich ihm leise.

Ich versuchte einzuschlafen, schaffte es aber nicht. Ich hatte einen Kloß im Hals und brach wieder in Tränen aus, diesmal stumm, damit mich die anderen Kinder nicht hörten. Diese Dunkelheit machte mir Angst, zusammen mit der fast tragischen Stille, die den Schlafsaal umfing und ihn traurig machte, als ob die Nacht die Geschichte von allen und jedem von uns kennte. Ich fühlte mich allein und verloren, genau wie die anderen Kinder dort. Ich konnte mich nur nicht daran gewöhnen. Ich dachte an meine Mutter, bis ich schließlich einschlief, es war schon fast Morgen.

San José de Calasanz war riesig. Neben dem Hauptgebäude gab es Gärten, in denen Obstbäume wuchsen und ein Gärtner einen Gemüseanbau pflegte. Er kümmerte sich auch um die Schweine und Kaninchen des Internats. Das ganze Gelände aus Beton und Erde war von einer Mauer umgeben, die uns mit unserer damaligen Körpergröße hoch vorkam. Zu dem eindeutigen Zweck, ihr Erklettern zu verhindern, steckten oben auf der Mauer Glasscherben. Es war das erste Mal, dass ich das unerträgliche Gefühl der Ohnmacht jemandes spürte, der gegen seinen Willen festgehalten wird.

An den Vormittagen, nach dem Aufstehen, mussten wir an unsere jeweiligen Spinde treten und abwarten, bis Doña Conchita sie aufsperrte, um Handtuch und Seife hervorzuholen und ins Bad zu gehen. Dann mussten wir die Betten machen. Sie verlangten, keine Falte zu sehen, und falls doch, mussten wir das Bett noch einmal machen, und so weiter, bis sie zufrieden waren. Den am wenigsten Disziplinierten oder den beim Bettenmachen Ungeschicktesten setzte es dabei verschiedentlich Ohrfeigen, genauso wie den Kleinsten, die immer noch manchmal ins Bett machten.

Das alles gefiel mir ziemlich wenig, und bald begann ich zornig auf die Nonnen zu werden. »Diese Säue«, pflegte Ángel zu sagen wenn wir über sie sprachen.

Nachdem wir uns gewaschen und die Betten faltenlos gemacht hinterlassen hatten, gingen wir in den Speisesaal hinunter. Alles, was sie einem vorsetzten, musste gegessen werden, sonst ließen sie einen dort am Tisch sitzen, bis alles aufgegessen war. An den meisten Tagen konnte man ein Kind am Tisch sitzen und vor einer Tasse Kakao oder einem Teller Suppe weinen sehen. In den Klassenzimmern, in denen wir uns vormittags vier und nachmittags zwei Stunden aufhielten, standen die Dinge in puncto Disziplin nicht anders. Wenn jemand nicht aufpasste oder etwas machte, das ihm als Respektlosigkeit gegenüber dem Lehrer ausgelegt wurde, trug er leicht ein paar Schlauchhiebe davon, oder blieb sogar nach ein paar Ohrfeigen die ganze Woche über zur Strafe im Büro der Direktorin auf Knien und mit ausgestreckten Armen sitzen, ohne Hofpause. Die Waisen erhielten die härtesten Strafen, denn da sie keine Familie hatten, brauchte sich die Direktion vor niemandem zu rechtfertigen, wenn sie zu weit gegangen war, was insgesamt zu oft vorkam. Mit denen, die wie ich Familie hatten, ließen sie bei der Bestrafung größere Vorsicht walten. Ich hasste diesen Ort.

Das ein oder andere Wochenende verbrachte ich zu Hause bei meiner Familie. Meine Schwester Emily kam aus ihrer Nonnenschule, die in der Nähe von San José de Calasanz lag, und holte mich ab. Sie war dort genau wie ich im Internat. Manchmal kam meine Mutter um uns abzuholen. Bei Gelegenheit war ich auch wegen einer Flegelei bestraft worden, die als grob eingeschätzt wurde, durfte nicht nach Hause und musste über das Wochenende im Internat bleiben. Einmal bat ich meine Mutter zu erlauben, dass Ángel mit zu uns nach Hause kam. Sie besprach das mit der Direktorin und diese stimmte zu. Wir zogen uns also um, verließen diesen verhassten Ort und gingen zusammen mit meiner Mutter nach Hause.

Als wir dort ankamen, stellte ich meinen Freund Ángel meinen Freunden aus dem Viertel vor. Wir spielten den ganzen Nachmittag bis wir müde wurden und gingen dann zusammen zu einer alten Hütte aus Brettern und Karton, in der wir die kleinen Katzen versteckt hielten, die unsere Bande gerade erst erobert hatte. Dort steckten wir uns Zigaretten an, nahmen kurze Züge und reichten sie herum. Wir feierten, wieder zusammen zu sein. Wir tauschten in einem schon üblichen Spiel einige Küsse mit Mädchen. Ángel hatte mächtig viel Spaß und wurde von Anfang an von allen gut aufgenommen, besonders von einem der Mädchen, Sonia, der er offensichtlich gefiel. Wir machten Späße darüber, ließen sie beide rot werden und forderten sie auf, einander zu küssen. Als es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns bis zum nächsten Tag und gingen zurück nach Hause. Schon vor unserer Haustür forderte ich meinen Freund zu einem Wettrennen über die Treppen auf, das ich verlor. Wir kamen erschöpft an der Wohnungstür an, wo uns meine Mutter lächelnd in Empfang nahm.

»Los, los, waschen und zum Abendbrot«, ordnete sie an. »Wo habt ihr denn gesteckt?« fragte sie laut und besah sich unseren unordentlichen Zustand. Wir grinsten nur und waren so befreundet wie nie.

In dieser Nacht lagen wir im Zimmer auf den Betten und redeten bis spät über die Mädchen und über uns. Ich schlug ihm vor, ihn zu adoptieren, sobald wir uns bei meiner Mutter einrichten onnten, ohne meinen Vater, denn die Scheidung war schon im Gang.

»Stell dir vor wir werden Brüder!« sagte ich voller Freude.

»Das wäre toll...«

Der Sonntag wurde genau wie der Sonnabend. Küsse, Streicheleinheiten und ein paar Zigaretten im Schutz der Holzbretter jener alten Hütte. Wir konnten uns kaum daran erinnern, dass hiermit Schluss sein würde und wir ins Internat zurückkehren mussten. Mit dem wenigen Taschengeld unserer Eltern gingen wir an diesem Nachmittag alle zusammen ins Kino und sahen Die glorreichen Sieben. Der Film beeindruckte Ángel und mich tief. Als wir aus dem Kino kamen, trugen wir beide etwas von Chris, dem Helden, in uns. An unserer Haustür verabschiedete sich Ángel von Sonia mit einem Kuss, und wir gingen mit großem Appetit die Treppen hinauf. An diesem Abend gingen wir auf Bitten meiner Mutter gleich nach dem Essen ins Bett, wir mussten ja am nächsten Morgen früh aufstehen und an den Ort zurückkehren, den wir am meisten hassten. Wir redeten kaum und wurden vom Blinklicht des Herkulesturms, der sich durch das Fenster abzeichnete und die Wand in Abständen erleuchtete, bald in den Schlaf gewiegt. Am nächsten Morgen standen wir äußerst widerwillig auf und kehrten per Autobus nach San José de Calasanz zurück. Im Hof trafen wir auf Juan und Miguel, die auch gerade gekommen waren, und erzählten ihnen von unseren Abenteuern. Für Ángel waren diese zwei Tage außergewöhnlich gewesen. Man musste ihm nur zuhören, um das zu merken – diese zwei Tage waren seine einzigen freien Momente gewesen. Seit es ihn gab, war er in staatliche Schulen eingeschlossen gewesen. Wir mussten lachen, als ich erzählte, dass er sich verliebt hatte. Wir vier waren eine unzertrennliche Gruppe und den Lehrern bald als die »Totenkopfbande« bekannt.

An diesem Abend war Duschen an der Reihe. Wir kamen ja schon geduscht von zu Hause und versuchten mit dieser Ausrede von einer neuerlichen Dusche befreit zu werden. Doña Conchita allerdings ordnete an, dass wir duschten. Wir nahmen also die Handtücher und die Wäsche zum Wechseln aus den Spinden, gingen zähneknirschend in die Waschräume und warteten, bis wir dran waren. Das Wasser war kalt, doch wir hatten keine andere Chance als uns unter den kalten Strahl zu stellen. Mir stockte der Atem. Ich benetzte mir nur den Kopf und tat fertig geduscht. Als ich herauskam, bemerkte Doña Conchita den Schwindel.

»Du gehst wieder rein und duschst noch einmal«, befahl sie mir.

»Du bist bestraft wegen Lügens und gehst jetzt augenblicklich duschen.«

»Das Wasser ist so kalt«, protestierte ich.

Sie gab mir eine Ohrfeige, nahm mir das Handtuch von der Hüfte, schob mich in die Dusche und ließ die Tür offen. Unter das Wasser mischten sich Tränen des Zorns und verschwanden leise im Abfluss. Ich wollte aus der Dusche heraus, das kalte Wasser ließ meinen Atem stocken, doch ich wurde wieder hineingeschubst. Ich stand unter der Dusche und sah Doña Conchita mich durch ihre dicken Brillengläser beobachten. Ich fühlte Scham, ich war nackt und schutzlos ihrer Willkür ausgeliefert. Ich hasste sie aus ganzer Seele.

So ein Verhalten war bei Doña Conchita normal. Ihr gefiel es, uns so zu behandeln, besonders die Kleinsten und die Waisen, die sie häufig höchstpersönlich abtrocknete, auch wenn sie schon alt genug waren, um sich selber abzutrocknen. Man erzählte es im Internat herum, die am längsten da waren, erzählten es: Es gefiel ihr, die Jungen anzufassen und sie nackt in der Dusche zu sehen, was mir realistisch vorkam, nachdem ich ihren dreckigen Blick auf meiner Nacktheit gespürt hatte. Man sagte sogar, dass sie manchmal nachts kam, um eins ihrer Lieblingswaisenkinder zuzudecken und fasste ihm dann an Penis und Hoden. Von allen Nonnen hassten wir Doña Conchita und Doña Petra am meisten, neben den Schleimern.

Ich ging sonnabends zum Musikunterricht und lernte Gitarre, Laute und Bandurria spielen. Der Lehrer war eigentlich gar nicht so schlecht, doch ich hatte die Instrumente, den Unterricht und den Lehrer bald satt. Wir gingen auch häufig auf den Fußballplatz und spielten, während eine der Nonnen, Señorita Nieves, uns freundlicherweise als Schiedsrichterin diente und so gut sie konnte von einem Ende des Platzes zum anderen lief. Manchmal entkamen wir der Aufsicht der Nonnen und sahen den Schweinen im Stall beim Fressen und Keilen zu. Sie bissen sich gegenseitig und machten sich dabei häufig die Schnauzen und Ohren blutig. Aber normalerweise machten wir immer dasselbe: Murmeln spielen, Doña Conchitas Unterhosen angucken, wenn sie sich auf einen Stuhl im Hof setzte und einschlief, oder Stein, Schere, Papier. Wir hatten keine Alternative.

An einem dieser Nachmittage, ich spielte gerade eine Partie Murmeln mit einem Waisen, hatten wir Streit. Der andere hatte gerade die meisten Murmeln an mich verloren. Aus größerer Entfernung hatte ich gut geschossen, und darin war er eigentlich einer der Besten überhaupt. Er wurde zornig, weil meine Kugel die seine aus dem Kreis geschossen hatte, den wir auf den Boden gemalt hatten und der die Grenzen unseres Spielfelds markierte. Ich hatte die Partie gewonnen und auch die Murmel, mit der er gespielt hatte, seine Lieblingsmurmel. Er behauptete, sie sei im Spielfeld geblieben, obwohl die dabeistehenden Kinder mir Recht gaben.

»Na los, gib die Murmel her«, sagte ich und richtete mich auf.

»Sie ist dringeblieben, auf der Linie.«

»Sie ist rausgeflogen, alle haben es gesehen, nicht wahr?« fragte ich.

»Das stimmt, sie ist nach draußen gerollt«, antworteten einige.

»Ist sie nicht.« Er bestand darauf.

Dann verwickelten wir uns in einen Zank und fügten uns mehrere Schläge zu, bevor die Nonnen erschienen, um uns zu trennen. Sie bestraften uns beide mit Pausenverbot für eine Woche. Während der Pausen mussten wir auf Knien sitzen und die Arme ausgestreckt halten. Wir mussten im Büro der Direktorin an der Wand das Bild Jesu Christi am Kreuz imitieren.


Weihnachten kam. Meine Mutter holte mich für eine ganze Woche zu sich nach Hause. Diesmal erlaubten sie nicht, dass Ángel mit uns mitkam. Darüber war ich sehr verärgert, denn ich hatte fest damit gerechnet, dass wir diese Woche zusammen zu Hause verbringen würden.

Wir verabschiedeten uns mit ziemlich traurigen Gesichtern. Zu Hause sprach ich meine Mutter auf die Möglichkeit an, Ángel dort mit uns zusammen leben zu lassen, wenn erst einmal die Bedingungen geschaffen waren und sie sich von meinem Vater trennte:

»Mama, warum holen wir nicht Ángel zu uns nach Hause, wenn ich aus dem Internat komme?«

»Das können wir nicht, mein Sohn«, antwortete sie. »Ich verdiene nicht einmal genug, um euch alle zu Hause zu haben, geschweige denn noch einen mehr. Tut mir Leid für ihn. Wenn sie noch einmal erlauben, dass er übers Wochenende kommt, nehmen wir ihn mit, aber er kann nicht bleiben.«

Das war eine schwere Enttäuschung für mich. Was würde mit meinem Freund geschehen? In dieser Nacht, zwischen einladenden sauberen Laken im Bett in meinem Zimmer, erinnerte ich mich an die dunkle Kälte des Schlafsaals im Internat und stellte mir meinen Freund vor, wie er zusammengerollt im Bett lag, mit meinem Bett gegenüber, das ich leer hinterlassen hatte. Das war ungerecht. Ich würde arbeiten, wenn es sein musste, um meiner Mutter zu helfen und so Ángel zu uns holen zu können. Ich verfluchte meinen Vater, ich hasste ihn sogar ein Bisschen. Mein Blick war starr auf die Lichtreflexe an der Wand gerichtet, die vom Herkulesturm kamen —die treuen Begleiter aller meiner Kindheitsträume. Ich verstand trotz allem, wie viel Glück ich hatte, eine Familie zu haben, mit der ich Weihnachten verbringen konnte.

Ich verbrachte diese Woche mit meiner Mutter und mit meinen Schwestern Emily und Yolanda, und mit meinem Bruder Oskar, dem Benjamin. Ich liebte meine Familie, besonders aber meine Mutter, sie vergötterte ich. Ich hatte ein besonderes Verhältnis zu ihr, obwohl ich immer der aufmüpfigste unter uns Geschwistern und häufig Anlass für ihr Missfallen war. Meine Mutter erinnerte an die Worte meiner Großmutter Carmen und sagte, ich sei vom Teufel besessen, ich sei unfähig stillzusitzen, und es sei unmöglich, mich länger als eine Stunde im Haus zurückzuhalten. Immer entwischte ich ihr und lief auf die Straße, um mit meinen Freunden um die Wette zu rennen. Ich war sogar zweimal von zu Hause abgehauen und bescherte ihnen große Sorgen. Aber sie liebte mich und war vor ihren Freundinnen stolz auf mein gutes Herz, in dem es ihr zufolge von Güte nur so wimmelte. Jetzt legte sie sich krumm, um meinen Geschwistern die Schule zu bezahlen und die Kosten zu tragen, die es bedeutete, uns zu kleiden und den Haushalt zu führen. Immer bei der Arbeit, müde und mit schmerzendem Rücken opferte sich diese edle Señora auf, um uns im Rahmen dessen, was ihr Gehalt ermöglichte, das Beste zu geben, ein Fels in der harten Brandung des Lebens.

Als die Weihnachtsferien verstrichen waren, kam ich ins Internat zurück. Ich brachte meinem Freund Ángel Bonbons und andere Süßigkeiten mit. Er erzählte mir, was in dieser Woche alles passiert war, und ich überbrachte ihm Grüße von meinen Freunden. Ich sagte ihm, dass er nicht bei uns wohnen könne, jedenfalls im Moment nicht, denn meine Mutter konnte nicht für unser aller Unterhalt sorgen. Ich musste ihm aber unbedingt sagen, dass wir ihn später zu uns holen würden, für immer. Meine Mutter würde ihre Meinung schon noch ändern. Ich erfuhr von Ángel, dass Juan und Miguel in ihre Familien zurückgekehrt waren, zu ihrer Mutter, und dass wir sie wahrscheinlich nicht wiedersahen. Ich hörte Traurigkeit in seiner Stimme. Die beiden waren jahrelang seine Familie in diesem Irrenhaus gewesen. Irgendwie freute er sich aber auch darüber, dass sie weg waren. Mit der besonderen Großzügigkeit derer, die am wenigsten besitzen, teilte er die Süßigkeiten und die Bonbons, die ich ihm mitgebracht hatte, mit den Waisen, die ihn darum baten. Sie hatten um uns eine Traube gebildet. Es war

kalt an diesem Morgen und wir waren in dicke alte Mäntel eingepackt. Offensichtlich hatten wir alle hier eines gemeinsam, das uns alle verband: Unsere Armut.

Im Internat wurde im Sinne seiner religiösen Richtlinien in Bezug auf die Disziplin Kurs gehalten. Die Pädagogik war auf Verhaltensmaßregeln gegründet und nicht auf gegenseitige Zuneigung. Nonnen und Lehrer führten zur Abschreckung ständig neue Strafen ein, in der Hoffnung, dass wir einsahen, dass die Disziplin an erster Stelle stand. Wir konnten das damals nicht reflektieren, es kam uns aber ungerecht vor. Es regte uns auf. Unserem eigenen Wesen gingen die Autorität und deren Missbrauch, den wir von unseren angeblichen Pflegern und Beschützern erdulden mussten, absolut gegen den Strich. Das sahen viele Jungen und Mädchen so, auch was die Praxis der Bestrafungen in ihren eigenen Familien an-

ging. Nie machte sich jemand die Mühe, ein Kind verstehen zu wollen. Man setzte voraus, dass Kinder den Erwachsenen gehorchen mussten, einfach so. Die Erwachsenen hatten die Macht, sie immer dann zu bestrafen, wenn sie gegen deren Sicht der Dinge verstießen, und formten die Kinder nach ihrem Abbild, ohne ihnen eine Wahl zu lassen. Deshalb sehnten viele von uns die Volljährigkeit herbei, um dem Joch, zu dem die Erwachsenen unsere Jugend gemacht hatten, zu entkommen.

Solche Gedanken verschweigt ein Kind grundsätzlich, denn es fühlt sich unterdrückt und ungerecht behandelt. Dieses Schweigen lässt in ihm Zorn entstehen und wachsen, den es aus Angst vor Strafe nicht ausdrücken oder loswerden kann und der immer weiter wächst und meistens zu Auflehnung und Gewalt führt. Junge oder Mädchen, Heim- oder gar Waisenkind, wir wurden schlecht behandelt, geschlagen und vernachlässigt. Sorglos schuf man eine instabile Welt ohne emotionale Verbundenheit, wenig geeignet für die Entwicklung eines Kindes. Kinder brauchen Liebe, Spiel, Freunde, ständige emotionale Zuwendung und nicht Strafen und strenge Disziplin. Die mit der Erziehung Betrauten ließen keine Umsicht walten und vergaßen in ihrem Arbeitsalltag den menschlichen Aspekt. Sie beschränkten sich auf Vorschrift und Strafe und missbrauchten häufig ihre Autorität. Ein Kind wurde in diesem Sinne wie ein Erwachsener behandelt. Es weinte nicht mehr, denn es verstand, dass das nichts brachte. Es stumpfte ab und hasste die, die es bestraften, es sah kein Bisschen Liebe oder Zuneigung in der Strafe, sondern Autorität und Zwang. So kommt es, dass ein Großteil der Jugendlichen, die Internat oder Erziehungsheim durchgemacht hatten, mehr als einmal straffällig wurden. Viele verfaulten im Gefängnis, zu gefährlichen Straftätern gemacht. Der Staat, der die Aufgabe hatte, sich um sie zu kümmern, machte damit ein Geschäft. Die Gesellschaft konnte ihre Enterbten, die problematischen Armen, in Internate, Waisenhäuser und Erziehungsheime internieren und sie so verstecken. Chancengleichheit von Geburt an war eigentlich Grundrecht, allen sollte das gleiche Gepäck auf die Reise durchs Lebens mitgegeben werden. Die Begriffe »reich« und »arm« sollten dem der Gleichheit Platz machen. Alle Jungen und Mädchen auf der Welt besaßen das gleiche legitime Recht darauf, sich in geeigneter Umgebung zu entwickeln und mithilfe bester Lehrer und Lehrmittel eine gleichwertige Allgemeinbildung zu erhalten. Solange das nicht gewährleistet war, durfte sich niemand darüber wundern, dass die Kinder, die heute auf der Straße Ball spielten, morgen im Gefängnis saßen: Die Ketten, an denen sie im Gefängnis verfaulen sollten, warteten schon auf sie.

Zu dieser Jahreszeit regnete es ständig in La Coruña, und so verbrachten wir die meiste Zeit statt auf dem Hof in einem geschlossenen Raum. Bei Regen bekam ich Heimweh und stellte mich oft ans Fenster des Aufenthaltsraums, um dabei zuzusehen, wie der Regen auf die Straße tropfte, über die Autos mit eingeschalteten Scheibenwischern fuhren. An solchen Tagen vermisste ich mein Zuhause, meine Familie, meine Mutter. Das Heimweh bemächtigte sich meiner immer mehr. Obwohl ich eigentlich ein guter Schüler war und meine Noten immer befriedigend bis sehr gut gewesen waren, bekam ich Probleme im Unterricht und handelte mir häufig irgendeine Zurechtweisung oder Strafe von Don Jorge ein, der mich immer deutlicher auf dem Kieker hatte. Eines Tages stahl ich in der Küche ein paar Körner Reis, und Ángel und ich unterhielten uns dann während des Unterrichts damit, die Körner durch die Röhrchen von Kugelschreibern auf andere Kinder zu schießen. Das spielten wir häufig, mit Reiskörnern oder zerkauten Papierkügelchen. Doch an diesem Tag hatten Ángel und ich das Pech, ein Reiskorn direkt auf die Glatze von Don Jorge zu schießen. Er stand auf, das Gesicht rot vor Zorn.

»Wer war das?« fragte er wütend.

Er schritt die Pulte ab und bekam keine Antwort. Alle, die bei der kleinen Schlacht mitgemacht hatten, versteckten in aller Eile ihre Kugelschreiberröhrchen, und als ich meines gerade verstecken wollte, sah er es. Er kam bis zu meinem Pult und nahm das Röhrchen aus seinem Versteck. Er zog mich an den Haaren bis nach vorne an die Tafel, vor aller Augen.

»Ich war es nicht!« rief ich mehrmals.

Dann nahm er wie gewöhnlich einen Gummischlauch und schlug mir damit brutal auf Rücken und Beine. Ich fiel vor Schmerz schreiend zu Boden, doch es setzte weitere Hiebe, er war außer sich geraten. Er schlug weiter, bis er genug hatte. Dann befahl er mir, mich die Wand anblickend auf die Knie zu setzen und hielt meinen Klassenkameraden eine drohende Ansprache. Ich weinte vor Schmerz mit Rotz gemischte Tränen, unglaublich schockiert von dem, was gerade passiert war.

Nach der Stunde brachte Don Jorge mich vor Doña Petra, die Direktorin. Ich hoffte, wenigstens sie würde mir glauben, doch ihre erste Reaktion auf das Gehörte war eine schallende Ohrfeige, die mich wieder in Tränen ausbrechen ließ.

»Natürlich musstest du es sein!« schrie sie mich an. »Du hast eine Woche keine Hofpause und bleibst auf Knien hier in meinem Büro. Wir werden dir schon Anstand vor den Lehrern beibringen.«

»Ich war es nicht«, brachte ich unter Schluchzen hervor.

Als einzige Antwort auf den Versuch, mich zu verteidigen, erhielt ich eine weitere Ohrfeige.

»Du gehst jetzt sofort zum Essen runter und dann direkt in den Schlafraum«, und an Don Jorge gewandt fügte sie hinzu: »Sie können sicher sein, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.«

»Das will ich hoffen. Ein Teufel ist dieser Bengel!«

Ich bekam Lust, darauf mit einem Schimpfwort zu antworten, hielt mich aber zurück, um noch mehr Ohrfeigen zu vermeiden. Dann ging ich in den Speisesaal hinunter und setzte mich an einen Tisch. Alle anderen sahen mich an und schwiegen. Ángel brach die Stille: »Hat sie dich bestraft?«

»Eine Woche ohne Pause und obendrein noch zwei Ohrfeigen.«

»Die beschissene Alte!« rief mein Freund aus.

Nach dem Essen gingen wir in den Schlafraum. Als wir uns im Bad die Zähne putzten, hob Ángel mein Hemd hoch und sah die mehrfachen roten Striemen.

»Du hast rote Stellen«, sagte er.

Ich drehte mich zum Spiegel und sah mir über die Schulter. Die Striemen liefen quer über meinen ganzen Rücken bis auf die Seite. An wen konnte ich mich damit wenden? Das Schlimmste war, dass ich es gar nicht gewesen war, dass sie mich wegen etwas, das ich gar nicht getan hatte, zweimal geschlagen hatten. In diesem Augenblick entschied ich, aus diesem religiösen Irrenhaus zu fliehen. Zur Mittagsstunde teilte ich es Ángel mit. Ich hoffte, er wollte mich begleiten.

»Hauen wir ab?«

Mein Freund sah mich verwundert an und lachte: »Du bist verrückt, wo sollen wir denn hin?«

»Wir können in mein Viertel gehen und uns in der Holzhütte verstecken, die wir dort haben. Meine Freunde werden uns mit Decken und etwas zu essen versorgen...«, war meine Antwort. Ich hielt das für einen hervorragenden Plan.

»Ich nicht«, antwortete er ernst.

»Warum denn nicht?« wollte ich wissen.

»Weil ich, falls sie uns erwischen, so gut wie sicher in ein Heim komme, und das will ich nicht.«

Er hatte Recht. Falls sie uns erwischten, würden sie mich schlimmstenfalls hinauswerfen, was mir sehr recht wäre. Ángel aber würden sie in eine Besserungsanstalt einweisen, zum Beispiel nach Palavea, drei Kilometer weiter. An diesem Nachmittag redeten wir nicht weiter darüber, aber die Idee mich zu wehren und abzuhauen machte von nun an unablässig in meinem Kopf ihre Runden.

In der gesamten Woche verbrachte ich die Pausenstunden damit, die Wand anzublicken. Wenn es mir einmal einfiel, meinen Kopf zu drehen, beförderte eine Ohrfeige ihn wieder zurück in die vorgeschriebene Stellung. Eines Mittags, als ich beim Essen durch die Scheiben des Speisesaals sah und von weitem den Regen beobachten konnte, hatte eine der Nonnen die brillante Idee, eines der Fenster zu öffnen. Ich fühlte den Luftzug und die Freiheit auf der anderen Seite. Ich fühlte gleichzeitig Angst und Euphorie. Ich musste nur losrennen, durch das Fenster springen und laufen so weit ich konnte.

Ángel bemerkte meine Nervosität: »Was ist mit dir?«

»Ein Fenster steht offen... Siehst du es?«

»Haust du ab?«

»Ja. Kommst du mit?«

»Ich trau mich nicht«, gestand er mir. »Geh du.«

Als die Teller eingesammelt wurden, war ich immer noch unentschlossen. Ich hatte noch nichts gegessen, ich würde also als einer der Letzten sitzenbleiben, bis ich alles aufgegessen hatte. Unter dem Tisch gaben Ángel und ich uns die Hand.

»Pass auf dich auf«, sagte er mir.

Doña Conchita kam an unseren Tisch und sah vor mir zwei volle Teller stehen. Sie regte sich auf: »Du, Ángel, nach oben«, befahl sie meinem Freund. »Und du bleibst hier, bis du alles aufgegessen hast.« Sie schrie mich an. Als sie sich ausreichend weit entfernt hatte, stand ich schnell auf, schob den Tisch zur Seite und rannte auf das Fenster zu. Die Nonnen riefen überrascht durcheinander und sahen mich erstaunt an. Mit jugendlicher Leichtigkeit sprang ich durch das Fenster und verlor mich die Treppe hinunter, auf die Straße und in die Felder. Ich rannte durch den Regen, wie ich noch nie gerannt war. Ich begegnete dem Internatsgärtner, der gerade eine Schubkarre mit Rechen und Hacken über einen Feldweg zurück auf das Gelände schob. Er hielt erstaunt inne und rief: »Wo läufst du denn hin, Junge?«

Ich rannte ohne Pause weiter, bis ich das Internat nicht mehr sah und nicht mehr konnte. Vollkommen erschöpft und durchnässt stellte ich mich zum Schutz vor dem Regen unter einen Baum. Ich konnte keinen Schritt weiterlaufen. Das Herz pochte vor Anstrengung gewaltig. Ich blickte über offenes Feld. Ich hatte es geschafft.

Ich rechnete nicht damit, dass es irgendwo auf der Welt immer jemanden geben würde, der mich verfolgen und einsperren wollte. Ich wusste noch nicht, dass ich Sklave diktierter Gesetze war, zu denen mich niemand gefragt hatte. Ich wusste auch nicht, dass ich elf Jahre später drei Tage lang einer der meistgesuchten Männer des Landes sein würde.

Rota, 28. August 1991

Gegen drei Uhr nachmittags kam ich nach Rota. Mir taten die Füße weh. Ich hatte Blasen, denn meine geliehenen Schuhe waren eine Nummer zu groß. Das Laufen schmerzte mich sehr, und ich verfluchte, dass ich nicht daran gedacht hatte. Ich sah ziemlich schmutzig und zerzaust aus und fiel auf, obwohl ich die Hose gewechselt hatte. Ohne Zeit zu verlieren, fragte ich einen Passanten nach dem Weg zum Strand von Rota und ging dort hin. In der Nähe fand ich einen kleinen Laden, der immer noch geöffnet hatte und ging hinein, um Seife zu kaufen, eine Rasierklinge, einen Kamm, ein Fläschchen Eau de Toilette und ein kleines Strandtuch, das im Sonderangebot war. Dann ging ich zu den Duschen am Strand, und für fünfzig Peseten ließ man mich hinein. Ich duschte, rasierte und parfümierte mich. Ich putzte die Schuhe und polierte sie blank. Ich tauschte das Hemd gegen ein sauberes kurzärmeliges T-Shirt und krempelte die Hose bis auf die Knie hoch. So ging ich an den Strand, mit den Schuhen in der Hand. Das schmutzige Hemd und das ganze andere Zeug warf ich in einen Papierkorb, so wie jemand vier Jahre Gefängnis in einen Eimer wirft, und mischte mich unter die Leute, die am Strand spazieren gingen. Einmal am Strand spazieren zu gehen und das Meer unter meinen nackten Füßen zu spüren, war ein Versprechen, das ich mir schon vor Jahren gegeben hatte. Ich liebte das Meer. Ich hielt an, um an einem kleinen Stand eine Tüte Erdbeer-Sahne-Eis zu erstehen, ging weiter und freute mich über dieses Geschenk, das ich mir selbst gerade gemacht hatte. Ich dachte daran, was für Gesichter meine Freunde aus La Coruña machen würden, wenn sie mich kommen sahen. Ich dachte an meine Familie und an die Aufregung, die meine Flucht und die Fahndung nach mir zweifellos ausgelöst hatten. Sicher litten sie darunter, doch im Grunde ihres Herzens waren sie wohl so fröhlich wie ich. Mir kamen die Jahre der Isolation in den Sinn, die ich hinter mir gelassen hatte. Ich musste lächeln, als ich an die Freude und Hoffnung dachte, die meine Flucht den Freunden bescherte, die noch in den faulig stinkenden Kerkern der spanischen Gefängnisse eingesperrt waren. Ich dachte im Besonderen an Anxo und Musta. Ich spürte Wut, als ich mir vorzustellen versuchte, wie viele hundert Mal ich mich vor launischen und herzlosen Schließern hatte ausziehen müssen, als ich an die verschiedenen Haftanstalten dachte, La Coruña, Zamora, Daroca, Teneriffa. Dort wurde unterdrückt und gefoltert, wer den Mut gehabt hatte, sich gegen das System aufzulehnen, alle jene Frauen und Männer, deren Gegenwart genau die ehrbaren Bürger störte, die mich jetzt gerade in Scharen umgaben und die hier in der Sonne lagen und lachten. Sie dachten nicht daran, dass andere litten, damit sie hier einen ruhigen Urlaub genießen konnten. Das stimmte: Damit einige ihr ekelerregendes entfremdetes Leben führen konnten, den Kopf voll mit Konsum und anderen Komplexen, mussten andere Leute, genaugenommen vierzigtausend, in eisige Schweineställe eingesperrt überleben, ihres Lebens beraubt. Die Herren hatten sich der Welt bemächtigt und hielten sie exklusiv reserviert für sich. Die Strände waren ihre, die Straßen gehörten ihnen, die Felder, der Himmel... Alles stand unter ihrer Kontrolle, und an diesen wunderbaren Sachen durfte nur teilhaben, wer die herrschende Doktrin anerkannte. In Betäubung versunken, eingeschläfert von den Märchen der Politiker, lag der Wille der Gesellschaft konturlos unter einer Schicht Bequemlichkeit und Sicherheitsgefühl. Diese Leute gaben mir niemals eine Chance, und falls doch, hätte ich sie nicht akzeptiert: Ich wollte lieber mit Entrechteten, Räubern, Drogenabhängigen und AIDS-Kranken zusammenleben. Lieber als unter diesen gesichtslosen Bürgerlein mit Minderwertigkeitskomplexen.

Ich verließ den Strand und nahm ein Taxi zum Postamt. Dort gab ich ein Telegramm auf. Mit einem vorher abgemachten Text teilte ich Musta mit, dass er auf mich zählen konnte. Dann ging ich in ein Sportgeschäft und kaufte eine kleines Jagdmesser, auf das ich vielleicht angewiesen war, solange ich mir noch keine Waffe beschafft hatte. Ich schlenderte durch die Stadt und betrat ein Lokal, in dem Arbeiter in blauen Overalls zu Mittag aßen. Ich setzte mich an einen der Tische. Eine freundliche Señora in fortgeschrittenem Alter kam, um mich zu bedienen.

»Guten Tag. Sie wünschen?«

»Mittagessen, bitte.«

»Gut. Wir haben Paella, Albóndigas, Schnitzel mit Pommes Frites, Eier...«

»Bringen Sie mir ein gutes Kalbsschnitzel mit viel Pommes und zwei kurzgebratenen Spiegeleiern.«

»Caramba! Sie müssen Hunger haben«, bemerkte sie lächelnd.

»Etwas zu trinken?«

»Haben sie Milch?«

»Ja.«

»Bringen Sie mir bitte eine Flasche Milch.«

»Das ist gut. Noch etwas?«

»Nein Danke.«

Nach einer Weile kam sie mit einem randvollen Teller knuspriger Pommes Frites wieder, dabei ein Stück Fleisch und zwei Spiegeleier.

Der Anblick verstärkte meinen verspäteten Hunger.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte höflich und nett diese angenehme Frau.

»Ganz sicher«, antwortete ich.

Ich aß mit großem Appetit. Mir gefiel das Gefühl, das mir die Freundlichkeit dieser Señora gab. Seit Jahren hatte mich niemand mehr so behandelt. Auch in der Gesellschaft gab es gute, anständige Menschen, Leute, denen ich unter keinen Umständen etwas zuleide tun konnte. Als ich mit dem Essen fertig war, räumte ich den Tisch ab und trug das Geschirr an den Tresen. Ich setzte mich in der Nähe der Küchentür auf einen Barhocker. Die Inhaberin kam auf mich zu:

»Vielen Dank. Wünschen Sie noch etwas?«

»Einen Carajillo, und die Rechnung bitte.«

Ich zahlte und trank den Kaffee mit Schuss, der mich merklich anregte. Bevor ich das Lokal verließ, verabschiedete ich mich von der Inhaberin:

»Auf Wiedersehen, Señora. Das Schnitzel war sehr gut...«

»Kommen Sie jederzeit wieder.«

Es war Nachmittag geworden. Ich ging in einen Buchladen und besorgte mir mehrere Tageszeitungen. Die Nachricht von unserer Flucht war in allen nationalen und regionalen Blättern vertreten. In ABC, El País und Diario de Cádiz waren Fotos von uns zu sehen. Mich kümmerten die Fotos nicht allzu sehr, denn die Bilder, die sie von mir hatten, waren ziemlich alt und man erkannte mich kaum. Die große Bedeutung, die dieser Nachricht beigemessen wurde, sicherlich auf Betreiben der Generaldirektion, erklärte ich mir mit einer Strategie, ein allgemeines Unsicherheitsgefühl schüren zu wollen und die Bevölkerung dazu anzuhalten, bei der Fahndung mitzuhelfen und uns zu verraten. So konnten auch neue Maßnahmen gerechtfertigt werden, die schon längst erdacht waren, um die Welle der Ausbrüche und Geiselnahmen im Gefängnis zu stoppen. Als Vorsichtsmaßnahme ging ich in ein Friseurgeschäft, um mir die Haare schneiden zu lassen. Dann kaufte ich in einer Apotheke Mullbinden und verband mir die linke Hand wie nach einem Arbeitsunfall, damit man die Tätowierungen nicht sah. Ich ging auch in einen Optikerladen und kaufte eine dunkle Sonnenbrille. Dann fragte ich nach dem Weg zum Busbahnhof und ging dort hin. Ich setzte mich in einem kleinen Park auf eine Holzbank und beobachtete sorgfältig die Bewegungen um die Bussteige auf der anderen Straßenseite. Ein paar Stunden später kaufte ich eine Fahrkarte nach Sevilla und ging wieder zu der Holzbank in der Gartenanlage. Ich schien keine Reaktion hervorgerufen zu haben, alles schien normal. Um neun Uhr abends stieg ich mit den anderen Passagieren zusammen in den Bus nach Sevilla. Wir erreichten die Stadt gegen zehn. Ich besah mir durch die Scheiben das Treiben im Bahnhof und bemerkte nichts Außergewöhnliches. Ich verließ den Bus und durchquerte den Bahnhof in Richtung Ausgang. Plötzlich erschienen zwei Zivilpolizisten vor mir und fragten mich nach meinem Ausweis. Ich war unbewaffnet, hatte nur das Jagdmesser bei mir, was mir in dieser Lage wenig nützen würde. Als Erstes kam ich auf die Idee loszurennen, doch ich wusste, dass ich nicht weit kommen würde, mit den Füßen voller aufgeplatzter Blasen. Ich konnte auch keine Geisel nehmen, denn ich war einer der Letzten gewesen, die den Bus verlassen hatten, und es war niemand in der Nähe. Zu dieser Uhrzeit war der Busbahnhof nahezu menschenleer.

