Aus: Oberländer, Erwin (Hg.): Dokumente der Weltrevolution. Der Anarchismus. Walter-Verlag 1972. Digitalisiert von www.anarchismus.at
Elisée Reclus
Anarchismus und Moral
Die Anarchie ist keineswegs eine neue Theorie. Das Wort selbst, in der Bedeutung von «Herrschaftslosigkeit», «Gesellschaft ohne Herren», ist alt und wurde lange vor Proudhon gebraucht.
Was bedeuten überdies Worte? Es hat «Akraten» schon vor den Anarchisten gegeben, und als die Akraten ihren Namen, der in gelehrter Weise zusammengesetzt ist, bildeten, waren sich schon unzählige Generationen gefolgt. Zu allen Zeiten hat es freie Menschen gegeben, die die Idee des Gesetzes verachteten, Leute, die ohne Herren lebten kraft des ursprünglichen Rechts ihrer Existenz und ihres Denkens. Selbst in den ältesten Zeiten treffen wir überall auf Stämme, die ohne Gesetze nach ihrem Gefallen leben, die keine andere Regel für ihr Verhalten haben als ihren «Willen und freies Gutdünken», um mit Rabelais zu sprechen, und die selbst von ihrer Sehnsucht getrieben sind, den «tiefen Glauben» zu begründen, wie etwa die «sehr tapferen Ritter» und die «sehr artigen Damen», die sich in der Abtei der Thelemiten vereinigt hatten [1].
Aber wenn die Anarchie auch so alt ist wie das Menschengeschlecht, so bringen doch wenigstens die Anhänger dieser Idee etwas Neues in die Welt. Sie haben eine genaue Vorstellung von ihrem Ziel und sind sich von einem Ende der Welt bis zum anderen in ihrem Ideal einig, jede Form der Regierung energisch abzulehnen. Der Traum von der weltumfassenden Freiheit hat aufgehört, eine bloße philosophische und literarische Utopie zu sein, die er noch für die Begründer der Sonnenstädte [2] oder des neuen Jerusalem war; er hat sich bei vielen Menschen in das aktive Streben nach einer lebendigen Realität verwandelt, die entschlossen an der Entstehung einer Gesellschaft arbeiten, in der es keine Herren mehr geben wird, keine offizielle Aufsicht über die öffentliche Moral, keine Kerkermeister und keine Henker, keine Reichen und keine Armen, sondern nur Brüder, die alle ihr täglich Brot haben, Gleichberechtigte, die in Frieden und herzlicher Eintracht miteinander leben, nicht auf Grund des Gehorsams gegenüber den Gesetzen, die immer von fürchterlichen Drohungen begleitet sind, sondern auf Grund gegenseitiger Respektierung der Interessen und der wissenschaftlichen Beobachtung der Naturgesetze.
Kein Zweifel, dieses Ideal scheint manchen unter Ihnen ein unerfüllbares Märchen, aber ich bin ebenso sicher, daß es den meisten erstrebenswert erscheint, und daß Sie in der Ferne das himmlische Bild einer friedlichen Gesellschaft schauen, in der die Menschen einträchtig leben, ihre Schwerter rosten lassen, ihre Kanonen umgießen und ihre Kriegsschiffe abrüsten werden. Überdies - gehören Sie nicht zu denen, die seit langer Zeit, seit Tausenden von Jahren, wie Sie sagen, am Tempel der Gleichheit bauen? Sie sind «Freimaurer», mit dem einzigen Ziele, ein Gebäude zu «mauern», dessen Proportionen vollkommen sind, das nur freie, gleiche und brüderliche Menschen betreten, die ohne Unterlaß an ihrer Vervollkommnung arbeiten und die durch die Kraft der Liebe zu einem neuen Leben der Gerechtigkeit und der Güte geboren werden. Nicht wahr, so ist es, und Sie sind nicht die einzigen! Sie erheben keinen Anspruch darauf, den Geist des Fortschritts und der Erneuerung allein gepachtet zu haben. Sie begehen nicht einmal die Ungerechtigkeit, Ihre besonderen Gegner zu vergessen, diejenigen, die Ihnen fluchen und Sie exkommunizieren, die glühenden Katholiken, die die Feinde der heiligen Kirche für die Hölle weihen, die aber ebenfalls die Ankunft eines Zeitalters des endgültigen Friedens prophezeien. Franz von Assisi, Katharina von Siena, Therese von Avila und viele andere Anhänger eines Glaubens, der nicht der Ihre ist, liebten sicherlich die Menschheit mit der aufrichtigsten Liebe, und wir müssen sie zu der Zahl derer rechnen, die für ein Ideal universellen Glücks lebten. Und die Millionen und aber Millionen von Sozialisten, zu welcher Richtung sie auch gehören mögen, kämpfen jetzt ebenfalls für eine Zukunft, in der die Macht des Kapitals gebrochen ist und in der die Menschen sich endlich ohne Ironie «Gleiche» nennen können!
Im Ziel sind sich die Anarchisten also mit vielen edlen Menschen einig, die den allerverschiedensten Religionen, Sekten und Parteien angehören; sie unterscheiden sich jedoch von ihnen klar durch die Mittel, wie das ja auch ihr Name in der unzweideutigsten Weise anzeigt. Fast immer war es das große Vorurteil der Revolutionäre, selbst der ehrlichsten, daß man die Macht erobern müsse. Ihre Erziehung gestattete es ihnen nicht, sich eine freie Gesellschaft vorzustellen, die ohne regelrechte Regierung funktionierte, und sowie sie die verhaßten Herren gestürzt hatten, beeilten sie sich, sie durch andere Herren zu ersetzen, die nach der geheiligten Formel dazu bestimmt waren, «ihre Völker glücklich zu machen». Gewöhnlich gestattete man sich nicht einmal, einen Wechsel der Fürsten oder der Dynastie vorzubereiten, ohne vorher irgendeinem Souverän der Zukunft gehuldigt zu haben.«Der König ist tot! Es lebe der König!» riefen die Untertanen, immer getreu, selbst in der Auflehnung.
Im Verlauf von Jahrhunderten war dies unweigerlich der Gang der Geschichte. «Wie könnte man ohne Herren leben?» sagten die Sklaven, die Ehefrauen, die Kinder, die Arbeiter in Stadt und Land, und ganz unbewußt nahmen sie das Joch auf sich, wie der Ochse, der den Pflug zieht. Man erinnert sich an die Aufständischen von 1830, die die «beste der Republiken» in der Person eines neuen Königs forderten, und an die Republikaner von 1848, die sich bescheiden in ihre Löcher zurückzogen, nachdem sie «drei Monate des Elends im Dienste der provisorischen Regierung» zugebracht hatten. Zur selben Zeit brach in Deutschland eine Revolution aus, und ein Volksparlament trat in Frankfurt zusammen: «Die alte Autorität ist ein Leichnam!» rief einer der Vertreter. «Ja», erwiderte der Präsident, «aber wir wollen sie neu beleben. Wir werden neue Menschen aufrufen, die es verstehen werden, das Vertrauen der Nation für die Regierung wiederzugewinnen.» Ist es nicht am Platze, hier den Vers von Victor Hugo zu zitieren: «Ein alter Instinkt der Menschen führt zur Schändlichkeit»?
Gegenüber diesem Instinkt bedeutet die Anarchie in Wahrheit einen neuen Geist. Man kann den Anarchisten nicht vorwerfen, daß sie eine Regierung zu beseitigen suchen, um sich an ihre Stelle zu setzen. «Geh hier weg, damit ich mich hinsetze» ist ein Wort, das sie mit Abscheu aussprechen würden, und außerdem verfällt derjenige unter ihnen, der sich, von der Tarantel der Machtgelüste gestochen, dazu verleiten ließe, unter dem Vorwand nach irgendeiner Stellung zu streben, er wolle auch «seinen Mitbürgern das Glück bringen», der Schande und der Verachtung oder zum mindesten dem Mitleid. Die Anarchisten, die sich dabei auf die Beobachtung stützen, behaupten, daß der Staat und alles, was damit zusammenhängt, nicht ein bloßer Begriff oder irgendeine philosophische Formel ist, sondern eine Gesamtheit von Individuen, die in einer besonderen Umwelt leben und deren Einfluß unterliegen. Diese Menschen, die dank ihrer Erziehung im Hinblick auf Würde, Macht und Besoldung über dem Niveau ihrer Mitbürger stehen, sind schon dadurch sozusagen gezwungen, sich den gewöhnlichen Menschen überlegen zu fühlen, und so bringen es die mannigfachen Versuchungen, denen sie ausgesetzt sind, in fast verhängnisvoller Weise mit sich, daß sie unter das allgemeine Niveau hinabsinken.
Darum wiederholen wir unablässig gegenüber unseren Brüdern - manchmal feindlichen Brüdern - den Staatssozialisten: «Achtet auf eure Führer und Vertreter! Wie Ihr sind sie sicherlich von den besten Absichten beseelt; sie wünschen glühend die Abschaffung des Privateigentums und des tyrannischen Staates; aber die Verhältnisse, die neuen Gelegenheiten verändern sie allmählich; ihre Moral ändert sich mit ihren Interessen, und sie werden, wenn sie sich auch der Sache ihrer Auftraggeber immer treu glauben, ihr doch zwangsläufig untreu. Sind sie erst im Besitz der Macht, werden sie sich der Mittel der Macht bedienen müssen: der Armee, der Moralisten, der Behörden, Polizisten und Spitzel.» Vor mehr als dreitausend Jahren hat der indische Dichter des Mahä Bhärata die dieses Problem betreffende Erfahrung der Jahrhunderte so formuliert: «Der Mensch, der im Wagen fährt, wird niemals der Freund dessen sein, der zu Fuß geht!»
Deshalb haben die Anarchisten in dieser Hinsicht die entschiedensten Prinzipien: Ihrer Meinung nach kann die Eroberung der Macht nur dazu dienen, deren Existenz und damit die Existenz der Knechtschaft zu verlängern. Daher hat es auch seinen guten Grund, daß der Name «Anarchisten», der eigentlich nur eine negative Bedeutung hat, derjenige bleibt, mit dem wir allgemein bezeichnet werden. Man könnte uns als «Libertäre» bezeichnen, wie sich ja einige von uns freiwillig nennen, oder auch als «Harmonisten», auf Grund der freiwilligen Übereinstimmung der einzelnen Willensrichtungen, die nach unserer Meinung die zukünftige Gesellschaft begründen wird; aber diese Benennungen unterscheiden uns nicht deutlich genug von den anderen Sozialisten. Es ist der Kampf gegen alle obrigkeitliche Gewalt, der uns wesentlich unterscheidet; jede Individualität erscheint uns als der Mittelpunkt des Weltalls, und jede hat die gleichen Rechte auf ihre ungestörte Entfaltung, ohne das Dazwischentreten einer Macht, die sie leitet, schulmeistert oder bestraft.
Sie kennen nun unser Ideal. Jetzt erhebt sich zuerst die Frage: «Ist es wirklich ein edles Ideal, und ist es die aufopfernde Hingebung seiner Anhänger und die schrecklichen Gefahren, die alle Umwälzungen mit sich bringen, wert? Ist die anarchistische Moral eine unverfälschte Moral, und wird der Mensch in der freien Gesellschaft besser sein als in einer Gesellschaft, die auf der Furcht vor der Macht oder den Gesetzen beruht?» Ich antworte mit aller Sicherheit und hoffe, daß Sie bald mit mir antworten werden: «Ja, die anarchistische Moral entspricht am besten der modernen Vorstellung von Gerechtigkeit und Güte.»