»Ich habe keinen Ausweis«, erklärte ich mich und versuchte Zeit zu gewinnen. Das gefiel den beiden nicht und ein Dritter kam hinzu: »Kommen Sie bitte mit.«

Sie brachten mich in einen kleinen Raum und gaben einem weiteren Kollegen Bescheid, wahrscheinlich einem Beamten der Bahnhofswache.

»Wie heißt du?« fragten sie mich.

»José Luis Rodríguez López«, sagte ich. Es war der Name eines alten Freundes.

»Woher kommst du?«

»Aus Melilla. Ich bin Legionär...«

Sie stellten mich an die Wand und durchsuchten mich. Sie nahmen mir das Messer ab. »Und das hier?«

»Das ist Gewohnheit. Beim Militär haben wir immer eins dabei.«

»Und diese Schnitte?« fragte einer von ihnen, als er die alten Narben meiner Selbstverletzungen sah.

»Das ist normal in der Legion, Sie wissen schon, wie die Tätowierungen...«

»Ruf im Präsidium an. Sie sollen dir alles durchgeben, was sie zu dem Namen haben, den er uns gegeben hat«, befahl ein Polizist dem anderen. »Der ist sicher aus der Kaserne abgehauen«, fügte er

noch hinzu.

Sie fesselten mich mit den Händen auf dem Rücken an einen Stuhl. Als ich die Handschellen um meine Handgelenke einrasten spürte, verfluchte ich mich dafür, wie dämlich und infantil ich gewesen war, diesen verdammten Bus genommen zu haben. Später sollte ich mitbekommen, dass man mich zufällig kontrolliert und festgehalten hatte. Die Kontrollen fanden wegen der Bombendrohungen im Namen von ETA statt, die zur Weltausstellung 1992 in Sevilla Chaos in der Stadt verbreiten wollte. Zweifellos hatte ich mich wie ein Anfänger benommen, und das würde mich teuer zu stehen kommen. So war es nun einmal: Nie konnten wir sicher wissen, wozu eine Entscheidung führen konnte. Als der Polizist den Telefonhörer auflegte und mich mit ernstem Gesicht ansah, wusste ich, dass sie mich hatten.

»Das ist jemand anderes«, erklärte er seinen Kollegen. »Wartet einen Moment und lasst ihn nicht aus den Augen.«

Nach einer Weile kam er mit zwei Tageszeitungen wieder und legte sie geöffnet auf den Tisch. »Das ist einer von den beiden hier«, sagte er, erkannte aber mein Foto nicht.

Die Blicke Aller wechselten zwischen mir und den Fotos in der Zeitung. Die Fotos schienen ihnen nicht so recht zu passen.

»Was machen wir mit ihm?« fragte der, der als Letzter hereingekommen war.

»Sie kommen vom Präsidium und holen ihn ab.«

Als er das gesagt hatte, zog er eine Pistole aus der Hüfte und legte eine Patrone in die Kammer. Dann steckte er sie wieder ein, prüfte meine Handschellen und schloss sie noch etwas fester. Alle meine Hoffnungen hatten sich vollständig in Luft aufgelöst, als sie mich aus dem Busbahnhof und in einen der Polizeiwagen brachten, die sich eingefunden hatten.

Sie brachten mich direkt zur ED-Behandlung. Während sie mir die Fingerabdrücke abnahmen, fiel mir ein an der Wand hängendes Plakat auf. Es waren mehrere Fotos von Aktivisten der GRAPO zu sehen und darunter unsere beiden Fotos, vergrößert. Einige Bilder waren mit einem X durchgestrichen, was soviel wie eliminiert bedeutete. Andere waren mit einem Gitter aus horizontalen und vertikalen Linien versehen, das waren die Verhafteten. Die übrigen hatten sie noch nicht gefunden. Ich freute mich, dass das Bild von Juan dabei war, er hatte es also geschafft.

Meine Abdrücke wurden per Computer überprüft. Als meine Identität feststand, beglückwünschten sie sich. Sie nahmen mir Hosen und Schuhe ab und brachten mich in den Gewahrsam hinunter. In Unterhosen lag ich in diesem Kerker auf einer verfaulten Matratze und sah an die weiße Decke. Ein schwacher Lichtstrahl erhellte dürftig den engen Raum. Ich wollte losheulen, doch ich beherrschte mich. Ich konnte nichts mehr tun, außer auf eine neue Gelegenheit warten und wieder ausbrechen. Etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein.

Am nächsten Morgen warfen sie mir die Schuhe und die Hose ins Innere der Zelle und befahlen mir, mich anzuziehen. Als ich fertig war, schlossen sie mir die Hände auf dem Rücken zusammen und führten mich in einen Fahrstuhl, in dessen großem Spiegel ich mein zerzaustes Bild betrachten konnte. Wir fuhren in den dritten Stock zur Brigade für Raubüberfälle. Es waren drei.

»Setz dich auf den Stuhl«, befahl mir einer der drei und deutete

auf einen Hocker in der Mitte des Büros.

Ich setzte mich, sie schlossen die Tür und stellten sich rings um mich.

»Wir werden hier mit allen fertig, verstehst du? Besser, du antwortest auf meine Fragen«, warf mir der Anführer der Gruppe an den Kopf. Er war groß und trug Schnurrbart, der klassische Zivi-Bulle. »Wo sind die Waffen?« fragte er.

»Was für Waffen?« fragte ich.

»Die dein Freund und du von dem Schiff mitgenommen haben.«

»Wir haben keine Waffen mitgenommen.«

Er sah einen seiner beiden Männer an. »Hol den Stock raus«, befahl er ihm.

Hinter einem Tisch holte er einen Baseballschläger aus Holz hervor und übergab ihn seinem Chef. Der fragte mich wieder, mit dem Schläger in der Hand: »Ich habe mich wohl verhört. Wo sind die Waffen?«

»Wir haben keine Waffe mit von dem Schiff genommen«, antwortete ich wieder. »Erkundigen Sie sich, Sie werden sehen.«

Er dachte einen Augenblick nach und befahl dann einem seiner Männer, die Guardia Civil anzurufen, von wo man ihm bestätigte, was ich gesagt hatte. Sie fragten weiter:

»Wo ist dein Freund?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo habt ihr euch getrennt?«

»Im Hafen von Cádiz, nach Verlassen des Schiffs.«

»Du lügst.«

Ich antwortete nicht. Sie wussten, dass ich ihnen nicht die Wahrheit sagen und ihnen auch keine Aufschlüsse über seinen möglichen Aufenthalt geben würde. Mein Schweigen war die Antwort.

»Sag mir, wo Redondo ist oder ich hau dir den Schädel auf«, drohte er mir und hob den Schläger über meinen Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

Dann tat er so, als wolle er zuschlagen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Aufschlag, doch der kam nicht. Es war nur zum Schein gewesen.

»Du wirkst gar nicht so wild, wie man dich in der Zeitung und im Fernsehen darstellt, Tarrío«, meinte der Bulle, der hinter mir stand, und gab mir Klapse auf den Hinterkopf.

Er machte sich über mich lustig, ich fiel aber nicht auf seine Provokationen herein. Als sie endlich davon überzeugt waren, dass sie mit diesem Verhör nichts Brauchbares herausbekommen würden, steckten sie den Schläger weg und ließen meinen Pflichtverteidiger herein. Dann wurde mir formal die Aussage abgenommen. Es war ungeheuerlich, dass diejenigen, die dafür zuständig waren, das Recht geltend zu machen, in allen Techniken der Repression und feiger Folter versierte Wüstlinge waren. Unter anderen Umständen hätten sie mich zu Brei geschlagen. Jetzt verhinderten das die Anwesenheit des Anwalts und die anschließende Überstellung meiner Person an den Richter. Damals konnte noch niemand wissen, was aus diesen drei Henkern im Auftrag der Gesellschaft, José Antonio García Candel, José Antonio Macuca und Anführer José Antonio de la Rosa, was aus der »Bande der José Antonios« werden würde: Nur drei Jahre später traten sie in meine Fußstapfen und landeten im Gefängnis, wegen Folter und Mordes an einem zwanzigjährigen Straffälligen aus Sevilla, der als Niño Kiko bekannt war. Wer hätte gedacht, dass diese ehrbaren und braven Polizisten im Dienst von Recht und Ordnung den Jüngling in den Kerkern des Präsidiums foltern, auf ein freies Feld hinaus fahren, ihm dort eine Kugel verpassen und ihn in einen Sumpf werfen sollten? Die Leute auf der Straße hielten sich in ihrer andauernden und vorsätzlichen Ignoranz nicht mit solchen Nachrichten auf. Auch trotz dieses Ereignisses sollten sie weiterhin denken, so etwas komme schon seit dem »Fall Almería«[38] nicht mehr vor, und sonst nur in Diktaturen oder einigen Drittweltländern. Doch da irrten sie. Folter und Mord im Auftrag des Staats waren nach wie vor an der Tagesordnung, und Fälle wie Santiago Corella alias El Nani[39] zeigten das. Damals verfügte die Bevölkerung anscheinend nicht über ausreichende Information, doch zu den Genannten sollten neue Fälle hinzukommen und den schmutzigen Krieg aufdecken, den die Herrschenden führten. Die Basken Lasa und Zabala sollten in einer Höhle gefunden werden, begraben unter ungelöschtem Kalk, mit eindeutigen Anzeichen schwerer Folter: Ihnen fehlten die Fingernägel. Zuvor war der Fall Mikel Zabaltza bekannt geworden; er war an der berühmten Foltermethode der »Badewanne« in einer Kaserne der immer noch faschistisch aktiven Guardia Civil gestorben. Polizisten wie diese kontrollierten den Drogenhandel in den großen Städten, erpressten junge Straffällige mit dem Gefängnis, ließen sie für sich arbeiten und strichen ihren Teil ein. Die Morde im Auftrag des Staats und die Mörder in den Sicherheitskräften gingen viel weiter als man wusste. Sie verfügten über Mittel, alles zu verdunkeln. Doch auch so konnten die Bürger von der Aktivität von Gruppen wie GAL[40] unter Führung von Amedo und Domínguez wissen (ihnen folgten Sancristóbal, Rafael Vera Planchuelo, Damborenea, Barrionuevo und wen die sozialdemokratische Elite noch hervorbringen sollte). Ermordet wurden Lucía Irigoitia, Ángel Gurmindo, Domingo Peruena und Eugenio Rodríguez Salazar. Und von wie vielen Verbrechen hatten wir nichts erfahren? Eigentlich konnte es nicht im Interesse der Gesellschaft sein, dass eine kleine Gruppe Männer so viel Macht über alle anderen Frauen und Männer hatte – es brachte nur Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und Ungleichheit. Zu den Sheriffs der Bürger gemacht, waren die Staatsdiener diesen eigentlich Respekt schuldig. Viele Polizisten aber maßten sich einen Missbrauch ihrer Dienstmarke an, zu eigenen Zwecken oder im Sinne der faschistischen Ideologie, der die Mehrheit anhing. Die einen bereicherten sich mit der Ausrede der Verbrechensbekämpfung, erpressten und prügelten, die anderen führten versteckte Kassen. Sie hielten die Kontrolle über die Gesellschaft an sich und überschwemmten das Land mit Drogen und dem entsprechenden Elend. So hielten sie die widerständigsten Bevölkerungsteile, die Jugendlichen, betäubt und im Dienst des Systems. Was für Gewaltexzesse hatte es gegeben im Namen von Recht und Gesetz!

An diesem Nachmittag wurde ich ins Gerichtsgebäude gebracht. Ich fühlte mich niedergeschlagen. Das Schlimmste war, nur daran zu denken, zurück ins Gefängnis zu müssen. Es kam mir unwirklich vor, es war, als ob ich einen Traum gehabt hatte. Der Schmerz und die Bitterkeit, die auf mir lasteten, machten mir aber bewusst, dass alles wahr war. Mit Handschellen hinter dem Rücken holte mich eine Gruppe Polizisten aus dem Transporter. Die Aasgeier von Presse und Fernsehen hielten diese Bilder fest, um sie der kranken Gesellschaft zu übermitteln. Eine Polizeisperre hielt diese übergeschnappte Horde zurück. Über mich war stets nur Schlechtes geschrieben worden, und dieses Mal sollte es nicht anders sein. Sie behandelten mich wie einen gefährlichen Schwerverbrecher, wie eine aus ihrem Käfig entflohene Bestie. Ein Spektakel, das ihnen bei hoher Einschaltquote erlaubte, ihre Demagogie weiterzuentwickeln. In Wirklichkeit war ich nichts anderes als ein kranker Mann in Ketten, der einfach nur in Freiheit sterben wollte, vielleicht in einem fernen Land, wo die Gesellschaft humaner war.

Sie brachten mich vor Richterin und Staatsanwalt. In der Amtsstube setzte ich mich auf einen Stuhl.

»Gut, Tarrío«, sprach mich der Staatsanwalt an, »die machen ja einen ganz schönen Aufstand da draußen.«

»Wieso hat der Wunsch frei zu sein einen derartigen Nachrichtenwert?« fragte ich. »Um die Freiheit ist es wohl allgemein nicht so gut bestellt.«

»Werden Sie eine Aussage machen?« brachte sich die Richterin in die Unterhaltung ein.

»Nein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiundzwanzig.«

»Sie sind sehr jung. Weshalb verstricken Sie sich in so einen Schlamassel?«

»Schicksal, Sie wissen schon...«

»Jetzt wird es für Sie nur noch schlimmer, merken Sie das denn gar nicht? Unterschreiben Sie hier«, bat sie mich und schob mir ein Papier zu.

Sie nahmen mir die Handschellen ab und ich unterschrieb das Papier, das mich wieder ins Gefängnis brachte. Dann sagten sie zu meiner Wache: »Sie können ihn mitnehmen.«

»Und mal sehen, ob sie nicht noch einmal ausbrechen«, scherzte der Staatsanwalt.

»Nein. Von nun an bleibe ich in der Zelle und stricke Pullover«, antwortete ich mit Ironie und verließ das Büro in Richtung Gefängnis.

Gefängnis Sevilla 2, 30. August 1991

Zwanzig Schließer warteten auf mich auf dem Gelände dieses modernen Großgefängnisses. Es war erst vor kurzem von Antoni Asunción eingeweiht worden. Kaum war ich durch die Tür, schon ergriffen sie mich und stießen mich vor sich her bis in die psychiatrische Abteilung. Dort legten sie mich auf einen Tisch, zogen mir die Hose herunter und machten anschließend eine Reihe Röntgenaufnahmen. Sie hofften, in meinem Inneren verbotene Gegenstände zu finden. Ich hatte nichts in mir. Dann nahmen sie mir die Polizeihandschellen ab und verpassten mir anstaltseigene. Ich kam in die Isolation. Dort schlossen sie die Handschellen wieder auf und wiesen mich an, mich auszuziehen. Sie übergaben mir einen blauen Overall und Plastiklatschen.

»Was ist mit meiner Kleidung?« fragte ich.

»Vergiss deine Kleidung. Alles, was du von jetzt an tragen wirst, ist dieser Anzug«, antwortete der Dienstleiter.

Ich streifte mir den Overall über und zog mir die Latschen an. Geschmückt mit meinem brandneuen Sträflingsanzug kam ich in eine der Zellen. Sie war vollkommen leer, es lag nur eine Matratze auf der metallenen Bettplatte. Ich trat ans Fenster.

»Ist da jemand?« rief ich.

Nach einer Weile antwortete mir eine Stimme: »Wer bist du?«

»Ich bin José aus La Coruña«, stellte ich mich vor.

»El Che

»Ja.«

»Was ist los, erkennst du mich nicht oder was? Ich bins Mann, Trancho!«

Die Gegenwart meines Freundes tröstete mich sehr. Das war alles, was ich in diesem Moment brauchte, da mein Mut bis unter den Nullpunkt gesunken war.

»Sie haben mich gestern geschnappt und hier bin ich. Und du, was machst du hier?«

»Hier hänge ich ab, mit einem Overall, ohne Hofgang, ohne Economato, ohne Dusche, ohne alles... Das haben sie sich extra für uns ausgedacht.«

»Was?«

»Sie haben für uns neue Bedingungen geschaffen, FIES heißen die. Seit einem Monat geht das so, und es scheint, als ob es noch lange so weitergehen kann.«

»Bist du allein?«

»Nein. Hier ist noch Victor. Dein Landsmann Ayude und Barrot liegen in dem anderen Trakt an das Bett gefesselt. Auch Beni ist da und ein paar Leute, die du wahrscheinlich nicht kennst. Alle unter gleichen Bedingungen.«

»Und warum haben sie dich hierher gebracht?«

»Nach eurer Geiselnahme auf Teneriffa haben Anxo und ich versucht, von Puerto 1 abzuhauen, vom Gelände. Sie haben uns gekriegt...«

»Und wo ist Anxo?« fragte ich nach.

»In Villanubla, und du glaubst nicht, wie es dort ist. Sie haben außerdem FIES-Trakte in Badajoz und in Jaén 2 aufgemacht, und noch einen in Dueso, der den Gerüchten nach der schlimmste ist.«

»Das hat uns noch gefehlt«, antwortete ich auf diese Flut schlechter Nachrichten. »Habt ihr gar nichts in der Zelle?«

»Nichts. Du hast auch nur Overall und Latschen, oder?«

»Ja.«

»So wie wir alle. Wir können uns nicht einmal rasieren oder duschen gehen, du kannst dir also vorstellen, wie es uns geht.«

»Scheiße!«

Auf diesen Ausruf antwortete Trancho mit seinem üblichen schallenden Gelächter.

»Es sieht schlecht aus, Josiño«, sagte er.

Klarer Fall. Unter dem Vorwand der jüngsten Geschehnisse in den spanischen Gefängnissen hatten Antoni Asunción, gerade erst auf den Posten des Generalsekretärs des Gefängniswesens befördert, und seine rechte Hand Gerardo Mínguez Prieto, stellvertretender Direktor der Strafvollzugsaufsicht, in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium unter Cuadra Salcedo die FIES-Sonderbedingungen geschaffen. Betroffen waren alle als besonders gefährlich eingestuften Gefangenen, die an Aufständen, Geiselnahmen oder Ausbruchsversuchen teilgenommen hatten, oder die einfach störten. Sie hatten ein Netzwerk aus Hochsicherheitsgefängnissen geschaffen, richtiggehende Bunker, in denen man uns eher begrub als einsperrte. Zu diesem Zweck brachen sie alle vorangegangenen Gesetze und handelten nach ihrem eigenen, wonach dem Rechtsstaat alles erlaubt war. Das Justizministerium brachte alle kritischen Stimmen aus der Richterschaft zum Schweigen und versprach Beförderungen. Den sich den Herrschenden anbiedernden Medien wurde eine Richtlinie unterbreitet, nach der sie von nun an alles verschweigen sollten, was mit den betroffenen Gefangenen im Gefängnis geschah. Sie sollten eine gegen uns eingenommene Stimmung schaffen, uns als Psychopathen hinstellen, damit die Leute diese Methoden akzeptierten, falls der ein oder andere ehrbare Jurist doch einmal etwas durchsickern lassen sollte. Man würde alle notwendigen Maßnahmen ergreifen und alles tun, um die Beschwerden der Gefangenen zu ersticken, APRE(r) zu zerschlagen und Ordnung und Disziplin in den Gefängnissen wiederherzustellen, mit Terrormethoden. Diese Methoden kannte ich, denn sie waren schon gegen COPEL angewandt worden. Die Unterdrückung sollte funktionieren, indem man den kämpferischen Geist der Häftlinge neutralisierte und ihr Bewusstsein, indem man sie Angst spüren ließ, ihr Nervensystem konstant bombardierte, bis sie wirksam annulliert waren. Schwere Zeiten kamen auf uns zu, wir wussten noch nicht, wie schwere...

Gefängnis El Dueso, Santoña, September 1991

Um sechs Uhr morgens stürmte eine große Gruppe Schließer in die Zelle, legte mir hinter dem Rücken die Handschellen an und stieß mich in die Aufnahmeabteilung. Dort erwarteten mich mehrere Guardias Civiles, die mich ansahen, als ob sie neugierig waren, einen von den Typen kennenzulernen, die dazu fähig waren, zwei ihrer Kollegen außer Gefecht zu setzen. In ihren Augen stand Misstrauen geschrieben. Bosheit konnte ich aber nicht entdecken, was mich beruhigte. Sie übernahmen die Zuständigkeit für mich, wechselten die Handschellen und schlossen sie mir vor dem Bauch. Dann steckten sie mich in einen kleinen Transporter, und wir fuhren los. Ich wusste nicht wohin. Beim Verlassen des Geländes versuchte ich, das herauszubekommen.

»Hören Sie, agente«, fragte ich, »wo fahren wir hin?«

»Nach Dueso«, antwortete der Gruppenführer. Nach einer Weile

fügte er hinzu: »Ihr habt den Kollegen ganz schön zugesetzt,

was?«

»So ist das eben...«

»Wenigstens habt ihr ihnen nichts angetan, darauf kommt es an«, mischte sich der Fahrer ein.

Ich ignorierte diesen Kommentar. Die Nachricht, dass das Ziel meiner Reise El Dueso hieß, gefiel mir nicht. In diesem Moment war das die schlimmste Möglichkeit. Es war, als ob alle Unglücke auf einmal über mich hereinbrechen wollten. Ich dachte an die Worte der Inspektoren der Generaldirektion auf Teneriffa nach der Geiselnahme und wusste nun, dass sie ihr Wort halten sollten. El Dueso war ein Nest von versierten Folterern. Dort saßen die schlimmsten Schließer der Franco-Ära zusammen. Ich fürchtete zu Recht um meine körperliche Unversehrtheit. Vor Ocaña 1, Puerto de Santa María und Herrera de la Mancha war die Anstalt El Dueso mit Abstand das schlimmste Gefängnis im Land. Es war klar, dass das kein Urlaub für mich werden würde.

Ich hatte über tausend Kilometer vor mir. Die verbrachte ich mit der Betrachtung der regionalen Landschaft, deren Schönheit von den verschweißten Gittern vor den kleinen Fenstern gemindert wurde. Würde ich diese Gitter noch einmal von der anderen Seite sehen können? Dass die Natur uns wunderbarerweise mit Augen ausgestattet hatte, war nur zur Hälfte gelungen. Warum fiel es uns so schwer, das Offensichtliche auszumachen und zu erkennen? Wir Menschen sollten ein Recht auf ein zweites Leben haben. Dieses Leben war ungerecht, tyrannisch und unduldsam mit den Menschen. Warum schätzten wir es dann so, wo der Tod doch vielleicht eine Lösung war?

Es war so kompliziert, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es war leichter, sie einfach zu ignorieren. Im Abgrund der Absurdität, versunken in Widersinn wohnten wir der Zerstörung des Menschen durch den Menschen bei. Wenn die Justiz es übernahm, jemandes Leben kaputt zu machen, tat sie das endgültig. Ein absurder Wutanfall nur eines Herrschenden konnte die Zukunft einer ganzen Familie ändern und sie in Unglück und Leid stürzen. Ein einziges bescheuertes Urteil konnte für einen Menschen unsagbare Leiden bedeuten, ohne dass die Gesellschaft sich schämte. Sie stimmte mit dem religiösen Akt der Ausübung ihres Wahlrechts zu. Mich und viele andere Männer und Frauen verschwinden zu lassen und die Gefängniskloake hinunterzuspülen würde nichts ändern und kein Problem lösen, sondern nur noch mehr Probleme schaffen.


Wir hielten mehrmals zwischendurch an. Meine Wächter fanden eine menschliche Geste und kauften mir ein belegtes Brot und eine Flasche Wasser. Wir aßen und tranken und fuhren dann weiter. Ich schwieg die ganze Fahrt über und sah durch das vergitterte Fenster auf Felder und Berge, in die Freiheit hinaus. Es wurde Nacht, als wir über die Provinzgrenze von Santander fuhren. Dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Wir hielten an einer Ampel, und neben uns hielt ein Viehtransport. Direkt in mein Fensterchen, genau vor mir, blickte mich ein Kalb mit großen dunklen Augen an und leckte am Gitter seines Käfigs, das es vielleicht mit dem Euter seiner Mutter verwechselte, die nun weit weg war. Wir sahen uns neugierig an, und ich fand, das wir etwas gemeinsam hatten, sogar ziemlich viel. Beide waren wir Vieh auf dem Weg ins Schlachthaus, nur dass es bei ihm schneller gehen würde. Beide waren wir Opfer derer, die sich als unsere jeweiligen Herren berufen fühlten.

Als wir in El Dueso ankamen, war es Nacht geworden. Es war ein riesiges Gefängnis, in Bezug auf seine Fläche das größte im ganzen Land. Hinter den ersten Absperrungen fuhren wir auf einer kleinen Straße über das Gelände bis zur FIES-Abteilung, die soeben eingeweiht worden war. Sie hatte einen gesonderten Bau, wie um klarzumachen, dass hier ein anderer Strafvollzug umgesetzt wurde, ein besonderer. Der trübselige Anblick dieser Anstalt bei Nacht beeindruckte mich. Eine große Gruppe sichtlich nervöser Schließer holte mich aus dem Transporter und brachte mich in ihre Abteilung. Noch in Handschellen führten sie mich sofort in das untere Stockwerk, wo sich die Duschen befanden. Dort schlossen sie mich ein und nahmen mir die Handschellen durch das verriegelte Türgitter hindurch ab. Von draußen befahl mir ein Schließer:

»Ziehen Sie sich aus.«

Ich streifte den Overall ab und gab ihn heraus, wie auch die Plastiklatschen. Das war alles, was ich hatte.

»Wenn Sie duschen wollen, können Sie das tun.«

»Ich habe kein Handtuch.«

»Wir holen Ihnen eins aus der Zentrale, das können Sie behalten.«

Ich öffnete den Hahn einer der Duschen und wartete auf das warme Wasser. Dann stellte ich mich unter den Wasserstrahl und benutzte ein kleines Stück Seife, das ich dort vorfand, und wusch mich ohne Eile. Die Schließer sahen mir dabei zu. Als ich fertig war, trocknete ich mich mit einem kleinen weißen Handtuch ab, das mir die Schließer zusammen mit einem neuen blauen Overall und neuen Plastiklatschen übergeben hatten. Diese moderne Kleidung war dazu gemacht, uns am Rennen zu hindern und uns überall sofort als Gefangene erkennbar zu machen. Nordamerikanisches Vorbild natürlich. Ich zog die Sträflingskleidung und die Latschen an.

»Drehen Sie sich um.«

Ich drehte mich um und stellte mich mit dem Rücken vor das Türgitter des Duschraums. Hinterrücks legten sie mir Handschellen an. Dann öffneten sie die Tür, und eine größere Gruppe brachte mich an den Ort, an dem ich von nun an einsitzen sollte. Die Zellen lagen in einem Minitrakt im oberen Geschoss. Ein kalter Flur aus Kacheln, verschlossen mit einem alten Gitter aus langen und dicken Streben. Dahinter, in einer Reihe wie Grabstellen, die nummerierten Grüfte. Ich bekam Nummer elf. Als ich drinnen war, schlossen sie die Gittertür und nahmen mir die Handschellen ab. Dann schlossen sie die eigentliche Tür und ließen mich allein. Es war eine kleine Zelle mit einem metallischen Bett, einer Matratze, zwei Decken und einem Satz Bettlaken. Es gab ein Waschbecken, einen Holztisch ohne Stuhl und einen ebenerdigen Abort. Zwischen Gittertür und Eisentür brannte eine Glühbirne. In der oberen Hälfte der Eisentür gab es ein Guckfenster aus dickem Sicherheitsglas, und nach draußen eines mit Holzrahmen. Ich trat an das Fenster und öffnete es. Hier gab es nur Einsamkeit und Stille. Vor der Abteilung lag ein großer ummauerter Hof. Wenigstens waren die Fenstergitter halbwegs normal; sie waren allerdings über Kreuz verstärkt mit zusätzlichen Eisenstangen. Man konnte sie aber durchsägen und auf diese Weise etwas versuchen. Zumindest eine Hoffnung, dachte ich, als ich sie sah. Eine Stimme rief mich aus einem anderen Fenster:

»Wer ist da gekommen?«

»Wer bist du?« fragte ich dagegen.

»Juanjo Garfia.«

Zu wissen, das ein Freund in der Nähe war, hob meine Stimmung.

»Ich bin José.«

»Wann bist du gekommen?«

»Eben gerade, aus Sevilla 2«

Wir hatten beide enorme Lust miteinander zu sprechen. Eine Unterhaltung begann.

»Und was hast du da gemacht?«

»Sie haben mich da geschnappt, im Busbahnhof.«

»Das heißt, du bist abgehauen? Wir kriegen hier überhaupt nichts mit.«

»Wer ist noch hier?« fragte ich.

»Pedro Vázquez, ein Baske. Netter Kerl.«

»Das war so«, erzählte ich, »Juan und ich sind vom Schiff abgehauen, das zwischen Cádiz und Teneriffa verkehrt. Kennst du ja...«

»Und Juan?«

»Ist noch frei, wenigstens habe ich nicht gehört, dass sie ihn geschnappt hätten. Als ich bei der Polizei war, suchten sie ihn noch.«

»Mann, wie geil! Und wie geht es dir?«

»Gut. Ein bisschen geschockt von dem hier...«

»Du machst dir noch gar keine Vorstellung, José. Wir sind hier seit zwei Wochen, und es ist immer noch wie am ersten Tag. Sie lassen uns nicht auf den Hof raus und wir haben keinen Besuch, nicht von der Familie und nicht vom Anwalt. Wir sind völlig isoliert und kriegen nicht einmal mit, was draußen los ist, denn es gibt keine Presse und kein Radio, nichts.« Nach einer Pause sagte er: »Sie lassen uns nur ein Handtuch, eine zur Hälfte abgesägte Zahnbürste, Seife, eine Rolle Klopapier und den Anzug. Die Decken und die Matratze nehmen sie uns morgens ab, nach dem Zählappell. Um acht also, und sie geben sie uns bis zehn Uhr abends nicht wieder.«

»Mach keinen Scheiß!« rief ich.

»Du wirst schon sehen«, versicherte er mir und musste lachen.

»Die haben sich hier etwas ganz Nettes für uns ausgedacht.«

»Und was ist mit dir?« wollte ich wissen.

»Die GEOS haben die Wohnung gestürmt, in der ich übernachtet habe. Sie haben mir nur Zeit gelassen für ein paar Mal ficken und ein paar Bankraube...«

»Wenigstens hast du dir den Schwanz anfeuchten können, ich nicht mal das.« Wir mussten beide Lachen.

»Staatsfeind Nummer eins also, was?«

»Dummheiten der Presse, José.«

Ich war müde von der Reise und legte mich nach der Unterhaltung mit meinem Freund hin. Mit alten Gefängniscodes hatte Juanjo mich wissen lassen, dass die Chance bestand, etwas zu versuchen. Ich vermutete, dass sich im Trakt eine Säge befand. Ich freute mich. Mit dieser Hoffnung im Sinn überfiel mich der Schlaf.

Am nächsten Morgen, ich war noch sehr schläfrig, erschien eine Gruppe Schließer in der Zelle. Ich stand auf und zog mir den Overall an. »Was ist los?«

»Wir müssen Ihnen Handschellen anlegen. Drehen Sie sich um.«

Ich trat an das Gitter und ließ mir Handschellen anlegen. Dann öffneten sie die Tür und führten mich in eine andere Zelle. Sie nahmen Matratze, Decken und Laken mit und brachten mich wieder zurück. Danach machten sie dasselbe mit Juanjo und Pedro. Dann gingen sie. Ich war immer noch müde, breitete das Handtuch auf der Metallplatte aus und legte mich darauf. Eine Weile später brachten sie das Frühstück.

»Stellen Sie sich in die Ecke«, befahl mir der Schließer.

Sie legten auf ein kleines an das Gitter geschweißtes Tablett ein Brötchen und einen Becher verwässerter Milch. Das Gitter hatte ein Loch, durch das ich mir das Essen holen konnte.

»Ab heute stellen Sie sich immer wenn die Tür aufgeht in den hinteren Bereich der Zelle, mit den Händen sichtbar ausgestreckt. Und später holen Sie sich das Frühstück oder was auch immer, verstanden?«

Ich antwortete nicht. Es schien, als sei das ernst gemeint. Ich aß hungrig das Brot und trat dann ans Fenster, um mit meinen Genossen zu reden.

»Guten Morgen, Juanjo«, rief ich.

»Guten Morgen.«

»Krass, wie diese Typen hier drauf sind, was?«

»Hab ich dir doch gesagt. Im Moment ist das Beste, abzuwarten was passiert. Sie sind sehr verärgert. Ich glaube nicht, dass es noch lange so weitergeht.«

An diesem Morgen hatte ich meinen ersten Kontakt mit den Möwen. Es gab dutzende. Sie waren klein und weiß, hatten schwarze Augen und orangene Schnäbel. Sie kamen vom Strand und dem Küstenland um das Gefängnis, setzten sich auf die Mauer oder landeten im Hof und suchten Nahrung. Wir warfen ihnen Brotkugeln zu, um die sie sich mit den wendigen Spatzen stritten. Ich sah mir die Vögel an, als die Tür aufging. Mehrere Schließer betraten in Begleitung von Leuten in Zivilkleidung die Zelle.

»Wir müssen einige Tests an Ihnen durchführen, Tarrío«, sagte einer von ihnen.

»Was für Tests?«

»Röntgenbilder.«

»Erst vor zwei Tagen wurden Röntgenaufnahmen gemacht, in Sevilla 2.«

»Egal, wir müssen neue machen.«

»Nein.«

Einer der Zivilisten mischte sich ein und stellte sich als stellvertretender medizinischer Leiter vor. Ich las auf seinem Schild den Namen Enrique Acín. »Wenn du dich weigerst, zwingst du uns, die Bilder mit Gewalt zu machen.«

»Nur zu, wenn Sie meinen...«

Sie schlossen die Tür und versuchten es bei meinen Genossen.

Sie bekamen dieselbe Ablehnung. Wir waren ihnen wehrlos ausgeliefert. Wir gingen an die Fenster und redeten:

»Was haben sie zu euch gesagt, Juanjo?«

»Dasselbe wie zu dir.«

»Was können wir tun?« fragte Pedro.

Wir diskutierten diese Frage bevor sie zurückkamen. Wir konnten nichts anderes tun, als die Aufnahmen machen zu lassen, wir konnten es nicht verhindern. Falls wir uns weigerten, würden sie uns zusammenschlagen und die Aufnahmen genauso anfertigen. Diese paar Minuten kamen uns auf jeden Fall gelegen, damit Juanjo und Pedro ihre Sägen an einen sicheren Ort bringen konnten. Als die Schließer mit Knüppeln bewaffnet und mit Handschellen wiederkamen, leisteten wir keinen Widerstand, und sie holten einen nach dem anderen aus der Zelle. Sie legten uns unter einen Röntgenapparat, den sie im Trakt aufgebaut hatten, zogen uns den Anzug herunter und machten mehrere Aufnahmen. Mehrere Schließer hielten uns solange fest. Nach dieser Erniedrigung brachten sie uns zurück in die Zellen. In der medizinischen Akte sollte stehen, dass wir die Aufnahmen aus freien Stücken hatten machen lassen, oder sie wurden gar nicht erwähnt.

Vieles von dem, was im Gefängnis stattfand, war nichts als unverblümtes Sklaventum, verdeckt von theoretisch fortschrittlichen Verordnungen und von irreführenden technischen Begriffen. Wenn sie uns zum Beispiel siezten, wurde so die Realität mit einem scheinbaren Respekt verdeckt, während die Behandlung dieselbe blieb. Es ist dem Gefangenen egal, ob er unter der Folter geduzt oder gesiezt wird. Es war widersinnig, jemanden zu sietzen und ihn aufzufordern, nackt Kniebeugen zu machen oder nach dem Empfang von Besuch in einen Eimer kacken zu lassen, was auch in den Anstalten zweiten Grades normal war. Es war ekelhaft und abstoßend, dass sich jemand Arzt schimpfte, der diese Praxis mit Röntgenstrahlen zuließ und verdunkelte. Wir konnten leicht einen Krebs davontragen, so oft wie wir den Strahlen ausgesetzt waren. Dasselbe Muster galt für den Namen der Institution. »Gefängnis« hatte man durch »Strafvollzugsanstalt«[41] ersetzt, »Schließer« durch »Beamter«[42], »Folter« durch »unangemessene Härte« (ha, ha, ha), »Prügel« durch »Behandlung«. Damit und mit ein paar Gärten um die Gefängnisse wollte die Behörde der Gesellschaft ein »humaneres« Bild vermitteln, ein falsches, scheinheiliges und zynisches Bild, das die harte Realität in den wirklichen Gefängnissen vertuschen sollte. Und was uns gerade passiert war, sollte nur der Anfang sein. Diese Realität sollte ihren höchsten Ausdruck erst noch erfahren.

An diesem Nachmittag rief ich den Schließer, damit er mir Schreibpapier und Kugelschreiber brachte. Ich wollte einen Brief an eine Freundin in Bilbao schreiben und sie bitten, zu mir zu kommen. Der Schließer brachte mir ein einziges Blatt und die Mine eines Kugelschreibers.

»Sie schreiben den Namen der Person, die den Brief erhalten soll, und ihren eigenen an das Ende, und wir schicken ihn zur Genehmigung nach Madrid. Wenn Sie fertig sind, geben Sie mir die Mine und das Blatt. Verstanden?«

Ich schrieb den Brief an meine Freundin. Sie hieß Ana und ich hatte sie in La Coruña kennengelernt, vor Jahren. Wir waren verknallt gewesen und ich hoffte, sie würde die richterliche Erlaubnis bekommen, mich zu besuchen. Ich schickte ihr die Telefonnummer meiner Familie in Galizien, damit sie sie anrief und sie darüber auf dem Laufenden hielt, wo ich mich befand. Ich erzählte nichts davon, wie wir hier lebten, damit der Brief sie erreichte. Wenn sie dieses ganze System aus Eingriffen in unsere Privatsphäre geschaffen hatten, dann war es, um zu verhindern, dass etwas über unsere Situation nach außen drang. Ich hoffte, sie würde kommen. Als das Abendessen gebracht wurde, gab ich das Blatt und die Mine ab. Ich holte mir das Essen und aß im Stehen vor dem Fenster, während ich mich mit meinen Freunden unterhielt.

»Das geht zu weit! Wir müssen etwas dagegen tun«, sagte ich.

»Sie haben uns ganz schön am Sack, José«, sagte Juanjo. »Am besten, wir warten ein paar Tage ab, mal sehen, was sie machen. In der Zwischenzeit treiben wir Sport. Ihr wisst schon...«

Ein paar Möwen drehten immer noch frei ihre Runden und es machte Spaß, ihnen die Reste des Hühnchens zuzuwerfen, das sie uns zum Essen gebracht hatten. Ich fand es lustig, dass man die Knochen von den Hühnerbeinen entfernte, damit wir keine Messer daraus machen konnten. Diese Irren hatten zu viele James-Bond- Filme gesehen. Genauso lustig fand ich die Gier der Möwen und die Kämpfe, die sie sich lieferten um ein Stück Huhn. Ohne Zaudern hackten sie aufeinander ein. Die verschlagensten warteten auf der Mauer, bis eine Möwe sich ein Stück erkämpft hatte, und überfielen sie dann von hinten. Die überfallene Möwe versuchte dann erschrocken und aufgebracht die andere zu verfolgen, doch zwecklos. Mit der Zeit sollte ich feststellen, dass diejenigen, die die anderen Möwen überfielen, das aus der Unfähigkeit heraus taten, mit den anderen zu kämpfen. Um zu überleben nutzten sie also die Vorteile aus, die sie vor den anderen hatten: Hinterlist und Schnelligkeit. Die Möwen waren eine der Spezies, die sich am besten an den Menschen und seine Städte angepasst hatten, an die Umweltverschmutzung. Das garantierte ihr Überleben. Sie waren intelligent und hatten wie die Ratten Abfälle zu ihrer Grundnahrung gemacht. Sie würden nie Hunger leiden.

Um acht kamen die Schließer zur Durchsuchung. Demzufolge, was mein Freund Juanjo mir erzählt hatte, würde das jeden Tag nach dem Abendessen anstehen. Sie befahlen mir, die Kleidung abzulegen und durchsuchten den Overall. Dann legten sie mir Handschellen an und brachten mich in eine andere Zelle, um meine zu durchsuchen. Sie schlugen mit einer Stange an die Gitterstreben und prüften, ob sie angesägt waren. Nach der Durchsuchung brachten sie mich in die Zelle zurück. Ungefähr um zehn legten sie mir erneut Handschellen an und schoben Matratze, Decken und Laken in die Zelle. Das alles war ein Irrsinn, der im Stande war, das widerständigste Hirn zu zermartern, falls das so weiterging. Wir hofften, es würde nicht so weit kommen.

Über den Dienstleiter erreichten wir wenigstens, dass uns Bücher aus der Bibliothek gebracht wurden. Wie erhielten die Erlaubnis nur unter der Bedingung, dass wir die Bücher nicht untereinander austauschten oder dieselben Titel bestellten und lasen. Man wollte nicht, dass wir uns über die Bücher Nachrichten zukommen ließen. Wir waren große Leser, was uns neben dem Sport und den langen Gesprächen dabei half, Einsamkeit und Entfremdung zu bekämpfen. Sie erlaubten uns zu duschen, wir mussten allerdings mit Handschellen auf dem Rücken und einer bedeutenden Begleitung in die Duschen hinunter gehen, nur mit dem Handtuch um die Hüfte bekleidet. Dieser Ablauf musste eingehalten werden, wenn wir duschen wollten. Das taten wir dann dort unten, nackt vor unseren Schließern, ohne eine Sekunde Intimität. Es war abstoßend, den Blick dieser Schweine auf deinen Körper gerichtet zu fühlen, dreckige und unanständige Blicke. Ja, es war erniedrigend.

Pedro, Juanjo und ich organisierten uns schnell so gut wir konnten gegen das alles. Wir lasen viel und machten ständig Übungen. Wir machten uns gegenseitig Mut. Garfia und ich bastelten aus Buchseiten winzige Schachspiele mit kleinen Spielsteinen aus gemalten Figuren – wir hatten zum Schein um Briefpapier und Kugelschreibermine gebeten. Dann spielten wir lange Partien, leise und vorsichtig, damit sie uns nicht hörten und uns die Spielbretter wegnahmen. Wir mussten sehr aufpassen, dass sie sie bei der Durchsuchung nicht fanden; die Schachspiele waren alles, was wir hatten und wir mussten sie retten. So verlief die erste Woche in Dueso. Es war das Gefängnis im Gefängnis. Sie ließen uns nicht auf den Hof und nicht telefonieren. Sie erlaubten uns keinen Kontakt zu den Anwälten. Denen sagten sie, wir seien woanders oder gerade verlegt worden. Sie nahmen uns morgens die Matratzen weg und gaben sie erst abends wieder heraus, sie durchsuchten weiter jeden Abend Zelle und Person, wobei wir uns immer nackt ausziehen mussten. Die Kleidung war auch immer noch dieselbe: Ein blauer Overall und Plastiklatschen. Nichtsdestotrotz nahmen wir es mit Humor. Wir sahen aus wie Maurer. Der Anzug, den sie mir gegeben hatten, war etwas zu klein, die Hosenbeine hingen oberhalb der Knöchel und die Ärmel kurz vor den Ellbogen. Bei Juanjo war es genau anders herum, wie er sagte. Sie hatten ihm einen viel zu großen Overall gegeben, er musste Beine und Ärmel hochkrempeln. Pedro schien einen in seiner Größe abbekommen zu haben. Es war schon komisch. Die Ärzte führten ganz gelassen jeden Tag ihre Visite durch und boten uns alle möglichen Drogen an. Sie behaupteten, nichts für uns tun zu können, außer uns unter Tranquilizer zu setzen, wenn wir sie brauchten. Wir weigerten uns, medizinische Hilfe von diesen Bütteln der Vollzugsbehörde anzunehmen.

Wie zu erwarten war, verkomplizierte sich bald die Situation. In der zweiten Woche dort verlor Pedro Vázquez die Nerven und weigerte sich nach dem Mittagessen, dem Schließer das Tablett auszuhändigen. Das mussten wir aber sofort nach Mittag- und Abendessen, denn wir durften nichts in der Zelle haben, das fester war als Stoff, Papier oder das Stück Seife, die sie übrigens bald durch Flüssigseife ersetzen sollten. Von unseren Zellen aus hörten wir die Diskussion:

»Geben Sie das Tablett heraus!« schrie ein Schließer auf dem Flur.

»Nein. Komm doch rein und hol’s dir, wenn du willst.«

»Wenn wir reinkommen ist es nur schlimmer für dich.«

»Schlimmer als was ihr jetzt schon mit uns macht? Das geht nicht. Wir sind hier seit fast einem Monat wie Hunde eingesperrt, ohne Hof, ohne Kommunikation... Ich habe die Nase voll von dem hier und von euch allen.«

Sie schlossen die Tür und gingen. Kurz darauf kam eine ganze Horde, mit Schlagstöcken und Helmen. Sie öffneten die Zellentür unseres Genossen und dann das Gitter. Sie stürmten hinein und schlugen Pedro. Als er am Boden lag, schlossen sie ihn mit den Händen hinter dem Rücken an das Gitter. Ich war von Wut ergriffen, konnte mich nicht zurückhalten und hämmerte an die Tür, als die Schließer vorbeigingen.

»Was willst du?« antwortete mir einer und blickte durch das Guckfenster.

»Machen Sie die Tür auf«, bat ich ihn.

Er öffnete die Tür und näherte sich mir: »Was ist los?«

Durch das Gitter ergriff ich ihn dann am Hals. Überrascht von meiner Reaktion warf er sich nach hinten und versuchte, mit einem Tritt meinen Arm zu treffen.

»Ihr seid ein Haufen feiger Hunde«, rief ich. »Ihr habt überhaupt keinen Grund, meinen Genossen zu schlagen...«

»Bringt die Schlüssel«, bat er seine Kollegen.

Ich ging an das Fenster, riss den Holzrahmen aus den Angeln und stellte mich damit vor das Gitter.

»Mal sehen, ob du zuerst reinkommst, Feigling«, sagte ich zu dem Schließer.

Dünn und mit einem tückischen Antlitz, hatten wir diesen Schließer den »Totenkopf« getauft. Er war ein Schläger. Ihm gefiel es, sich an dem Gefühl der Macht zu laben, die ihm dieser schmutzige Beruf verlieh. Man sah es an seinen Augen und an seiner Gestik. Eingeschüchtert von meinem Auftreten gingen sie und suchten Verstärkung und Schilde. Es kam ein knappes Dutzend. Die Türen gingen auf. Die Horde stürmte herein und schützte sich mit Plastikschilden vor meinen Schlägen. Der Totenkopf kam als Letzter. Sie stießen mich mit den Schilden nach hinten, drückten mich an die Wand und nahmen mir dort das Fenster aus der Hand. Die Knüppelhiebe regneten nur so herab. Ich sackte zusammen und krümmte mich auf dem Boden. Instinktiv versuchte ich mit den Händen das Gesicht zu schützen, schaffte es aber nicht. Ich spürte eine Reihe Tritte in die Rippen, und mir entfuhr der ein oder andere Schmerzenslaut. Dann schleiften sie mich bis an das Gitter und schlossen mich daran fest. Als ich mit den Händen hinter dem Rücken gefesselt war, wandte sich Totenkopf an mich.

»Und wäre ich alleine hereingekommen, es wäre dasselbe gewesen«, gab er an.

Als sie weg waren, brummte mir heftig der Schädel. Trotz der Erregung konnte ich mit anhören, wie sie mit Juanjo diskutierten und sich darauf vorbereiteten, zu ihm hineinzugehen und ihn zu verprügeln. Er hatte sich in Solidarität mit uns in der Zelle verschanzt. Ich rief laut seinen Namen: »Juanjo, Juanjo...«

»Was?« antwortete er durch sein Zellenfenster.

»Lass es sein, du erreichst nichts, nur dass sie dich schlagen. Bleib ruhig, mir geht es gut. Lass es sein, ernsthaft...«

»Geht es dir wirklich gut?«

»Ja.«

Obwohl er keinen Widerstand zeigte, einfach weil er sich solidarisiert hatte, schlossen sie ihn genauso wie uns an das Gitter, schlugen ihn aber nicht. Pedro hatte sich inzwischen mühsam aufgerichtet und das Waschbecken von der Wand getreten. Er beschimpfte weiter die Schließer. Die aber gingen und ließen uns dort allein, gefesselt. Eine fürchterliche Stille breitete sich in der Galerie aus. Einmal mehr hatten unangreifbare Ungerechtigkeit und Missbrauch stattgefunden. Das war nur eine Machtdemonstration der Behörde, eine Demonstration ihrer Methode. Wir riefen uns zu:

»José!«

»Sprich!«

»Wie geht es dir?«

»Ich bin ein bisschen platt. Ich glaube mit Platzwunden am Kopf.«

»Arschlöcher!«

»Und du? Wie geht’s?«

»Von hinten an das Gitter geschlossen.«

»Und du Pedro?«

»Ich bin OK«, rief er uns von der anderen Seite der Galerie aus zu. Über den Flur hörten wir deutlich das Echo seiner Stimme. »Sie haben mir eins übergebraten und jetzt bin ich hier festgeschlossen.«

»Was hast du kaputtgemacht?« fragte ich ihn.

»Das Waschbecken. Ich konnte nichts anderes machen, ich bin gefesselt...«

Unverständlicherweise mussten wir lachen. Wir redeten weiter und schimpften noch eine gute Weile auf die Schließer. Dann wurde es wieder still, grabesstill. Die Position war langsam unbequem. Sie hatten uns so angeschlossen, dass wir uns weder ganz hinsetzen noch richtig hinstellen konnten. Nach ein paar Stunden war das eine ziemlich schmerzhafte Tortur. Wir hofften, sie nahmen uns zur Nacht die Handschellen ab, doch da irrten wir. Gegen zehn kamen sie mit mehreren Decken in die Galerie, gingen die Zellen ab und warfen eine Decke auf jeden von uns. Als sie bei mir waren, stieß ich mit den Beinen die Decke weg. Einer von ihnen provozierte mich:

»Wäre ich heute Nachmittag hier gewesen, hättest du ordentlich was abbekommen...«

Ich machte den Fehler, ihm auf den Leim zu gehen.

»Nimm mir doch die Fesseln ab und zeig’s mir!« sagte ich.

»Du bist auch noch frech?« rief er und trat gegen meinen Kopf.

Meine Stirn knallte auf die Fliesen an der Wand und eine von ihnen ging dabei kaputt. Ich hatte einen Schnitt an der rechten Augenbraue. Ich fühlte wie das Blut über meinen Kopf lief und wie zwei neue Tritte auf mein Gesicht trafen. Ich konnte hören, wie mein Freund Juanjo sie beschimpfte, während einer von ihnen meine Handschellen enger stellte. Der Stahl drückte sich in meine Handgelenke. Ich brauchte eine Weile, um die Benommenheit abzuschütteln. Die Schließer verschlossen Gitter und Tür und gingen.

»Was ist passiert, José?« fragte mich Juanjo.

»Nichts. Ein Arschloch hat mich ein paar mal getreten...«

»Feiglinge!«

Ich war unheimlich wütend. Ich drehte den Kopf dem Fenster zu und sah in den schwarzen Sternenhimmel, um die verhassten weißen Wände zu vermeiden. Das Blut rann mir immer noch über das Gesicht und ließ ein Auge halb erblinden. In diesem Moment hätte jeder von uns, hätte er eine Waffe, ohne Zögern ein Massaker veranstaltet. Indem sie das »Recht« auf diese Weise mit Füßen traten, potenzierten sie in uns die Gewalt. Man forderte uns förmlich dazu auf, die Hemmschwelle der lästigen Todesangst zu überwinden und daran zu denken, ein Massaker zu veranstalten. Dies war die Wirkung bei einigen. Bei anderen waren es Selbstmordgedanken. Tief ergriffen von Wut und Hass litten wir unter unserer Ohnmacht, unter der Ungerechtigkeit und der feigen Folter. Den ganzen Tag in Ketten, die ganze Nacht nackt, wie Vieh unter Röntgenapparate geschoben, waren unsere Herzen so voll des Bösen, dass in ihnen nur noch Platz war für Wut und Rachegelüste. Wie sollten wir über alles hinwegsehen, über den blauen Overall, die Eiseskälte, über den Gedanken an AIDS, der in meinem Kopf herumgeisterte? Wie sollte ich nicht mit Hass darauf reagieren, dass mein Genosse zusammengeschlagen wurde? Die Seele weinte tödlich gekränkt; dieses Begraben des Mitleids unter den Menschen, diese Gitter, die Handschellen, diese schweinischen Blicke, diese Kerker, diese höllische Unterwelt, in der es immer noch eine Steigerung gab. Hass in der Stille, Träume von sadistischem Totschlag in durchwachten Nächten, in denen die Gedanken wütend umherirrten, in denen sich der Tyrann im Herzen aufbaute, auf tie- fem Schmerz in der Seele. Dieses vergewaltigende Mustern durch das gläserne Guckfenster, diese dreckige Defloration aller Intimität, dieses Fertigmachen der gefangenen Person mit ständig erweitertem Repertoire, dieses Treiben in Selbstmord, Irrsinn und Hoffnungslosigkeit. Wie konnte ein Mensch das alles überleben und dabei normal bleiben?

Es gab im Gefängnis keine gefährlichen Menschen: Die gefährlichen Menschen wurden dort gemacht, das war ein großer Unterschied. Die Einfältigkeit dieser barbarischen Methoden stellte die Geltung und das Funktionieren dieses sogenannten Rechtsstaats bloß. Doch wen interessierte, was los war in den Gefängnissen? Niemanden, das war klar. Die Gesellschaft brauchte sich nicht darum zu kümmern, was mit einer Handvoll vandalischer APRE(r)-Mitglieder geschah. Es reichte, dass die Schließer ihre Arbeit taten: Die Drecksarbeit. Unter dem Strich waren wir diejenigen, die sich in Freiheit zusammentaten, um auf ihre Kosten zu leben. Ich gestand der Gesellschaft das Recht zu, uns, die »Bösen«, zu verachten. Ich gestand ihr sogar das Recht auf Rache zu. Ja, ohne Zweifel. Doch was ich nicht akzeptieren konnte war, wenn jemand sich selber dabei als ehrbaren Staatsbürger bezeichnete. Ich gestand diesen Leuten nicht das Recht zu, nach ihren Gesetzen in Freiheit zu leben, wenn sie diese selbst grob verletzten, mit einer ganzen Reihe ihrem eigenen Gesetz zufolge schwerer Straftaten kollaborierten oder ihr eigenes Geld dafür hergaben und mit ihrem Schweigen und ihrer Wählerstimme dabei mithalfen. Die uns geringschätzten, verachteten sich in Wirklichkeit selbst in ihrem schäbigen Kleinmut.

Wo blieb die Ethik der freien Menschen? Wo die Gleichheit vor dem Gesetz? Geduckt in feigen Zynismus, Parteilichkeit, Egoismus. Sie genossen es, zur Herde zu gehören, ihren Hirten »Staat« nennen zu dürfen und ihr Gewissen den »Mehrheitswillen«. Es gab nichts Niedrigeres, als das Benehmen eines feigen und bösen Schließers; nichts, außer einer Bevölkerung, die zu feige war, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Nacht verging langsam, und der Schmerz in den steifen Armen wurde unerträglich. Ich probierte unterschiedliche Stellungen aus, doch ich erreichte nur noch stärkere Schmerzen. Bald spürte ich kalte Feuchtigkeit auf meinem Körper, besonders an den nackten Füßen. Ich streckte mich so gut es ging, und mit ausgestreckten Beinen reichte ich bis an die Decke, die ich Stunden zuvor weggestoßen hatte. Ich zog sie zu mir heran und legte sie mir um die Füße. Ich versuchte zu schlafen, doch das war unmöglich. Ich versuchte, mich auf andere Gedanken zu bringen und nicht auf den Schmerz zu achten. Ich dachte an die Vergangenheit und traf in meiner Vorstellung alte Freunde wieder. Weit lag meine Zeit im Internat zurück, diese herrlichen Zeiten, in denen Freundschaft und Abenteuer uns stärker als je zusammengeschweißt hatten. Ich musste lächeln, als ich mich an meinen Freund Chico erinnerte und daran, wie wir einmal in eine Textilfabrik eingebrochen waren. Was für eine Überraschung, als wir entdeckten, dass es sich bei der dort gelagerten Kleidung um Intimwäsche für Damen handelte, hauchdünne durchsichtige Slips mit kleinen Schleifchen als Halter und Büstenhalter mit alarmierenden Korbgrößen. Ich hatte laut lachen müssen, als Chico in dem Gebäude ein Büro durchstöberte und mit einem Korsett und einem weißen Slip erschien, den er sich mit den Händen an die Hüfte hielt. Er schickte mir von der Bürotür aus ein paar Küsschen herüber und fragte: »Na, wie sehe ich aus?« – wir brachen beide in Gelächter aus. Oder jenes andere Mal, als wir aus der Erziehungsanstalt in Palavea abgehauen waren, nachdem wir die Erzieher eingeschlossen hatten, und in derselben Nacht mit einem gestohlenen Auto, einer Flinte des Kalibers zwölf und unseren Freunden zurückkamen. Einer steuerte das Auto im Kreis um das Erziehungsheim und wir anderen schossen vom Rücksitz aus abwechselnd auf die Glasscheiben der staatlichen Anstalt, die damals für unsere Unterdrückung zuständig war. Ohne Zweifel waren das zwei meiner schönsten Jugenderinnerungen. Wunderbare Zeiten.

Über diesen Erinnerungen wurde es Tag. Ich kehrte in die Realität zurück und ertrug so gut es ging die Kälte, vor allem aber den Schmerz in den gefesselten Armen. Ich musste noch ein paar Stunden länger aushalten, bis eine Gruppe Schließer die Zellentür öffnete.

»Tarrío, wir werden Ihnen die Fesseln abnehmen. Wenn Sie irgendetwas versuchen oder etwas kaputtmachen, fesseln wir Sie wieder, verstanden?«

Ich war völlig fertig und antwortete beruhigend: »Von mir aus gibt es kein Problem.«

Sie ließen mich los. Ich brauchte mehrere Minuten, bis ich die Arme wieder bewegen konnte. Während sie meine Genossen noch losmachten, ging ich schon die Zelle auf und ab. Ich hatte versucht, dass sie mir die Decke ließen, aber sie verweigerten es. Ich brauchte Bewegung und musste hin und her gehen, um die Kälte abzuschütteln, die mir in den Knochen saß. Ich rief über das Fenster Juanjo und Pedro:

»Wie geht es euch?«

»Mir ist arschkalt«, antwortete Pedro.

Ich stellte ihn mir vor, wie er genau wie ich die Zelle auf und ab ging.

»Scheißgefängnis!« rief Juanjo. »Mal sehen, ob sie uns etwas Warmes zum Frühstück bringen oder wenigstens überhaupt etwas.«

»Mal sehen...« antwortete ich.

Und wirklich. Mit humanitärer Geste gewährten sie uns ein Frühstück und boten uns an, warm zu duschen, allerdings nur, wenn wir nackt bis auf das Handtuch und in Handschellen hinunter gingen. Wir frühstückten mit großem Hunger. Danach brachten sie uns nacheinander zu den Duschen, damit wir uns einweichten. Mein Gesicht war voll getrocknetem Blut und der Anzug war fleckig, das würde mir gut tun. Unter der Dusche wusch ich mich, und sie überraschten mich mit einem sauberen Overall in meiner Größe, weißen Polyesterunterhosen und einem dazu passenden kurzärmeligen T-Shirt. Als ich angezogen war, brachten sie mich in eine andere Zelle am Ende der Galerie.

Etwas später erhielten wir Besuch der Herren Ärzte. Ich hatte eine Wunde an der rechten Augenbraue, die ich mir mit Klebebandstreifen zukleben ließ. Ich redete mit dem Arzt, während er mich behandelte:

»Mir ist kalt. Könnten Sie nicht erreichen, dass man uns ein paar Decken gibt?«

»Das fällt nicht in meine Zuständigkeit.«

»Ich bin HIV-positiv und weiß nicht, wie es um meine Abwehrkräfte bestellt ist. Ich weiß aber, dass eine Lungenentzündung mich bei schwacher Abwehr umbringen kann«, ich gab nicht auf.

»Wir werden Sie untersuchen. Mehr kann ich nicht tun.«

Sie schlossen die Tür. Wäre das Gitter nicht gewesen, ich hätte ihn an Ort und Stelle erwürgt. Ich fühlte an die Wunde unter dem Pflaster und legte mich dann auf die metallene Bettplatte. Ich dachte an jenen Satz, den Freud sich zu Eigen gemacht hatte:

»Homo homini lupus«, der Mensch ist des Menschen Wolf. Er hatte vollkommen Recht.

Man rief nach mir. Es war Juanjo.

»José, hör mal!«

»Was ist?« antwortete ich und trat ans Fenster.

»Hast du kalte Füße?«

»Ja, verdammt nochmal.«

»Schmeiß die Brottüten nicht weg und benutze sie als Strümpfe. Wickel dir vorher Klopapier um die Füße.«

Das war eine gute Idee, und wir teilten sie Pedro mit. Wir alle drei machten es. Als ich mich mit diesen revolutionären Strümpfen sah, konnte ich einen Lachanfall nicht unterdrücken. Ich ging ans Fenster:

»Sieht ganz schön albern aus.«

»Ha, ha, ha...« hörte ich Juanjo lachen.

»Hör zu! Sie sind gar nicht so schlecht«, machte sich Pedro lustig, mit seinem ihm eigenen Humor.

»Sie haben dir das Schachspiel weggenommen, oder?« fragte ich Juanjo.

»Ja.«

»Heute Nachmittag machen wir ein neues, wenn die Wache wechselt.«

»Hast du immer noch nicht genug davon zu verlieren?«

»Eh, ich lasse dich nur gewinnen, um dich bei Laune zu halten.«

Schnell verstanden wir, dass es notwendig war, dass wir unseren Humor nicht verloren. Humor half uns. Hier waren wir stärker noch als sonst aufeinander angewiesen, und das verband. Wir stellten neue Schachspiele her, sie nahmen sie uns wieder weg, und wir machten wieder neue. Wir lasen viel, und da es ja verboten war, dieselben Bücher aus der Bibliothek kommen zu lassen, erzählten wir uns gegenseitig die Bücher nach, die wir lasen. Darunter waren die Nikomachische Ethik von Aristoteles und seine Theorie über die Freundschaft. Juanjo erklärte sie mir. Aristoteles teilte die Freundschaft in drei Gruppen ein. Eine Form der Freundschaft war die jugendliche – die wahrhaftigste laut diesem Buch. Die Freundschaft aus Interesse war die zweite Form der Freundschaft, die verbreitetste unter den Menschen. Die dritte Form war die der Tugend, das war die dauerhafteste. Wir verbrachten Stunden mit der Diskussion dieser Themen. Pedro las weniger, weshalb er sich bei diesen Unterhaltungen nicht so stark einbrachte. Mit unserem Meinungsaustausch über die Metamorphosen, die Odyssee, Hamlet oder die militärischen Unternehmungen der Griechen in der Autobiographie Xenophons verbrachten wir einen Großteil der Zeit, die uns eigentlich moralisch zerstören sollte. Um nicht in körperliche Trägheit zu verfallen, forderten wir uns gegenseitig zur größten Anzahl Liegestütze oder anderer Übungen heraus. Juanjo bestand sehr auf die körperliche Erscheinung und ermutigte mich andauernd, er provozierte damit auf gesunde Art und Weise, dass wir unsere Muskeln trainiert hielten. An manchen Nachmittagen machten wir bis zu fünfhundert Liegestütze in Gruppen zu zwanzig oder fünfzig. Die Direktion begann ihrerseits mit der Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen. Sie schweißten neue Streben an die Gitter vor der Tür, so dass man, um ein so großes Loch zu machen, dass ein Mensch durchpasste, mindestens sechs Streben durchzusägen hatte. Das war unmöglich, ohne dass sie es merkten. Sie brachten an dem Gitter ein zweites gepanzertes Schloss an, mit gesondertem Schlüssel. Hätten wir einen Schließer in unserer Gewalt, konnten wir so nur eine der Zellen öffnen, denn sie kamen zu uns immer nur mit dem zu der jeweiligen Zelle passenden Schlüssel. Das senkte die Chance, eine Geiselnahme zu organisieren, drastisch herab. Um ihre Sicherheit zu garantieren, begruben sie uns lebend. Sie zwangen uns auch zu neuen Röntgenaufnahmen. Dieses Mal brachten sie uns in Handschellen bis in die Krankenstation der Anstalt, etwa zweihundert Meter von der FIES-Abteilung entfernt, wo sie uns auf einen Tisch legten, der mit Ketten ausgestattet war, an die wir an mehreren Stellen festgebunden wurden. Die Schließer gingen dann zu den Ärzten in eine spezielle Kabine, die vor den Strahlen schützte. Dann zogen sie uns an und brachten uns zurück in die Abteilung in andere Zellen. Dabei holten sie uns immer einen nach dem anderen ab, stets unter Bewachung von einem Dutzend Schließer, es sei denn, sie verlegten uns innerhalb unseres Trakts – da waren nur vier Schließer dabei. Wir waren also besser bewacht als die Zentrale einer Großbank. Bei Tag standen wir sogar unter der zusätzlichen Aufsicht eines Guardia Civil, der mit Sturmgewehr bewaffnet auf einem der äußeren Wachtürme stand.


Es kam der Monat Oktober. Wir durften immer noch nicht auf den Hof hinaus. Pedro hatte es geschafft, mit einem Anwalt zu sprechen, man hatte den Besuch aber in dem Moment abgebrochen, da er ihm gerade erzählen wollte, wie es uns hier erging. Jede Unterhaltung mit den Anwälten draußen und jeder Brief, der von den FIES-Sonderbedingungen sprach, wurde sofort zensiert. Da das alles mit Einverständnis des Untersuchungs- und Strafvollzugsgerichts Santoña geschah, hatten unsere Anzeigen keine Wirkung und kümmerten die Behörde nicht. Anfang diesen Monats brachten sie Ernesto Pérez Barrot aus Sevilla 2. Wir redeten, und er erzählte, dass die Entwicklung in Sevilla sich überschlagen hatte. Auch dort hatte das Gericht auf die FIES-Linie eingeschwenkt. Mit Bedauern nahmen wir zur Kenntnis, dass Juan Redondo in Sevilla in die Hände der Polizei gefallen war, als er versuchte, einem motorisierten Streifenpolizisten die Waffe zu entwenden. Wir erfuhren auch, dass Ermittlungsverfahren wegen unserer Haftbedingungen eröffnet worden waren, das war ein Hoffnungsschimmer. Die Vorsitzende des Strafvollzugsgerichts Sevilla war aufgebracht über die Bedingungen, unter denen sie die FIES-Betroffenen vorgefunden hatte, mit blauen Overalls, ohne Zugang zur Dusche, gefesselt und seit einem Monat nicht rasiert, alle sichtbar misshandelt. Sie wies das Untersuchungsgericht Nummer 9 aus Sevilla an, ein Verfahren zu eröffnen, und unter der Nummer 4.024/91 wurde gegen Antoni Asunción Hernández, Gerardo Mínguez Prieto, Antonio de Diego Martín und Isidoro Colón Durán wegen verschiedener Verdachtsmomente der Folter ermittelt, wegen unangemessener Härte, Rechtsbeugung und Fälschung offizieller Dokumente. Die Richterin Elena Sánchez Sevilla hatte beispielhaft gehandelt. Sie war im ganzen spanischen Staat die einzige, die sich in der Lage zeigte anzuzeigen, was die Regierung mit den Gefangenen machte, die auf die FIES-Sonderlisten gekommen waren. Andere Strafvollzugsrichter wie José Luis Castro in Valladolid, Martínez de la Concha in Badajoz und das Gericht in Santander verschwiegen die Situation in den Strafanstalten ihrer Provinzen. Solche Haftbedingungen konnten nur mit eindeutiger Unterstützung der Gerichte aufrechterhalten werden. Mit etwas mehr Würde wurden in Sevilla Staatsanwälte tätig, was einem Schrei zum Himmel gleichkam, und zeigten sich wütend, als die Angeklagten Antoni Asunción und Konsorten auf Kaution freikamen, mit zwanzig Millionen Peseten[43] aus staatlichen Kassen, aus den Sonderfonds, die noch berühmt werden sollten.[44] Der damalige Generalstaatsanwalt Eligio Hernández wies seine Untergebenen an, die Anklagen gegen die Mitglieder der PSOE fallen zu lassen. Da sie nicht unabhängig arbeiten konnten, sahen sie sich gezwungen, der Anweisung Folge zu leisten. Der an den Ermittlungen beteiligte Staatsanwalt Luis Fernández Arévalo zog allerdings für die Leitung der Strafvollzugsbehörde bedrückende Schlussfolgerungen, wie in dem Schriftsatz nachzuvollziehen ist, den er am 8. Januar 1992 an das Untersuchungsgericht Nummer 9 in Sevilla richtete[45].

Ein paar Tage nachdem Barrot nach El Dueso gekommen war, brachten sie Juan Redondo. Er erzählte uns, dass man FIES in Sevilla 2 verboten und die dort Einsitzenden in alle Richtungen verstreut hatte, um die richterliche Anweisung zu unterlaufen. Juan kam zu uns nach El Dueso, die anderen entweder nach Villanubla oder Badajoz.

»Was gibt’s, Juan?« begrüßte ich ihn.

»Hier bin ich, wieder eingesperrt. Wie geht es dir?«

»Gut. Haben sie Röntgenbilder von dir gemacht?«

»Ja, sie haben mich gleich als ich kam in die Krankenstation gebracht und mich mit zwei Paar Handschellen an die Ketten dieses Röntgentisches gefesselt.«

»Von uns haben sie auch welche gemacht. Sie wiederholen das ungefähr alle vierzehn Tage. Bis jetzt jedenfalls.«

Mittels geheimer Zeichen teilten wir Juan mit, dass es im Trakt zwei Sägen gab, und dass wir Pedro zufolge, der die Anstalt am besten kannte, durchaus etwas versuchen konnten. Er bekundete sofort seine Absicht mitzumachen.

Einmal mehr wurden wir in andere Zellen verlegt, und ich bekam die erste, das heißt die, die neben der Wachstube lag. Juan und Pedro brachten sie in die zwei hintersten. Also waren sie damit an der Reihe, die Fenstergitter durchzusägen. Sie machten sich an die Arbeit, während Juanjo und ich Liebeslieder sangen und ordentlich Lärm veranstalteten, damit niemand, der es nicht sollte, die Geräusche der Sägen hören konnte, die sich in die Gitterstreben fraßen. Ich musste darauf aufpassen, wann sich das Gitter am Eingang zum Trakt öffnete und die Schließer hereinkamen, damit meine Genossen es mitbekamen und aufhörten zu sägen. Wenn das passierte, rief ich Juan über das Fenster:

»Hör mal, Juan! Schau, die kleine Möwe da, wie hübsch sie ist...«

Dann wusste er, dass ich ihn davor warnte, dass ein Schließer kam. Er gab seinerseits Pedro Bescheid:

»Pedro! Sieh mal die Möwe, wie putzig.«

Juanjo machte häufig mit bei dieser Arbeit, denn ich hatte noch nie ein gutes Gehör gehabt. Wir hatten unser eigenes Sicherheitssystem, und wenn es einen Ausfall gab, war da immer ein Genosse, der einspringen konnte. An einigen Nachmittagen gingen die Schließer mit einer Ordonnanz auf den Hof unter unseren Fenstern hinaus und fegten ihn. Der ein oder andere Schließer ließ es sich dabei nicht nehmen, geringschätzig zu uns hinaufzusehen und uns mit psychologischer Munition zu beschießen, wie etwa: »Hier kommt ihr nie wieder raus, es sei denn in einer Kiste aus Kiefernholz.« Wir hinter den vergitterten Fenstern beschränkten uns darauf, sie verachtend anzublicken und uns über sie aufzuregen, nur unter uns, nicht an sie gewandt – wir lachten und fanden allerhand Kommentare zu Ehren ihrer blödsinnigen Grausamkeit, die sie gar zu gerne zur Schau stellten.

»Lacht nur«, sagten sie sichtlich verärgert zu uns, »mehr als einer von euch wird bald darum flehen, hier herauszukommen. Wir werden ja sehen, ob ihr in ein paar Monaten immer noch lacht...«

Der Alltag lief immer gleich ab. Wir hatten immer noch keine Nachrichten aus der Außenwelt und trugen diese blauen Anzüge und die Plastiklatschen. Eines Nachmittags verlor Barrot die Kontrolle und zerschlug die Glasscheiben in der Zelle. Er konnte nicht länger ohne zu rauchen aushalten und ertrug die ständige Einsamkeit und Leere der trübseligen Zellen nicht mehr, denen jede Spur von Menschlichkeit fehlte. Hinzu kamen die extreme Kälte, die Fesselungen, die tägliche Durchsuchung und die vollkommene Abschottung von der Außenwelt. Eine starke Gruppe Schließer drang in Barrots Zelle vor, verpasste ihm ein paar Knüppelhiebe und ließ ihn an das Gitter geschlossen zurück. Dabei blieb es, und einige Stunden später nahmen sie ihm die Handschellen ab. Wir versuchten, ihn zu beruhigen und ihm zu erklären, dass die Genossen dabei waren, die Fenstergitter durchzusägen, und dass es nicht weiterhalf, die Schließer in Aufregung zu versetzen. Und in der Tat machten sich nur wenige Tage später Schließer und Ordonnanzen daran, unsere Fenster mit zusätzlichen im Beton verschraubten hölzernen Fensterrahmen zu versehen. Sie gingen von Zelle zu Zelle und verlegten uns in der Zwischenzeit in andere. In die fertigen Rahmen setzten sie dicke Scheiben aus Plexiglas mit mehreren Bohrlöchern, die scheinbar die Luftzirkulation ermöglichen sollten. Ich sage scheinbar, denn in Wirklichkeit machten sie sich daran, uns auf unerhörte Weise lebendig zu begraben. Nun ließen sich die Fenster nicht mehr öffnen, und wir kamen nicht mehr an die Gitterstreben. Vor allem aber war nun keine Kommunikation zwischen uns mehr möglich. Sie erachteten es als notwendig, uns voneinander abzuschotten und zu verhindern, dass die menschliche Wärme, mit der wir uns einander zuwandten und die langen, immer herzlichen Gespräche, die wir führten, uns Kraft zum Widerstand gegen unsere Unterdrückung gaben. Nach dieser Strategie hatte uns in jedem Moment unseres Aufenthalts in El Dueso das Leiden unter der Isolation voll bewusst zu sein, damit wir nachgaben, psychisch zu Grunde gingen, uns in uns selbst zurückzogen. Unser Geist sollte zerstört werden.

Als die Plexiglasscheiben in den Zellen, in denen wir gesessen hatten, fertig angebracht waren, kamen alle meine Genossen zurück in ihre Kerker. Nur mich ließen sie dort, wo ich war, denn die Arbeit an der für mich vorgesehenen Zelle war noch nicht abgeschlossen. Wir hörten uns kaum, wenn wir miteinander sprachen und mussten schreien, um uns zu verständigen. Wir vereinbarten, die Scheiben kaputtzumachen. Sofort nach diesem Beschluss waren laute Schläge in der Galerie zu hören. Ich war sehr aufgeregt, wie meine Genossen wohl auch. Die Plexiglasscheiben gaben bald nach, und große Stücke Plastik landeten auf dem Hof. Als die Schließer in die Galerie kamen, war schon kein Fenster mehr ganz. Sie erschienen im Schutz ihrer Schilde und Helme und waren mit Schlagstöcken bewaffnet. Ihnen saß offensichtlich ein Kloß im Hals. Unsere plötzliche und unerwartete offen subversive Reaktion hatte sie tatsächlich schwer beeindruckt. Für sie war keine andere Reaktion denkbar, als dass wir unter der Lawine an Druckmitteln, die man über uns rollen ließ, klein beigaben. Die Schließer gingen von Zelle zu Zelle und schlossen meine Genossen an die Türgitter, schlugen sie aber nicht. Als sie weg waren, redete ich mit ihnen.

»Juan, was ist passiert?« fragte ich.

»Sie haben mich an das Gitter geschlossen, aber bleib ruhig. Das Plexiglas ist kaputt...«

»Hier auch«, warf Pedro ein. »Ich habe das Waschbecken dagegen gerammt.«

»Bist du auch gefesselt?«

»Ja.«

»Und du, Juanjo?«

»Ich auch. Das Plexiglas ist kaputt. Jetzt können sie es neu kaufen«, er machte sich darüber lustig.

Barrot war vor einigen Tagen zu einem Prozess in die Anstalt Ocaña gebracht worden. Er hatte die Party verpasst. Stunden nach diesem Vorfall entschied ich, aus Protest gegen die Fesselung meiner Genossen meine Zelle kaputtzuschlagen. Ich riss das Fenster aus seinem Rahmen und trat das Waschbecken von der Wand. Dann schlug ich damit auf das Türgitter ein, um zu provozieren, dass die Schließer auftauchten. Es kam eine ganze Horde unter Führung des Dienstleiters. Sie öffneten die Tür.

»Was ist jetzt schon wieder los, Tarrío?« wandte sich der Dienstleiter an mich.

»Nehmen Sie meinen Genossen die Fesseln ab«, bat ich ihn.

»Na klar, und ihr macht munter so weiter, nicht?«

»Nein. Sie haben die Plexiglasscheiben zerschlagen, weil das eindeutig zu weit geht, und das wissen Sie. Ansonsten wollen wir keine Schwierigkeiten.«

»Zuerst lässt du das Fenster los und lässt dir Handschellen anlegen. Ich werde die Angelegenheit dann besprechen. Ich gebe dir mein Wort, dass ich euch allen vier noch vor dem Abendessen die Handschellen wieder abnehme. Einverstanden?«

Ohne das Gitter zu öffnen, banden sie mich an dessen eiserne Streben und schlossen dann die Tür. Juan rief mich:

»Was hat er gesagt?«

»Dass er uns vor dem Abendessen die Fesseln abnimmt.«

»Uns allen?« fragte Juanjo.