Die Grundlage der alten Moral war, wie Sie wissen, nichts anderes als der Schrecken, das «Beben», wie die Bibel sagt und wie so manche Vorschriften es Sie in Ihrer Jugend gelehrt haben. «Die Gottesfurcht ist der Beginn der Weisheit», das war noch vor kurzem der Ausgangspunkt aller Erziehung: Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit beruhte auf dem Schrecken. Die Menschen waren nicht gleichberechtigte Bürger, sondern Untertanen oder Pfarrkinder; die Ehefrauen waren Mägde, die Kinder Sklaven, über die die Eltern einen Rest des alten Rechts über Leben und Tod ausübten. Überall, in allen Gesellschaftsverhältnissen, zeigten sich die Wechselbeziehungen von Obrigkeit und Unterordnung; schließlich noch in unseren Tagen das Prinzip des Staates und aller einzelnen Staaten, die es verkörpern, die Hierarchie oder die heilige Herrschaft, die «geweihte» Autorität - das ist der wahre Sinn des Wortes. Und dieses heilig-unverletzliche Herrschaftssystem schließt eine ganze Folge von übereinander geschichteten Klassen ein, von denen die obersten alle das Recht haben zu befehlen, und die untersten alle die Pflicht haben zu gehorchen.
Die offizielle Moral besteht darin, sich vor dem Oberen zu verneigen und sich vor dem Untergebenen stolz aufzurichten. Jeder Mensch muß wie Janus über zwei Gesichter, über zweierlei Arten von Lächeln verfügen: das eine schmeichlerisch, zuvorkommend, manchmal servil, das andere hochmütig und von herablassendem Stolz. Das Prinzip der Autorität - so nennt sich das Ding - erfordert, daß der Obere niemals so aussieht, als ob er Unrecht habe, und daß er bei jedem Wortwechsel das letzte Wort hat. Vor allem aber müssen seine Befehle befolgt werden. Das vereinfacht alles: Es bedarf keiner Erwägungen, keiner Erklärungen, keines Zögerns, keiner Debatten, keiner Bedenken. Die Dinge gehen dann ganz von selbst, schlecht oder gut. Und wenn kein Herr zum Befehlen da ist, hat man für diesen Fall nicht schon fertige Formeln, Verordnungen, Erlasse oder Gesetze, die ebenfalls von unumschränkten Herren oder von Gesetzgebern ausgehen? Diese Formeln ersetzen die unmittelbaren Befehle, und man beobachtet sie, ohne zu untersuchen, ob sie auch der inneren Stimme des Gewissens entsprechen.
Unter Gleichen ist die Aufgabe schwieriger, aber auch vornehmer: Man muß streng die Wahrheit suchen, die persönliche Pflicht entdecken, sich selbst kennenlernen, fortwährend an seiner eigenen Erziehung arbeiten, sich so verhalten, daß die Rechte und Interessen der Genossen respektiert werden. Nur dann wird man ein wirklich moralischer Mensch, gelangt man zum Gefühl seiner Verantwortlichkeit. Die Moral ist nicht ein Befehl, dem man sich unterwirft, eine Parole, die man wiederholt, eine für das Individuum rein äußerliche Sache; sie ist ein Teil des Wesens, ein Produkt des Lebens selbst. So verstehen wir die Moral, wir Anarchisten. Haben wir nicht das Recht, sie mit Genugtuung mit der zu vergleichen, die uns die Vorfahren hinterlassen haben?
Vielleicht werden Sie mir recht geben? Aber auch hier werden vielleicht einige von Ihnen noch das Wort «Phantasiegebilde» aussprechen. Ich bin indessen schon glücklich, daß Sie zum mindesten ein edles Phantasiegebilde darin sehen, und ich gehe weiter und behaupte, daß unser Ideal, unsere Vorstellung von Moral ganz und gar auf der Logik der Geschichte beruht, die die Entwicklung der Menschheit in natürlicher Weise hervorgebracht hat.
Die Menschen hatten sich seinerzeit, vom Schrecken vor dem Unbekannten ebensosehr verfolgt wie von dem Gefühl ihrer Ohnmacht, die letzten Dinge zu ergründen, dank der Heftigkeit ihres Verlangens eine oder mehrere hilfreiche Gottheiten geschaffen, die ihr mehr oder weniger unklares Ideal verkörperten und zugleich den Angelpunkt dieser ganzen geheimnisvollen, sichtbaren und unsichtbaren Welt bildeten. Diese Ausgeburten der Phantasie, die mit der Allmacht versehen waren, wurden in den Augen der Menschen auch zum Prinzip aller Gerechtigkeit und Autorität: Sie waren die Herren des Himmels und hatten natürlich ihre Dolmetscher auf Erden, Zauberer, Räte, Heerführer, vor denen man sich niederzuwerfen lernte wie vor den Repräsentanten des Himmels. Das war logisch; aber der Mensch überdauert seine Werke, und die Götter, die er schuf, haben sich unaufhörlich verändert, wie Schatten, die auf die Unendlichkeit geworfen werden. Zuerst waren sie sichtbar, von menschlichen Leidenschaften erfüllt, heftig und furchtbar; dann wichen sie allmählich in eine ungeheure Entfernung zurück; schließlich wurden sie Abstraktionen, erhabene Ideen, denen man nicht einmal mehr einen Namen gab, und endlich fielen sie mit den Naturgesetzen der Welt zusammen; sie kehrten in die Unendlichkeit zurück, die Unendlichkeit, die sie selbst aus dem Nichts hervorgezaubert haben sollten; und nun befindet sich der Mensch wieder allein auf der Welt, über der er das Kolossalbild Gottes aufgestellt hatte.
Damit ändert sich aber auch zugleich die Vorstellung von allen anderen Dingen. Wenn Gott vergeht, verdunkelt sich auch der erborgte Glanz derer, die von ihm ihren Anspruch auf Gehorsam ableiteten: Auch sie müssen nach und nach in die Reihen zurücktreten und sich, so gut es ihnen möglich ist, den neuen Verhältnissen anpassen. Man könnte heute keinen Tamerlan[3] mehr finden, der seinen vierzig Höflingen befehlen würde, sich von der Höhe eines Turms herabzustürzen, und dabei sicher sein könnte, im nächsten Augenblick die vierzig blutigen und zerschmetterten Kadaver von den Zinnen aus zu sehen.
Die Freiheit des Denkens hat aus allen Menschen unbewußte Anarchisten gemacht. Wer reserviert sich heut nicht einen kleinen Winkel seines Hirns zum Nachdenken? Nun, das ist aber gerade das Verbrechen der Verbrechen, die eigentliche Sünde, symbolisch dargestellt durch die Frucht des Baumes, der den Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen enthüllte. Daher der Haß gegen die Wissenschaft, zu dem sich die Kirche immer bekannt hat. Daher die Wut Napoleons, eines modernen Tamerlan, gegen die «Ideologen»[4].
Aber die Ideologen sind gekommen. Sie haben die Illusionen von ehemals mit einem Hauch weggeblasen und die ganze wissenschaftliche Arbeit mit Hilfe der Beobachtung und der Erfahrung von neuem begonnen. Einer von ihnen, ein Nihilist vor unserer Zeit, ein Anarchist, wenn es das Wort damals schon gegeben hätte, begann, mit allem, was man ihm beigebracht hatte, reinen Tisch zu machen. Es gibt heute kaum einen Gelehrten oder Schriftsteller, der nicht erklärt, sein eigener Herr und Meister, der eigentliche Urheber seiner Gedanken, der Schöpfer seiner eigenen Moral zu sein. «Wer auf sich selber ruht, steht gut», sagte Goethe. Und suchen nicht die Künstler die Natur so wiederzugeben, wie sie sie fühlen und verstehen? Das ist nun freilich das, was man eine «aristokratische Anarchie» nennen könnte, die die Freiheit nur für das auserwählte Volk der Musageten[5] und die Besteiger des Parnaß fordert. Jeder von ihnen will frei denken, nach seinem Gutdünken sein Ideal im Unendlichen suchen, aber er sagt dabei: «Dem Volk muß man die Religion erhalten!»
Er will als unabhängiger Mensch leben, aber «die Frauen sind zum Gehorsam geboren»; er will eigenständige Werke schaffen, aber «die Menge da unten» muß wie eine Maschine in der schimpflichen Arbeitsteilung geknechtet sein! Doch haben diese Aristokraten des Geschmacks und des Denkens nicht mehr die Kraft, die große Schleuse zu schließen, durch die sich die Flut ergießt. Wenn die Wissenschaft, die Literatur und die Kunst anarchistisch geworden sind, wenn jeder Fortschritt, jede neue Form der Schönheit dem Aufblühen des freien Denkens entspringen, dann arbeitet dieses Denken auch in den Tiefen der Gesellschaft, und jetzt ist es nicht mehr möglich, es zurückzuhalten. Es ist zu spät, um die Sintflut einzudämmen.
Das Schwinden des Respekts - ist das nicht das Hauptkennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft? Ich habe früher in England nach Tausenden zählende Menschenmengen gesehen, die sich durch die Straßen wälzten, um die leere Equipage eines großen Herrn zu begaffen. Ich könnte sie heute nicht mehr sehen. In Indien blieben die Parias in frommer Scheu in der vorschriftsmäßigen Entfernung von hundertfünfzehn Schritten stehen, damit der stolze Brahmane nicht von ihnen berührt wurde: seit man sich auf den Bahnhöfen drängt, trennt sie nur noch die spanische Wand eines Wartesaals.
An Beispielen von Erniedrigung, von gemeiner Kriecherei fehlt es gewiß nicht in der Welt, aber dennoch ist ein Fortschritt im Sinne der Gleichheit zu beobachten. Bevor man seinen Respekt bezeugt, fragt man sich häufig, ob der Mensch oder die Einrichtung auch wirklich Respekt verdienen. Man prüft den Wert des Individuums, die Wichtigkeit der Werke. Der Glaube an die Größe ist geschwunden; nun, da der Glaube nicht mehr vorhanden ist, verschwinden auch die Einrichtungen. Die Abschaffung des Staates ist ganz natürlich mit dem Erlöschen des Respekts verknüpft.
Die tadelnde Kritik, der der Staat unterworfen ist, richtet sich in gleicher Weise gegen alle gesellschaftlichen Einrichtungen. Das Volk glaubt nicht mehr, es glaubt absolut nicht mehr an den heiligen Ursprung des Privateigentums, das nach der Behauptung der Nationalökonomen - sie wagen das jetzt allerdings nicht mehr zu wiederholen - durch die persönliche Arbeit der Eigentümer hervorgebracht worden sein soll; das Volk weiß sehr wohl, daß die individuelle Arbeit niemals die Millionen über Millionen schafft und daß solche ungeheuerliche Bereicherung immer die Folge eines falschen Gesellschaftszustandes ist, der einem den Ertrag der Arbeit von tausend anderen zukommen läßt; es wird immer das Brot achten, das der Arbeiter sauer verdient hat, die Hütte, die er mit seinen Händen gebaut, den Garten, den er bepflanzt hat; aber es wird sicherlich den Respekt vor all den angeblichen Eigentumsrechten verlieren, die die Papiere aller Art repräsentieren, die in den Banken eingeschlossen sind.