»Das hat er jedenfalls gesagt.«

Und er hielt sein Wort. Vor dem Abendessen nahmen sie meinen Genossen die Handschellen ab und führten sie in andere Zellen. Dann war ich an der Reihe. Sie gaben uns zu Essen, und wir unterhielten uns angeregt von Fenster zu Fenster und warfen den Möwen Fleischstückchen zu, um die die gefräßigen Viecher mit lautem Schnattern balgten.

»Mann, das sind verkleidete Geier«, sagte ich zu Juan, beeindruckt von der Gefräßigkeit der Vögel.

»Nein, nein«, lachte er, »das sind ganz herzliche Geschöpfe.«

Am nächsten Morgen kamen die Zimmerleute und nahmen die Fensterrahmen ab. Das machte uns Mut. Die Zellenwechsel brachten allerdings mit sich, dass Juan und Pedro nun von vorne anfangen mussten, ihre Fenstergitter anzusägen. Wir beschlossen, damit ein paar Tage zu warten, bis sich die Schließer beruhigt hatten und Gras über diesen Zwischenfall gewachsen war.

An einem dieser Tage erhielt ich einen Brief, mit zwei Monaten Verspätung. Er war von Ana und enthielt auch einige Fotos. Als er ihn mir übergab, sagte der Schließer:

»Wenn Sie den Brief gelesen haben, hole ich ihn wieder ab. In der Zelle dürfen keine Briefe behalten werden.«

Ich antwortete nicht auf diese Gemeinheit und las den Brief meiner Freundin. Sie wollte zu Besuch kommen, wozu wir die Erlaubnis des Strafvollzugsrichters benötigten. Ich sah mir ihre Fotos an: Sie saß in einem Garten auf grünem Rasen und war so schön wie früher. Ich liebte sie ohne Zweifel und wollte sie bald sehen. Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, machte ich mich sofort daran, eine Antwort zu schreiben. Dann setzte ich einen Brief an das Gericht auf, in dem ich beantragte, sie sehen zu dürfen. Ich legte mich auf die Metallplatte, die als Bettgestell diente, und mit dem zusammengerollten Handtuch als Kissen lag ich da, betrachtete die Fotos und ließ mich von meinen Gefühlen wiegen.

Zum Mittagessen verlangte der Schließer, der mir den Brief gebracht hatte, dessen Herausgabe. Selbstverständlich weigerte ich mich. Der Schließer wurde wütend und drohte mir:

»Wenn Sie mir den Brief nicht geben, kommen wir hinein und holen ihn uns.«

Ich holte mir das Essenstablett und stellte es auf die Bettplatte. Dann zerriss ich den Brief und die Fotos vor seinen Augen in kleine Stücke, warf alles in den Abort und drückte auf die Spülung. Ich sah zu, wie diese Fetzen aus meinem Leben im Abfluss verschwanden und sagte zu dem Schließer:

»Da hast du ihn.«

»Sie haben einen Verweis«, sagte er und schlug die Tür zu.

Ich nahm das Tablett und aß im Stehen am Fenster. Die Möwen auf dem Hof hatten sich vor Juans Fenster versammelt – er gab ihnen am meisten zu essen. Die Möwen liebten ihn. Es schien, als ob sie ihn von uns anderen unterschieden, worüber wir uns lustig machten: »Eh, Juan, die Möwen rufen dich.« Ihm gefiel es, sie »die Wesen« zu nennen, vielleicht, um ihnen einen menschlicheren Anstrich zu geben als den eigentlichen Menschen. Und in der Tat konnte weder Juan noch sonst jemand von uns sich eine Gruppe Möwen vorstellen, die eine andere ins Gefängnis sperrte und sie Tag für Tag folterte, die ihr eine Matratze vorenthielt, eine Decke oder gar den Brief eines geliebten Wesens.

Barrot kam von seinem Prozess zurück und bestätigte, dass in Badajoz, Valladolid und Jaén ähnliche Bedingungen eingeführt worden waren, wie sie für uns hier in El Dueso galten. Die meisten Ausbrecher und Aufständischen waren davon betroffen, und wir kannten sie alle persönlich. Allerdings waren unsere Bedingungen etwas anders, was die Sicherheitsmaßnahmen und den psychischen Druck betraf. Wir waren für die jüngsten libertären Aktionen verantwortlich, die das größte Echo in Medien und Gesellschaft gehabt hatten. Deshalb hatte die Behörde uns ausgesucht, um an uns vor den anderen Gefangenen ein Exempel zu statuieren: Wir mussten uns fügen und es über uns ergehen lassen... oder die Geduld verlieren und an die Decke gehen. Immer noch kamen wir nicht auf den Hof hinaus, hatten keinen Besuch, hatten die blauen Overalls und die Plastiklatschen an. Sie gaben uns nur ein paar Blätter Papier und die Mine eines Bic-Kugelschreibers. Wir durften keine Briefumschläge und Briefmarken haben. Wenn wir einen Brief nach draußen bringen wollten, mussten wir ihn auf ein Blatt Papier schreiben und ihn abgeben. Die Schließer versahen ihn dann mit Umschlag und Briefmarke und er erreichte den Empfänger mit etwas Glück zwei Monate später.

Wir mussten den ganzen Tag in diesen leeren Kerkern verbringen, und das war schwer zu ertragen. Wir hatten keinen anderen Zeitvertreib, als auf papiernen Brettern Schach zu spielen oder ein Buch zu lesen. Das war es, was uns am meisten half, unsere Lage zu ertragen. Nie hatte der Spruch mehr Sinn gehabt als hier, nach dem die Bücher offene »Fenster zur Welt« sind. Im übertragenen Sinn brachen wir durch diese Fenster aus und ertrugen so die Isolation. Es gab lange Stunden der Stille, einer brutalen, hoffnungslosen Stille, die die Galerie in eine düstere Stimmung tauchte und die uns klarmachte, was wir ohnehin nicht vergessen konnten: Wir waren lebendig begraben in Grüfte aus Beton. Dann kam der Gedanke, alles kaputtzuschlagen und zu schreien. Schreien, damit die Welt wusste, dass wir trotz allem noch am Leben waren und unser kämpferischer Geist intakt.

In ihrem andauernden Bestreben, uns alles zu nehmen, gingen die Schließer von Zelle zu Zelle, montierten die Waschbecken und Wasserhähne ab und ersetzten letztere durch transparente Plastikschläuche, die in der Wand steckten, direkt über dem ebenerdigen sogenannten arabischen Abort der Marke »stell dich auf die Tritte und ziele«. Wasser trinken oder das Gesicht waschen bedeutete, sich über das Loch zu hängen, durch das die Exkremente verschwanden. Bei Gelegenheit führte das dazu, dass wir unfreiwillig die ganze Zelle unter Wasser setzten, denn wenn wir den Knopf an dem Wasserhahn-Schlauch drückten, kam auf Höhe ein Meter dreißig ein Wasserstrahl aus der Wand, der auf den Abort hinab und von dort in die Zelle spritzte. Da wir keinen Eimer und nichts zum Wischen hatten, blieb das Wasser auf dem Boden bis zum nächsten Tag, an dem man uns einen Wischmopp mit einem nicht zwei Handbreit langen Stiel übergab. Der Eimer zum Auswringen stand auf der Außenseite des Türgitters. Wir hatten keinen Stuhl und keinen Tisch, um uns zum Essen, Lesen und Schreiben hinsetzen zu können. Jede einzelne Geste und Handlung, die unter anderen Umständen normal gewesen wäre, erinnerte uns an die Besonderheit unserer Situation, sogar für Gefängnismaßstäbe. Zum Frühstück, zu Mittag und zum Abendbrot wiederholte man uns monoton die immer gleiche Botschaft: Wir waren es nicht wert, auf einem Stuhl zu sitzen und am Tisch zu essen. Wenn wir etwas trinken wollten oder uns morgens das Gesicht waschen, erinnerte man uns daran, dass der Abort es war, den wir zu diesen Verrichtungen verdient hatten.

Wenn sie sich wie Tiere aufführen, behandeln wir sie eben wie Tiere, dachten sie. Dagegen ist es vielmehr so, dass man von einem Menschen, den man derart brutal behandelt, kein normales Verhalten erwarten kann. Die Behandlung, die man uns angedeihen ließ, ließ uns bloß die Menschlichkeit der Henker als nicht existent betrachten. Obendrein nahmen sie dir die wenigen Briefe, die dich erreichten, und drohten dabei, dir keine weitere Post auszuhändigen, falls du dagegen protestiertest. Als der Schließer mir den Brief von Ana wegnehmen wollte, war ich so frech gewesen und trug jetzt genau diese Konsequenz. Was sie am meisten schmerzte war, dass wir in ihren Augen die Würde desjenigen verkörperten, der sich niemals unterwirft und dem Henker direkt in die Augen sieht, mit dem Ausdruck von Stolz und Freiheitswillen. Sie konnten uns einsperren, doch sonst nichts; sie konnten die Schlüssel im Schloss herumdrehen, zehn Riegel davorschieben, die Gitterstreben verdoppeln, uns foltern und beschimpfen... doch sonst nichts. Das frustrierte sie: Sie wollten uns entwürdigt und flehentlich am Boden kriechen sehen, ohne Persönlichkeit, geistig und emotional am Ende.


Anfang November wurden neue Röntgenaufnahmen gemacht, wobei Juan und Pedro zusammengeschlagen wurden. Wir nahmen die Arbeit an den Fenstergittern wieder auf, und es wurde wieder gesägt. Wir führten unter uns ein altes System der Kommunikation über Kryptographien aus Buchstaben und Zahlen ein, das aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Hatte man den Schlüssel nicht, der aus zehn Zeichen bestand, konnte man die Nachricht nicht entziffern, auch wenn das zugrunde gelegte logische System bekannt war. Das war äußerst sicher, und man konnte es mit unseren Schachspielen verwechseln, bei denen wir ebenfalls Buchstaben und Zahlen verwendeten, die die Koordinaten der Spielzüge angaben. Die Schließer hatten keine Ahnung von unseren Unternehmungen, obwohl sie sehr aufmerksam waren.

Eines Morgens gingen sie daran, Elektrokabel für eine Überwachungskamera zu verlegen, die auf der Außenmauer platziert und auf unsere Fenster gerichtet war. Über jedes Fenster malten sie eine große Nummer, um diese von der Wachstube aus auf dem Bildschirm schnell und zweifelsfrei identifizieren zu können. Die Genossen mussten sich beim Sägen beeilen, wenn sie an ihrem Plan festhalten wollten.

In denselben Wochen beschlossen sie auch, uns auf den Hof zum Spazieren zu führen und uns zusätzliche Anstaltskleidung auszuteilen, denn es wurde empfindlich kalt. Wir bekamen jeder eine Hose, ein Hemd, einen Pullover und eine Cordjacke. Die Overalls wurden eingesammelt. Diese Lumpen waren sehr unbequem. Ein Dienstleiter und mehrere Schließer kamen, um mit mir zu reden.

»Tarrío, von heute an werden Sie auf dem Hof spazieren gehen«, teilte mir lächelnd der Chefschließer mit.

»Und die anderen?« fragte ich ihn.

»Für den Anfang erstmal Sie, und wenn Sie sich benehmen, werden wir auch die anderen hinauslassen. Sie werden nur fünfzehn Minuten hinauskommen und eine gelbe Hose tragen. Sie dürfen die weiße Linie, die ihren Bereich markiert, nicht übertreten. Verstanden?«

»Ich verzichte auf den Hofgang.«

»Wie bitte?«

»Unter diesen Umständen gehe ich nicht auf den Hof. Nicht, bis es für uns alle gilt.«

»Na gut, umso schlechter für Sie...«

Sie schlossen die Tür und redeten mit meinen Genossen, von denen sie dieselbe Antwort bekamen. Sie gaben nach. Wir akzeptierten die Geschichte mit der weißen Linie nicht, also entfernten sie sie. Wir kamen einer nach dem anderen für eine Stunde auf einen kleinen Hof, der von keinem Zellenfenster aus eingesehen werden konnte. Wer Sport trieb, nutzte die Zeit für Langstreckenläufe; die anderen gingen einfach spazieren und entluden so einen Teil des Drucks aus drei ununterbrochenen Monaten in der Zelle. Wir mussten lange gelbe Sporthosen tragen, damit wir, falls wir versuchten, über die Mauer zu springen, ein gut auszumachendes Ziel für die Guardia Civil abgaben. Das galt während der Stunde Hofgang, den Rest des Tages verbrachten wir in die Zellen gesperrt und in den Cordjacken. Neuerdings beließ man uns die Matratze und die Decken.

Als Juan und Pedro damit fertig waren, die Fenstergitter anzusägen, war die Überwachungskamera, die wir den »Inquisitor« getauft hatten, noch nicht angeschlossen. Deshalb beschlossen wir, am selben Nachmittag noch zu handeln. Pedro hatte nicht gut genug gesägt, und die Gitterstreben gaben nicht nach. Wir verschoben den Ausbruch um eine Stunde, damit Pedro den Fehler korrigieren und weitersägen konnte. Eine Stunde später zog er an dem Gitter, und die Eisen gaben unter großem Lärm nach. Die Schließer bemerkten es und kamen in die Galerie. Sie sahen durch die Guckfenster in den Türen, was los war. Die einen liefen und holten Verstärkung, und andere versuchten, Pedro Handschellen anzulegen.

Juan verlor keine Zeit und verließ seine Zelle durch das Fenster. Es war aussichtslos für ihn, ihm blieb nichts als auf das Dach zu steigen und sich zu verschanzen. Er stieg bis auf den Hof ab, trat vor mein Fenster und warf mir eine aus Bettdeckenstreifen geflochtene Leine zu. Ich ergriff deren Ende und band es an das Gitter. Er kletterte an der Leine zu meinem Fenster hoch, hängte sich von dort aus an einen Mauervorsprung und kletterte aufs Dach. »Ánimo!« sagte ich zu ihm als er an meinem Fenster vorbeikam. Er gab mir zwei Klapse auf die Hand, mit der ich zusätzlich zum Knoten das Seil festhielt, und verschwand bewaffnet mit einem Eisen hoch auf das Dach. Die Schließer hatten in der Zwischenzeit angefangen, uns alle an die Türgitter zu schließen. Aus Solidarität mit meinem Genossen schlug ich meine Zelle kaputt, bevor sie mich fesselten. Die Schließer waren völlig durchgedreht, ich leistete keinen Widerstand. Juan fing an, mit dem Eisen die Dachziegel kaputtzuschlagen und den Gefangenen zweiten Grades, die auf dem äußeren Hof herumliefen, zuzurufen: »Zur Hilfe, hier foltert man uns!«

Wir konnten die Schläge der Eisenstange gegen die Dachschindeln hören. Die anderen Gefangenen beachteten die Rufe Juans nicht weiter und beschränkten sich darauf, den Ablauf dieses kleinen Aufstands mitzuverfolgen. Eine Gruppe Guardias Civiles kam in die Anstalt und man forderte Juan dazu auf, vom Dach herunterzukommen. Es erschien auch der Direktor, ein übler Schuft, den wir unter seinem Nachnamen Moreta kannten, und versuchte, mit unserem Genossen zu verhandeln. Er versprach, ihn nicht zu schlagen, und mit der Zeit Hafterleichterungen. Juan hatte keine andere Wahl und stellte sich. Er wurde in die Zelle gebracht und wie wir anderen gefesselt. Dann brachten sie Juanjo und Barrot in Zellen im Untergeschoss und ließen sie dort ungefesselt, während wir drei, Juan, Pedro und ich, mit den Händen hinter dem Rücken gefesselt blieben. So wollten sie uns trennen. Juan rief mich:

»José, bist du auch gefesselt?«

»Genau wie du«, antwortete ich.

Wir redeten mit Pedro und trösteten ihn. Er brauchte sich nicht schuldig zu fühlen. Es war eben so gelaufen, wie es gelaufen war, und wir mussten das akzeptieren und jetzt weitersehen.

Die Nacht war kalt, und Schmerz stellte sich in den Armen ein. Die Folter begann. Wir versuchten hunderte verschiedene Stellungen, ohne Erfolg. Wir konnten nicht aufrecht stehen, uns aber auch nicht richtig hinsetzen, und diese gezwungene Stellung war zusammen mit der Kälte eine Tortur, die uns zur Verzweiflung brachte. Recht und Gesetz waren in Paragraphen und Artikel gesetzter Terror, das Gefängnis die mit Blut geschriebene Geschichte von geschundenen und versklavten Männern und Frauen.

Im Morgengrauen kam eine Gruppe Schließer in Begleitung des Direktors in die Zelle, in der Juan sich befand, und schlug ihn zusammen. Ich fühlte Schmerz und wirkliche Angst in meiner dunklen Zelle, als ich die Schreie meines Freundes hörte und die dumpfen Schlagstockhiebe auf seinen Körper. Juanjo hörte alles von seiner Zelle aus und ging ans Fenster, um die Schließer mit allem Möglichen zu beschimpfen. Sie ließen ab von unserem Freund und öffneten die Tür der Zelle, in der ich saß:

»Na, drücken dir die Handschellen?«

»Ein Bisschen...«, sagte ich erschrocken.

Dann bückte sich der Schließer, der gesprochen hatte, und ließ sie noch enger einrasten. Der Stahl presste sich in meine Handgelenke.

»Jetzt ist es besser, bequemer, nicht wahr?« Er machte sich über mich lustig.

Den Rest der Nacht verbrachten wir so gut wir konnten. Juan hatten sie an Füßen und Händen mit ledernen Riemen an das Bett gefesselt. Am Morgen wurde der Schmerz unerträglich, man nahm uns aber die Fesseln nicht ab und gab uns weder Frühstück noch Mittagessen. Am Nachmittag ließen sie mich los, und Juan schlossen sie wieder an das Türgitter, genau wie Pedro. Indem ich wiederholt kräftig gegen meine Zellentür schlug, schaffte ich es, mit dem Dienstleiter zu sprechen. Ich verlangte, dass den anderen wenigstens die Handschellen vor dem Bauch angelegt wurden, und drohte ihnen damit, meine Zelle erneut kaputtzuschlagen. Er ging darauf ein. Juan und Pedro wurden die Fesseln nach vorne gewechselt, was ihnen immerhin die gezwungene Stellung ersparte. Sie bekamen auch belegte Brote zu essen. Zwei Tage später ließen sie uns los und holten Juanjo und Barrot wieder hoch in die Galerie.

Wir nahmen unseren Alltag wieder auf. Über einen Lehrer, der sie uns mitbrachte, hatten wir Zugang zu Zeitungen und Büchern. Ich meldete mich bei ihm zum Nachholen des Hauptschulabschlusses an; ich war nur bis zur siebten Klasse gekommen. Sie gaben mir ohne weiteres die Schulbücher. Der Schmerz lag schon etwas zurück, doch die Haltung der Gefangenen von El Dueso angesichts der Schreie Juans ging mir nicht aus dem Kopf. Bald sollte ich den Grund für diese Passivität erfahren. Siebzig Prozent der Bevölkerung der Anstalt El Dueso waren Vergewaltiger und Drogenschieber, wahrer Abschaum. Niemand von denen interessierte sich dafür, was hier vorging, obwohl eigentlich alle Bescheid wussten. Unsere Lage war in allen Gefängnissen des spanischen Staats durchaus bekannt, doch niemand unternahm etwas. Diejenigen, die von Freundschaft, Kameradschaft und Kampf geredet hatten, verschwanden und tauchten in der Masse unter, um nicht weiter aufzufallen. Die Situation verlangte einen Volksaufstand in den Gefängnissen, um die geforderten Verbesserungen zu erstreiten. Doch niemand wollte mehr etwas von APRE(r) wissen oder von solidarischem Kampf. Die Behörde hatte ihr Ziel erreicht: Uns von den übrigen Gefangenen zu trennen und ihnen an unserem Exempel die Angst in die Knochen zu treiben. Und wirklich hatten sie gute Gründe, sich vor dem hier zu fürchten. Wer würde sich nicht vor der Stunde ängstigen, zu der er zusammengeschlagen wird, davor, tagelang an ein Türgitter gefesselt zu sein und Schmerz und Kälte zu ertragen? Uns setzte das auch zu, uns vor allen anderen.


Am 30. freuten wir uns über eine Neuigkeit, und wir kamen uns fast gerächt vor. Wir lasen es in der Zeitung, es war geschehen in der Strafanstalt Huesca: Manuel Jesús Castillo Jurado und Carlos Manuel Esteve García hatten fünf Schließer, einen Lehrer und einen Dienstleiter in ihre Gewalt gebracht. In den Verhandlungen forderten sie die Bereitstellung eines Autos am Gefängnistor und freies Geleit. Das wurde abgelehnt, und Carlos M. Esteve verpasste dem Dienstleiter dreißig Messerstiche. Damit er ihn nicht endgültig umbrachte, versprach man die Bereitstellung des Autos am Tor. Die zwei Gefangenen erlaubten also, dass man den Dienstleiter ins Krankenhaus brachte und nahmen die Verhandlungen wieder auf. Der Anstaltsdirektor Otal Tolosama stellte seinen eigenen Wagen mit vollem Tank zur Verfügung, ließ das Tor zur Straße öffnen und erlaubte ihnen die Flucht. Mit je zwei Geiseln vor sich kamen sie einer nach dem anderen heraus, setzten sich in das Auto und fuhren davon. Als sie frei von Verfolgern waren, ließen sie ihre Geiseln los, ohne ihnen ein Haar zu krümmen. Sie hatten es geschafft! Sie hatten die Behörde schön an der Nase herumgeführt. Wir gaben der Aktion dieser beiden Mutigen unseren Beifall, feierten ihren Ausbruch und unterhielten uns darüber von Fenster zu Fenster. Juan und ich hatten Carlos Esteve im Gefängnis kennengelernt. Als der Gefangene der GRAPO Manuel Sevillano im Verlauf seines Hungerstreiks im Gefängnis gestorben war, waren Juan und Esteve die einzigen gewesen, die mit einem Transparent auf das Dach stiegen und gegen die Folter demonstrierten, die diese politischen Gefangenen damals erlitten.

Die Medien taten die Aktion von Huesca als die eigenständige Tat zweier blutrünstiger Psychopathen ab. In Wirklichkeit war diese Aktion jedoch weit mehr als ein Ausdruck von Geisteskrankheit gewesen, grausam wie das System, das sie hervorgebracht hatte. Die beiden entflohenen Sträflinge waren AIDS-Kranke, die vor dem sicheren Tod im Gefängnis flohen. Sie wollten in Freiheit sterben, und das war etwas, das die Verwaltung ihnen niemals zugestehen würde.

Im Gefängnis gab es fast 35.000 Gefangene, die Träger des AIDS-Virus waren. Ein Großteil starb in Haft, viel mehr, als es die Behörde eingestand. Man schönte die Statistik und entließ die Kranken zwei Tage vor dem Tod. Oder – es sind Fälle bekannt – man entließ sie aus der Haft, wenn sie schon tot waren, indem man der Leiche die Fingerabdrücke abnahm, damit sie zum amtlichen Todeszeitpunkt nicht mehr als Haftinsasse geführt war. Die Pflegestationen der Justizvollzugskrankenhäuser waren voll von Leichen, Haut und Knochen mit eingefallenen Augen, die ziellos auf den Fluren umherirrten und die in Gefangenschaft starben, fern der Liebe der Ihren. Die Gefängnishöfe waren von Drogen überschwemmt, und die HIV-positiven Gefangenen brauchten sich Tag für Tag mehr auf, bis sie eines Nachts ins Krankenhaus gefahren wurden und nie wieder zurückkamen, wenn man sie nicht zum morgendlichen Zählappell oder im Trakt auf einem Stuhl sitzend tot fand. Es war furchtbar. Was im Gefängnis mit den AIDS-Kranken stattfand, ließ einem speiübel sein.


Im Dezember brachten sie Pedro in die Anstalt Logroño. In El Dueso ging alles weiter wie bisher. Direktor Moreta, dem wir den Spitznamen Mofeta[46] gegeben hatten, und sein Kollege, der leitende Arzt Enrique Acín, führten weiterhin erzwungene Röntgenbestrahlungen an uns durch. Die Tage verliefen monoton. Die Überwachungskameras wurden fertig installiert, und über jedes Fenster malten sie eine Nummer, um uns zweifelsfrei zu identifizieren. Von nun an sandte ein mechanisches Auge, der »Inquisitor«, ständig Bilder von allem aus, was sich am Fenster zeigte. Sie schraubten Metallplatten zwischen die Fenster, damit wir uns mittels Schnüren aus Bettlakenstreifen nichts zukommen lassen konnten. Vor die Fenster kamen zusätzliche mehrfach gekreuzte Gitter. Es war unmöglich sie durchzusägen, wir konnten kaum die Hand zwischen die Gitter stecken. Immer noch fanden täglich Durchsuchungen statt, und wir mussten uns zweimal täglich nackt ausziehen. Wenn wir auf den Hof hinaus kamen, brachten sie uns die gelbe Jogginghose und führten uns in Handschellen mit den Händen hinter dem Rücken und in Latschen dort hin – jedes Schuhwerk, das uns erlaubt hätte zu laufen, war verboten. Auf dem Hof nahmen sie uns die Handschellen durch das Torgitter hindurch ab und übergaben uns Turnschuhe zum Laufen, die wir dann wieder abgeben mussten, bevor es zurück in die Zelle ging. Sie erlaubten uns den Betrieb kleiner Mittelwellenempfänger. Ich wiederholte den Stoff der Hauptschule und las Miguel Delibes, Stendhal, Dumas, Homer und andere Autoren, an denen mich ihre packende Art zu schreiben faszinierte. Es war unglaublich, was ein Mensch in totaler Isolation in Büchern finden konnte. Dort lagen neue Welten, in die einen die Kunst des Schriftstellers entführte. Die Bücher waren ohne Zweifel eine hervorragende Methode auszubrechen.

Ich ließ Blutproben nehmen, die bestätigten, dass ich Träger von HIV war. Meine Abwehrkräfte lagen bei 500 T4, ich konnte also den Quacksalbern zufolge vorerst beruhigt sein: Ich würde noch nicht sterben, jedenfalls nicht an AIDS. Die Ärzte kamen regelmäßig, unser Verhältnis zu ihnen war allerdings unterkühlt und mit einem überdeutlichen Hass geladen, der Dialog und menschliches Näherkommen unmöglich machte. Wie konnten wir an die Professionalität von jemand glauben, der die Folter an uns verschwieg und gegen unseren Willen Röntgenaufnahmen machte? Sie verweigerten uns alles, worum wir baten und machten sich einen Spaß daraus, uns zu verstehen zu geben, dass sie auf der Seite der Behörde standen und diese Haftbedingungen billigten. Sie führten einfach Befehle aus – dieser Gedanke befreite ihre verfaulten Gewissen von allem Zweifel, dies war die Chance auf schnelle Beförderung.

Wir gewöhnten uns an das Zusammenleben mit den Möwen. Zwei von ihnen hatten wir Namen gegeben: »Schwarzfuß« und die »Vermummte«. Juan hatte großen Spaß mit ihnen:

»Juanjo! Sieh mal, die Vermummte, sie will uns wohl überfallen...«

»Schwarzfuß« war allerdings die Schlimmste: Sie verbrachte den ganzen Tag damit, sich auf ihre Artgenossen zu stürzen und mit Schnabelangriffen zu versuchen, den anderen das Fressen zu klauen, den großen silbrigen Möwen, denen wir den Gruppennamen der »Vielfraße« gegeben hatten. Wir hatten Freude daran, ihnen große Stücke Fleisch zuzuwerfen, die sie nicht hinunterbekamen und mit denen sie nicht fliegen konnten, so dass sie auf den harten Betonboden fielen. Dann würgten sie das Fleischstück wieder hervor und flogen davon, verstört und erbost darüber, dass sie die Beute nicht hatten mitnehmen können. Sie waren für uns ein wichtiger Zeitvertreib.

Ich erhielt einen sonderbaren Brief. Er kam von Ana, einer Sozialarbeiterin, die wir in Teneriffa 2 zur Geisel genommen hatten. Im Brief dankte sie mir für meine Menschlichkeit während der Geiselnahme und dafür, dass wir niemandem etwas getan hatten, und das nach allem, was man mit uns gemacht hatte. Sie bat mich um Entschuldigung dafür, was ich im Gefängnis alles hatte durchmachen müssen, und teilte mir zum Abschied mit, sie werde diese Arbeit wahrscheinlich aufgeben. Der Brief gefiel mir, denn die Sozialarbeiterin brachte deutliche Kritik am Strafvollzug zum Ausdruck und würdigte unseren Kampf, auch wenn sie mit den Methoden nicht einverstanden war. Ich versuchte, ihr eine Antwort zu schreiben, doch schließlich zerriss ich den Brief. Was sollte ich auch antworten? Wir hatten uns ihnen gegenüber human verhalten, wir hatten uns an niemandem vergangen, uns nicht gerächt, und womit bekamen wir es dagegen zu tun?


Ende des Monats wurden Carlos Esteve und Manuel Castillo, sein Genosse auf der Flucht, in Barcelona verhaftet. Die GEOS stürmten die Wohnung. Carlos brachten sie zu uns nach El Dueso, Manuel nach Badajoz. Wir wohnten zusammen den letzten röchelnden Atemzügen des Jahres 1991 bei.

Der Januar begann mit Repression. Sie ließen Carlos nur in Handschellen auf den Hof, wogegen wir Protest einlegten. Ich verweigerte den Hofgang, und Carlos tat dasselbe. Eines Nachmittags verlangte eine Gruppe Schließer von ihm, nackt Kniebeugen zu machen, und er weigerte sich. Da drangen sie in die Zelle und prügelten auf ihn ein. Wir alle fühlten uns völlig ohnmächtig. Ich beschimpfte sie:

»Arschlöcher! Ihr feigen Folterer!«

Ein paar Schließer kamen bis vor meine Tür:

»Hast du ein Problem, du Schwuchtel?«

»Nein, ich habe keins.«

»Ist auch besser so.«

Ich schwieg, um nicht auch geschlagen zu werden. Juan rief mich:

»Was ist passiert, José?«

»Sie haben Carlos geschlagen.«

»Wie geht es dir, Carlos?« fragten wir ihn.

»Gut. Bleibt ruhig, es waren nur ein paar Knüppel. Alles in Ordnung«, er wollte uns beruhigen.

Wir waren vorsichtig, das ist nicht zu leugnen. Wenn wir an die Tür schlugen, wussten wir, dass eine Horde hereinstürmen und uns, für sie folgenlos, verprügeln würde. Dann mussten wir meistens die Nacht über, wenn nicht länger an das Türgitter angeschlossen verbringen, was noch schlimmer war. Ihr Methode beruhte darauf, uns zu spalten, uns mit Schmerzen beizubringen, egoistisch zu handeln und Repressalien zu fürchten. Schwere Zeiten kamen auf uns zu, schwierige Momente, zu denen wir gemeinsam handeln mussten, wenn wir verhindern wollten, dass sie ihr Ziel erreichten und uns kapputtmachten.

Das Essen war wie in allen Gefängnissen: beschissen. Es bestand aus Reis, Kichererbsen, Speck und Tütensuppen, vor allem aber aus Kartoffeln. Die Essenszulagen und der Zugang zum Economato waren uns verwehrt; wir litten Hunger.

Ich erhielt die Erlaubnis vom Gericht, meine Freundin Ana zu sehen, doch die Behörde mischte sich ein, und die Direktion rief bei ihr zu Hause an. Man sprach mit ihren Eltern und erzählte ihnen, ich sei ein gefährlicher Krimineller, der ihre Tochter dazu benutzen wollte, einen Ausbruch zu planen, und dergleichen Lügen. Anas Eltern verboten ihr, zu mir zu kommen. Sie schrieb mir einen Eilbrief, in dem sie mir das mitteilte. Sie würde nicht kommen und mir nicht mehr schreiben und wünschte mir alles Gute. Sie hatten es geschafft, unsere Beziehung zu beenden und den Besuch verhindert. Das schmerzte mich sehr, denn ich hatte von dieser Frau mehr Charakterstärke erwartet. Juan wusste es, denn wir hatten uns vor Monaten in Teneriffa 2 über sie unterhalten. Ich erzählte es ihm:

»Kopf hoch, José. Ich weiß, dass es schwer ist, du mochtest sie.

Eines Tages werden sie dafür bezahlen.«

»Ja, eines Tages werden sie für alles bezahlen. Aber es ist ihre Haltung, die mir weh tut, Juan.«

»Die Leute sind oft nicht, was sie zu sein scheinen...«

»Ja, so ist es wohl.«

Im Radio hörten wir die Nachricht: Zum Verfahren in Sachen Folter an acht FIES-Gefangenen in der Anstalt Sevilla 2 blieb Antoni Asunción gegen Kaution auf freiem Fuß. Man erkannte die Existenz der Misshandlungen in den spanischen Gefängnissen nicht an und bezeichnete uns als unverbesserlich und gleichgültig gegenüber der Strafe. Wir waren extrem gefährliche Gefangene, was die Maßnahme unserer Isolation nötig machte, auf Grundlage geltenden Rechts. Es war sonderbar, doch alle gebrauchten wiederholt diese Vokabel: »Recht«. Lebten wir tatsächlich in einem Rechtsstaat? Ich glaubte nicht daran. Man sprach von persönlicher Meinungsfreiheit, ich aber konnte mich weder mit Anwalt noch Familie austauschen, es sei denn, ich durchlief eine Zensur, die es mir nicht gestattete, über die FIES-Bedingungen zu sprechen. Ebenso galt der Grundsatz der Unschuldsvermutung – es gab aber 13.000 Untersuchungsgefangene, 25% der inhaftierten Bevölkerung. Sie verfaulten in überfüllten Kerkern und warteten auf ihren Prozess. Es galt das Recht, eine Haftstrafe in der Heimatregion abzusitzen, um die familiären Bindungen nicht zu gefährden – in Wirklichkeit mussten die Familienangehörigen Unsummen aus Haushaltsmitteln für lange Überlandreisen aufbringen, um ihre Lieben in Gefangenschaft sehen zu können. Sterbenskranke (nicht Tote!) hatten das Recht, sich auf Artikel 60 zu berufen, doch sie starben in einer kalten Zelle oder wurden einen Tag vor ihrem Tod entlassen. Man hatte im Strafvollzug feierlich den Begriff der Resozialisierung proklamiert, während dieser in Wirklichkeit zum Leprosorium des 20. Jahrhunderts geworden war, zum schaurigen AIDS-Ghetto und zu einer Produktionsstätte von Hass und gesteigerter Kriminalität.


Ich fuhr mit meinen Schulaufgaben fort, die mir nicht schwer fielen. Der medizinische Dienst überreichte Juanjo, Juan und mir Brillen, nachdem wir monatelang darum gebeten hatten. Das Lesen und der geschlossene Raum schadeten auf Dauer dem Sehvermögen eines Gefangenen, da waren wir keine Ausnahme. Man verlangte, dass ich Medizin zum Aufbau meiner Abwehrkräfte schluckte, was ich ablehnte. Wir spielten weiterhin Schach durch die Fenster – die papiernen Spielbretter nahm man uns nicht mehr ab – und unterhielten uns ausgiebig. Wegen des Drucks, der sich in uns aufgebaut hatte, gipfelten diese Gespräche bei Gelegenheit in Diskussionen. Das war logisch, denn wir alle hatten lange Jahre der Isolation auf dem Buckel und das hinterließ seine Spuren. Neurosen und Schizophrenie (keine akuten) waren aufgekommen und bedienten sich dieser gelegentlichen Diskussionen als Druckventil. So konnten wir Adrenalin ablassen und wurden nicht vollends verrückt.


Sie brachten Pedro aus Logroño zurück. Wir riefen ihn von unseren Fenstern aus.

»Was hast du erlebt?« fragte ihn Juan.

»Ich habe mich über eure Lage beschwert und sie haben mich wieder hierher zurückgebracht, einfach so.«

»Man sieht, es läuft gut für uns«, mischte ich mich ein. »Und was war dort so los?«

»Das kannst du dir vorstellen, José, wie überall. Den Leuten ist alles egal, alle wollen nur Drogen und unbedingt eine Besuchserlaubnis. Wer ist noch hier?«

»Dieselben wie vorher, und noch Carlos, der von der Aktion in Huesca, er ist Ende Dezember gekommen.«

»Und wie ist es hier?«

»Wie immer. Jetzt haben wir allerdings eine Matratze, ein Radio und noch ein paar Sachen. Aber jeden Tag gibt es eine Nacktdurchsuchung, außerdem Röntgenstrahlen und sowas...«, klärte Juan ihn auf.

»Diese Kamera läuft jetzt, oder?«

»Ja.«

»Haben sie Röntgenbilder von dir gemacht?« fragte Juan.

»Ja, und sie haben mich geschlagen, als ich mich weigerte.

Schließlich haben sie mich vom Transporter bis in die Krankenstation geschleift, mich an den Tisch gekettet, mich ausgezogen und die Bilder gemacht.«

»Diese Schweine. Waren die Ärzte dabei?« wollte ich wissen.

»Ja, ein Arzt und der medizinische Leiter, dieser Acín.«

»Die alle sollten einen Kopf kürzer gemacht werden«, sagte Juan.

Dann fragte er Carlos: »Glaubst du, die Möwen fressen die Leiche dieser Sau?«

»Meinst du den medizinischen Leiter?«

»Na klar.«

»In fünf Minuten haben sie ihn bis auf die Knochen abgenagt.«

»Ha, ha, ha«, wir lachten im Chor.

Die Repression war hart, unsere Gespräche kreisten um den Widerwillen, den wir für die Ärzte dieser Anstalt und für die Schließer empfanden. Und die wussten das, deshalb machten sie unsere Unterdrückung zu ihrer persönlichen Angelegenheit. In dieser Lage wurden wir nur brutaler, Tag für Tag. Nicht nur wir standen unter großem Druck. Auch die Schließer begannen so zu fühlen. In unserem hasserfüllten Blick und in unseren erbosten Gesprächen sahen, fühlten oder wussten sie, dass wir ihnen alles Schlag für Schlag zurückzahlen würden, falls sie einmal einen Fehler machten, und sie hatten uns oft geschlagen. Sie hatten trotz der außerordentlichen Sicherheitsvorkehrungen Angst. Was, wenn eines Tages einer dieser Verrückten die Sicherheitsmaßnahmen umgehen konnte und sie als Geiseln nahm, nach allem, was sie uns angetan hatten? Ihre Furcht ging so weit, dass sie uns das Rasieren nur mit elektrischen Apparaten erlaubten und uns keine Joghurtbecher, Gläser oder metallene Tabletts ausgaben. Auch dass sie die Zahnbürsten auf der Hälfte absägten und uns die Zahnpasta erst bei Abgabe der Essenstabletts herausgaben, sprach eine deutliche Sprache. Selbst wenn Richter oder Gerichtsboten erschienen, um uns Papiere unterschreiben zu lassen oder eine Aussage in irgendeiner Sache abnahmen, holten sie uns nicht aus dem Kerker, sondern ließen den Richter oder Justizangestellten in die Galerie hinaufgehen. Diese befragten uns dann durch die mehrfachen Gitterstreben an den Zellentüren, in Begleitung einer Gruppe Schließer, die uns von der anderen Seite aus verbot, sich dem Gitter zu nähern. Wir nutzten diese Gelegenheiten, um gegen unsere Haftbedingungen zu protestieren, doch man schenkte dem keine Beachtung:

»Das ist Zuständigkeit der Strafvollzugskammer.«

Ich musste an Artikel 24 der spanischen Verfassung denken, der eine wirksame Interessenvertretung vor Gericht garantierte und ausschloss, dass jemand ohne Verteidigung blieb. Wir waren ein Sonderfall. Die Staatsräson erforderte, hier alles gelten zu lassen, um uns zu bekämpfen. Aber waren nicht eigentlich alle gleich vor dem Gesetz?