Es wird der Tag kommen, daran zweifle ich nicht, an dem das Volk wieder in den Besitz von allen Produkten der gemeinsamen Arbeit gelangen wird, in den Besitz der Bergwerke und Domänen, der Fabriken und Schlösser, der Eisenbahnen, der Schiffe und ihrer Ladungen. Wenn die Menge, diese Menge, die so «gemein» ist durch ihre Unwissenheit und Feigheit, aufgehört hat, die Bezeichnung, mit der man sie beschimpft, zu verdienen, wenn sie mit größter Sicherheit weiß, daß diese ungeheuren Wuchervorräte nur auf einem Urkundenschwindel beruhen, auf dem Glauben an einen Fetzen blauen Papiers, dann wird der gegenwärtige Gesellschaftszustand wohl seinem Ende nahe sein! Wie albern, wie sinnlos muß unseren Nachkommen das wütende Geschrei gegen die Neuerer Vorkommen angesichts dieser tiefen und unwiderstehlichen Wandlungen, die in den Köpfen aller Menschen vor sich gehen. Was bedeuten die schmutzigen Worte einer Presse, die gezwungen ist, ihre Geldunterstützungen in barer Prosa zurückzuzahlen, was bedeuten selbst die Beschimpfungen, die in ehrlicher Absicht von jenen «heiligen, aber einfältigen» Frömmlern ausgestoßen wurden, die mitgeholfen haben, Holz zum Scheiterhaufen des Johannes Hus herbeizutragen!
Die Bewegung, die uns mitreißt, ist nicht die Tat einfältiger Besessener oder armer Träumer, sie stammt aus der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Sie folgt notwendig aus der Entwicklung des Denkens, die jetzt schicksalhaft und unausweichlich verläuft wie der Lauf der Erde und der Gestirne.
Ein Zweifel könnte noch bestehen, nämlich ob die Anarchie immer nur ein Ideal gewesen ist, eine Verstandesübung, ein Element der Dialektik, oder ob sie nicht irgendeinmal Wirklichkeit gewesen ist, ob nicht einmal ein ursprünglicher Organismus bestanden hat, der die freien Kräfte von Genossen in Bewegung setzt, die dann gemeinsam arbeiten, ohne daß es einen Herren mit Befehlsgewalt gibt. Aber dieser Zweifel kann leicht beseitigt werden. Ja, freiheitliche Körperschaften haben zu jeder Zeit bestanden; ja, es bilden sich unaufhörlich neue, und in jedem Jahr werden es mehr, entsprechend den Fortschritten der individuellen Initiative.
Ich könnte an erster Stelle einige Völkerschaften, sogenannte Wilde, nennen, die selbst in unseren Tagen noch in vollständiger gesellschaftlicher Harmonie leben, ohne Führer, Gesetze, eingezäunte Felder oder öffentliche Gewalt nötig zu haben; aber ich bestehe nicht auf diesen Beispielen, obwohl sie ihre Bedeutung haben: Ich fürchte, man könnte mir vorwerfen, daß diese primitiven Gesellschaften zu wenig mit unserer modernen Welt gemein haben, mit dem ungeheuren Organismus, in dem so viele andere Organismen in unendlich mannigfaltiger Weise enthalten sind. Lassen wir also diese primitiven Stämme beiseite, um uns einzig und allein mit Nationen zu befassen, die sich schon gebildet haben und über den entsprechenden politischen und sozialen Apparat verfügen. Gewiß werde ich Ihnen an Hand der Geschichte keine Nation zeigen können, die sich als rein anarchistische Gesellschaft gebildet hätte, denn sie alle befanden sich noch in einer Periode des Kampfes zwischen verschiedenen Elementen, die noch nicht miteinander verbunden sind; aber mit Leichtigkeit kann man das eine feststellen, daß nämlich jede dieser einzelnen Gesellschaften, auch wenn sie noch nicht zu einem harmonischen Ganzen gefügt war, um so viel glücklicher, um so viel schöpferischer war, je freier sie war, je mehr der persönliche Wert des Individuums anerkannt wurde.
Seit den vorgeschichtlichen Zeiten, als unsere Gesellschaften sich den Künsten, den Wissenschaften und der Industrie zu widmen begannen, ohne daß geschriebene Annalen uns davon berichten, sind alle großen Perioden im Leben der Völker diejenigen gewesen, in denen die Menschen, aufgerüttelt durch Revolutionen, am wenigsten unter dem drückenden Zwang einer Regierung zu leiden hatten. Die zwei großen Perioden der Menschheit, groß durch die Reihe der Entdeckungen, durch das Aufblühen des Denkens, durch die Schönheit der Kunst, waren Epochen der Unruhe, Zeitalter der «gefährlichen Freiheit». Ordnung herrschte in dem ungeheuren Reich der Meder und Perser, aber nichts Großes ging aus ihm hervor, während das republikanische Griechenland, das unaufhörlich von den heftigsten politischen Erschütterungen heimgesucht wurde, die Schöpfer alles dessen hervorgebracht hat, was wir an Großem und Edlem in der modernen Zivilisation besitzen: Wir können weder denken noch irgendwelche Leistungen vollbringen, ohne daß unser Geist sich nicht sogleich diesen freien Hellenen zu wendet, die unsere Vorgänger waren und noch heute unsere Vorbilder sind.
Zweitausend Jahre später, nach düstern Zeiten der Tyrannei und Unterdrückung, die manchmal den Anschein erweckten, als wollten sie niemals enden, versuchten Italien, Flandern, Deutschland, ganz Europa von neuem Atem zu holen; unzählige Revolutionen erschütterten die Welt. Ferrari zählte allein in Italien nicht weniger als siebentausend lokale Erschütterungen; zugleich aber begann auch das Feuer des freien Denkens aufzuleuchten und eine neue Blüte der Menschheit: Mit Männern wie Raffael, Leonardo da Vinci, Michelangelo fühlte sie sich zum zweiten Male jung.