Carlos brachten sie schließlich ohne Handschellen auf den Hof, und wir beide beendeten den Hofgangsstreik. Wir sandten Beschwerden an die gerichtlichen Instanzen, ohne Erfolg. Alles wurde entweder sofort eingestellt oder an die Strafvollzugskammer weitergeleitet, was auf dasselbe hinauslief. Die Untersuchungsgerichte, die Provinzialgerichte, die Anwaltskammer, Dekanat und oberster Justizrat, alle, absolut alle beeilten sich, unsere Beschwerden im Archiv verschwinden zu lassen, mit welcher Ausrede auch immer. Niemand wollte etwas von FIES hören, denn es gab Befehle, sich nicht in den schmutzigen Krieg einzumischen, den das Strafvollzugssystem gegen eine Gruppe Vandalen führte, die mit der herrschenden Ordnung gebrochen hatten.

Im Februar gestattete man uns Zugang zum Economato, und ich nahm das Laster des Rauchens wieder auf. Einigen von uns wurde wegen des zerschlagenen Inventars das Hausgeld einbehalten, doch wem sein Hausgeld zur Verfügung stand, der teilte es gerecht mit den anderen. Wie viel auch immer wir hatten, zu gleichen Teilen verteilten wir es unter uns. In dieser und in manch anderer überlebenswichtiger Hinsicht gab es echte Solidarität. Der Direktion und den Schließern gefiel das nicht, denn die gegenseitige Hilfe machte uns stark, und sie beschlossen zu verbieten, dass die, die Geld erhielten, es direkt oder in Form von Ware aus dem Economato an diejenigen von uns weitergaben, die nichts hatten. Der Versuch war zu plump: Carlos brachte eine Beschwerde bis vor die Strafvollzugskammer und bekam Recht. Der Richter urteilte, dass man einem Haftinsassen nicht verbieten könne, für einen anderen im Economato einzukaufen. Doch bevor dieses Urteil gesprochen wurde, mussten wir uns die Sachen mit Leinen über die Fenster zukommen lassen. Wieder einmal erhob sich die Kraft unserer Solidarität über die Grausamkeit des Strafvollzugs, unter den ungünstigsten Bedingungen.

Barrot verschloss sich immer mehr in sich selbst und zeigte sich unzugänglich. Er teilte uns bei Gelegenheit sogar seine Suizidgedanken mit, und auch der Anstaltspsychologin gegenüber machte er entsprechende Kommentare. Die Haftbedingungen mussten Tag für Tag ertragen werden, die Zeiträume des Schweigens wurden immer länger und die Zelle erdrückte immer mehr. Der Prozess der Brutalisierung war langsam, schritt aber sicher voran.

Mit meiner Gesundheit ging es sichtlich bergab. Trotzdem strengte ich mich an, lief täglich ein paar Minuten und hielt mich in Bewegung, um dem Abbau entgegenzuwirken. Neue Blutuntersuchungen wurden gemacht, und da die Abwehrkräfte geschwunden waren, riet man mir zu, Retrovir einzunehmen, was ich ablehnte. Die Medikamente, die es gab, um das Virus aufzuhalten, waren eine Farce, die einzig erreicht hatten, die Gewinne der großen Pharmakonzerne zu erhöhen. Mit Gefangenen wurde auf unerhört brutale Weise herumexperimentiert. Man gab uns eine Medizin, deren Wirkung auf den Organismus eines HIV-Positiven sie nicht wirklich kannten, sie gaben sie dir einfach, als ob es sich um Aspirin handelte. Vor längerer Zeit schon hatte ich beschlossen, keine dieser AIDS-Medikamente einzunehmen. Ich wusste, dass diese Krankheit unheilbar war, und ich wusste, dass der Tod, war es denn erst einmal so weit, unausweichlich war. Ein natürlicher Vorgang, der Preis, den wir alle eines Tages zu zahlen hatten, um das Fortleben der Spezies zu ermöglichen. Ich stellte mich nicht für Experimente von Ärzten zur Verfügung, die mit der Behörde kollaborierten und die Anwendung von Artikel 60 der Vollzugsordnung auf schwer kranke Gefangene verweigerten.


In diesen Wochen erhielt ich mit mehrmonatiger Verspätung eine Mitteilung von der Lebensgefährtin meines Freundes Chico. Sie kam mit dem Mittagessen.

Hallo José:

Wie geht es dir? Ich hoffe, dass es jetzt, da dir dieser Brief ausgehändigt wurde, gut um deine Gesundheit bestellt ist, und auch um deinen Gemütszustand. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, am Boden zerstört, versuche aber, wie auch immer weiterzumachen.

Sieh mal, Che: Zunächst möchte ich dich bitten, mir die Verspätung dieses Briefes zu verzeihen; du hättest ihn schon viel früher bekommen sollen, aber... glaub mir: Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Schon nach meiner Rückkehr aus Carabanchel habe ich versucht dir zu schreiben, um dich auf dem Laufenden zu halten. Mir ging es sehr schlecht und ich musste mich bei jemandem ausheulen. Da ich keine geeignete Person fand, griff ich mehr als einmal zum Kugelschreiber und schrieb an dich, schickte die Briefe jedoch nie ab... Ich konnte einfach nicht fassen, was geschehen war. Ich wollte dir auch schreiben, weil ich immer gewusst habe, wie sehr er dich geliebt hat, und weil ich wusste, dass er gewollt hätte, dass du es von mir erfährst, eher als von jemand anderem: Chico ist tot...

Im September, als ich ins Gefängnis gekommen bin, lag

er einige Tage im Krankenhaus mit einer beginnenden Lungenentzündung. Er bat freiwillig um die Gesundschreibung. Dann verhafteten sie ihn wegen Waffenbesitzes und im Zusammenhang mit einem Überfall auf einen Geldtransport und sperrten ihn ein. Alles ging mehr oder minder gut, doch die Lungenentzündung brach aus, und du weisst, wie die Dinge hier laufen, Grippemittel gegen alles. Zwei Wochen lang lag er mit vierzig Fieber und sie beachteten ihn nicht weiter, bis er einen roten Ausschlag bekam und sie beschlossen, ihn ins Krankenhaus einzuliefern. Zu spät, es ging ihm schon so schlecht, er ließ sich gehen. Es gab zusätzliche Komplikationen mit einer Niere, die nicht mehr funktionierte. Einen Monat lag er im Krankenhaus, und dann gestanden sie ihm Artikel 60 zu, doch er war schon halbtot. Seine Mutter nahm in mit nach Hause, und eines Morgens wachte er völlig aufgedunsen auf, sie brachten ihn im Krankenwagen in die Klinik, wo er mit Blut in der Lunge starb...

Was seine Sterbebegleitung angeht: Traurigerweise war niemand dort, außer meiner Familie und seiner, sonst niemand. Das tut mir weh, allein der Gedanke schmerzt mich, denn er hatte das nicht verdient, er nicht. Sie erschienen nicht einmal zur Beisetzung, ließen sich nicht blicken, der Rothaarige nicht, nicht Pris, nicht Barato, nicht Nacho, niemand von denen... Ich würde dir gerne mehr erzählen, doch es schnürt mir die Kehle zu. Ich kann nicht mehr, ich hoffe du verstehst das und verzeihst mir.

In Liebe, deine Landsfrau Sandra.

Schon als Junge hatte ich eine Vorstellung von Banditentum und fand es wunderbar. Nach dem Internat, wo ich schon Rebellion an den Tag gelegt hatte, gab es für mich nur einen Weg: diesen. Die Vorstellung, ein richtiger Verbrecher zu sein, faszinierte mich. Für mich war dieser Beruf etwas Bewundernswertes, dem alle Welt ihren Respekt zollen würde. Zusammen mit anderen jugendlichen Straftätern nahm ich meinen Werdegang als Gesetzloser in Angriff, und meine Freunde und ich umgaben uns mit Mädchen. Es machte mir Spaß. Ich war weit davon entfernt zu verstehen, dass wir in einer Phantasiewelt lebten. Eine Zeit lang schien sie uns real, doch bald sollte sich diese Vorstellung auflösen und der kruden Realität Platz machen: Es war eine verbotene und verfolgte Lebensform. In dieser Welt hatte ich zusammen mit Eduardo Baptiste Álvarez und mit Isabel richtige Höhenflüge erlebt. Was die anderen Beteiligten anging, so war alles bloßer Schein und Eigeninteresse gewesen. Langsam aber sicher löste sich die romantische Vorstellung, die wir von dieser Welt hatten, in Drogen auf, und ich lernte, wie schäbig die Menschheit sein konnte. Deshalb überraschte mich dieser Brief nicht, in dem man mir mitteilte, dass mein Freund tagelang in einem Krankenhausbett gelegen und mit dem Tod gerungen hatte, ohne dass seine angeblichen langjährigen Freunde sich dazu herabgelassen hätten, ihn zu besuchen, ihm Gesellschaft zu leisten, sich von ihm zu verabschieden. Ich verstand und teilte den Schmerz seiner Lebensgefährtin, bei mir allerdings wurde dieser Schmerz zu Hass. Viele dieser Leute, die ich für ehrbar und mutig gehalten hatte, stellten sich als simple Geizkragen und schäbige Egoisten heraus. Ihr Verhalten brachte mich auf, und ich wollte mich weigern zu akzeptieren, dass alle so dachten und handelten. Für mich gab es trotz allem immer noch ein anderes Motiv, das mich dazu bewog, außerhalb des Gesetzes und des verfaulten Systems zu leben: Die Würde. Die Würde, aufrecht den Weg zu gehen, den man gewählt hat, mit allen Konsequenzen. Die Würde, sich geirrt zu haben und eigene Fehler einzugestehen. Die Würde, ein freier Mensch zu sein, der in seinem Herzen noch viel Platz fand für Hoffnung und Freundschaft.

In meiner Antwort sprach ich Sandra Mut zu, und als Gruß an den, der mein bester Freund gewesen war, schickte ich mehrere laute Rufe nach draußen; sie sollten meine Blumen bis zu dem Grab dieses Menschen bringen, der gewusst hatte, ein solcher zu sein. Ganz ehrlich, sein Tod raubte ein Stück meiner Seele, und dieser Platz würde nun mit der Erinnerung an ihn ausgefüllt sein.


Der März kam mit einer schlechten Nachricht: Juans Vater war gestorben, und man gestattete ihm nicht, in seine Heimat zu reisen, um den letzten Abschied von ihm zu nehmen. In der Zwischenzeit war der Strafvollzugsrichter von Valladolid in den Obersten Justizrat befördert worden; so wollte man seine Kritik an den FIES-Haftbedingungen zum Schweigen bringen, worauf dieser sich einließ. Dasselbe versuchte man bei Manuela Carmena, der Richterin, die die deutlichste Kritik am Strafvollzug geäußert hatte. Sie wurde zur Vorsitzenden des Gerichtshofs Madrid berufen. Dieser Frau schuldeten wir Gefangenen viel. Sie hatte uns gegenüber Menschlichkeit gezeigt, und genau deshalb hatte man sie aus ihrer Stellung entfernt. Die Behörde räumte auf, und andere Richter kamen nach, um die freigewordenen Stellen zu besetzen. Entsprechend wurde der Direktor der Anstalt Sevilla 2, Rafael Fernández Cubero, auf seinem Posten belassen, und dessen Stellvertreter Antonio de Dragó, direkter Verantwortlicher für die Folter in Sevilla 2, wurde zum Leiter der Anstalt Melilla gemacht. Uns bestrahlte man bei immer neuen Röntgenaufnahmen, band uns wieder an die Ketten, die fest an der Liege unter dem Röntgenapparat angebracht waren, nackt. Man gab uns unsere eigene Kleidung und sammelte die Sträflingsanzüge ein. Wenn wir die Zelle verließen, mussten wir uns nach wie vor nackt ausziehen und dann die Plastiklatschen tragen. Wir wurden immer noch auf dem Rücken gefesselt, und die sonstigen Sicherheitsmaßnahmen hielt man ebenfalls aufrecht, außer bei Juanjo, der nun ohne Handschellen auf den Hof hinaus durfte. Man gestand uns Telefongespräche zu, eines im Monat, wofür im Flur unserer Galerie neben einem Türgitter ein Telefon installiert wurde. Wir wurden mit einer Hand an dieses Gitter geschlossen, in der anderen hielten wir den Hörer, den die Schließer uns durch das Gitter entgegenhielten, nachdem sie die Nummer überprüft und gewählt hatten.

Bei den erniedrigenden Personendurchsuchungen kam es bei Gelegenheit zu heftigen Diskussionen mit den Schließern. Immer noch ließen sie uns zweimal am Tag nackt ausziehen, zum Hofgang und zur Nacht. Auch beim täglichen Duschen standen wir nackt vor ihnen, ohne jede Intimität. Die Post wurde immer noch ewig zurückgehalten, und die meisten Briefe landeten zerrissen in den Papierkörben der Büros, von denen aus die Anstalt geleitet wurde. Es waren also einige Details der Kleidungsordnung, der Hofgänge und der nach wie vor zensierten Kommunikation geändert worden, doch die Grundlage dieser Haftbedingungen war immer noch die Arbeit der erfahrenen Henker – selbst Söhne anderer Henker -, angeführt von Antonio Moreta, einem widerwärtigen feigen Hund. Der typische Gefängnisdirektor, der sich in seiner Allmacht vor den Gefangenen aufblies und ihnen nicht zugestand, über seine Anordnungen hinauszudenken. Der Gefangenenhilfsverein Salhaketa hatte mehrfach seine Anwälte in unsere Anstalt geschickt, doch man hatte denen nicht erlaubt, mit uns zu sprechen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat ging das so, und es begann, unter uns seine Wirkung zu entfalten.

Barrot hatte inzwischen ernsthafte psychische und körperliche Probleme. Er zahlte den Preis für ein ganzes dem Rauschgift gewidmetes Leben. Seine Leber spielte ihm übel mit, was er auf das AIDS-Virus zurückführte, das er in sich trug. In seiner Lage dachte er ständig daran und geriet an den Abgrund der Hoffnungslosigkeit. Er hatte sich mit Juan gestritten, und in sich selbst verschlossen ernährte er sein Gehirn und seinen Organismus mit einer Menge Beruhigungsmittel, die ihm die Anstaltsärzte dreimal täglich mit dem Essen austeilten. Er wollte aus dieser Realität fliehen, die an ihm nagte: Die totale Isolation und der Gedanke an AIDS. Ich wusste aus eigener Erfahrung, was er durchmachte; über gewisse Zeiträume hatte auch ich auf Beruhigungsmittel zurückgreifen müssen, um schlafen zu können, wenn ich an Herzrasen oder außergewöhnlichen Angstzuständen und Klaustrophobie litt, doch nur zeitweise. Es war ein Fehler, solche Medikation zum Dauerzustand werden zu lassen, denn mit der Zeit bekam diese zu viel Macht über einen. Ein Fehler, der Barrot das Leben kosten sollte. Man gab ihm keine Nahrungsergänzung und keine Vitamine oder setzte etwa die mörderischen Röntgenbestrahlungen aus, aber Drogen – Drogen gab man ihm alle, die er verlangte, damit er betäubt und ruhig blieb. Auf den Gefängnishöfen lief das genauso: Heroin und alle möglichen anderen Substanzen ließ man frei zirkulieren, damit die inhaftierte Bevölkerung ruhig gestellt war und keine Probleme machte und sie sich um die Realität, in der sie lebte, nicht weiter kümmerte. Wenn es einmal keine Drogen gab, herrschte eine geladene Stimmung und die Gefangenen zeigten sich verstört, deshalb gab es Drogen im Gefängnis und es würde sie immer geben. FIES wurde nicht auf die angewandt, die im Gefängnis mit Drogen handelten. FIES war für diejenigen reserviert, die protestierten.


Mit der Ankunft des April verzog sich die Kälte des Winters und die Stare kamen. Eines Nachmittags las Juanjo in der Zeitung von einem Preis für die beste Kurzgeschichte. Wir redeten darüber über die Fenster und wollten die ein oder andere Erzählung dort einreichen. Doch wir wurden nicht fertig. Juanjo fiel aber ein, ein kleines Buch über Ausbrüche herauszubringen, er wollte unbedingt etwas schreiben. Er rief uns.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns damit beschäftigten, ein Buch über Ausbrüche zu schreiben?« schlug er uns von seinem Fenster aus vor.

»Ich bin einverstanden«, antwortete Carlos.

Ich sprach darüber mit Juan.

»Was sagst du dazu, Juan?« fragte ich ihn.

»Ist mir egal. Schreib über unsere Flucht, wenn du willst. Aber erwähne die Petzerei unter den Gefangenen, damit die Leute auch das mitkriegen und davor gewarnt sind.«

Ich teilte Juanjo mit, dass wir einverstanden waren. Er übernahm es, über Barrots letzten Ausbruch zu schreiben, und Pedro würde seinen eigenen erzählen. Wir taten es in erster Linie, um die Zeit herumzukriegen, auch wenn wir schon dachten, dass das Buch eines Tages veröffentlicht werden und uns etwas Geld einbringen könnte. Carlos hatte die Idee, einen der Stare, die sich auf dem Hof gegenüber unserer Fenster ein Nest in einer Mauerecke gebaut hatten, zum Erzähler zu machen. Wir verbrachten ganze Tage damit, die Kladden für das Buch zu schreiben, das einmal Adiós Prisión heißen und tatsächlich erscheinen sollte. Ich hätte damals gerne ein noch ausführlicheres Buch geschrieben. Alles, was sie uns angetan hatten und noch antaten, sollte darin vorkommen, doch das war nicht möglich, denn es hätte niemals die täglichen Durchsuchungen unserer Zellen und unserer Habe sowie die Zensur überstanden. Eines Tages sollte einer von uns ein vollständigeres Buch herausgeben, in dem Schlüsselsituationen und Beweggründe zur Flucht erörtert würden.

Unabhängig davon schrieb Carlos Gedichte, die ich bei Gelegenheit las. Es war bezeichnend, dass ein Mensch, den die Behörde als unverbesserlichen Bösewicht hinstellte, etwas so feinfühliges aus seinem Innern zu Papier bringen konnte. Es waren schöne Liebesgedichte oder Verse über die Ungerechtigkeit der Mächtigen, die andere unterdrückten. Ich fuhr mit meinen Studien fort, verarbeitete meine Gedanken und las die Bücher aller möglichen Autoren. Juanjo studierte begeistert Geschichte. Stunden verbrachten wir mit Gesprächen, besonders über den spanischen Bürgerkrieg, die Griechen oder meine Lieblingsthemen, die Kelten und die Irmandinhos.[47] Dann machte sich Juanjo wohlmeinend über mich lustig und erinnerte mich an die Ideen, die ich mit ihm geteilt hatte, als wir uns in Daroca kennen lernten: Die Befreiung meiner Heimat Galizien.

»Du bist mir ein schöner Irmandinho mit deinem Bauerngesicht«, sagte er.

»Und du ein kastilischer Imperialist aus Valladolid, Hochburg der Faschisten.«

Dann mussten wir lachen. Juan war darin versunken, zu jeder halben und vollen Stunde zu verfolgen, was das Radio an politischen Nachrichten auskotzte. Manchmal stellte er sich dann ans Fenster und informierte uns, kommentierte das ein oder andere oder forderte uns auf, die Radios auf diese oder jene Frequenz einzustellen. Pedro war mit Beschwerden an die Gerichte beschäftigt, nahm aber an den meisten Gesprächsrunden teil. Er war ein großer Unterhalter und hatte einen besonderen Sinn für Humor. Er las nicht viel, studierte aber einige Geschichtsbücher; das interessierte ihn. Er brachte mir von Fenster zu Fenster schreiend mathematische Gleichungen bei und half mir bei so einigen Problemen, mit denen ich in diesem Fach zu kämpfen hatte. Was Barrot anging, so war er nach wie vor in seine innere Verfremdung versunken, voller Wahnvorstellungen, Tag und Nacht auf Drogen. Er trieb nicht einmal Sport. Carlos nahm daran Anteil und bekam seine Probleme genau mit. Er versuchte erfolglos, ihm seine Lage bewusst zu machen. Barrot war völlig gedankenverloren und sich selbst entfremdet. Ich bewunderte diesen Zug Carlos’, er war ständig um die anderen bekümmert und wusste genau, wann jemand Hilfe brauchte.

Der Druck der Isolation brachte uns manchmal dazu, in bisweilen sogar hitzige Diskussionen zu verfallen, doch nichtsdestotrotz waren unsere humanen Wertvorstellungen intakt, grundlegende Prinzipien einer Ethik, die trotz alledem nicht zugrunde gehen sollten. APRE(r) war zerschlagen worden, und die Ideen, die früher viele Gefangene geeint hatten – diejenigen, die jetzt der schärfsten Repression ausgesetzt waren -, waren verschwunden. Die Mehrheit wollte von nichts mehr etwas wissen, es ging einzig und allein darum, möglichst schnell aus dieser Lage herauszukommen. Unter uns gab es verschiedene Ansichten darüber, doch wir waren immer noch solidarisch miteinander und halfen einander. Alle, die wir dort waren, hatten etwas gemeinsam, das uns unabänderlich verband: Echte Rebellion. Wir alle sechs waren Ausbrecher, und wir sechs missachteten dieses Strafvollzugssystem, unabhängig von unserer Auffassung über die anzuwendenden Methoden. Das war unabweisbar und schweißte uns zusammen. Dagegen konnten sie nicht an.

Die Direktion schraubte zwischen unsere Fenster große abstehende Metallplatten, die uns nur noch erlaubten zu sehen, was sich genau gegenüber befand, und die den Blick der Überwachungskamera, des »Inquisitors«, nicht verstellten. Das Klo auf dem Hof hatten sie abmontiert, und wir mussten in ein Siel in der Mitte des Hofs pinkeln. Manchmal streckte mir Juan seine Finger unter dem Hoftor entgegen, das ich von meinem Zellenfenster aus sehen konnte. So grüßte er mich – das war nicht viel, doch immerhin hatte ich Sichtkontakt mit einem Körperteil eines Menschen, der kein Schließer war. Gesten wie diese oder die Gesichter meiner Genossen, wenn sie am gläsernen Guckfenster in meiner Zellentür vorbeigingen, stets in Begleitung von vier Totschlägern, waren aller menschlicher Kontakt, den wir dort hatten. Dies und geschriene Gespräche. Und falls wir einen Moment lang vergessen haben sollten, wo wir uns befanden, wurden neue Röntgenaufnahmen gemacht. Wir weigerten uns, doch wir wurden mit Handschellen auf dem Rücken von zehn Schließern auf die Krankenstation gebracht und einmal mehr an die Ketten am Röntgentisch gebunden, dann zog man uns die Hose und Unterwäsche herunter, zog uns das Hemd hoch und machte dann die tödlichen Aufnahmen vom Inneren unserer Eingeweide. So war die Demokratie.


Im Mai wurde ich zu einem Prozess in die Anstalt Bonxe verlegt. Gegen sechs Uhr nachmittags verließ ich El Dueso, und mein Sondertransport erreichte Lugo um Mitternacht. Ich bekam kein Wasser oder etwas zu essen. In Bonxe angekommen, wurde ich vollständig durchsucht und mit Handschellen vor dem Bauch in eine der Aufnahmezellen geschlossen. In der Zelle lagen zwei Decken.

»Hören Sie, was ist los, gibt es keine Bettlaken?« fragte ich den Dienstleiter.

»Für Sie nicht, die Decken reichen Ihnen aus.«

»Und die Handschellen?« fragte ich nach.

»Sie behalten sie an. Um sechs werden Sie abgeholt und zum Prozess nach Pontevedra gebracht.«

Als sie die Tür schlossen und weg waren, holte ich den Schlüssel aus seinem Versteck und befreite mich von den Handschellen. Ich legte mich angezogen auf die Matratze, deckte mich zu und wartete auf den Transport. Obwohl ich sehr müde war, konnte ich nicht schlafen. Jede Stunde schaltete ein Schließer das Licht an und sah nach, ob ich noch da war. Diese Typen waren völlig bescheuert und hirnlos, dachte ich für mich, sie labten sich daran, die Personen, die unter ihrer Kontrolle standen, unnötig zu schikanieren. Wie konnte man glauben, es sei möglich, dass jemand nur zwei Stunden nach seiner Ankunft aus einem Gefängnis ausbrechen konnte, das er überhaupt nicht kannte? Absurd.

Ich wartete, bis um vier Uhr morgens der Schließer wieder vorbeigekommen war, und stand auf um zu pinkeln. Während ich genüsslich in das Klobecken pinkelte, mit der linken Hand gegen die Wand gestützt, fiel mir ein metallenes Wasserrohr auf, das hinauf zum Spülkasten führte. Nach dem Pinkeln stieg ich auf das Klobecken und prüfte das Rohr: es saß fest. Zwei Stunden hatte ich. Ich drehte den kleinen Wasserhahn zu und sägte das Metallrohr ab mit einem Stück Säge, das Juan mir in El Dueso geschenkt und das ich durch alle Kontrollen gebracht hatte. Ohne Zeit zu verlieren, drückte ich das Rohr platt und sägte es schräg ab, so dass es eine Spitze bekam. Dann schleifte ich die Spitze. Ich legte mich wieder ins Bett und wartete auf die nächste Kontrolle, um diesem improvisierten Messer den letzten Schliff zu verpassen. Als der Schließer weg war, schnitt ich das Messer so kurz ab, dass es mir ohne zu große Schmerzen in den After passte. Ich wickelte es in eine Mülltüte, die es in der Zelle gab, gab dem Bündel eine zylindrische Form und erhitzte die Plastiktüte mit einem Feuerzeug, damit sie nicht aufging und die Falten verlor. Dann schmierte ich das Päckchen mit Seife ein und führte es mir nicht ohne Schmerzen ein. Jetzt hatte ich eine Waffe, wenngleich rudimentär, und deshalb auch eine neue Chance, das war besser als nichts. Unter uns Ausbrechern war es gezwungenermaßen normal, sich etwas einzuführen, eine Überlebensfrage, wichtiger als das Getue darum, »Jungfrau« zu sein.

Um sechs hörte ich die unverwechselbaren Schritte der Schließer sich über den Flur meiner Zelle nähern. Ich legte mir die Handschellen an und versteckte die Säge und den Schlüssel. Als die Tür aufging, kam eine große Gruppe Schließer und Guardias Civiles hinein und durchsuchte mich. Dann wechselten sie die Handschellen gegen andere und brachten mich in einen Polizeitransporter. Bevor wir das Anstaltsgelände verlassen hatten, holte ich das Messer hervor, nahm es aus der Plastiktüte und steckte es ein. Die Scheiße wischte ich mir mit feuchtem Klopapier von den Händen, das ich eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Wir fuhren in die Anstalt Monterroxo, wo wir meinen Freund Izquierdo Trancho abholen mussten. Trancho war ein mutiger Typ, ich konnte für das, was ich mir vorgenommen hatte, auf ihn zählen. Als wir in Monterroxo ankamen, musste ich einige Minuten warten, bis sie Trancho brachten. Er grinste und setzte sich zu mir. Wir fuhren weiter, mit dem Ziel Strafgerichtshof Nummer 2 in Pontevedra.

»Wie geht’s dir, José?«

»Gut, und dir?«

»Auch gut. Mal sehen, ob wir heute etwas ausrichten können, was?«

»Können wir«, sagte ich, holte das Messer hervor und fügte grinsend hinzu: »Guck mal was ich hier habe.«

»Schick! Wie hast du es herausgeschmuggelt?« fragte er und wog das Messer in seiner Hand.

»Im Arsch, wo sonst. Ich habe das Wasserrohr eines Klospülkastens plattgedrückt. Nichts Tolles, aber es wird uns nützen, wenn wir uns während der Verhandlung den Richter greifen. Was denkst du?«

»Von mir aus alles klar, das weißt du. Wir müssen allerdings unsere Handschellen aufbekommen, sonst kriegen wir gar nichts hin.«

»Gut«, antwortete ich. »Und was ist in Jaén los?«

»Alles Mist, auch wenn es nicht so schlimm ist wie in El Dueso. Ich habe gehört, es ist richtig mies dort, oder?«

»Ja, ziemlich.«

»Bei uns in Jaén gibt es jeden Tag Stress mit den Schließern.«

Wir redeten weiter bis wir in Pontevedra ankamen. Dort schlossen wir uns gegenseitig die Handschellen auf und blockierten deren Zähne mit Pappstückchen. Wir schlossen sie wieder, doch jetzt verhinderte der Karton, dass sie einrasteten. Mit einem kräftigen Zug konnten wir sie jederzeit öffnen.

Eine Eskorte brachte uns ins Gerichtsgebäude, zwischen Zeitungsleuten und Fotografen. Wir kamen in einen kleinen Warteraum, der von einer stattlichen Anzahl Guardias Civiles und Policías Nacionales bewacht wurde. Die Stunden vor einer Aktion sind die schlimmsten, und wir verbrachten die Zeit rauchend und redend. Die Anwesenheit meines Freundes war mir sehr angenehm, und es beruhigte mich, auf ihn zählen zu können. Die Uhrzeit des Gerichtstermins rückte näher, und es passierte etwas, mit dem wir nicht gerechnet hatten: Ein Paar Guardias Civiles schloss seine Hände an die unseren. Wir waren angearscht.

Wir gingen in den Saal, und man machte uns den Prozess wegen Beamtenbeleidigung, aufgrund eines Briefs an einen Richter, in dem wir ihn beschimpft hatten. Wir versuchten, gegen unsere Haftbedingungen zu protestieren, man ging jedoch auf unsere Ausführungen nicht ein. Der Richter fragte mich in väterlichem Ton:

»Wie kommt es, dass Sie sich in ihren jungen Jahren in derartige Schwierigkeiten bringen?«

»Weil die Justiz von Arschlöchern wie dir gemacht wird«, warf ich ihm an den Kopf.

Er lief rot an, denn so eine Antwort hatte er nicht erwartet.

Trancho mischte sich ein:

»Euch«, sagte er an Richter und Staatsanwalt gewandt, »euch tut wirklich eine gehörige Rehabilitation Not, ihr seid völlig verfault. Wie wollt ihr Richter sein, wo ihr es nicht einmal zu Würmern bringt? Ihr seid es und euer Scheißsystem, was ihr rehabilitieren müsst, Hornochsen!«

Wir schimpften weiter auf Gesetz und Justiz, man warf uns aus dem Saal und brachte uns wieder in den Transporter.

»Was für Arschlöcher!« rief mein Freund, schon drinnen im Transporter.

»Allerdings, sie haben uns die Freude nicht gegönnt«, sagte ich.

Dann lachte ich: »Wenn dieser Dummkopf von Richter wüsste, wie nah er daran war, unsere Geisel zu werden...«

»Wir haben vielleicht ein Pech, Mann.«

Wir entledigten uns des Messers, denn wir würden es nicht mehr brauchen, und nutzten die gemeinsam verbrachte Rückfahrt ins Gefängnis, um uns zu unterhalten, bevor wir wieder in der Isolation landeten. In Monterroxo verabschiedeten wir uns mit einer kräftigen Umarmung. In Bonxe kam ich in dieselbe Zelle, die ich schon die Nacht davor belegt hatte. Man nahm mir die Handschellen ab und übergab mir saubere Laken und Essen. Die Behandlung war besser als bei meiner Ankunft.


Am nächsten Morgen wurde ich nach El Dueso zurückgebracht. Ich erfreute mich an dem Anblick der Landschaft meiner Heimat und fühlte Heimweh. Erinnerungen brachen über mich herein. Ohne Zweifel war ich in diesen schönen Flecken Erde verliebt. Ich dachte mit Sympathie an den bewaffneten Kampf, der in dieser Gegend von den Mitgliedern des Exército Guerrilheiro[48] geführt wurde. Die meisten dieser Frauen und Männer waren verhaftet und in die Gefängnisse des Staats gesperrt worden, den sie bekämpften. Sie erinnerten an alte Geschichten von antifaschistischem Widerstand, an Namen von guerrilheiros wie Foucelhas, Piloto oder Reboiras, die der Franquismus ermordet hatte. In dieser Berglandschaft hatte einer der blutigsten Widerstandskämpfe gegen den Faschismus stattgefunden, im Anschluss an den erfolgreichen Staatsstreich der Militärs im Bürgerkrieg; Heroischer Widerstand, der von der Kommunistischen Partei Carrillos und der Pasionaria[49] verraten wurde. Dieses Volk hatte einen der gewaltigsten Bauernaufstände des feudalen Europa zustande gebracht: die Revolution der Irmandinhos, in der sich tausende Bauern bewaffnet gegen die grausame Unterdrückung durch die Tyrannen der Epoche gewehrt hatten. Ich bewunderte das Exército Guerrilheiro, und die Folter, die es in Anstalten wie Alcalá-Meco erlitten hatte, war mir zu Ohren gekommen: Sie hatten sich geweigert, die dortigen Normen zu akzeptieren, wie etwa beim Zählappell stillzustehen, wofür es scheußliche Prügel setzte. Von Politik wusste ich nicht viel, doch genug, um zu wissen, dass Spanien ein zentralistischer Staat war, der auf Eroberung, Gewalt und Ausbeutung gebaut war und die Freiheit alter Völker beendet hatte. Ich bewunderte diese Leute, denn sie hatten sich offen gegen den Drogenhandel gestellt, gegen die Mafia, die mit den falschen Drogen die Jugend vernichtete – dieselben, die die allermeisten der Freundinnen und Freunde in den Tod gerissen hatten, mit denen ich als Kind gespielt hatte, bevor dieses Land mit Drogen und Misere überschwemmt worden war. Auch Xosé Vilhar Regueiro und Lola Castro Lama würde ich immer in guter Erinnerung behalten; sie waren bei dem Versuch umgekommen, uns von diesem Übel zu befreien, das von der kranken Justiz einer Demokratie geschützt wurde, die sich dem Meistbietenden prostituierte.

Am grauen Himmel unseres einfachen Volkes

stehen rote Sterne blau[50] durchkreuzt,

es sind die Seelen der toten Guerrilheiros

leuchtend und frei.

Am Nachmittag kamen wir an. Wie ich erwartet hatte, wurde ich vom Transporter direkt in die Krankenstation gestoßen, wo neue Röntgenaufnahmen gemacht wurden. Nach der sorgfältigen Überprüfung, dass ich nichts mitführte, was eine Gefahr für den ordungsgemäßen Ablauf des Strafvollzugs hätte darstellen können, brachte man mich in eine Zelle der FIES-Abteilung. Dort hieß man mich ausziehen und durchsuchte meine Kleidung. Als die Schließer weg waren, trat ich ans Fenster und begrüßte die Genossen. Ich erzählte ihnen nur einige Details meiner Reise, denn wir wurden ja ständig überwacht.

Am 23. wurde ich vierundzwanzig Jahre alt. Mein Alter betrog mich: Ich war noch ein Junge, auch wenn ich erwachsen spielte, und es gab Dinge, die nur Zeit und Erfahrung mir beibringen sollten. Ich hatte einen sturen und aufbrausenden Charakter, vor allem, wenn ich darauf bestand, in einer Angelegenheit im Recht zu sein – manchmal fiel es mir schwer, meine Ignoranz einzugestehen. Doch ich sollte noch lernen. Ich sollte die für alle Menschen obligatorische Lektion in Bescheidenheit und Menschlichkeit lernen. Ich wollte, dass meine soziale Entwicklung und Emanzipation mit einer Revolution in meinem Innern einherging, die mich zu einem besseren Menschen machte, toleranter, humaner. Ich rechnete meinen Genossen die Geduld, die sie mit mir hatten, hoch an, wie auch ihr Bemühen, mich so zu akzeptieren, wie ich war: Introvertiert und schwer genießbar, doch dazu fähig, mich für jeden von ihnen herzugeben. Wir gaben uns zärtliche Spitznamen: Carlos nannten wir »Simpson«, Juanjo den »Doktor«, Pedro blieb auf dem Namen »Schnarchi« sitzen, Juan war »die Seifenblase«, und ich hieß »Norman«. Barrot war immer noch in seinem Paralleluniversum gefangen und ging kaum ans Fenster, außer um Juanjo die für die Redaktion des Kapitels über seinen Ausbruch erforderlichen Daten mitzuteilen, damit er sie in das Buch Adiós Prisión aufnehmen konnte.

Im Übrigen waren unsere Haftbedingungen immer noch dieselben, und das Leben war so monoton wie unerträglich. Wir waren seit Monaten zusammen. Einige von uns kannten sich seit Jahren, und die Gespräche über die wenigen ernsthaften Themen, über die wir hätten sprechen können, wurden abgehört. Die meisten unserer Unterhaltungen wurden deshalb fade und inhaltslos, ohne Tiefgang. Das wurde immer belastender. Das Einzige, was die Routine etwas aufbrach, war vom Fenster aus zuzusehen, wie ein Paar Stare sich ein Nest auf der Hofmauer baute, es dabei zu beobachten, wie es mit kleinen Zweigen oder Baumwollstückchen im Schnabel umherflog oder auf dem Hof herumlief und Obstreste suchte. Es gab auch eine Taube, die irgendeinem Gefangenen gehören musste. Der warfen wir Brotkrumen hin, die sie mit der diesen Vögeln eigenen Ruhe aufpickte. Sogar die Möwen schienen dieser Langeweile überdrüssig.


Im Juni kam es in der Anstalt Alcalá-Meco zu einem Aufstand, während dessen einer der Gefangenen an den Messerstichen starb, die ihm Moisés Caamáñez Álvarez zum Ausgleich offener Rechnungen verpasst hatte, ein Junge von zweiundzwanzig Jahren. Wenige Tage nach dem Aufstand brachten sie ihn und steckten ihn in die erste Zelle, neben Juan. Mit ihm waren wir jetzt sieben. Noch am Tag seiner Ankunft fragte ihn Carlos nach dem Grund dafür, dass während eines Aufstands wieder einmal ein Gefangener ums Leben gekommen war. Die Antwort war in etwa die folgende Geschichte.

Der Tote war der Verantwortliche für das Abrutschen in die Welt der Drogen und der Prostitution einer jüngeren Schwester von Moisés gewesen. Wenige Monate zuvor war das Mädchen an einer Überdosis gestorben. Als Moisés mitbekam, dass dieser Gefangene damit zu tun gehabt hatte und in demselben Trakt in Alcalá-Meco einsaß wie er, entführte er einen Schließer und ging auf ihn los. Er tötete ihn. Bevor er sich sich dem entführten Schließer stellte, verlangte er die Gegenwart des Strafvollzugsrichters und protestierte gegen Prügel und Misshandlungen der jugendlichen Gefangenen in Alcalá-Meco. Um dem Nachdruck zu verleihen, zwang er den Richter dazu, einen seiner Mitgefangenen aufzusuchen, der mit einem gebrochenen Arm in Gips und eindeutigen Spuren der Misshandlung durch die Schließer in Isolationshaft saß. Anschließend stellte er sich und kam Tage darauf nach El Dueso. Dies ist die Geschichte, die er erzählte, was nicht heißt, dass nicht andere Versionen des Vorfalls kursierten.