Dann kam das große Zeitalter der Enzyklopädie[6] mit einer Folge von welterschütternden Revolutionen und die Erklärung der Menschenrechte. Versuchen Sie nun, wenn Sie es können, all die Fortschritte aufzuzählen, die seit dieser großen Erschütterung der Menschheit erreicht worden sind. Man fragt sich in der Tat, ob sich nicht in diesem letzten Jahrhundert mehr als die Hälfte der ganzen Geschichte konzentriert hat. Die Zahl der Menschen hat sich um mehr als eine halbe Milliarde vermehrt; der Handel hat sich mehr als verzehnfacht, die Industrie ist wie verwandelt, und die Kunst, die Naturprodukte zu verändern, ist außerordentlich bereichert worden; neue Wissenschaften sind erschienen, und, was immer man auch sagen mag, eine dritte Periode der Kunst hat begonnen; der bewußte und weltumfassende Sozialismus mit all seinen Möglichkeiten wurde geboren. Zum mindesten hat man das Gefühl, im Jahrhundert der Probleme und der großen Kämpfe zu leben.
Ersetzen Sie in Gedanken die hundert Jahre, die mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts begannen, durch eine Periode ohne Geschichte, in der dreihundert Millionen friedfertige Chinesen unter der Vormundschaft eines «Vaters des Volkes», eines Zeremonienamtes und vorschriftsmäßig geprüfter Mandarine lebten. Anstatt uns dem Aufschwung zu widmen, wie wir es getan haben, hätten wir uns Stufe um Stufe der Untätigkeit und dem Tod genähert. Wenn Galilei, noch in der Gefangenschaft der Inquisition, nur leise murmeln konnte: «Und sie bewegt sich doch!», so können wir heute dank den Revolutionen, dank dem Ungestüm des freien Denkens, von den Dächern und auf den öffentlichen Plätzen rufen: «Die Welt bewegt sich und wird sich immer bewegen!»
Außer dieser großen Bewegung, die allmählich die ganze Gesellschaft im Sinne des freien Denkens, der freien Moral und des freien Handelns, d.h. im Sinne der Grundvorstellungen der Anarchie verwandelt, gibt es auch noch direkte Experimente in Gestalt von freiheitlichen und kommunistischen Kolonien: Das sind kleine Versuche, die man mit den Experimenten vergleichen kann, die Chemiker und Ingenieure im Laboratorium durchführen. Der Hauptfehler dieser Versuche mit vorbildlichen Kommunen besteht darin, daß sie außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen unternommen werden, d.h. entfernt von den Gemeinwesen, wo die Menschen angeregt werden, wo die Ideen entstehen, wo sich die Geister erneuern. Und doch kann man eine Anzahl solcher Unternehmen nennen, die völlig geglückt sind, unter ändern das «Junge Ikarien», die Umgestaltung von Cabets Kolonie, die vor bald einem halben Jahrhundert auf den Prinzipien eines autoritären Kommunismus gegründet worden war: Durch die Einwanderung wurde die Gruppe der Kommunemitglieder allmählich rein anarchistisch, und sie lebt jetzt in bescheidenen Verhältnissen in einem Landstrich von Iowa in der Nähe des Flusses Moine[7].
Aber auch anderswo triumphiert die anarchistische Praxis, nämlich in dem gewöhnlichen Lauf des Lebens, unter den Menschen des Volkes, die den schrecklichen Kampf ums Dasein sicher nicht führen könnten, wenn sie sich nicht spontan gegenseitig helfen würden, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheiten und den Widerstreit der Interessen. Wenn einer von ihnen krank wird, nehmen andere Arme seine Kinder zu sich: Man ernährt sie, man teilt die magere Wochenration, man versucht, die Last der Kranken mitzutragen, indem man die Arbeitszeit verdoppelt. Unter den Nachbarn ist eine Art Kommunismus entstanden, und zwar durch das Ausleihen, das beständige Hin und Her aller Gegenstände des Hausrats und der Vorräte. Das Elend vereinigt die Unglücklichen zu einem brüderlichen Bund: Gemeinsam haben sie Hunger, gemeinsam sättigen sie sich. Die anarchistische Moral und Praxis sind auch die Regel bei den Zusammenkünften des Bürgertums, wo sie uns im ersten Moment vollständig zu fehlen scheinen. Man denke sich ein ländliches Fest, auf dem irgendjemand, der Gastgeber oder einer der Gäste, den Herrn spielen wollte und sich erlaubte, zu kommandieren oder seine Laune ungebührlich in den Vordergrund zu drängen. Ist das nicht der Tod jeder Freude, das Ende jedes Vergnügens? Es gibt Fröhlichkeit nur zwischen Gleichen und Freien, zwischen Leuten, die sich unterhalten können wie es ihnen beliebt, einzeln oder in verschiedenen Gruppen, die aber zusammenbleiben wollen, weil die so verbrachten Stunden ihnen die angenehmsten scheinen.