An einem dieser Tage hatte Juan einen Wutanfall. Die Nase voll vom Druck der Isolation, riss er das Fenster aus dem Rahmen, tobte in der Zelle und schlug alles kurz und klein. Ein Trupp Schließer erschien, überwältigte und schloss ihn mit den Händen hinter dem Rücken an das Türgitter. Der medizinische Leiter kam dazu. »Wir werden dir jetzt gleich eine Injektion setzen, damit deine Nerven runterkochen, du Arschloch«, drohte er ihm.

Juan rief Carlos und mich: »José, Carlos!«

Ich ging ans Fenster.

»Was ist los, Juan?« fragte ich erschrocken.

Im Trakt war die Spannung nach langer schmerzhafter Stille merklich angewachsen.

»Sie wollen mir eine Spritze verpassen...«, antwortete er aufgeregt.

Eine Spritze Phenothiazin gesetzt zu bekommen, war wahrlich kein Scherz. Es konnte einen Mann zwei Wochen flachlegen, ohne die Kraft, auch nur zu denken. Es war gefährlich, denn schon eine dieser Injektionen konnte bei einem gesunden Menschen schwere psychische Folgeschäden hervorrufen. Ich war so erschrocken wie er, doch er war mein Freund, und ich ging an die Tür und schlug kräftig dagegen. Carlos rief mich:

»Was hast du vor?«

»Natürlich mit denen reden, damit sie ihm die Spritze nicht setzen.«

Ich hämmerte also weiter gegen die Tür, und Carlos tat dasselbe, bis der Dienstleiter zu meiner Zelle kam. Sie öffneten die Tür. »Was ist los?« fragte er mich.

»Der medizinische Leiter hat damit gedroht, meinem Genossen zwangsweise eine Spritze zu setzen.« Ich erklärte ihm ruhig: »Wenn Juan die Zelle kaputtgemacht hat, dann weil diese Bedingungen sehr hart sind, und das wissen Sie. Es ist logisch, dass man irgendwann ausrastet. Es ist noch nicht lange her, dass sein Vater gestorben ist, ich glaube es ist völlig erklärlich und normal, dass er sich so fühlt.«

»Das ist Sache des medizinischen Leiters und nicht unsere, Tarrío.«

»Gut, aber sie sollen wissen, dass wenn Sie meinem Freund diese Spritze setzen, ich es bin, der seine Zelle kaputtschlägt, und danach alle anderen Genossen, und ihr werdet kommen müssen, um mich zu fesseln, denn ich werde nicht aufhören.«

»Na na, wer wird denn gleich drohen, Tarrío, beruhigen Sie sich. Ich werde mit Don Enrique sprechen, mal sehen, ob wir diesmal von der Spritze absehen können, einverstanden?«

»Einverstanden. Und noch etwas«, fügte ich hinzu, »nehmen Sie ihm die Fesseln ab.«

»Wir werden sehen.«

Carlos sagte ihm etwas Ähnliches. Ich teilte Juan mit, was wir besprochen hatten, damit er sich beruhigte:

»Bleib ruhig, Juanito, mal sehen, ob sie dir die Fesseln abnehmen und die Geschichte nicht ausufert. Wie geht es dir?«

»Gut. Ich bin ausgeflippt...«

Man gab ihm die Spritze nicht, und ein paar Stunden später nahm man ihm die Fesseln ab und führte ihn in eine andere Zelle. Er war mit dem Schrecken davongekommen.

Pedro bekam in einigen Sachen vor dem Strafvollzugsgericht Recht, und man gestand uns eine zusätzliche Stunde Hofgang zu. Draußen stellten der Verein Salhaketa und die Asociación Pro Derechos Humanos[51] Dossiers über unsere Lage zusammen, auf Grundlage eines mächtigen Stapels Kopien von Anzeigen und Beschwerden, den wir ihnen über die Anwälte hatten zuspielen können.

Ich erhielt einen Brief von Musta aus Puerto de Santa María:

Lieber Xosé:

Wenn ich mal dazu komme, den Kugelschreiber zu schwingen, irre ich in Zeit und Ideen umher und schreibe fast nie zu Ende, was ich angefangen habe... es erscheint mir immer zu kurz gegriffen und unfertig. Ich schaffe es nicht, was ich sagen will auf eine solide Grundlage zu stellen und mich verständlich zu machen. Ein Blatt Papier scheint mir dafür zu klein, ich bin konfus, und ich will nicht irgendetwas sagen. Für das, was ich mitteilen will, ist dies ein zu abstraktes Medium.

Amado irman do alma... Verstehst du mich? Genau weiß dieses Gefühl, das Freundschaft heißt, wie sehr ich mich nach dir sehne und wie wenig ich für dich tun kann... Genau weiß diese leidenschaftliche Besessenheit, was Du für mich bedeutest, und auch, wie die Felswände um mich herum diese unbändigen Wogen brechen... Wie traurig! Wie grauenhaft!

Manchmal, wenn ich den Gedanken des jeweiligen Erzählers folge, entziehe ich mich dieser miserablen Welt so nachhaltig, ich ziehe mich so weit in die Erzählung zurück, dass ich mir, wenn ich von dieser Reise »aufwache«, unbekannt und fremd vorkomme. Ich fühle mich losgelöst von allem Weltlichen, allem Nichtigen, und meine eigene Nichtigkeit ist dem Reiz der wahren Würde unterlegen.

Niemals, irman meu, werden sie die Leidenschaft, die ich für Gerechtigkeit und ein Leben in Würde empfinde, einsperren können, wie sie auch niemals zum Schweigen bringen werden, was auf meiner inneren Kanzel gesprochen wird. Mein Körper ist ein loyaler Soldat im Dienst der Menschheit und der libertären Ideen meines geliebten Piotr Kropotkin. Ich begreife es als Sinn des Lebens, der Menschheit die Erinnerung an den würdigen Einsatz unserer Person in der Aktion zu hinterlassen.

In diesem Leben existieren Millionen Personen, die aus Charakterschwäche nichts sind als Millionen Personen, und nur hunderte einzigartige Frauen und Männer kennen wir wegen ihrer Hinterlassenschaft, ihrer revolutionären Ideen oder Aktionen. Ich bin die Revolutionen dieser singulären Sterblichen oberflächlich durchgegangen, und ich habe unter größtem Bedauern festgestellt, dass sie sich nie mit den ewigen Sklaven der Gesellschaften aufgehalten haben: den Gefangenen. Nicht die Kommunisten, nicht die Sozialisten, nicht die Republikaner... nichts! Angeblich in Bezug auf die Gleichstellung der gesellschaftlichen Klassen avantgardistische Organisationen haben sich nicht mit der unterdrücktesten aller Klassen aufgehalten, die sie angeblich repräsentieren. Es ist traurig, den herzzerreißenden und zu leisen Schlachtruf eines Kollektivs zu hören, das es trotz seiner in gewissem Sinne einheitlichen Lage nicht versteht, seiner gerechten Rebellion eine bestimmte Richtung zu geben, unter anderem aus Ignoranz, Furcht und Feigheit.

Kurzum... Ich würde gar zu gerne mit dir sprechen und dich in den Arm nehmen, um zu fühlen, dass was ich denke und sage Frucht gemeinsamer Ideen ist, um so wenigstens etwas von meinem Verlangen und meiner Traurigkeit auf Deine brüderlichen Schultern zu laden und die Dinge mit der Idee anzugehen, nicht allein dazustehen im Krieg gegen die Ungerechtigkeit.

In libertärer Liebe, Dein Gabriel Pombo

Der Brief meines Freundes ließ mich nachdenken. Ich freute mich darüber, dass er sich der Anarchie als Humanphilosophie genähert hatte, um sich auf deren Grundlage gegen das System zu stellen. Anarchie, libertäre Kultur, war auf lange Sicht die Hoffnung der Gesellschaft, besonders die Hoffnung der am meisten Benachteiligten.


Ich lief weiterhin im Kreis auf dem kleinen Hof und verbesserte deutlich meine körperliche Form. Eine Stunde am Tag widmete ich mich dem Laufen, jetzt, da wir mehr Zeit dazu hatten, und machte Dehnübungen. Das machte mir Mut. Ich nahm mir auch vor, das Rauchen aufzugeben. Vor längerer Zeit schon hatte ich die Drogen hinter mir gelassen, und das einzige Laster, dem ich noch frönte, war der Tabak. Ich war besessen davon, es sein zu lassen, es war mir wichtig. Es würde nicht nur helfen, meine Gesundheit zu erhalten, sondern mir auch mehr Geld für die Ernährung lassen – der Tabak verschlang den Großteil meines Hausgelds. Nach diesen Sportstunden, stets unter der Beobachtung eines Schließers, der sich hinter dem Gitterfenster der anliegenden Wachstube versteckt hielt, brachten sie mich in Handschellen in die Duschräume, wo ich mich frisch machte und die Kleidung wechselte. Sie ließen uns keine Kleidung zum Wechseln in der Zelle haben, nur die wir gerade anhatten und das Handtuch, wir mussten uns also in der Dusche umziehen. Man schickte die schmutzige Kleidung dann in die Wäscherei und steckte sie anschließend wieder in die Säcke, die unsere Nummer trugen.

Der Juli kam und brachte die Sommerhitze, aber auch den Besuch meiner Mutter und ihres Ehemannes. Sie sah gut aus, war aber sehr traurig darüber, wie sie mich dort hielten – etwas, das eine Mutter immer bemerkt.

»Hallo, Sohn«, grüßte sie mich.

»Hallo, Mutter...«

»Wie gehen sie mit dir um, mein Schatz?«

»Wie überall, du weißt schon.«

»Ja. Ich habe hier monatelang angerufen und man hat immer aufgelegt«, erzählte sie mir. »Ich wollte mit dem Arzt sprechen. Er gab mir auf unfreundliche Art und Weise zu verstehen, dass du isoliert bist und dass man nicht mit dir sprechen darf.«

»Ruf hier bitte nicht mehr an«, sagte ich. »Sei unbesorgt, ich passe schon gut auf mich auf.«

»Wir haben dir etwas zum Anziehen und zu essen mitgebracht, das Essen hat man uns aber nicht mit hinein nehmen lassen...«

Wir sprachen zwanzig Minuten lang. Ich freute mich sehr, die beiden zu sehen. Ich liebte meine Mutter sehr und war froh darüber, dass sie einen Lebensgefährten gefunden hatte, der gut zu ihr war. Sie hatte es verdient. Nach ein paar auf die Glasscheibe gedrückten Küssen und dem Austausch von ein paar Blicken, bei denen ihre traurigen und feuchten braunen Augen aufblitzten und liebevolle Poesie mit den meinen austauschten, band man mich auf dem Rücken und brachte mich wieder in den Trakt und in die Zelle. Wie konnte ich ihr dies alles erklären? Wie konnte ich ihr sagen, dass ich HIV-positiv war, und dass mir allein der Gedanke daran, welchen Schmerz ihr mein Verlust bereiten sollte, unerträglich war? Wie konnte ich den Schmerz beschreiben, der mich in Momenten wie diesem jede erdenkliche Verrücktheit begehen lassen konnte? Das System begnügte sich nicht damit, uns zu ersticken und aus dem Leben auszuschließen; Es gefiel sich dabei, unseren Familien Schmerz zuzufügen und sie wie uns zu bestrafen, auf grausam rachsüchtige Weise.

Tage nach diesem Besuch rammte sich Moisés ein Stück Eisen in die Brust, in Höhe der Lungen. Wir gaben den Schließern Bescheid, und sie brauchten eine geschlagene Viertelstunde, um mit dem medizinischen Leiter zusammen im Trakt zu erscheinen. Sie öffneten die Zellentür des Genossen und fesselten ihn. Von unseren Zellen aus, über den Flur, konnten wir alles hören.

»Jetzt spiel hier nicht die Schwuchtel, hörst du? Wenn du dir das Eisen reingerammt hast, bist du selber Schuld«, schrie der Arzt.

Nach einer Reihe Drohungen entfernten sie schließlich das Eisen und versorgten ihn. Moisés verletzte sich allerdings sofort wieder selbst, als sie ihn allein in der Zelle ließen; diesmal schnitt er sich mit einer Rasierklinge auf, die er bei sich versteckt hatte. Ein Trupp erschien in seiner Zelle, band ihn ans Bett und verpasste ihm ein paar Ohrfeigen. Dann ordnete der medizinische Leiter an, ihm eine Injektion zu setzen, und bevor sie gingen, nebelten sie die Zelle unter den Beschimpfungen Moises’ mit einem Spray ein. Der junge und HIV-positive Moisés ertrug die Isolation unter diesen Bedingungen nicht und verlor die Hoffnung. So war er. Schwächlich und nervös wie er war, machte ihn diese Stille verrückt, diese weißen Wände, die jeden Tag ein Stück näher auf einen zuzukommen schienen. Er war bis zu dem Punkt verstört, dass er dem Schmerz mit Selbstverletzung zu entkommen versuchte. Es schien widersprüchlich, doch so war es: Sich unter diesen Umständen selbst zu verletzen, stellte für ihn eine Lösung dar, es war eine Form »Es reicht!« zu schreien, genug Isolation, genug Einsamkeit, und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auf seine Probleme, auf sein Leiden. Einige Tage später brachten sie ihn fort nach Alicante, in etwas weniger schwere Haftbedingungen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, als wir hörten, dass er erhängt gestorben war, in Villanubla, Valladolid. Das war normal. Das Gefängnis war eine Sache, das Gefängnis innerhalb des Gefängnisses war etwas anderes. Bei jenem Jüngling hatten sie sich geirrt, wie bei so vielen. Moisés war einfach ein drogensüchtiger junger Mann, der unter Wirkung des Rauschgifts einige Straftaten begangen hatte, das alle und jede Strafanstalt des spanischen Staats überflutete, jede Stadt und jedes marginale Viertel, von denen es in der Tat viele gab.

Diesen Monat erlaubte uns die Behörde, Fernsehapparate zu besitzen, was uns dabei half, die Langeweile zu bekämpfen. Wir kauften einen kleinen Fünf-Zoll-Apparat für jeden von uns, um die Monotonie, die uns umgab, aufzubrechen. Wie die große Mehrheit der inhaftierten Bevölkerung gingen wir dazu über, uns die Programme der diversen Kanäle anzutun. Ich war Zeuge der zweiten Tour de France, die von Miguel Indurain souverän gewonnen wurde. Ich wurde ein Fan dieses Sports, er gefiel mir. Auch knüpfte ich freundschaftliche Bande mit einer Spinne, der ich in der Zelle Fliegen und Mücken fing und anschließend in einer Plastiktüte auf den Hof hinaus brachte. Sie hatte sich in einer Ecke des Hofs eingerichtet, und ich nannte sie »Spinne Thekla« zu Ehren der ruchlosen Spinne aus Biene Maja, einer Zeichentrickserie aus meiner leider vergangenen Kindheit. Ich setzte mich zu ihr und ihrem wunderbaren meisterhaft gesponnenen Spinnennetz und legte die Insekten darauf. Dann kam sie aus ihrem Versteck, stürzte sich auf sie und wickelte sie in ihren Faden, um sie dann in ihre Höhle mitzunehmen, sie dort wie in einer Speisekammer aufzubewahren. Die Spinne wartete dann, bis die von ihrem Gift durchdrungenen Körper aufweichten und saugte sie aus. Dann warf sie die leeren Kadaver vom Netz auf den Boden und versteckte sich wieder, um auf die Ankunft neuer Opfer zu warten. Nicht, dass die Spinne mein Lieblingstier gewesen wäre, doch wenigstens leistete sie mir Gesellschaft, und ihre Beobachtung lenkte mich ab. Manchmal machte ich auch einen Teil ihres Netzes kaputt, nur um dabei zuzusehen, wie sie es mit der ihr eigenen Meisterschaft wieder flickte. Ich pflegte auch mit den Pillendreher-Käfern zu spielen, die es bis auf unseren Hof geschafft hatten: Wir waren Freunde. Weder sie griffen mich an noch ich sie; wir lebten in Harmonie in dieser Welt aus Beton. Die dort vertretene Fauna wahr unglaublich. Eines Tages, als wir uns gerade über die Fenster unterhielten, sahen wir einen Zwergadler den großen Hof überfliegen, auf den nie jemand hinausging, und wo die Vögel sich von dem ernährten, was wir ihnen hinwarfen. Das Paar Stare hatte sich inzwischen das Nest gebaut und war damit beschäftigt, die Eier auszubrüten. Die Stare bemerkten die Anwesenheit des Adlers und flohen zum Schutz unter einen Vorsprung; doch nicht so ein kleiner putziger Sperling. Der Raubvogel schnellte hinunter, überraschte ihn und nahm den schon leblosen Spatz in seinen mächtigen, starken Klauen mit sich fort. Sicherlich würde der Spatz seinen hungrigen Küken zum Frühstück herhalten müssen. Auch wohnten wir der Paarung eines Möwenpärchens bei, auf der Mauer, ohne jede Scham mit Frohlocken bis zum Orgasmus, unter unserem komplizenhaften Gelächter.


Der August brachte nichts als die Bestätigung, dass diese Haftbedingungen auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden sollten. Mit dem Zugeständnis der täglichen zwei Stunden allein auf dem Hof und der Herausgabe der eigenen Kleidung, mit der begrenzten und zensierten Kommunikation und dem beschränkten Zugang zum Economato hatten wir unser Höchstmaß an Rechten erreicht, einschließlich Fernsehen.

José Antonio Moreta wurde aufgrund seiner verdienstvollen Arbeit in El Dueso, vor allem mit uns, befördert und nach Carabanchel versetzt, wo er nur zwei Jahre später einer Unterschlagung überführt werden und vom Direktorposten wieder abgesetzt werden sollte. Wollte man mit Menschen wie diesem aus uns ehrbare Bürgerinnen und Bürger machen? Als Ersatz kam José Ignacio Bermúdez, ein alter Bekannter aus der Anstalt Orense. Mit diesem Direktor blieb alles beim Alten: Erleichterungen für die an die fünfhundert Vergewaltiger, die in der Anstalt saßen, und für die Drogenschieber. Für uns, die es gewagt hatten, sich gegen die Herrschaft aufzulehnen, Isolation, Sicherheitsmaßnahmen und Knüppel.


Am 11. September, um zwölf Uhr mittags, kam es zu einem Aufstand mit Geiseln im Gefängnis Daroca. Wir hörten die Nachricht im Radio. Mehrere Genossen: Joaquín Ángel Zamoro Durán, Luque Tamajón, José Romero González, Eduardo Camacho Chacón, Juan Manuel González Fernández und Enrique Velasco hatten die Nase voll davon, in Haft vor sich hin zu faulen. In den Trakten eins und zwei nahmen Sie mehrere Geiseln. Sie verhandelten ihre Flucht und verlangten ein Auto vor dem Gefängnistor und freies Geleit. Sie drohten damit, die Schließer zu exekutieren. Die Generaldirektion des Strafvollzugs schickte Ángel Yuste Castillejo, stellvertretender Direktor der Strafvollzugsbehörden, und den Strafvollzugsrichter Luis Pérez Román, einen fünfundsechzig Jahre alten Franquisten. Sie gingen in die Anstalt, um mit den Gefangenen zu verhandeln, die inzwischen die Gitter zu dem Flur durchgesägt hatten, von dem aus im Namen der Behörde verhandelt wurde, um deren Vertreter ebenfalls gefangenzunehmen. Und wirklich, sie gingen in die Falle, und beide wurden ebenfalls zu Geiseln. Draußen gab es einen enormen Aufruhr und die UEI-Spezialeinheiten erschienen auf dem Gelände. Das Fernsehen brachte die Bilder von Zamoro Durán und Luque Tamajón, wie sie von einem der Fenster des Trakts aus ihre Forderungen nach verbesserten Haftbedingungen in Richtung der versammelten Medienvertreter ausriefen.

Einige Stunden später wurde mitgeteilt, dass einer der Schließer schwer verletzt worden war – er hatte von José Romero González einen tiefen Schnitt in den Hals verpasst bekommen. Von draußen versprach man die Bereitstellung des Wagens, wenn niemandem sonst etwas angetan und der Verletzte freigelassen wurde. Sie ließen ihn frei, und das war ein Fehler. Mit Erhalten der Nachricht über den verletzten Schließer traten die UEI in Aktion, postierten ihre Männer auf den Dächern und bereiteten Sprengsätze vor. Der Sturmangriff war nur eine Frage von Minuten. Die Spezialeinheiten sprengten die nötigen Öffnungen in die Wände und drangen in das Innere der Anstalt, bewaffnet mit Pistolen und Sturmgewehren, kugelsicheren Westen und allem möglichen Kriegsgerät, um der mit ein paar Messern bewaffneten Gruppe zu begegnen. Joaquín Zamoro Durán bekam bei dem Sturm zwei Kugeln ab, eine ins Bein und die andere ins Handgelenk. Einem farbigen Gefangenen, der dort frei herumlief, ohne bei dem Aufstand mitzumachen, wurde in den Bauch geschossen.

Innerhalb von Minuten waren alle überwältigt und die Geiseln befreit und am Leben. Den anderen Gefangenen, die an dem Aufstand teilgenommen hatten, wurden mit Baseballschlägern die Arme und Beine gebrochen; dann wurden sie nackt ausgezogen und ins Krankenhaus gebracht. Später sollte man sie in alle Richtungen verstreute Gefängnisse verlegen. Nach El Dueso kam José Romero González, alias El Loco, er wurde mein Nachbar. Er kam am Boden zerstört, völlig kaputt von den Schlägen, die er hatte über sich ergehen lassen müssen, mit einem Abwehrkräfte-Index von achtzig und bedeckt mit einem Ausschlag, der sich durch seine Haut fraß und sie mit Eiterbeulen bedeckte. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Die Mehrheit der Teilnehmer an der Geiselnahme waren übrigens AIDS-Kranke.



Von uns allen wurden neue Röntgenbilder gemacht. Unsere medizinische Versorgung war nach wie vor beschissen. Die einzige Ausnahme war eine neue Arzthelferin. Sie hieß María del Mar, war erst vor Kurzem dazugekommen und zeigte uns gegenüber Sympathie und Freundlichkeit. Ich gab mich trotzdem häufig ernst und distanziert, sie aber war bemüht zu erreichen, dass ich sie nicht als Feindin sah. Häufig traf sie mich studierend an.

»Du schummelst sicher und schreibst alles ab«, sagte sie lächelnd zu mir.

»Wenn ich bloß abschriebe, wozu sollte ich dann lernen?« fragte ich.

»Ich bringe eine Waage, möchtest du dich wiegen?«

»Ja, los, lass mal sehen.«

Es war eine gutmütige Frau, ich misstraute ihr allerdings, denn sie stand ja schließlich auf der anderen Seite des Gitters. Schließlich sollte diese Frau ihre Arbeit bei uns aufgeben und vor dem Defensor del Pueblo[52] die Misshandlungen zur Anzeige bringen, die wir erlitten, was dieser geflissentlich übersah, wie alle anderen Behördenmitarbeiter auf leitendem Posten. Nach einiger Zeit sollte sie die Lebensgefährtin von Juanjo werden – so überraschend und turbulent war manchmal die Bestimmung.

Eines Morgens, mir standen die Provokationen einer bestimmten Gruppe Schließer bis oben, wechselte ich zum Zählappell einige Worte mit einem von ihnen.

»Du bist ganz schön mutig, da auf der anderen Seite des Gitters«, sagte ich. »Vielleicht kommst du ja nachher mit auf den Hof, du allein, und wir tragen einen Zweikampf aus, du Schwuchtel, und du hörst auf so anzugeben.«

»Du bist nichts als ein verdammter Hundesohn«, antwortete er.

Nach dem Frühstück holten sie mich ab zum Hofgang. Der Schließer, mit dem ich wenige Minuten zuvor gestritten hatte, kam in Begleitung zweier anderer Schließer und eines Dienstleiters, der einen Schlagstock dabei hatte. Als ich an das Gitter treten und die Kleider zur Durchsuchung ablegen sollte, behielt ich meinen Rotz im Mund, es war richtig grüner dabei, und spie ihm mitten ins Gesicht.

»Das im Namen meiner Mutter«, sagte ich, und fühlte mich richtig gut. Ich hatte schon seit längerem Lust dazu gehabt.

Sie drohten mir und holten die Schlüssel. Ich bereitete mich darauf vor, was nun passieren konnte und lud sie zum Hereinkommen ein, indem ich an das Bett zurück trat. Als sich die Tür öffnete, kam als Erster etwas unschlüssig der Schließer herein, den ich angespuckt hatte, und ich verstrickte mich in einen Faustkampf mit ihm. Wir hatten noch nicht drei Fausthiebe ausgetauscht, als der Dienstleiter merkte, dass ich mich verteidigte, auf das Bett stieg und mir von oben seinen Knüppel überbriet. Ich versuchte, den Schlagstock zu ergreifen und ihm wegzunehmen, doch ein Faustschlag ins Gesicht warf mich an die Wand und von dort zu Boden, wo sie sich dann an mir ausließen. Ein Tritt ins Gesicht brach mir die Nase, der Knüppel sauste immer wieder auf meinen Schädel und ich konnte nicht mehr reagieren. Noch ein paar Tritte und Hiebe, und ich wurde an das Türgitter geschleift – das alles unter der Aufsicht von zwei weiteren Schließern, bereit zum Eingreifen. Sie banden mich mit den Händen hinter dem Rücken auf das Bett. Ich war nur halb bei Bewusstsein, das Blut lief mir aus Nase und Mund. Sie gingen dazu über, mich zu beschimpfen und den Fernseher und das Fenster zu zerschlagen, um später vor Gericht auszusagen, ich hätte sie damit angegriffen. Bevor sie die Zelle verließen, zog mir der Schließer, den wir »Pudel« nannten, die Handschellen fest und presste sie mir in die Handgelenke.

Stunden später kam der Arzt. Er ordnete an, mir eine Injektion zu setzen. Ich weigerte mich, also mussten sie Gewalt anwenden und mich auf das Bett drücken. Sie hielten mich an Armen und Beinen und zogen mir an den Haaren, stellten mich so ruhig und setzten mir die Spritze. Nach dieser mutigen Tat brachten sie mich, immer noch auf dem Rücken gefesselt, in einen Transporter der Guardia Civil, mit Ziel Krankenhaus »Marqués de Valdecilla«, wie ich hörte. Kurz bevor ich im Transporter verschwand, konnte ich den Direktor sehen, der sich im Hintergrund hielt. Unsere Blicke kreuzten sich. Ich kannte ihn nur vom Sehen, doch ich wusste, dass er es war. Ich hasste ihn. Ich kam in die Notaufnahme, und dort im Krankenhaus warteten auf mich mehrere Polizisten in Zivil. Mit einer Polizeieskorte, die angesichts dessen, welche Gefahr ich dort bedeutete, mehr als stattlich war, wurden mir unter großen Schmerzen die Nasenknochen gerichtet und mein halbes Gesicht eingegipst. Als wir wieder nach El Dueso fuhren, banden mich die Schließer wieder an das Türgitter. Der Dienstleiter kam, um mit mir zu sprechen. Ich war voll mit Blut und mein Gesicht lag in Gips, was offenbar Eindruck auf ihn machte.

»Mensch, Tarrío, Sie lernen wohl nie, was?«

»Was lernen?« fragte ich und sah ihn wütend an.

»Siehst du nicht, dass du so immer weiter verlieren wirst, Mann? Schreib, lies oder male, aber provoziere uns nicht, du siehst ja, was dabei herauskommt. Ich sag dir das doch nur deshalb, Tarrío, glaub nicht, dass es angenehm für mich ist, dich so zu sehen, und dann mit diesem Bild im Kopf nach Hause zu gehen.«

»Na klar...«, ironisierte ich.

»Kann ich dir die Fesseln abnehmen?«

»Das müssen Sie entscheiden.«

»Wenn du nichts kaputtmachst oder sonstwas veranstaltest, nehme ich sie dir ab, OK?«

»OK.«

Er nahm mir die Handschellen ab und ging. Die Genossen riefen mich.

»Unser José!« rief Carlos.

»Ja?«

»Wo warst du denn? Wir haben dich die ganze Zeit gerufen...«

»Im Krankenhaus.«

»Wieso das?« wollte Juanjo wissen.

»Sie haben mir die Nase eingegipst, die hatten sie mir gebrochen.«

»Mich haben sie geschlagen, als ich vom Hof hinaufkam, und Juanjo auch«, erklärte mir Juan. Kannste mal sehen, ich hatte ihnen gesagt, dass sie eine feige Bande sind, und als sie mich vom Hof herbrachten, haben sie mich von hinten gefesselt und verprügelt. Bei Carlos sind sie auch dringewesen.«

»Beruhigt euch.«


Barrot hatten sie vor mehreren Tagen schon nach Villanubla gebracht. Ich hatte über eine Woche im Bett gesteckt, ohne auf den Hof zu gehen, also ging ich an diesem Morgen hinaus, um etwas zu laufen. Ich lief über den Hof, als durch ein Fenster der Wachstube der Dienstleiter seinen Kopf herausstreckte, mit dem ich diesen Ärger gehabt hatte, der Feigling mit dem Knüppel.

»Du bist ganz schön zäh, was?« rief er mir zu.

Mit Abscheu sah ich ihn an und lief kommentarlos weiter; doch er redete weiter, mit einem Lächeln auf den Lippen:

»Wusstest du, dass euer Genosse heute morgen gestorben ist?«

»Welcher Genosse?«

»Barrot. Er hat sich letzte Nacht in Valladolid erhängt.«

Ich lief weiter. Ich achtete nicht auf die Gegenwart dieses Schweins und dachte an Barrot. Ich fühlte nichts für ihn, denn wir hatten uns nicht gerade gut verstanden; ich fühlte aber Wut wegen dieses Vorfalls, wegen der Anstiftung zum Selbstmord, die Tag für Tag von denen ausging, die sich Staatsbeamte nannten und die nichts waren als folternde Henker.

Wieder in der Zelle, sprach ich mit den anderen über der Neuigkeit. Der Gips war äußerst unbequem, also nahm ich ihn ab und warf ihn in eine Ecke meines Kerkers. Ich zündete mir eine Zigarette an. Es sollte die letzte sein, die ich rauchte. Ich genoss ihren Geschmack und sah in den Rauch.

Hast du dich nie wie ein verletztes Tier gefühlt, und am Himmel zeichnen sich die Schatten der Geier ab? Auch wenn die literarische Baukunst nicht meine Stärke war, würde ich eines Tages von all dem erzählen müssen; diese Gefühle erklären, die uns alle zu Opfern und zu Tätern machte, in der Hölle Gefängnis.

Epilog

Als ich mich entschloss, Hau ab, Mensch zu schreiben, wollte ich einfach die Realität der Gefängniswelt bekannt geben und mein reichliches Wissen zum Thema aus direkter Erfahrung. Ich wollte eine unwiderlegbare Erzählung und mich der Wahrheit annähern – ich behaupte nämlich nicht, sie zu besitzen – damit ihr alle eure eigenen Schlussfolgerungen ziehen könnt, gemäß eurer Ideologie und Eigenschaft als Menschen. Als ich die Seiten verfasste, die ihr gelesen habt, und die zusammen das Buch Hau ab, Mensch geworden sind, liefen in Gedanken all die Freunde, Genossen und Menschen an mir vorbei, die in Haft und auf der Flucht meine Familie dargestellt haben, die meisten von ihnen an AIDS gestorben. Jeder Satz, jedes Wort und jeder Gedanke sind eine Ehrerbietung an ihr Gedenken: Tränen, die nicht aus meinen an das Weinen nicht gewöhnten Augen liefen, heute in Worte gegossen. Deshalb erbitte ich von den Leserinnen und Lesern dieses Buches, seien sie gewogen oder kritisch, dass sie verstehen, dass zum Verfassen dieses Buches viel Leid nötig war, Schmerz und Tote. Ich glaube fest daran, dass es zumindest Respekt und Aufmerksamkeit verdient hat, doch vor allem, und das ist auch sein primärer Zweck, tiefgehende Reflexion. Alle ins Gefängnis gesperrten Personen sind bereits auf die ein oder andere Weise verurteilt worden, strengt also keine neuen Prozesse gegen diese Frauen und Männer an, sondern fragt euch selbst: Ist dieses System wünschenswert, oder sollte man es ändern und etwas anderes versuchen? Ihr entscheidet: Seht darüber hinweg oder haltet ein und denkt darüber nach. Dies schon, ihr seid direkt für alles das verantwortlich, was ihr bezahlt und mit euren Steuerbeiträgen aufrecht erhaltet, an euch ist es, zu entscheiden, was mit euren Steuern geschieht.

Hau ab, Mensch ist keine außergewöhnliche Geschichte. Sie ist traurig, aber wahr und wiederholt sich andauernd in den spanischen Gefängnissen. Sie ist auch der bescheidene Versuch eines literarischen Anfängers, eine krude Realität zu übermitteln, auf Papier gebannt mit den Mitteln des Hauptschulabschlusses. Ich denke, in diesem meinem ersten Aufsatz ist in diesem Sinne Ehrlichkeit alles, was ich euch anbieten kann. Im übrigen hatte ich nie vor, ein so ernstes Thema mit literarischen Schnörkeln zu verzieren; ich habe versucht, verständlich zu bleiben, roh, hart und kritisch, wie das Thema es verlangt, ohne in eine Opferrolle zu verfallen, aber auch ohne darauf zu verzichten, die Tatsachen so lebensnah wie möglich wiederzugeben, die man in den offiziellen Medien stets versucht war zu verschweigen. Ich trage die Risiken und Konsequenzen dieser Erzählung, denn ich schreibe von einer Zelle aus, und hier bin ich den Exzessen derjenigen ausgeliefert, die ich im Buch offen kritisiere. Mehr noch, ich glaube, dass ich einen zweiten Teil schreiben sollte, um Fragen zu erörtern, die im Tintenfass geblieben sind: Scheinbar normale Todesfälle wie der von José Romero González durch AIDS im Gefängnis Picassent (Valencia), der die letzten Tage seines Lebens im Justizvollzugskrankenhaus ans Bett gefesselt dahinsiechen musste. Die Schließer gönnten sich auf diese Weise ihre persönliche Rache für die Geiselnahme von Daroca, mit der Kollaboration des Richters Alberola Carbonell. Oder wie der Tod von Juan Luis Sánchez González nach wiederholter schwerer Prügel von Hand der Schließer in Jaén 2, wo er sich am 29. November 1995 erhängte – er war dort mein Zellennachbar, und ich musste jeden Tag die Prügelorgien und Schmerzensschreie mitanhören, bis sie ihn eines Tages tot fortschafften; er war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte es gewagt, einen Schließer anzugreifen und bezahlte das mit seinem Leben. Oder wie der Tod von José Luis López Montero im September 1993 in der Anstalt Almería, oder der Tod durch Erhängen von Moisés Caamañez in Villanubla (Valladolid) im Juli 1994 – die Schließer kamen rechtzeitig, doch aus Furcht vor einer Simulation ließen sie ihn an einem aus Bettlaken geflochtenen Strick hängend sterben. Wie auch der Tod von Isabel Soria Camino, gestorben wegen unterlassener ärztlicher Hilfeleistung 1994 in Villanubla, wie so viele andere Todesfälle im Gefängnis wegen der beabsichtigten Fahrlässigkeit der Strafvollzugsbehörden. Wir dürfen nicht vergessen, dass vier dieser toten Gefangenen von den illegalen Sonderhaftbedingungen FIES betroffen waren, die in keinem geltenden Gesetz vorgesehen sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass heute an die fünfzig Gefangene unter diesen brutalen Bedingungen leiden, in den Anstalten Badajoz, Jaén, Villanubla, Valdemoro, Picassent, Sotoreal und Villabona. Dort entzieht man ihnen ihre elementarsten Menschenrechte.

Dieses Buch zu schreiben hat sich über zwei Jahre hingezogen, denn ich musste das Manuskript nach und nach heimlich und mit bestimmten Rechtsanwälten als Boten hinausschmuggeln, und in dieser Zeit war ich Zeuge von Ereignissen, die Stoff für ein weiteres Buch hergeben, ganz ehrlich. Es ist wahr, dass ich im gesamten Buch nur über die Häftlinge im Geschlossenen Vollzug berichte, und das aus zweierlei Gründen: Einerseits, weil der Geschlossene Vollzug und FIES die einzigen Haftbedingungen sind, die ich kennen gelernt habe, und andererseits, weil die in Isolation Gefangenen zusammen mit den Sterbenskranken es am meisten benötigen, dass ihre Bedingungen und Probleme bekannt werden. Selbstverständlich sind es keine makellosen Personen und ohne Zweifel sind die meisten von ihnen gewalttätig, doch... warum sind sie es? Den Schlüssel zu dieser Frage bietet das vorliegende Buch. Ich will die Brutalität, die in Haft zwischen den Gefangenen leider existiert, nicht verschweigen, und habe deshalb in diesem Sinne erschütternde Passagen in die Erzählung aufgenommen und dabei versucht, nah an der Wirklichkeit zu bleiben, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen.

Nach vielen Jahren in Isolation lernt man so einiges über die Menschen, und es ist wahr, dass viel davon nichts als Frucht unserer eigenen Brutalität ist; Allerdings tragen diese Persönlichkeiten zweifellos Hingabe, Mut und eine unglaubliche Solidarität im Herzen, und das wird vom Verhalten Einiger nicht geschmälert. Ich kenne Männer und Frauen, die ihre Haft mit einer Würde tragen, die einen staunen lässt; Gefangene mit einem so reinen Gewissen, dass viele von euch es sich für sich selbst wünschten, und ich für mich. Die meisten Botschaften in diesem Buch habe ich von ihnen gelernt, aus ihren Briefen und von ihrem Lächeln, von ihren Aufständen und Rebellionen, von ihrer gewaltigen Menschlichkeit – dem habe ich das Wertvollste zu verdanken.

Ich wollte es nicht in jedem Fall publik machen, um keine Privatsphäre zu verletzen, aber die übergroße Mehrheit der in diesem Buch vorkommenden Personen sind Träger von HIV und erwarten einen baldigen Tod. In jedem Fall sind sie beispielhaft würdig und solidarisch im Umgang mit den anderen. Ich muss euch auch sagen, dass ich mich bei einigen Datumsangaben geirrt haben kann, und dass einige Dialoge, die im Buch vorkommen, keine wortgetreue Wiedergabe des Originals sein konnten, denn wie auch sollte ich mich an vor Jahren stattgefundene Dialoge wortgetreu erinnern? Aber dies schon: die Inhalte sind dieselben, wie auch mein eigener Gesprächston, der meinem Charakter entspricht.