Hier will ich mir erlauben, Ihnen ein persönliches Erlebnis zu erzählen. Wir fuhren auf einem der schönen modernen Schiffe, die stolz mit einer Geschwindigkeit von 15 oder 20 Knoten in der Stunde die Wogen teilen und die eine gerade Linie, trotz Wind und Flut, von Kontinent zu Kontinent ziehen. Die Luft war ruhig, der Abend mild, und die Sterne leuchteten einer nach dem ändern am dunklen Himmel auf. Man plauderte in der Kajüte, auf dem Deck, und von was anderem sollte man plaudern, als von dieser ewigen sozialen Frage, die uns umklammert, die uns an der Gurgel festhält wie die Sphinx des Ödipus[8]? Der Reaktionär der Gruppe wurde von den ändern Gesprächsteilnehmern, die alle mehr oder weniger gute Sozialisten waren, lebhaft bedrängt. Er wandte sich plötzlich an den Kapitän, den Herrn und Meister, in dem er einen geborenen Verteidiger der guten Grundsätze zu finden hoffte: «Sie kommandieren hier! Ist Ihre Macht nicht geheiligt? Was würde aus dem Schiff werden, wenn es nicht von Ihrem festen Willen geleitet würde?» «Sie sind ein naiver Mensch», antwortete der Kapitän. «Unter uns kann ich Ihnen sagen, daß ich gewöhnlich völlig überflüssig bin. Der Mann am Steuer hält das Schiff auf seinem richtigen Kurs; in einigen Minuten löst ihn ein anderer Steuermann ab, dann noch andere, und wir verfolgen, ohne mein Dazwischentreten, genau unseren gewohnten Lauf. Unten arbeiten die Heizer und die Maschinisten ohne meine Hilfe, ohne meinen Rat, und besser als wenn ich mir anmaßte, mich einzumischen. Und alle Mastwächter, alle Matrosen wissen ebenso, was sie für eine Aufgabe zu erfüllen haben, und nur bei Gelegenheit muß ich meinen kleinen Teil Arbeit mit dem ihrigen vereinen, der anstrengender, aber schlechter bezahlt ist als meiner. Ohne Zweifel behauptet man von mir, ich leite das Schiff. Aber sehen Sie denn nicht, daß das eine bloße Täuschung ist? Da sind die Karten - ich habe sie nicht entworfen. Der Seekompaß leitet uns - ich habe ihn nicht erfunden. Man hat für uns die Fahrrinne des Hafens, aus dem wir kommen, künstlich vertieft und ebenso die des Hafens, in den wir einfahren werden. Und dieses stolze Schiff, das sich dem Andrang der Wogen entgegenstemmt, das sich majestätisch in der Dünung wiegt, das unter Dampf machtvoll seinen Kurs zieht - ich bin es doch nicht, der es gebaut hat. Was bin ich hier angesichts der großen Toten, der Erfinder und Gelehrten, unserer Vorgänger, die uns gelehrt haben, die Meere zu durchqueren? Wir sind alle ihre Verbündeten, wir und die Matrosen, meine Kameraden, und Sie ebenfalls, die Passagiere, denn für Sie teilen wir die Wellen, und im Fall der Gefahr rechnen wir auf Sie, damit Sie uns brüderlich helfen. Unser Werk ist ein gemeinsames Werk, und wir stehen füreinander ein!» Alle schwiegen, und ich bewahrte sorgfältig die Worte dieses Kapitäns, wie man selten einen findet, in meinem Gedächtnis auf.
So trägt dieses Schiff, diese schwimmende Welt, auf der man überdies Bestrafungen nicht kennt, eine Musterrepublik quer durch den Ozean, trotz mancher hierarchischer Zöpfe. Und das ist keineswegs ein vereinzeltes Beispiel. Jeder von Ihnen kennt, zum mindesten vom Hörensagen, Schulen, in denen der Lehrer, trotz der strengen Vorschriften des Reglements, die nicht angewandt werden, alle Schüler zu Freunden und frohen Mitarbeitern hat. Alles ist von seiten der maßgebenden Autorität vorgesehen, um die kleinen Bösewichte zu bändigen, aber ihr großer Freund hat diesen ganzen Unterdrückungsapparat nicht nötig; er behandelt die Kinder als Menschen, indem er immer an ihren guten Willen, an ihr Verständnis, an ihren Gerechtigkeitssinn appelliert, und alle entsprechen seinen Wünschen mit Freude. So findet sich eine anarchistische wahrhaft menschliche Miniaturgesellschaft zusammen, obwohl alles in der umgebenden Welt verbündet scheint, um ihr Aufblühen zu hindern: Gesetze, Verordnungen, schlechte Beispiele, öffentliche Unsittlichkeit.
Anarchistische Gruppen entstehen also unaufhörlich, trotz der alten Vorurteile und des toten Gewichts veralteter Sitten. Unsere neue Welt keimt rings um uns, so als ob eine neue Flora aus den Trümmern der vergangenen Zeiten hervorbreche. Sie ist keineswegs ein Phantasiegebilde, wie man unaufhörlich wiederholt, sondern sie zeigt sich schon in tausend Formen: Blind ist der Mensch, der sie nicht sehen kann. Ja, wenn sie ein Phantasiegebilde genannt wird, dann ist die Zeit, in der wir leben, wohl ein Pandämonium zu nennen, eine Hölle, ein fürchterliches Durcheinander. Sie werden mir darin Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich mit der so leichten Kritik der gegenwärtigen Welt keinen Mißbrauch getrieben habe, der Welt, so wie sie vom sogenannten Prinzip der Autorität und vom wilden Kampf ums Dasein geprägt wird. Wenn es aber stimmt, daß laut Definition eine Gesellschaft eine Gruppe von Individuen ist, die sich zum Zweck des gemeinsamen Wohlbefindens zusammenschließen, dann kann man sicher nicht sagen, daß die uns umgebende chaotische Masse eine Gesellschaft ist. Laut ihren Anwälten - denn jede schlechte Sache hat ihre Verteidiger - hätte sie die vollkommene Ordnung durch die Befriedung der Interessen aller zum Ziel. Ist es aber nicht lächerlich, in dieser Welt eine geordnete Gesellschaft erblicken zu wollen, in dieser Welt der europäischen Zivilisation mit ihrer unaufhörlichen Reihe von inneren Tragödien, von Morden und Selbstmorden, Gewalttätigkeiten und Erschießungen, Verfall und Hungersnot, Diebstählen und Betrügereien aller Art, Pleiten, Zusammenbrüchen und ruinierten Existenzen! Wer von uns wird nicht die Bilder des Lasters und des Hungers gewahren, wenn er hier hinausgeht?
In unserem Europa gibt es fünf Millionen Menschen, die nur auf ein Zeichen warten, um andere Menschen zu töten, um die Häuser und die Ernten zu verbrennen; zehn weitere Millionen stehen außerhalb der Kaserne in Reserve und leben in dem Gedanken, daß sie das gleiche Zerstörungswerk zu vollbringen haben; fünf Millionen Unglückliche leben, das heißt vegetieren in den Gefängnissen, zu verschiedenen Strafen verurteilt; zehn Millionen sterben jedes Jahr vor der Zeit, und von 370 Millionen Menschen zittern 350, um nicht zu sagen: alle, mit berechtigter Unruhe vor jedem neuen Tag. Wer von uns kann trotz der ungeheuren gesellschaftlichen Reichtümer sagen, ob ihm nicht eine plötzliche Wendung des Schicksals seine Habe wegnimmt? Das sind alles Tatsachen, die niemand bestreiten kann, und die, so scheint mir, uns alle zu dem festen Entschluß veranlassen müßten, diesen Zustand der Dinge, der uns mit unaufhörlichen Revolutionen bedroht, zu ändern.
Ich hatte eines Tages Gelegenheit, mich mit einem hohen Beamten zu unterhalten, der durch des Lebens Lauf in die Welt derer gelangt war, die Gesetze und Strafen verordnen: «Aber verteidigen Sie doch Ihre Gesellschaft!», sagte ich zu ihm. «Wie soll ich sie denn verteidigen», antwortete er mir, «sie kann nicht verteidigt werden!» Sie verteidigt sich aber doch, nur mit Argumenten, die nicht an die Vernunft appellieren[9].
Auf der anderen Seite können diejenigen, die sie angreifen, dies mit aller Gewissensruhe tun. Ohne Zweifel wird die Bewegung zur Änderung der Verhältnisse Gewalttätigkeiten und Revolutionen mit sich bringen, aber ist die Welt nicht heute schon von fortgesetzter Gewalt und unaufhörlicher Revolution geprägt? Und im Fall des sozialen Krieges - auf wen fällt da die Verantwortung? Auf die Seite derer, die eine Ära der Gerechtigkeit und Gleichheit für alle verkünden, ohne Unterscheidung von Klassen oder Individuen, oder aber auf die Seite derer, die die Klassenunterschiede und folglich auch den Klassenhaß aufrechterhalten wollen, derer, die Unterdrückungsgesetze auf Unterdrückungsgesetze häufen und die auf alle Fragen nur die eine Antwort wissen: Infanterie, Kavallerie, Artillerie!
Die Geschichte läßt die wohlbegründete Feststellung zu, daß die Politik des Hasses immer wieder Haß erzeugt und die allgemeine Situation in verhängnisvoller Weise erschwert, wenn nicht gar zum endgültigen Ruin führt. Wie viele Nationen gingen so zu Grunde. Unterdrücker ebenso wie Unterdrückte! Sollten wir auch dem Untergang geweiht sein? Ich hoffe, nein! Und diese Hoffnung verdanke ich auch dem anarchistischen Denken, das von Tag zu Tag mehr ans Licht dringt und die menschliche Initiative erneuert. Sind Sie selbst, wenn Sie auch keine Anarchisten sind, nicht wenigstens vom Anarchismus berührt? Wer von Ihnen wird sich in seinem Herzen und in seinem Gewissen Vorgesetzter seines Nächsten nennen und in ihm nicht seinen Bruder und seinesgleichen erkennen? Die Moral, die in diesen Räumen so oft in mehr oder weniger symbolischen Worten proklamiert wurde, wird sicher Wirklichkeit werden. Denn wir Anarchisten wissen, daß diese Moral der vollkommenen Gerechtigkeit, der Freiheit und Gleichheit die wahre Moral ist, und wir versuchen, sie mit ganzer Kraft vorzuleben, während unsere Gegner ihrer Sache nicht gewiß sind. Sie sind nicht sicher, ob sie recht haben; im Grunde sind sie sogar davon überzeugt, im Unrecht zu sein, und überlassen uns die Welt.
[1] Die utopische Abtei Thélème, in der sich Gleichgesinnte unter dem Wahlspruch «tu was du willst» ihrer geistigen, charakterlichen, gesellschaftlichen und körperlichen Ausbildung widmeten, verkörperte François Rabelais (1494-1553) Vorstellung von der richtigen Erziehung.
[2] Gemeint ist die ältere utopische Literatur, für die etwa Thomas Morus «Utopia» (1516) und Thomas Campanellas «Città del Sole» (1602) typisch sind.
[3] Abendländische Bezeichnung für Timur-i Läng (1336-1405), einen der erfolgreichsten mongolischen Eroberer nach Tschingis Khan.
[4] Während die französischen Enzyklopädisten das Wort Ideologie noch im Sinne von «Lehre von Ideen» gebrauchten, gab ihm Napoleon I. einen abschätzigen Sinn, indem er von den Ideologen sprach, die das Sein durch die Ideologie verfälschten.
[5] Ursprünglich Beiname Apolls (Musenführer); übertragen: Musensöhne.
[6] Gemeint ist das Zeitalter der Aufklärung, der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Es wurde geprägt von den sog. Enzyklopädisten, den Mitarbeitern der «Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers» (1751-1780), zu denen Diderot, Rousseau, Voltaire, Montesquieu, Holbach u.a. gehörten.
[7] Reclus bezieht sich hier offenbar auf ein Ereignis des Jahres 1878, als es in der Kolonie «Icaria» zu einer Spaltung kam, bei der sich die «Jüngeren» eine freiheitliche Verfassung gaben. Vgl. Nettlau II, S. 273. Wie aus der Untersuchung von Herman Schempp, Gemeinschaftssiedlungen auf weltanschaulicher und religiöser Grundlage, Tübingen 1969, S. 100-106 hervorgeht, gab es zur Zeit der Abfassung der Schrift Reclus (1894) nur noch die Kolonie «New Icaria», in der hochbetagte Anhänger Cabets lebten.
[8] Der griechischen Sage nach handelt es sich hier um eine in der Nähe Thebens wohnende Sphinx, die jeden tötete, der das Rätsel: Was ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend dreifüßig? nicht lösen konnte. Als Ödipus riet, daß der Mensch gemeint sei, der als Kind auf Händen und Füßen krieche, als Greis aber den Stock zu Hilfe nehme, stürzte sich die Sphinx von ihrem Felsen.
[9] Gemeint sind Zwangsmaßnahmen