Was mich selbst angeht, so gibt es wenig zu sagen. Ich habe mich benutzt, um einiges im Gefängnis Geschehene zu erzählen, das die Strafvollzugspolitik der PSOE im spanischen Statt kennzeichnet, von mir Gehörtes, Miterlebtes oder selbst Getanes. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um euch verständlich zu machen, was ich halte von diesem verfaulten, unmenschlichen System bar jeder Intelligenz, das ich aus ganzem Herzen verabscheue.

Jetzt hoffe ich nur, mit diesem Text dazu beitragen zu können, etwas Besseres zu schaffen. Ich habe immer an den freien und unabhängigen Menschen geglaubt, nicht an die Institutionen. Ich hoffe, dass diese Erzählung dabei helfen kann, wenigstens die Hoffnung zu retten und Utopien zu ernähren – der Ersatz der Gefängnisse durch Schulen, beispielsweise. Vielleicht kann sie auch dazu beitragen, die ein oder andere ungerechte Behandlung von Männern und Frauen zu vermeiden, irgendwo auf der Welt, in der Zukunft, die danach giert, mich hinter sich zu lassen. Hoffentlich dient diese Erzählung dazu zu verhindern, dass irgendein Kind aus einem armen Viertel, dessen Ketten bereits geschmiedet werden, die Zelle belegt, die frei wird, wenn das Gefängnis einmal meine Leiche auswirft. Wenn es dazu käme, wäre ich glücklich und zufrieden. Während die noch nicht geschehener Dinge schwangere Zukunft sich auf uns zubewegt, kratzt mein Kugelschreiber hier zwischen den kalten Wänden dieses kalten Grabes aus Beton, die auf euren teilnahmslosen Gewissen gebaut sind. Er kratzt über das Papier und auch ich bekomme eine Gänsehaut. Gänsehaut vor menschlicher und moralischer Kälte... Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Gefühle und Gedanken abtöten, ich werde meine Schreie nicht verstummen lassen und nicht mein kindliches Gefühl und nicht die Freiheit, die ich in mir strömen fühle. Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Werte mit Lügen erdrücken: Sie sind mein Salz des Lebens, meine Nahrung. Ich bin kein Wimmern: Ich bin Kriegsgeschrei aus der unendlichen Dunkelheit und Tiefe des Gefängnisses.

Xosé Tarrío González

Gefängnis Topas (Salamanca)

18. März 1996

Danksagungen

Der Asociación Madres contra la Droga, Señora Manoli Navas (die so gut zu uns war), Salhaketa (das für die Rechte der Gefangenen kämpft), CASCO, der Plataforma und allen Gruppen, die AIDS- kranke Gefangene unterstützen,

Javier Ávila Navas und Carlos Esteve García (die mir dabei geholfen haben, einen Großteil dieses Textes mit der Maschine zu schreiben), Santiago Izquierdo Trancho, Carlos García Lago und seinem Bruder Óscar, Juan José Garfia Rodríguez (der mir den ersten Entwurf korrigiert hat und mir dabei geholfen hat, ihn zu verbessern), Joaquín Zamoro Durán (er möge frei und glücklich sein),

Edmundo Balsa Franco, Patric de San Pedro (der eher als ein Herausgeber ein Genosse war, der die Realität im Gefängnis gesehen und uns eine Stimme verliehen hat) und den Genossen bei Virus,

Gloria, Marian, Sefa, Karmele und Usune (die Isolationszellen mit einem Lächeln erfüllt haben), Juan González Fernández (der mir seine Hand anbot, als ich es brauchte; hoffentlich bist du bald frei,

mein Freund!), María del Mar Villar (die menschlich mit uns umgegangen ist); der Frau, die mir die echte Liebe geschenkt hat und das Glück, sie auszuleben,

María Alexandra de Queirós Vaz Pinheiro, allen, die mir auf irgendeine Weise im Knast geholfen haben, die nicht mehr unter uns weilen, die sich vor eine Schreibmaschine setzen, um ein neues Buch in die Welt zu setzen, das all das enthält, was ich aus Ignoranz nicht beizusteuern wusste... und vor allem allen, die in Haft kämpfen, deren Namen unbekannt sind, doch deren Kampf wir so viel zu verdanken haben.

Toni, ein junger Mann mit 21 Jahren, hat mich vergangenen März am sechzehnten Tag seines Hungerstreiks daran erinnert...

Allen eine anarchistische Umarmung

Anhang: Interview mit Julia und Pastora

Aachen, Juni 2005

Wir werden uns ein Bisschen mit zwei Müttern von Gefangenen unterhalten, von denen einer, Xosé Tarrío, traurigerweise im Januar diesen Jahres vom spanischen Gefängnissystem umgebracht worden ist. Seine Mutter Pastora ist hier. Ebenso Julia, die Mutter von Gabriel Pombo da Silva, dem zur Zeit in Aachen der Prozess gemacht wird. Wir werden sehen, was sie beide als Mütter denken und was sie als Personen von der Behandlung halten, die ihre Söhne im Gefängnis erleben. Wir wollen wissen, was sie über das Gefängnis denken, über die spanischen Gefängnisse im Speziellen, doch im Grunde über die Gefängnisse in aller Welt.

Zu Beginn fragen wir, wie sie sich als Mütter fühlen, mit ihren Söhnen hinter Gittern, und wir fragen nach den Schwierigkeiten, die so viele Jahre mit sich gebracht haben. Wir glauben, dass es am besten ist, ein offenes Interview zu führen, in dem beide darüber sprechen, was sie fühlen. Wenn ihr beginnen wollt: Was bedeutet für Euch das Gefängnis?

Pastora: Ich will mit dem Gefängnis beginnen. Das Gefängnis löst kein einziges Problem, ich meine, das Gefängnis resozialisiert niemanden und es ist nie eine Lösung. Ich werde als Beispiel den Fall meines Sohnes hernehmen, den kenne ich am besten. Meinem Sohn haben sie im Endeffekt 17 Jahre Gefängnis aufgedrückt – er war in Haft gekommen, um zweieinhalb Jahre zu verbüßen. Er hat keine Bluttat begangen – draußen. Er kam in Haft wegen kleiner Diebstähle, die nicht seinem Lebensunterhalt dienten, denn obwohl wir arm waren, arrangierten wir uns mehr oder weniger, sondern um ein paar Drogen zu konsumieren. Diese zweieinhalb Jahre sind zu 17 Jahren geworden, 17 Jahre, von denen sie ihn 12 unter FIES-Bedingungen hielten. Draußen hat er niemanden umgebracht, doch drinnen tötete er einen Mitgefangenen, aus Notwehr. Das heißt, dass das Gefängnis nicht etwa dazu führt, jemanden zu resozialisieren. Das einzige, wozu es führt, ist Zerstörung, sie nimmt demjenigen, der drinnen ist, und denen, die draußen sind, jede Lust zu leben. Das Gefängnis führt nur zur physischen und psychischen Zerstörung. Es macht den Gefangenen und es macht seine Familie fix und fertig.

Bei Xosé zum Beispiel fragen viele Leute, warum er 17 Jahre im Gefängnis verbracht hat, wo er doch nur zweieinhalb hätte verbüßen sollen. Mein Sohn, und ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, war stets eine saubere Person, rein im Herzen, obwohl viele das nicht glauben mögen, und er war immer jemand, der die Folter, die Prügel, was sie alles mit ihnen machten, angezeigt hat. Er hat mir, seiner Mutter, erzählt, wie sie die Häftlinge ruhigstellen, wie sie dafür sorgen, dass ihnen die Gefangenen nicht auf die Nerven gehen. Sie setzen sie unter Drogen, sie geben ihnen Pillen. Eine Person unter Drogen geht nicht auf die Nerven, beschwert sich nicht, macht gar nichts. Er aber war jemand, der mit der Zeit viele Zusammenhänge verstand und sich weigerte, die Pillen zu sich zu nehmen, und er verweigerte die Zusammenarbeit, das heißt er verweigerte sich dem, was sie mit ihm vorhatten, denn er sah, dass dies nicht gut war; die Dinge stehen drinnen schlechter als draußen auf den Straßen könnte man sagen. Und seine Beschwerden über dies alles sollten zu seinem Albtraum werden. Sie steckten ihn in Isolation wegen seiner Forderungen nach Rechten für alle Häftlinge. Sie haben ihn gefoltert, sie haben ihn verprügelt, sie haben ihn ans Bett gefesselt... Sie haben ihm so viele Demütigungen und Schikanen angetan...

Können Sie sich 12 Jahre vorstellen? Kannst Du [sich der Interviewerin zuwendend] Dir vorstellen, dass sie Dich oder einen der Deinen zwölf Jahre festhalten, in seinen besten Jahren, im Alter von siebzehn? Ich glaube, wenn ein Mensch Drogen nimmt und sie ihn Dir im Alter von siebzehn wegnehmen, dass es Psychologen geben sollte, ich meine spezialisierte Zentren, in denen man schaut, warum der Junge Drogen nimmt, warum er kleine Diebstähle begeht. Ich von meinem Standpunkt als Mutter aus und als Person, die ich bin, meine, dass es solche spezialisierten Zentren geben sollte, mit freundlichem und hilfsbereitem Personal, mit dem man normal reden kann, nicht das Gefängnis! Und warum diese zwölf Jahre Isolationshaft... Wie können sie eine Person zwölf Jahre eingeschlossen halten, allein, denn er hat mir erzählt, dass sie ihn nicht einmal zum Hofgang mit den anderen Gefangenen sprechen ließen.


Kannst Du uns erklären, was die FIES-Haftbedingungen sind, denen auch Gabriel unterworfen war – auch er ist FIES-Gefangener?


Julia: Ja.

Pastora: Nun, ich rede von meinem Sohn, und genau wie der meine auch er, und heute sitze ich hier mit der Mutter Gabriels, der enger Freund meines Sohnes war. Auch dieser ein Junge, der früh angefangen hat – sie beide mochten sich sehr und mein Sohn hat mir erzählt, dass Gabriel ein guter Junge mit einem guten Herzen ist, und was ich von ihm kenne, bestätigt es: Er ist ein guter Mensch. Eines Tages sprach ich mit seiner Mutter per Telefon, und sie sagt mir, dass sie ihn als Terroristen eingestuft haben... [lacht, wendet sich Julia zu:] Entschuldige, die Terroristen sind sie selber.

Julia: Genau.

Pastora: Sie sind es, und wir und unsere Söhne werden von diesen Leuten kontrolliert, doch wer kontrolliert sie? Im Gefängnis wird gefoltert und geprügelt, und die Vollzugsbeamten machen alles mit den Gefangenen, was sie wollen, ich weiß, dass es wahr ist, denn unabhängig von all diesem bin ich Mitglied im Kollektiv Nais en Loita und wir haben viele Anzeigen von jungen Leuten bearbeitet... Wir sind im Besitz vieler von Gefangenen gezeichneten Dokumenten, die Auskunft darüber geben, was sie alles mit ihnen machen. Das Gefängnis ist nicht gut. Ich meine, innerhalb der Gefängnisse sind die, die dort arbeiten, schlechter als die, die als die Straftäter gelten. Viel, viel schlechter.

Meinen Sohn hielten sie also dort gefangen und ich habe immer geglaubt, dass sie ihn mir nicht lebend zurückgeben, dass mein Sohn das Gefängnis erst als Toter verlassen würde, und so ist es geschehen. Nach 17 Jahren, von denen er übrigens anderthalb Jahre verbüßt hat, ohne verurteilt zu sein und ohne Hafturlaub oder irgendetwas zu genießen, lassen sie ihn los. Ich erinnere mich, dass als ich hinfuhr, um meinen Sohn abzuholen, er zu mir sagte: «Mama, fahr vorsichtig mit dem Auto, denn die Häuser wanken und wackeln von einer Seite auf die andere.»

Mein Sohn war in der Wohnung seiner Mutter und sah das große Bett... Ich sage das, weil mich beeindruckt hat, wie er fühlte und wie er sagte: «Aah, endlich ein großes Bett für mich». Er wickelte sich die Decke um den Körper, und ich glaubte, genau so machte er es auch im Gefängnis. Er wickelte sich die Decke um den Körper, ganz eng, als ob ihm kalt wäre, er genoss nicht die ganze Breite des Bettes... er stand oft auf in der Nacht, konnte nicht schlafen. Wenn er schlief, schlief er mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge. Das heißt, im Gefängnis war er stets auf der Hut vor etwas, was kommen könnte, was ja auch oft genug geschah...

Julia: Er war ja in Isolation...

Pastora: Klar. Und kaum versuchte er zu gehen, stolperte er schon, ich meine, die drei Monate, die mein Sohn außerhalb des Gefängnisses verbracht hat, konnte er seine Freiheit nicht genießen, sie hatten ihn körperlich und geistig fertiggemacht.


Dein Sohn war bereits einige Zeit krank...


Pastora: Mein Sohn war krank.


Und die Krankheit holte er sich im Gefängnis.


Pastora: Ja, und was ich auch sagen wollte... [streichelt das Foto ihres Sohnes] Die Kranken sollten im Krankenhaus sein, nicht im Gefängnis. Mir sollen sie nicht weismachen, es bestehe Gerechtigkeit, denn für den Armen gibt es keine Gerechtigkeit, für die Armen gab es nie Gerechtigkeit. Denn im Gefängnis sieht man nur Arme, und das Gefängnis ist für die Armen geschaffen worden. Die Richter sollen mir sagen, ob es auch Reiche im Gefängnis gibt.

Julia: Es gibt welche, doch die kommen raus.

Pastora: Es gibt sie nicht, sie kommen nicht einmal hinein, sie kommen nicht in die Lage, im Gefängnis schlafen und dort leben zu müssen. Die großen Drogenhändler, die sich am Leiden so vieler Familien bereichern, die so viele Kinder und Enkel umbringen, die sich große Häuser bauen, die ihre eigene Familie wunderbar erhalten... die zahlen eine Kaution und schon sind sie wieder auf der Straße. Und Dein Sohn [wendet sich Julia zu] und der meine rauchen eine kleine Dosis und finden sich drinnen wieder. Und obendrein gibt es im Gefängnis viel mehr Drogen als draußen.

Julia: Ja, das stimmt.

Pastora: Ich bringe sie ihm nicht, die Familienangehörigen schmuggeln nichts hinein. Im Gefängnis selbst wird mit Drogen gehandelt.

Julia: Ja.

Pastora: Die Beamten selbst, die Leute, die dort arbeiten. Und niemand sonst, denn als ich hineinging, um meinen Sohn zu besuchen, haben sie mich von oben bis unten durchsucht. Und schlimmer, denn in Jaén, als er in Jaén einsaß, fuhr ich mit meinen zwei Töchtern hin... Es war verboten, die Leute nackt auszuziehen, doch als wir meinen Sohn sehen wollten, musste ich mit ansehen, wie sie meine Töchter nackt auszogen, falls nicht, dürften wir ihn nicht sehen. Natürlich! Ich musste es zulassen, denn wir kamen von einem Schweizer Flughafen und hatten die Tickets bezahlt, und schlussendlich waren wir daran interessiert, unseren Sohn zu sehen, denn deswegen waren wir ja angereist. Doch es ist erniedrigend für eine Mutter mit anzusehen, wie sie ihre Töchter betatschen, und wie sie... es ist beleidigend. Es ist beleidigend, und dann die Behandlung, die sie uns als Familie angedeihen ließen... Ich rede schon gar nicht mehr davon, was sie ihm alles angetan haben, sondern uns... Jedes Mal schickten sie die Gefangenen in fernere Haftanstalten.

Julia: Ja...

Pastora: Wir sind eine emigrierte Familie, wie es auch die Familie der Mutter von Gabriel ist. Um zu essen, muss den ganzen Tag gearbeitet werden, so ich, so meine Töchter. Und jetzt arbeite ich nicht mehr, weil ich mir eine Krankheit geholt habe, die nicht zulässt, dass ich weiter arbeite. Und wie oft haben wir die Banken um Kredit bitten müssen, um reisen und unsere Söhne besuchen zu können, denn sie schicken sie bald hierhin, bald dorthin, sie schicken sie in die entferntesten Ecken. Wir... wir konnten wenigstens noch hinreisen, um sie zu sehen, doch die Mütter, die keinen Cent besitzen...

Julia: ...keinen Cent, um sie besuchen zu können...

Pastora: ...um ein Taxi zu bezahlen, eine Bahnfahrt...


Oder sie bekommen keinen Urlaub...


Pastora: Das meine ich, viele bekommen keinen. Ich kenne eine Mutter eines anderen Gefangenen, die es sich nicht leisten kann...

Julia: Du reist 2000 Kilometer weit und sie lassen Dich ihn nur durch dicke Glasscheiben hindurch sehen...

Pastora: Wie viele Male, bis vor 5 oder 6 Jahren, durfte ich nur 20 Minuten hinein, nach einem Jahr ohne Besuch nur 20 Minuten und durch die Glasscheiben...

Das Schlimmste an allem ist, dass mein Sohn nach 17 Jahren im Alter von 36 am Gefängnis verstarb, nicht an seiner Krankheit, er verstarb am Gefängnis... sie haben ihn umgebracht, sie waren es!

Denn als Kranker hätte er nicht unter FIES-Bedingungen sein dürfen, nicht einmal im Gefängnis.

Einmal sprach ich mit einem Direktor und man sagte mir, mein Sohn sei ein Rädelsführer im Gefängnis.


Ein Rädelsführer?


Pastora: Ein Anführer für seine Genossen. Was Tarrío über die Gefängnisse sagte, fand tatsächlich statt. Es war, weil er Forderungen stellte... Tarrío war an zwei Aufständen beteiligt, weshalb sie ihn als gemeingefährlich eingestuft haben, und bei der Revolte auf Teneriffa wurden Geiseln genommen [Julia stellt das Foto von Xosé, welches Pastora gestreichelt hatte, vor die Kamera], um mit Christina Almeida zu sprechen, das ist eine Politikerin, um Verbesserungen der Haftbedingungen zu fordern für ihn und seine Mitgefangenen. Weil sie keine Bücher in der Bibliothek hatten. In Valladolid löste er einen anderen Aufstand aus, doch er verprügelte niemanden, tötete niemanden, er ließ alle frei. Was nennen sie dann gemeingefährlich? Die Forderung nach Sportplätzen und Büchern?


Die Einforderung seiner Rechte?


Pastora: Genau, die Einforderung seiner Rechte, wie er es mir sagte: »Mama, wenn ich etwas getan habe muss ich dafür bezahlen. Doch sie haben kein Recht dazu, uns dies anzutun.« Er sagte: »Mich haben sie ins Gefängnis wegen Diebstahl gesteckt, weil ich einen mickrigen Diebstahl begangen habe, doch wer macht ihnen den Prozess dafür, dass sie mir mein ganzes Leben rauben?«

Julia: Ja.

Pastora: Weil sie ihm das Leben und die Lust daran geraubt haben. Es war furchtbar, und einen Moment später geben sie ihn mir, tot.

[Das Foto herzeigend:] Dies ist mein Sohn Xosé Tarrío, ein guter Sohn und ein noch besserer Mensch, und sie haben ihn mir tot geschickt, sie haben ihn mir geschickt, mausetot, als ihn schon halb-tot vom Gefängnis der Gehirnschlag traf... Ich will, dass alle Welt dieses Foto sieht [hält das Foto in die Kamera], als ihn der Gehirnschlag traf, konnte er weder Arm noch Bein bewegen, die Ärztin sprach mit mir: Der Gehirnschlag könne sich wiederholen... [streichelt das Foto]


Doch bevor sie sagten, es sei ein Gehirnschlag, sprachen sie von einer Grippe...


Pastora: Nein, im Gefängnis, siehst Du... Ich überschlage mich schon, es geht mir schlecht bei all der Erinnerung. Es war so: Als ich hinfuhr, um meinen Sohn zu besuchen, sah ich, dass es ihm schlecht ging, von Mal zu Mal war er dünner und sah schlechter aus. Einmal während des Essens sagte ich ihm etwas... er hielt sich den Arm mit der anderen Hand und ich fragte: »Was hast du am Arm?« und er sagte: »Ich weiß nicht, was es ist, ich fühle den Arm kaum.« Ich glaubte, es sei ein bisschen Rheuma und sagte dies zu ihm, und wir schenkten dem nicht viel Beachtung. Einen Monat später – denn ich fuhr jetzt einmal im Monat hin, er wollte seine Mutter nicht durch Scheiben hindurch sehen, so fuhr ich nur zu den Vis-a-vis-Terminen, vis-a-vis heißt wie ihr wisst, im selben Zimmer zu sein – da also sah ich ihn wieder sich den Arm halten und fragte: »Xosé, was hast du am Arm? Du musst zum Arzt, geh hin, damit sie dich untersuchen.« Ich sah den Arm abgestorben, herunterhängend, und ich sah, dass ihm der Speichel aus dem Mund lief und der Mund schief war, ich fragte ihn: »Geht es Dir gut, merkst Du, dass Dir der Speichel aus dem Mund läuft?« Er stand auf und ging zum Fenster, und ich sah, dass er wankte. Ich sagte: »Xosé, Dir geht es nicht gut«, und er: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«. Ich sagte ihm, er solle rasch zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen, denn es konnte etwas Schlimmes sein. Er ging hin und sagte später, sie hätten ihm Grippe diagnostiziert und eine Aspirin verschrieben, so wie sie es mit allen Gefangenen im Knast machen, denn die Gefangenen sind ihnen allen egal. Als ich das nächste Mal hinging, es waren 3 Monate vergangen, sah ich, dass mein Sohn seinen Arm festhalten musste. Ich fragte ihn danach und er sagte: »Ich fühle ihn nicht, Mama.« Und natürlich ging ich hinaus und bat darum, dass sie seinen Arm untersuchten, und fragte, ob sie denn nicht bemerkt hätten, dass er ein Bein beim Gehen hinter sich her zieht. Sie sagten mir nichts, antworteten mir nicht, und ich sagte ihm: »Xosé, geh zum Arzt!« Er ging noch einmal zur Ärztin, er hat es mir erzählt, er begab sich auf die Krankenstation, die alles ist, was sie dort haben, und sie gaben ihm eine Aspirin. Es verstrichen noch einmal drei Monate, und statt einer Aspirin war es jetzt... – Im Juni, ungefähr am 28. Juni rief er mich an und sagte »Mama!«, und seine Stimme hörte sich seltsam an, und ich sagte »Cheché, was ist los?« und er sagte »Mama, ich weiß nicht, ich fühle mich nicht sehr gut«, ich fragte ihn, was er habe, und dass seine Stimme so seltsam sei und er sagte: »Schau, ich komme gerade aus dem Krankenhaus.« – »Was ist los? Geht es Dir schlecht? Was hast Du?« – »Sie haben mir gesagt, es ist eine Thrombose.« Und ich fragte: »Und was machst Du jetzt, wo bist Du, was machst Du noch im Gefängnis, warum lassen sie Dich nicht im Krankenhaus?« – »Ich habe mich freiwillig gesund gemeldet, weil ich Deine Telefonnummer vergessen hatte. Ich wollte Dich anrufen.« Mein Sohn, wie musste es ihm gehen, dass er die Telefonnummer seiner Mutter vergisst. Ich sagte ihm, er solle rasch ins Krankenhaus zurückkehren, seine Mutter würde dort sein, er solle sich beeilen. Also ging er noch einmal ins Krankenhaus, und seine Mutter war dort, er war dort, ich sah, wie sie ihn im Rollstuhl herum schoben, ich wollte hingehen, um ihn zu sehen, doch die Polizei verbot mir logischerweise den Zugang. Sie verboten mir, ihn zu sehen, weil er sich immer noch in der Notaufnahme befand. Sie sagten mir, ich könne ihn sehen, sobald er die Notaufnahme verlässt, sobald sie ihm ein Zimmer zuwiesen.

Er kam heraus. Ich ging hin, um ihn zu sehen. Ich durfte nicht. Ich sagte: »Aber ich bin doch seine Mutter, ich habe ein Recht, ihn zu sehen, denn außerdem bin ich angemeldet.« Der Polizist sagte »Ja.« Dieser Polizist! Er ließ mich nicht durch und sagte: »Hier habe ich Ihre Anmeldung.« Er nannte mir meinen Namen, den meiner Kinder Emilia, Óscar und den seines »Stiefbruders«. Und ich sagte ihm: »Sehen sie, ich weiß nicht, ob in Ihrer Familie das Wort ‘Stiefbruder’ existiert, in der meinen nicht, in der meinen sind alle Geschwister, also haben Sie ein wenig Respekt vor der meinen.« Er antwortete mir, dass dieses Wort im spanischen Lexikon existiere, und ich sagte ihm, na ja, ich wollte ihm etwas sagen, doch ich tat es nicht, denn ich wollte ihm ein böses Wort sagen. Ich sagte: »Na ja«.

Ich durfte ihn nicht sehen, er hielt mir den Anmeldeschein vor die Nase und sagte mir, er habe keine Lust, mich durchzulassen. Ich sagte ihm: »Sie haben mir eine Erklärung dazu abzugeben, wieso sie mich meinen Sohn nicht sehen lassen«, und er sagte, es sei, weil er keine Lust habe. Ich verlangte die Nummer seiner Dienstmarke. Er sagte mir, dass ich falls ich ihn anzeigen wollte, mich auf den Wachhabenden der Schicht ab acht beziehen solle. Mit absoluter Schadenfreude. Mein Sohn... als er mitbekam, dass ich dort war und sie mich nicht durchließen, fing er an zu schreien: »Lasst meine Mutter durch, lasst sie herein!« Ich rief ihm zu, er solle ruhig bleiben, sie würden mich schon noch durchlassen.

Ich ging fort, am nächsten Tag versuchte ich es noch einmal, es war wieder dieser Herr vor Ort und verbot mir den Eintritt...


Derselbe Beamte?


Pastora: Derselbe Beamte. Und ich weiß nicht, warum, denn das Benehmen meines Sohnes und das meine waren stets korrekt gewesen. Und abermals und nochmals nein. Bis ich um acht Uhr abends wiederkam, ging ich spazieren, weinte, ging weiter herum. Mein Sohn war aufgeregt, ich bat ihn, sich zu beruhigen, weil ihm die Aufregung schadete: »Bleib ruhig, deine Mutter kommt schon noch durch.« Als ich nach Hause kam, griff ich zum Telefon und bat Leute um Hilfe, doch warum bloß muss ich erst Leute um Hilfe bitten, wo ich doch Rechte besitze und mein Sohn auch. Wo er doch im Krankenhaus ein Kranker mehr ist, und kein Gefangener, ein einfacher Kranker. Und als Mutter darf ich ihn die drei oder vier Stunden, die das Hospital vorsieht, sehen, und das alles hat das Krankenhaus »Juan Canalejo« bestätigt. Als ich am nächsten Tag hinging, nein, es war noch derselbe Tag, sagte ich zu dem Polizisten: »Mein Herr, wollen Sie sehen, wie ich hineingehe, um meinen Sohn zu besuchen?« – Er: »Das wollen wir doch mal sehen!« – Ich: »Sie werden es sehen!« Ich rufe über Telefon gewisse Leute an, die es mir nicht gefällt, um Hilfe zu bitten, denn es gibt gewisse Rechte, und diese Rechte sind die, die gelten sollten, und nicht, dass du gewisse Leute kennst, das gefällt mir nicht. Doch natürlich wollte ich meinen Sohn sehen.

Also riefen sie mich auf und teilten mir mit, dass ich meinen Sohn sehen könne, man hatte nämlich mit dem Vorgesetzten gesprochen. Ich ging hinein, um meinen Sohn zu sehen, und er hatte keine andere Möglichkeit, als mich durchzulassen. Ich ging also hinein, um meinen Sohn zu sehen. Ich bemerkte zunächst nicht, dass er gefesselt war. Sie gaben mir 10 Minuten, und 10 Minuten war ich bei ihm. Ich gab ihm einen Kuss und verabschiedete mich bis zum nächsten Mal.

Als ich das nächste Mal dorthin ging, ich weiß nicht ob einen oder zwei Tage später, fand ich dort wieder diesen Herrn vor, und als ich hineinging und meinen Sohn sah, mit einer gelähmten Hand, mit nur einer Handschelle, und statt ihn an das Kopfende des Bettes zu fesseln, hatten sie ihn an das Lattenrost geschnallt, stell dir das vor [sich der Interviewerin zuwendend], ja genau so fand ich meinen Sohn vor [das Foto herzeigend], mit nur einer Handschelle an das Lattenrost gefesselt. Stell Dir vor, er konnte sich nicht einmal umdrehen, er konnte gar nichts machen.

Als ich den Arm noch dazu ganz rot angelaufen sah, ohne Blutkreislauf, denn die Schelle war ganz fest zugedrückt, schon ganz geschwollen, und ich dort, ich sagte ihm... und dieser Herr, jedes Mal wenn ich kam, regte er sich auf... Mein Sohn lag in einem Zweibettzimmer. Eins war von ihm belegt, das andere war leer. Wenn er drin war, blieben die anderen Polizisten im Flur, und wenn ich hereinkam, stellte sich dieser Polizist hierhin, ans Kopfende des leeren Bettes, um zu provozieren. Er tat es, um zu provozieren, um das ganze Gespräch mit anzuhören – wenn du deinen Sohn im Gefängnis besuchst, ist das nicht so. Und ich sagte zu dem: »Sehen Sie, wenn ich meinen Sohn so sehe, passiert etwas mit mir...«, ich sagte: »Hören Sie, ich spreche nicht als Mutter zu ihnen, sondern als Person, wenn ich Sie frage: Sind Sie Vater?« und er sagte »Ja, ich habe drei Kinder, doch die sind nicht wie die Ihren.«


Das hat er gesagt?


Pastora: Ja, genau das. Ich sagte: »Hören Sie, ich habe fünf Kinder, und auf alle fünf bin ich über alle Maßen stolz, wissen Sie, warum? Weil meine Kinder die Liebe kennengelernt haben. Ich habe meinen Kindern die Liebe gezeigt, sie haben die Liebe kennengelernt und haben Gefühle. Doch Sie tun mir furchtbar Leid, denn Sie haben weder die Liebe kennengelernt noch haben Sie Gefühle, und ihre Kinder tun mir ebenfalls Leid. Ich wähle meine Worte vorsichtig: Mit einem Vater wie Ihnen weiß ich nicht, was aus diesen Kindern werden wird«, woraufhin er wutentbrannt den Raum verlässt, zurückkommt mit einem Schreibblock voll mit Notizen, er setzt sich wieder dort hin und sagt zu meinem Sohn: »Können Sie lesen und schreiben?« Natürlich ist das eine Provokation und Tarrío sagt zu ihm. »Besser als du, Ignorant! Denn ich kann Dir den Artikel der Spanischen Verfassung nennen«, Artikel sowieso, Seite sowieso (ich kann mich jetzt nicht erinnern), »in dem steht, dass ein Gefangener nicht unter diesen Bedingungen gehalten werden darf, unter denen Du ihn hältst«. Und der andere sagt: »Es gibt keinen Artikel, der mir sagt, dass ich es nicht darf«. Die totale Provokation also.

Julia: Was für ein Arschloch!

Pastora: Und gut, so ging es weiter, mit diesem Herrn, immer wenn ich hinging: Zehn Minuten. Die anderen beiden machten mit mir Zeiten aus. Wenn er mit der anderen Wache dran war, sagte er zu seinen Kollegen: »Ist die immer noch da?« Ich hörte das, er sagte: »Ihr wisst schon, nur zehn Minuten und keine Minute länger!«, woraufhin seine Kollegen Angst bekamen, denn der andere war der Vorgesetzte... Und sie hielten ihn gefesselt im Juan Canalejo, über sehr lange Zeit, bis irgendwann andere kamen, ich will nicht sagen, dass die besser waren, sie haben einfach ihren Dienst nach Vorschrift getan. Diese anderen Polizisten taten ihren Dienst nach Vorschrift.


Vom Krankenhaus unternahm niemand etwas, während dies alles geschah?


Pastora: Vom Krankenhaus niemand. Was sie mit meinem Sohn gemacht haben, ich versuche, es zu verarbeiten, es ist ein Horrorfilm. Ich habe es ihm nicht gesagt, weil ich es vermied, doch ich kam dort weinend heraus, und es gibt Zeugen, ich lüge nicht. Ich habe vier nahestehende Leute, die mich dorthin begleitet haben und die Zeugen all dessen sind, was ich dort erlebt habe. Ich habe einen Schaden davongetragen, es ist die Schuld dieses Herrn. Und ich will es erzählen, es ist eigenartig... denn außerdem fingen sie an, ihn ständig zu verlegen, vom vierten in den sechsten Stock... Ich fragte die Ärzte, und er war niemandes Patient. Tarrío war niemandes Patient: »Nein, zu mir gehört er nicht, denn er ist nur hier, weil im neunten Stock gerade kein Platz ist.« Am nächsten Tag ist er im sechsten Stock. Dort dasselbe: »Zu mir gehört er nicht, er gehört zu der Doktorin, die im Urlaub ist.« Über anderthalb Monate wurde Tarrío nicht untersucht. Sie mussten eine Ultraschalluntersuchung machen, denn einer hatte gesagt, es sei eine Thrombose, ein anderer hatte Gehirnschlag diagnostiziert. Ein anderer, dass es Folgeschäden einer alten Verletzung seien. Mein Sohn hat mir sogar gesagt, dass sie ihn mit einem Eisen auf den Kopf geschlagen haben, als er in Santoña war, ein Vollzugsbeamter hatte ihn mit einem Eisen auf den Kopf geschlagen und seit damals, seit Dueso, hatte er starke Kopfschmerzen.

Wie auch immer, es ist eine schwerwiegende Sache, doch die Schalluntersuchung wird nicht gemacht. Das Gehirn steuert den ganzen Körper, bei Gehirnschlag sollten die Untersuchungen schnell gemacht werden. Niemand führte die Untersuchung durch, bis diese Ärztin kam, Frau Dr. Castro, aus dem Urlaub, oder ich weiß nicht woher. Vorher waren fünf Ärzte dran gewesen, und jeder sagte etwas anderes. Sie kam, und was sie mit meinem Sohn machte, war, ihm Medikamente zu verschreiben. Er tat ihr wohl Leid. Ich hatte ihr auch gesagt, dass sie mir Rechenschaft schulden würde. Sie gab ihm Trankimazin, für den Hirnschlag, Trankimazin für die Nacht und eine Injektion für die Durchblutung und fertig. Wenn Du zum Beispiel eine Querschnittslähmung hast, schicken sie dich in die Rehabilitation... es war seine Mutter, die ihm das geben musste, denn sie haben niemanden geschickt, wo ich doch die ganze Zeit gefordert habe, dass jemand kommt, dass ein Arzt zu ihm komme, weil er nicht gehen konnte.

Die Ärztin hat mir gesagt, wir müssten das Krankenhaus wechseln. Doch in das andere Krankenhaus konnte sie ihn nicht schicken, denn mein Sohn gehörte nicht zu seiner Mutter, sondern er gehörte dem Gefängnis. Ich sagte zu ihr: »Sehen sie nicht, dass er so nicht ins Gefängnis zurück kann?« Sie schreibt ihn gesund, und ich sage ihr: »Mein Sohn ist nicht gesund. Mein Sohn kann von Tag zu Tag schlechter gehen. Als er ins Krankenhaus kam, war er schon Invalide, aber er konnte noch die Finger bewegen, doch hier von den Handschellen die ganze Zeit, hört er auf, sich überhaupt zu bewegen, nichts mehr, das Bein nicht, überhaupt nichts.«

Er ist in seiner Zeit im Krankenhaus mehrfach zusammengebrochen. Einmal im Krankenhaus fand ich ihn ganz schwarz vor, und er sagte mir, es sei, weil er in der Dusche hingefallen war. »Helfen Sie Dir nicht?« – »Nein, Mama, ich habe sogar gegen die Tür getreten, weil ich nicht aufstehen konnte, denn in der Dusche war alles nass und rutschig, ich hatte keine Kraft und fiel wieder hin.« Und dieser Herr, als er die Tritte hörte, immer derselbe Beamte, kam bis dorthin... »Warum trittst Du gegen die Tür?« fragt er. – Tarrío antwortet »Weil ich hingefallen bin, ich kann nicht aufstehen« – und der andere sagt: »Mir ist egal, ob Du aufstehen kannst oder nicht, das ist Dein Problem.« Er schließt die Tür, bis Tarrío sich schleppend aufrichten kann. Das heißt, dieser Herr macht so etwas und, na ja, noch viele andere Sachen. Ein anderes Mal kamen meine Kinder, um meinen Sohn zu sehen und er durchsucht sie mitten auf dem Flur. Einfach weil er der Bruder von Xosé Tarrío ist, durchsucht er Óscar, und fordert sein Führungszeugnis an, ob er wohl Vorstrafen habe.

Das alles ist schrecklich. So ging das jeden Tag, viel Wut staute sich an, das Gefühl der Ohnmacht. Später waren wir bestürzt darüber, dass diese Ärztin ihn gesund schrieb. Ich bat sie, das nicht zu tun. (...) Es war ein schwerer Gehirnschlag und obendrein hatte sie sich in der Diagnose vertan, gab ihm nicht die richtigen Medikamente, gab ihm überhaupt keine, obwohl er und ich doch darum baten. Und sie schickt ihn zurück ins Gefängnis und gibt ihm ein Papier, wonach er zur Rehabilitation ins Sanatorium von Oza soll. Und ich sage zu ihr: »Sehen Sie nicht, dass das Gefängnis ihn dort nicht hinschicken wird?« Und sie sagt: »Das ist nicht mein Problem.«

Ich hatte mit den Ärzten gesprochen, mit allen, die ihn gesehen hatten – wie konnte ein Doktor, der sich dem Heilen verschrieben hat, zulassen, was sie mit ihm, einem Kranken, unter diesen Bedingungen anstellten, und sie haben mir geantwortet... Ich habe nur einen etwas humanen kennengelernt. Sie haben mir geantwortet, ich müsse mich darauf beschränken, nach der Diagnose zu fragen. Man sagte mir, dies sei das Einzige, was sie mir sagen könnten, für alles Weitere seien sie nicht zuständig.

Viele Dinge sind passiert – als mein Sohn zum zweiten Mal ins Krankenhaus kam, als dieser Beamte ihn provozierte, es war, als er fragte, ob er lesen und schreiben könne, die Kommentare über die Kinder, da bittet mein Sohn, ihn gesund zu schreiben, denn Respektlosigkeit gegenüber seiner Mutter konnte er nicht dulden, er sagte: »Sieh zu, dass Du gut mit meiner Mutter umgehst, denn falls ich eines Tages aufstehe, sehen wir uns von Angesicht zu Angesicht wieder.« Und der Beamte provozierte ihn weiter. Mich schmiss er raus, ohne Kommentar. Er schmiss mich raus, weil er Lust dazu hatte, und mein Sohn sagte: »Ich will gesund geschrieben werden, ich halte es mit diesem Mann nicht aus.« Ihm tat der Kopf weh, und als er das Krankenhaus verließ, ging es ihm schlechter. Dass klar ist, dass er die Gesundschreibung selbst verlangt hat, in Wirklichkeit ging es ihm sehr schlecht, er bat um die Gesundschreibung wegen dieses Herrn, der ihm schon in der Notaufnahme gesagt hatte, dass er, wenn es nach ihm ginge, ihm Hände und Füße ans Bett fesseln würde und ihm einen Kopfschuss verpassen.


Das hat er gesagt?


Pastora: Ja, ja, das hat er zu meinem Sohn gesagt. Flüsternd, damit es seine Kollegen nicht hören. Und er redete auf alle Krankenschwestern ein, sie sollten seine Mutter nicht beachten. Das haben die Krankenschwestern erzählt, und der Ehemann einer Freundin von mir, der im Krankenhaus lag, las das Buch meines Sohnes, und als die Krankenschwester ihn sah, sagte sie: »Oh, Xosé Tarrío, wir hatten einen Patienten dieses Namens auf unserer Station, hat der etwa ein Buch geschrieben?« Und er sagte: »Ja, und ich bin mit der Mutter befreundet.« Die Krankenschwester sagte: »Aber der ist sehr gefährlich!« – Mein Freund: »Ach was, was wird der gefährlich sein, er ist ein guter Junge!« – »Was erzählen Sie mir da, der wachhabende Offizier hat uns doch gesagt, er sei ein gefährlicher Mörder...« – Alles Mögliche hatte der den Schwestern erzählt. Die Krankenschwester bemerkte, ihr sei das ganze schon eigenartig vorgekommen, denn er sei ein so gut erzogener Mensch.

Sie brachten ihn also zurück ins Gefängnis, ich hatte die Ärztin gefragt, zu welcher Uhrzeit, damit ich mich von ihm verabschieden konnte. Man versprach mir, bis zwei Uhr nachmittags zu warten, damit ich Zeit für ihn hatte. Ich ging um zwölf hin, denn ich kenne das schon, und sie hatten ihn schon fortgebracht. Ich: »Wieso haben sie meinen Sohn schon weggebracht? Hatten Sie mir nicht versprochen, auf mich zu warten?« Und man sagte mir: »Ja, schon, doch der wachhabende Offizier hat angeordnet, dass aus...

Julia: ...aus Sicherheitsgründen...

Pastora: ...aus Sicherheitsgründen die Verlegung um elf stattfinden müsse.« Mir haben die anwesenden Patienten erzählt, dass mein Sohn einen Monat dort verbracht hat, mich haben die Patienten angesprochen, die im Krankenhaus sein Buch gekauft haben, viele Patienten haben das getan... Er bat um einen Rollstuhl, weil er nicht mehr gehen konnte... ein Kollege dieses Offiziers brachte den Rollstuhl, der Offizier ordnete an, der Rollstuhl müsse wieder weg... Sie machten meinem Sohn alle Bücher kaputt, die er in einer Tüte bei sich hatte, mit den Händen auf dem Rücken gefesselt ließen sie ihn durch das Krankenhaus gehen, mit der vollen Büchertüte in der einen Hand, denn die andere funktionierte nicht mehr, mein Sohn fiel alle paar Meter hin wie Jesus Christus und stand auf, fiel hin und stand auf – und keine helfende Hand. Ich habe gefragt, wie man das zulassen könne, und man sagte mir: »Nicht mein Problem!«

Das ist es, was sie mit meinem Sohn gemacht haben. Sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt, und ich habe zusammen mit Guillermo Presas, dem Anwalt meines Sohnes, alles versucht, und zwei Wochen später haben wir ihn aus dem Gefängnis herausbekommen. Es ging ihm sehr schlecht! Er rief mich von der Krankenstation aus an und sagte: »Mama, hol mich hier raus, ich sterbe, Du glaubst nicht, wie sie uns hier auf der Krankenstation behandeln.« Es war das erste Mal, dass er dort eingewiesen war. Er sagte: »Mama, meine AIDS-kranken Mitgefangenen in Windeln müssen sich gegenseitig waschen, niemand hilft uns beim Duschen, sie fallen beim Duschen hin. Es ist schrecklich, Mama, hol mich hier raus denn ich sterbe.« Und ich bekam mit, dass mein Sohn bereits eine schwere Depression hatte, zusätzlich zu allem, woran er sonst litt. Und als ich ihn aus dem Gefängnis abholen ging, packten sie eine Tüte mit seiner nassen Wäsche auf ihn drauf im Rollstuhl und schoben ihn raus, sie ließen ihn zum Sterben raus, er hatte schon seine Stimme verloren, konnte nicht mehr...


Konnte nicht mehr sprechen, nicht wahr?


Pastora: Er konnte nicht mehr sprechen. Er teilte mir in Zeichensprache mit: »Mama, ich möchte schreiben«, doch er konnte nicht schreiben, er konnte nicht mehr, er kriegte es nicht mehr fertig. Es war schrecklich, bis er ins Koma fiel. Immer noch nicht zufrieden, schickte dieses Krankenhaus ihn in ein anderes, nach »Veinte Lago«, ein anderes Krankenhaus zu einer anderen Ärztin, die keine Ahnung von seiner Krankheit hatte, er lag ja schon im Koma... die schickte ihn zurück ins »Juan Canalejo«.

Kurzum, was sie mit Tarrío gemacht haben, findet Gottes Vergebung nicht. Wie ein Stück Schrott haben sie ihn behandelt. Von »Veinte Lago« nach »Juan Canalejo«, obwohl wir ja Oza beantragt hatten. Ja, als er aus dem Gefängnis kam, bat ich darum, ihn in Rehabilitation zu schicken, und sagte zu ihm: »Sei unbesorgt, Du wirst wieder gesund«, denn er wollte es. Es stellte sich heraus, dass in Oza kein Platz war und wir einen Monat warten mussten.

Er konnte keinen Monat warten, er konnte nicht warten. Wir zahlten ihm eine Rehabilitation, meine Töchter schickten das Geld, in einer Privatklinik, seine Geschwister zahlten, denn ich konnte nicht, wir zahlten alles, doch die Krankheit war schon sehr weit fortgeschritten. Es kam der Tag seiner zugesagten Rehabilitation, der 13. September, sie untersuchten ihn, um ihn mitzunehmen, sie sagten ab, denn er war für eine Untersuchung nicht mehr ansprechbar, er konnte nicht mehr. Sie schickten ihn nach »Veinte Lago«, und von dort aus, wo die Ärztin ja keine Ahnung von seiner Krankheit hatte, wieder nach »Juan Canalejo«, wo sie uns schließlich anboten, ihn zu betäuben.


Damit er in Frieden stirbt?


Pastora: Und wir wollten nicht, denn ich glaubte daran, dass mein Sohn dies überstehen würde. Noch immer fühle ich, dass ich den Tod meines Sohnes nicht akzeptiert habe. Ich war die einzige, die glaubte, mein Sohn werde nicht sterben, und die Ärzte sagten mir, er werde. Bis seine Schwester und ich anfingen zu schreien, weil sie sich nicht um ihn kümmerten, und sie ihn auf die Intensivstation brachten, wo er dann blieb. Vorher schon lag er im Koma, sie machten ihm einen Luftröhrenschnitt, ich glaubte immer noch, mein Sohn würde leben, man wies mir eine Psychiaterin zu, von der ich nichts wissen wollte, die Psychiaterin sollte mich auf den Tod meines Sohnes vorbereiten, doch ich ließ das nicht zu, ich sagte ihr, das Leben schulde meinem Sohn noch etwas, und ich glaube das immer noch.

Das ist es, was sie mit Tarrío gemacht haben, sie haben ihn umgebracht. Tarrío starb an keiner Krankheit, am Ende schon, doch... Tarrío starb am Gefängnis. Denn nein und nochmals nein, Tarrío gehörte nicht ins Gefängnis und allzu viele andere junge Leute ebensowenig. Sie haben das mit ihm gemacht, einfach weil er ein Buch geschrieben und das System angegriffen hat, und weil er alles zur Anzeige gebracht hat, was sie ihm angetan haben.

Und als seine Mutter fällt es mir heute schwer, von meinen Sohn zu sprechen. Ich muss es tun, verstehst du...? Und sie haben nicht meinen Sohn umgebracht, sie haben meine Familie getötet, mich und meinen Sohn, denn ich war immer eine positive Person gewesen, die an das Gute geglaubt hat, jetzt glaube ich gar nichts mehr. Ich glaube nichts, denn was ich erlebt und gesehen habe, was sie mit meinem Sohn gemacht haben, Leute, die sich für gerecht halten, die die Justiz vertreten, sind nicht gerecht, denn für die Armen gibt es keine Gerechtigkeit.

Das Gefängnis ist einzig für die Armen geschaffen, und in der Tat gibt es im Gefängnis ausschließlich Arme, und nicht einmal, wenn du krank bist... es ging ihm sehr dreckig und bei mir zu Hause taucht die Geheimpolizei auf, die bis dato nie gekommen war. Nie in meinem Leben hatte die Polizei vor der Tür gestanden. Sie kommen herein und ich frage sie: »Wer sind Sie?« – »Die Polizei.« – »Was wollen Sie?« Er sagt: »Ist Tarrío zu Hause?« – »Was um alles in der Welt wollen sie jetzt noch von meinem Sohn? Ist Ihnen nicht klar, wie es ihm geht, was Sie ihm angetan haben?« Da sagt der eine zum anderen: »Lass uns gehen«, und ich sage: »Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe, wenn Sie irgendein Problem haben, wenden Sie sich an den Anwalt, doch nicht an meinen Sohn«, und sie gingen durch die Tür hinaus. Ich ließ sie meinen Sohn nicht sehen.

Und dieser Herr, der allen gesagt hat, sie sollten die Mutter nicht beachten... mein Sohn ist jetzt tot. Das ist Xosé Tarrío González. Mein Sohn ist tot, und bevor er ins Koma fiel, war er verzweifelt, es ging ihm sehr schlecht, er sagte zu mir: »Mama, ich habe dieses Buch geschrieben, um FIES und alles, was sie mit uns machen, publik zu machen«, und ich glaubte, das Buch würde eine stärkere Wirkung haben, als die, die es im Endeffekt haben sollte. Dass die Leute wahrnehmen würden, was alles geschieht, und dass es in die Hände einer...

Julia: ...einer höheren Autorität, einer...

Pastora: ...und dass Maßnahmen ergriffen würden. Doch ich sah, dass alles gleich blieb... Ich war sehr enttäuscht deswegen. Ich bedankte mich bei den Leuten in meinem Umfeld, die Leute, die er kennengelernt hatte, waren sehr nette Leute, und für diese Leute war es wert gewesen, diesen Kampf geführt zu haben... Ich hatte geglaubt, die Wirkung würde stärker sein.

Tarrío, wie viele andere Gefangene, ist nicht für etwas Schwerwiegendes bestraft worden, sondern dafür, arm geboren zu sein, und das ist die traurige Wahrheit. Und so wie er, viele andere junge Leute seines Alters, wegen einer Dummheit, verstehst du... Obendrein trifft es immer die Schwächsten.

Julia: Wegen einer jugendlichen Straftat verlieren sie das Leben.

Pastora: FIES, FIES. Ich wollte eine Tochter, eine Enkelin oder am besten gleich die Richter selbst und all die, die FIES erfunden haben, dort drinnen sehen, und ich rede nicht von zwölf Jahren, drei Jahre reichen. Ich wollte, sie würden sie alle dort hineinstecken und ausprobieren, was die Einsamkeit anrichtet und was FIES bedeutet, unter denselben Bedingungen natürlich, die sie den Gefangenen antun. Ich wollte, sie probierten das aus, ich wollte nur einige von ihnen dort drinnen sehen, mal sehen, was sie hinterher über FIES denken.


Doch das wird nicht geschehen...


Pastora: ...denn FIES, wie dieser Psychologe von der Gerichtsmedizin sagt, der an Tarríos Prozess teilgenommen hat, der der Staatsanwältin und der Richterin erklärt hat, welche massiven Schäden FIES im menschlichen Geist anrichtet, dass er den Geist komplett ausschaltet, wie schrecklich dies ist. FIES ruft Beklemmungen, Ängste und geistigen Verfall hervor. Das alles hat er erklärt, und sie haben ihm keinerlei Beachtung geschenkt. Die Staatsanwältin nahm sich diesen Herrn vor und sagte ihm: »Sind Sie Doktor der Psychologie?« – »Nein, aber ich bin Psychologe der Gerichtsmedizin, ich habe meinen Titel und ich habe den menschlichen Geist studiert, und ich darf zu Hause nicht ein Wort darüber verlieren.«

[Sich der Interviewerin zuwendend:] Das ist, was ich Dir erzählen wollte, das Gefängnis ist keine Lösung. Ich fordere Gerechtigkeit. Gerechtigkeit! Ich werde dies alles publik machen. Ich weiß, ich werde nicht gewinnen.

Julia: Gerechtigkeit für die legalen Mörder, nicht wahr?

Pastora: Ich weiß, ich werde nicht gewinnen, doch ich als Mutter, vor allem als Mutter Xosé Tarríos, ich fühle mich als freie Person in der Pflicht, dies alles publik zu machen. Zuerst als Mutter und danach als Person. Denn ich will nicht, dass sie das, was sie mit meinem Sohn gemacht haben, mit anderen Kindern machen. Und man ist mir Rechenschaft darüber schuldig, was sie mit meinem Sohn gemacht haben und mit meiner Familie, denn dies alles haben meine anderen Kinder und ich durchleben müssen. Es war schrecklich, dies zu erleben. Es war schrecklich.


Und Du bist nach Aachen gekommen, um Gabriel zu unterstützen.


Pastora: Ja! Und jede Person, die mich braucht. Wenn wir Armen uns nicht gegenseitig unterstützen, weiß ich nicht, was uns bleibt, ich will die Wahrheit herausschreien, wo auch immer. Solange ich lebe, werde ich die Wahrheit herausschreien. Die Wahrheit, ich komme nicht mit Lügen daher, noch habe ich vor, mittels Lügen irgendetwas zu erreichen. Ich fordere Gerechtigkeit, echte Gerechtigkeit, für die einen wie für die anderen, und dass sie sich nicht weiter an den Jungs auslassen... Der Junge dieser Dame zum Beispiel, ich kenne sein Leben, mein Sohn hat mir von ihm erzählt. Ich weiß, dass er niemals Terrorist gewesen ist, dass er außerdem ein Junge mit einem Herzen so groß wie ein Haus ist, dass er für seine Rechte kämpft, wie auch mein Sohn es tat. Was also soll die Scheiße mit dem Terrorismus? Die Terroristen sind sie selbst. Sie tun verschanzt hinter dem Gesetz alles, was sie wollen, und das Volk weiß das nicht. Das Volk weiß es nicht, und das Schlimmste ist, dass wir mit unserem Geld mithelfen, dass dies alles existiert, dass Gefängnisse gebaut werden. Dass das keine Lösung ist und FIES auch nicht, denn FIES... – Als der Direktor des Gefängnisses von Teixeiro einen Vortrag hielt, seinen ersten Vortrag, der arme Mann... ich sage der arme Mann, denn die Mutter von Tarrío war bei dem Vortrag anwesend, und er erzählte, die Gefängnisse von Coruña und ganz Spanien seien vorbildlich, es gäbe Werkstätten, Schwimmbäder, kurzum, sie seien regelrechte Fünf-Sterne-Hotels.

Julia: Ein Schwimmbecken ohne Wasser...

Pastora: Das einzige Wasser, was sie hatten, kam vom Regen.


Nur für das Foto...


Julia: Keine Werkstätten, so etwas gab es nicht.

Pastora: Und als dieser Herr seinen Vortrag gehalten hatte, bat ich um das Wort, und ich sagte: »Zuerst möchte ich mich vorstellen, doch ich werde keine persönliche Sache hieraus machen, ich komme als Repräsentantin des Kollektivs Nais en Loita, und als solche will ich sprechen. Sie, Herr Carmelo, präsentieren uns die spanischen Gefängnisse als Fünf-Sterne-Hotels, in erster Linie das von Teixeiro. In Wirklichkeit sind sie weit entfernt davon, Fünf-Sterne-Hotels zu sein. Sie sagen, es gebe Werkstätten, Werkstätten, die nicht geöffnet sind, Schwimmbecken ohne einen Tropfen Wasser...« So habe ich es ihm gesagt: »Wer dort badet, sind wohl Sie selbst, denn kein Gefangener hat mir so etwas berichtet...«

Julia: Mein Sohn war dort...

Pastora: Ich sagte ihm: »Erklären Sie uns doch, dass in spanischen Gefängnissen FIES existiert.« Klar, es war ein Vortrag, Iñaki Rivera[53] und alle nahmen teil, Studenten. Ich sagte: »Sie fragen sich, was FIES ist? FIES, Sonderakte über Häftlinge in Spezialbehandlung, das Gefängnis innerhalb des Gefängnisses, ist durch die spanische Verfassung verboten, doch trotzdem hat man es geschaffen, und sie haben FIES geschaffen, ohne dass das Volk, die Gesellschaft, es weiß. Wer sind die Straftäter, die die drinnen sind oder Sie die so etwas im Geheimen tun?« So fing ich an, ich fing an zu erzählen, dass in spanischen Gefängnissen, vor allem in dem seinen, gefoltert wird, die Gefangenen nackt ausgezogen werden, sie an Händen und Füßen ans Bett gefesselt werden, sie ihre Notdurft so verrichten müssen und das dreizehn, vierzehn Tage lang. Natürlich nahm man mir das Mikrofon weg.


Man nahm es Dir weg?


Pastora: Natürlich, sie kamen schnell angerannt und nahmen mir das Mikrofon weg. Ich sagte ihnen: »Es ist mir egal, ob Ihr mir das Mikrofon wegnehmt, denn Dank Gottes habe ich eine starke Stimme, man wird mich genauso hören«, und man hörte mich. Sie schmissen mich nicht raus! Und natürlich, die Studenten... Eine Studentin sagte, sie studiere Jura, aber sie wisse nichts von alldem.


Natürlich nicht, denn FIES kommt im Gesetz nicht vor.


Pastora: Die Leute wissen es nicht, die Leute haben keine Ahnung, was FIES ist, und dass gefoltert wird und dass all das illegal ist. Und ich sagte: »Ja, all das existiert, und dies sagt euch nicht die Mutter eines Gefangenen, denn wir haben Briefe vieler Gefangener, die unterschrieben sind und die Ihr euch ansehen könnt...«


Und viele Tote.


Pastora: Und viele Tote, klar...


Dein Sohn ist der Letzte auf einer langen Liste...


Pastora: Klar, ich rede von meinem Sohn. Ich bin hier, doch meinen Sohn werden sie mir nicht zurückgeben, und was ich mache, vertieft meinen Schmerz noch, der Schmerz ist stark, ich komme nicht zur Ruhe...

Julia: Ich habe immer Angst, dass mir dasselbe passiert.

Pastora: Ich komme nicht zur Ruhe, denn wenn ich schlafen gehe, sehe ich immer meinen Sohn vor mir. Das einzige, was ich jetzt von meinem Sohn sehen kann. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn nicht glücklich, ich sehe ihn nicht wie seine Geschwister, ich sehe ihn eingesperrt, immerzu leidend, und gefesselt, krank und gefesselt, und ich sehe diesen Herrn ihn quälen, ihn immerzu quälen... Es ist schrecklich, ein totales Trauma habe ich... ein Trauma. Ich bin in einen Horrorfilm geraten und noch nicht herausgekommen.

[Julia und Pastora umarmen sich]

Nun bin ich hier, um die Mutter von Gabriel Pombo da Silva zu unterstützen, jetzt, denn ich komme aus der Schweiz, wo ich meine Kinder besucht habe, und ich weiß, dass auch sie eine Mutter ist, die kämpft, und als Mutter muss es ihr sehr schlecht damit gehen, sehr schlecht. Und ich komme, um von FIES zu sprechen, davon, was in den Gefängnissen passiert, denn das Gefängnis ist keine Lösung für die Probleme. Ich will sie und alle Mütter unterstützen. Mein Sohn ist gestorben, doch ich bin hier, und solange ich noch kann und ich noch am Leben bin, werde ich weiter anklagen, reden und Vorträge halten in dem Rahmen, in dem ich kann. Ich weiß, dass das meinem Sohn gefallen würde. Ich habe ihm gesagt: »Du stirbst...« Er starb in meinen Armen, gewaschen und rasiert, von mir, denn seine Mutter ließen sie im Sanatorium von Oza bei ihm, in einem Bett neben ihm. In Bezug auf das Sanatorium von Oza will ich sagen, Eva López, die zuständige Ärztin, ist eine hervorragende Person, sie kam jeden Tag und sah nach ihm mit viel Zärtlichkeit, auch mich haben sie gut behandelt, sie waren so nett, mir das Bett aufzustellen, so konnte ich meinen Sohn waschen, rasieren, duschen so gut ich konnte, denn ich wusste, dass ihm gefällt, dass seine Mutter es tut, also tat ich es, und ihm würde gefallen, dass ich mit diesem Kampf weitermache und den anderen helfe.

Bevor er starb, sagte er zu mir: »Weißt Du, Mama...« – ich war emigriert, um meine anderen Kinder voranzubringen, er war zurückgeblieben und hatte mich aus seiner früheren Kindheit in Erinnerung, er sagte: »Weißt Du, Mama, ich kannte diese starke Seite von dir nicht.« Ich sagte ihm: »Du hast deine Mutter noch nicht kennengelernt, du weißt noch nicht, wie weit sie gehen kann.« Scherze dieser Art leisteten wir uns.

Und hier bin ich, doch der Kampf... Hier sind seine Mutter und seine Geschwister zurückgeblieben, um weiter zu kämpfen und den anderen so gut es geht zu helfen. [Sie küsst das Foto ihres Sohnes, Julia greift sie am Arm und Pastora wendet sich ihr zu:] Dir viel Kraft! Worum ich bitte ist, wenn jemand dieses Video sieht, die Leute sollen verstehen und dies alles publik machen, denn mein Sohn war dran, der Sohn dieser Dame ist jetzt dran, leider, und er ist sehr stark, doch die Gefängnisse sind sehr groß, es sind nicht nur unsere Söhne, es gibt sehr viele Söhne, viele Söhne vieler Mütter, und diese Mütter, diese Geschwister, Onkels und Tanten, sie sollen auf die Straße gehen und anklagen, und die Leute draußen ebenso. Heute ist es für uns, morgen für sie.

Wir sollten solidarisch sein, und als Arme müssen wir in erster Linie den Armen helfen, denn engagierte Reiche sehe ich sehr wenige, ich behaupte nicht, dass es überhaupt keine gebe, doch das ist, was uns bleibt. Und du kommst schnell dorthin! Ins Gefängnis kann jeder kommen, bis hin zu Unschuldigen.

Und das wär’s...


[Sich Julia zuwendend:] Und willst Du etwas über Deinen Sohn sagen?


Julia: Nein. Ich habe nur Angst, dass ich alles das durchmachen muss, was diese Frau durchgemacht hat. Alles, was ich weiß ist, dass ich soundso viele tausend Kilometer gereist bin, um dort anzukommen und dann 20 Minuten vor einer Glasscheibe zu sitzen. Meistens mit diesen Telefonhörern zum Sprechen, durch die man kaum etwas hört, dafür also bin ich 2000 oder 2500 Kilometer hin und 2000 Kilometer zurück gereist, für nichts. Manchmal haben sie mich nicht einmal vorgelassen – Dinge in diesem Stil.


Gabriel ist seit 20 Jahren im Gefängnis?


Julia: Ja. Mit 17 kam er hinein, er war zu 5 Jahren verurteilt und während dieser 5 Jahre in Teruel konnte ich ihn keinmal umarmen, alles nur durch Glasscheiben. Er schrieb mir Briefe: »Mama, wenn ich einmal als Toter auftauche, so werde nicht ich es gewesen sein, der sich umgebracht hat. Ich werde mich nicht umgebracht haben, sie werden es sein, die mich umbringen.« Du kannst Dir also die Misshandlungen vorstellen, die sie erlitten, er wollte darüber nicht sprechen, er hat nichts gesagt. Ich hatte immer große Angst vor dem, was passieren würde, und immer denke ich daran, dass ich von meinem Sohn als Mutter kaum etwas hatte, denn er war noch ein Kind mit 17 Jahren... und die Misshandlungen... Es ist nicht, dass wir einverstanden wären mit den Straftaten und all dem, doch Misshandlungen, nein! Es gibt keinen Grund, sie zu misshandeln. Sie verbüßen ihre Strafe oder was auch immer vor der Justiz und fertig. Es gibt keinen Grund, sie zu verprügeln, zu misshandeln.


Oder zu töten...


Julia: Oder zu töten, dies noch weniger – niemand hat das Recht, jemandem das Leben zu nehmen, also...

Pastora: Und die Straftat? Was für eine Straftat?

Julia: Dummheiten, nichts als kindische Dummheiten, die sie vielleicht in ein Heim bringen sollten...

Pastora: Das ist auch keine Lösung.

Julia: Auch das ist keine Lösung. Es gibt Psychologen, man könnte sie auf andere Art und Weise umerziehen, man könnte sie zum Beispiel ein Handwerk lehren, was man ja nicht macht. Es gibt vieles, was sie tun könnten, aber nicht machen. Und in Spanien werden neue Gefängnisse gebaut, wofür? Warum bauen sie keine Orte, wo sie jungen Leuten etwas beibringen könnten, sie halten eine Menge junger Leute im Gefängnis, wozu? Das Gefängnis lehrt doch niemandem etwas.

Pastora: Ins Gefängnis stecken sie alles, was stört, das ist klar.


Um es zu verstecken?


Pastora: Na klar, alles was stört, stecken sie dort hinein. So war es schon immer.

Julia: Alle Mütter, nicht nur ich, können seit Jahren nicht schlafen, weil wir Kinder haben, die dort drinnen gefangen sind. Was jetzt und hier passiert ist, war ein Schreck, denn sie hatten falsche Papiere...


Du sprichst von der Festnahme von Gabriel, José, Bart und Begoña?


Julia: Sie bauen hier in Aachen ein Theaterstück auf, wonach es aussieht, als hätten sie eine Menge Leute umgebracht.


Was denkst du darüber, wie sie deinen Sohn vorführen?


Julia: Nun ja, in Spanien sind es Misshandlungen, hier ist es eher psychisch. Mein Sohn erscheint vor Gericht in Unterhosen, weil sie ihn festbinden, sie ihm den Kopf verdecken, damit er nichts sehen kann, er protestiert gegen die Bedingungen seiner Vorführungen vor Gericht. Heute habe ich die Autos gesehen, man könnte meinen, ein Präsident käme dort vorgefahren. Die ganze Straße gesperrt, damit man nicht... ich habe ihn nicht gesehen. Sie sperren den ganzen Verkehr ab, damit zwei Autos für die Gefangenen vorfahren können, wo hat man das gesehen? Einer in Unterhosen, wo hat man Vergleichbares gesehen? Ich jedenfalls kann das nicht sehen, mir geht es schlecht dabei... Ich mache das so, ich behalte alles für mich, weißt Du? Und diese Frau [sich auf Pastora beziehend] hat viel durchgemacht, denn...

Pastora: Nein, ich habe mehr oder weniger erlebt, was du erlebst, denn die Geschichte deines Sohnes ist dieselbe. Väter, die versagt haben, Mütter, die arbeiten gehen mussten, um das Brot zu verdienen. Das Schlimmste ist, dass statt der Väter die Söhne im Gefängnis sitzen, das ist das Traurigste an der Geschichte. Denn einen Vater sollte man zwingen, für seinen Sohn aufzukommen, verstehst du?

Julia: Genau das ist es. Das ist die Geschichte, wir mussten aus unserem Land auswandern, damit es unseren Kindern an nichts fehlt.

Pastora: Und Folter in Spanien. Es geht auch um psychische Folter. FIES ist schrecklich. Psychisch. Aber es geht um mehr als FIES... Die Leute müssen mitbekommen, dass FIES existiert und was FIES ist. Sie machen es heimlich, ohne gesetzliche Erlaubnis. FIES muss verschwinden.

Julia: Ja, die guten Sachen schauen sie sich nie ab. Sie haben es sich von den Deutschen abgeguckt, ich meine, die schlechten Sachen übernehmen sie, die guten nicht. Wenn sie schon alles imitieren wollen, sollen sie doch die guten Sachen aus Deutschland nehmen. Die Spanier haben es übernommen und so sieht’s aus.

Pastora: Das sind hinterhältige Leute, mit verdrehtem Charakter. Dass wir diese Leute gewählt haben, ist das Traurigste im Leben.

Julia: Ja, du sagst irgendwann: Ich gehe nicht mehr wählen, denn sonst tun sie meinem Sohn noch mehr an. Das ist, was du denkst: Nein, ich gehe nicht wählen.

Pastora: Ich gebe ihnen die Schuld, ich gebe den Medien die Schuld...

Julia: ...auch denen.

Pastora: Sie helfen nicht, das Einzige, was sie machen, ist alles noch zu verschlimmern. Statt sich an das Wort einiger Freunde zu halten, die die betreffende Person kennen, halten sie sich an das Wort von denen... Was ich ihnen versuche zu sagen: Glauben Sie auch nicht mir, fragen Sie die Leute, die ihn gut kennen und die er kennt, fragen sie seine Freunde.

Julia: Ja, ich sehe, dass Gabriel ein goldenes Herz hat, er ist ein sehr zärtlicher Junge, er sorgt sich viel um die Familie, um die Leute, seine Freunde, also... Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Pastora: Mein Sohn litt viel, er sagte: »Warum haben einige alles und andere nichts?« Doch es ging ihm nicht um sich selbst, er hat mir vieles erzählt und ihr könnt es in seinem Buch nachlesen, das er viel mit mir besprochen hat. Es waren die Gespräche, die wir hatten, wenn ich ihn besuchen ging, und er sagte: »Mama, merkst Du, dass sie uns hier reinstecken und als Gute auftreten, während sie doch die Waffen erfinden, um Menschen zu töten, dass sie die großen Mörder sind? Wenn sie zulassen, dass Kinder vor Hunger sterben und nichts investieren...« Mein Sohn litt an all diesen Dingen. Ich habe es in unseren Gesprächen gehört, wir haben es millionenfach besprochen. Mein Sohn litt viel unter diesen Dingen, das ist nicht normal. Und die anderen stellen sich als die Guten dar. Er also klagte an, was sie alles mit ihnen machten, und warum: Einfach weil sie arm waren, wurden sie bestraft, und so ist es, auch ich habe es erkannt.

Und als mein Sohn im Krankenhaus lag, ging ich zum Strafvollstreckungsrichter, damit man mir Einlass gewährt, und man sagte mir, der Richter befinde sich im Urlaub, und ich sagte: »Aber es muss doch einen Vertreter geben«, und man sagte mir: Nein, es sei nur der für Minderjährige da und der sei nicht zuständig. Wo hat man gesehen, dass es keinen Strafvollstreckungsrichter für Erwachsene gibt? Du fühlst Dich ohnmächtig, denn du hast keinen verdammten Cent um dir einen...

Julia: ...einen guten Anwalt zu leisten... einen guten Anwalt, der die Dinge in Bewegung setzen kann...

Pastora: Verstehst Du? Sie werden dafür bestraft, arm zu sein und ihre Familien auch, die Familien genau so, denn wenn du deine Kinder besuchen willst, musst du Vieles ertragen. Wenn du eine Plastiktüte mit hineinnehmen willst, bringst du die Plastiktüte mit, und sie gilt nicht, denn es muss eine Tasche mit Reißverschluss sein. Du kaufst dir eine Tasche mit Reißverschluss, das, nachdem du das Taxi bezahlt hast, gehst mit der Tasche mit Reißverschluss das nächste Mal hin und die Tasche mit Reißverschluss gilt nicht mehr, sie wollen eine Plastiktüte. So ging das jahrelang. Sie haben meinen Sohn nach Teneriffa geschafft, nach Salamanca, in alle Ecken Spaniens. Ich erinnere mich, einmal ging ich ihn besuchen nach Villanubla, nein, Villanubla nicht... es heißt anders, ich kann mich nie...


Villabona?


Pastora: Villabona. Dieses Gefängnis hat mich schwer beeindruckt. Ein Vater, weinend in der Cafeteria. Wir sprachen ihn an, die Dame, die in der Cafeteria bediente, fragte ihn, was mit ihm los sei. Er sagte: »Was soll schon los sein. Ich bin Seemann, habe fünf Kinder, bin zwei Tage an Land, verdiene 600 Euro, habe 180 für das Taxi ausgegeben, um meinem Sohn ein paar Turnschuhe und ein Hemd zu bringen. Sie haben mich weder meinen Sohn sehen lassen noch das Paket angenommen.« Und jener Vater weinte. Die Dame sagte zu ihm: »Oh Mann, das haben sie Ihnen angetan? Geben Sie her, lassen Sie wenigstens das Paket hier, es kommen zwei Schließer hierher, mal sehen, ob ich es denen geben kann und ob sie es hineinbringen können.« Das habe ich auch erlebt: Sie spielen sogar mit den Gefühlen der Familien, mit den Gefühlen der Familien. Was meinen Sohn angeht, ich will klarstellen, dass er am Gefängnis gestorben ist und sie ihn umgebracht haben. Für mich sind sie alle schuldig. [Küsst das Foto von Xosé.] Entschuldige, Julia, ich habe Dich unterbrochen.

Julia: Ist egal... ich kann nichts mehr sagen, es geht mir schlecht.


Ich weiß nicht, wie ich dieses Interview beenden soll, ich glaube es ist Zeit, es abzubrechen, denn wir drei stehen kurz davor, zu weinen. Ich glaube, es ist besser, wir lassen es.

[1] J.J. Garfia: Adiós Prisión. El relato de las fugas más espectaculares, Txalaparta 1995- 2004, ISBN 8481360066

[2] P. Zamoro Durán: A ambos lados del muro, Txalaparta 2005, ISBN 8481363073, dt. Fassg. i. Vorb.

[3] A. Valera Hidalgo: Volando a la cárcel, Tàndem 2005, ISBN 8481315389

[4] 1. Grad: Sonderbedingungen im geschlossenen Vollzug, 2. Grad: geschlossener Normalvollzug, 3. Grad: Offener Vollzug

[5] Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre. Seit 1975 aktive, maoistisch inspirierte mit dem PCE(r) zusammenhängende bewaffnete Organisation

[6] Reformatorio Especial de Tratamiento y Orientación, staatliches Erziehungsheim

[7] Grupo especial de operaciones (Sondereinsatzkräfte der Guardia Civil)

[8] Versch. Haftbedingungen im geschlossenen Vollzug (régimen cerrado, primer grado). Erleichterungen werden zugestanden, indem der Gefangene in die nächste sog. Phase aufsteigt, vgl. S. 24.

[9] vis-a-vis-Besuchstermine finden in einem gesonderten Raum ohne Trennung durch eine Scheibe statt.

[10] Besonders geschützte Gefangene

[11] Einkaufsladen für Gefangene auf Anstaltsgelände

[12] Unidades Especiales de Intervención (Sondereinsatzkommando) der Guardia Civil

[13] Staatliche Ansprechperson für Bürger, sog. Ombudsperson

[14] 5.000 Peseten ≈ 30 €.

[15] Asociación de Presos en Régimen Especial (Verein der Gefangenen unter Sonderbedingungen)

[16] Euskadi ta Askatasuna: Baskenland und Freiheit

[17] Im Spanischen wird von presos políticos bzw. comunes oder sociales (»allgemeine«, soziale) gesprochen.

[18] T4-Helferzellen des Immunsystems (Anm.i.Orig.)

[19] Spezialeinheiten der Policía Nacional

[20] 100 Pts ≈ 0,6 €

[21] Wortspiel mit apología del terrorismo (wörtl. 'Lobrede auf den Terrorismus', unter Freiheitsstrafe gestelltes Delikt)

[22] Galego, Galizisch

[23] Tradition: Pünktlich zum Jahreswechsel werden zwölf Trauben gegessen

[24] Ley Orgánica General Penitenciaria, Strafvollzugsgesetz

[25] Real Decreto Régimen Penitenciario, Strafvollzugsverordnung

[26] Wörtl. 'Behandlungsteams'

[27] Am 23. Februar 1981 unternahmen Teile von Militär und Guardia Civil unter dem Kommando von Oberstleutnant Antonio Tejero einen Staatsstreich.

[28] Grupos Antiterroristas de Liberación. Verdeckt handelnde Todesschwadron, die in den 80er Jahren 27 Morde an mutmaßlichen Mitgliedern von ETA verübte. Innenminister Barrionuevo, ein PSOE-Parteisekretär und hohe Beamte und Militärs wurden schließlich wegen ihrer Verstrickung in die Angelegenheit verurteilt.

[29] 1990 wurden drei Polizisten vor Gericht für schuldig befunden, den Juwelendieb Santiago Corella alias El Nani im Jahr 1984 verschwinden lassen zu haben (»desaparición forzada«). Zeugen wollen die Leiche unter Kalk begraben gesehen haben.

[30] Gründer der stoischen Philosophenschule, Athen 3. Jhd. v.u.Z.

[31] Sozialdemokratische Regierungspartei unter Ministerpräsident Felipe González

[32] 3 Mio. Peseten≈18.000 €

[33] Baskische linksnationalistische Tageszeitung, 1998 verboten.

[34] Coordinadora de Presos en Lucha (Arbeitsgemeinschaft kämpfender Gefangener)

[35] A. Rekalde Goikoetxea: Herrera, Prisión de Guerra, Txalaparta 1990, ISBN 848659720X

[36] Mehrheitlich postkommunistisches Parteienbündnis

[37] 1990 im Dorf Puerto Hurraco (Badajoz) stattgefundener mehrfacher Mord der Brüder Izquierdo an einem verhassten Familienclan.

[38] Unter diesem Namen ist der Fall dreier in Kantabrien ansässiger Männer bekannt, die 1981 von der Guardia Civil auf ihrer Autofahrt zu einer Erstkommunionsfeier in Almería festgenommen und zu Tode gefoltert wurden. Man hatte sie irrtümlicherweise für Mitglieder von ETA gehalten.

[39] S. Anm. 26

[40] S. Anm. 25

[41] orig. prisión bzw. centro penitenciario

[42] orig. carcelero bzw. funcionario

[43] ca. 120.000 €

[44] Anspielung auf die »fondos reservados«: In den 90er Jahren nach und nach aufgedeckte illegale Finanzierung staatsterroristischer Seilschaften wie GAL. Prominentester für schuldig Befundener wurde Luis Roldán, erster ziviler Oberkommandeur der Guardia Civil und PSOE- Funktionär, der 1995 in Bangkok verhaftet wurde und in Spanien eine Haftstrafe antrat.

[45] In dem Schriftstück, das im Anhang zur 1.-3. Auflage der spanischsprachigen Version des vorliegenden Buches (Barcelona: Virus 1997-2002) vollständig dokumentiert ist, sind alle der Staatsanwaltschaft vorliegenden Aussagen und Indizien aufgelistet.

[46] dt. 'Stinktier'

[47] Revueltas Irmandiñas: Bauernaufstände gegen die feudale Oligarchie im Galizien des 15. Jhdt.

[48] Exército Guerrilheiro do Povo Galego Ceive (EGPGC, Guerrilla des freien galizischen Volkes), von 1986 bis 1993 aktive bewaffnete Organisation zur Errichtung einer Sowjetrepublik Galizien.

[49] Dolores Ibárruri Gómez, genannt La Pasionaria, und Santiago Carrillo Solares

[50] Blau: Farbe des Franquismus ('Blauhemden')

[51] Gesellschaft für Menschenrechte

[52] Vgl. Anm. 10

[53] Professor für Strafvollzugsrecht, Barcelona