Titel: Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion!
Untertitel: Anarchistische Soldaten-Agitation im Deutschen Kaiserreich
Datum: 1880, 1895, 1907, 1988
Quelle: Aus: Ulrich Bröckling (Hg.), Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion! Anarchistische Soldaten-Agitation im Deutschen Kaiserreich, Harald Kater Verlag 1988. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Bemerkungen: Rekonstruktion des mir nicht vorliegenden Buches nach: www.anarchismus.at und: d-nb.info

Von der Schwierigkeit des Antimilitarismus in Deutschland

I.

Antimilitaristen sind rar in Deutschland. Hier ist das Nein-sagen allemal suspekter als dumpfes Mitmachen, und noch die Kritik an der deutschen Misere gibt sich konstruktiv. Hier gründen Staatsfeinde munter neue Parteien, um parlamentarisch einen besseren Staat zu erstreiten, und deutsche Pazifisten ersinnen alternative Verteidigungskonzepte, statt die Wehrkraft zu zersetzen. Hier demonstrierte man für den Frieden stets so disziplinlert, wie man in den Krieg zog – und präsentierte obendrein beides noch als Dienst am Vaterland. Über die seltenen Ausnahmen, denen der vorauseilende Gehorsam nicht zur zweiten Natur geworden war, wachten streng die Organe der Obrigkeit, um jede Unbotmäßigkeit zu unterbinden. Wer „das Ansehen der Streitkräfte in der Gesellschaft“ herabsetzte, indem er etwa Militärdienst als Ausbildung zum Massenmord denunzierte oder Rekrutenschinderei anprangerte, wer gar zu Dienstverweigerung, Fahnenflucht oder militärischer Sabotage aufstachelte, dem waren Zensur, Gefängnis, Exilierung, wenn nicht schlimmeres gewiß. Damit nicht genug: Was man erfolgreich bekämpft hatte, wurde auch aus dem Gedächtnis getilgt. Es gibt zwar eine Geschichtsschreibung des Pazifismus [1] in Deutschland, doch keine des Antimilitarismus und erst recht keine Geschichte des militärischen Ungehorsams. Allein Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurde das zweifelhafte Glück zuteil, nach ihrem Tod als Märtyrer des proletarischen Friedenskampfes verehrt zu werden. Als Heiligenbilder auf den Ahnenaltären der Parteikommunisten finden sie noch immer vielseitige Verwendung. Immerhin legte man ihre Schriften neu auf. Vergessen wurde dagegen die anarchistische und anarchosyndikalistische Tradition des Antimilitarismus. [2] Eine Tradition, die mit ihrer kompromißlosen Kritik jeglicher militärischen Organisation das Attribut antimilitaristisch weit eher verdient als Sozialdemokraten auch luxemburg-liebknechtscher Prägung mit ihren Milizkonzepten und dem Ratschlag an Rekruten, sich in den Kasernen mustergültig aufzuführen.

Wenn mit diesem Band nun einige Dokumente anarchistischer und syndikalistischer Soldatenagitation aus der Zeit zwischen 1880 und 1907 neu publiziert werden, dann zunächst einmal, um einfach daran zu erinnern: Es gab auch noch anderes, als in den Partei- und Militärgeschichten zu lesen steht. Wer den Siegern der Geschichte noch die Erinnerung kampflos überläßt, wird auch in Zukunft verlieren. [3] Sind die Texte dieses Buches heute nurmehr historische Dokumente? Vieles spricht dafür: Die Arbeiterbewegung, aus der sie hervorgingen, ist längst verschwunden. Der sozialdemokratische Antimilitarismus hat hüben wie drüben sein Ziel erreicht: den Staatsbürger in Uniform. Die Imperialismen haben inzwischen Wege gefunden, die Akkumulation zu sichern, ohne gegeneinander Kriege vom Zaun zu brechen. Auch die Produktion von Toten ist in der Dritten Welt billiger. Die Armee schießt bei uns nicht mehr auf Streikende, die Tarifpartner einigen sich friedlich. (In Planspielen der Militärs wird dergleichen allerdings noch geübt.) Kriegsdienstverweigerung wurde legalisiert; nach den Greueltaten deutscher Uniformträger war dieses Zugeständnis wohl unumgänglich, und schließlich braucht der Staat ja auch zivile Diener. Geblieben ist jedoch durch alle Umbrüche dieses Jahrhunderts hindurch das Prinzip der Drohung mit militärischer Gewalt nach innen wie außen. Ohne diese Drohung kommt staatliche Politik nicht aus. Geblieben sind ferner die Disziplinierungsrituale, die das zivile Menschenmaterial in eine schlagkräftige Truppe verwandeln. Trotz „Innerer Führung“ und Technisierung des Dienstes funktioniert die Produktion zuverlässiger Soldaten heute nach dem gleichen Grundschema wie vor hundert Jahren. [4] Befehl und Gehorsam lassen sich nunmal nicht demokratisieren. Geblieben ist damit für jede radikale Opposition auch die Notwendigkeit antimilitaristischer Arbeit.

Da die Zentralen der Herrschaft zweifellos ihre Armee in Marsch setzen würden – selbstverständlich nur „zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung“ – sollte sie sozialer Widerstand ernstlich bedrohen, hat dieser nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, die Disziplin der Truppe zu unterminieren. Falls nicht Meutereien, Massendesertionen und Sabotage das Militär lähmen, wird ernsthafter Opposition letztlich nur die Alternative freiwilliger Kapitulation oder aufgezwungener Niederlage bleiben. „Militärisch“ ist das Militär allemal überlegen. Das wurde noch gewußt, als die Texte dieses Bandes geschrieben wurden, – wurde gewußt wohl, weil soziale Revolution in greifbarer Nähe schien. Heute dagegen fungieren die „neuen sozialen Bewegungen“ als gesellschaftliche Frühwarnsysteme und ihr Widerstand reduziert sich auf „symbolische Regelverletzungen“. Die Friedensbewegung protestierte gegen Waffensysteme und vergaß darüber diejenigen, die sie bedienen (und herstellen). Soziale Revolution gilt dieser Linken bestenfalls noch als schöner Mythos des 19. Jahrhunderts; mit ihrer Möglichkeit verschwand auch die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit. So liegen denn die hier versammelten Pamphlete quer zu den Diskussionen jener Linken, die inzwischen nichts sehnlicher wünscht, als endlich mitmachen zu dürfen im politischen Geschäft. Ob da eine Strategie der Destruktion, ob Wehrkraftzersetzung und Antipatriotismus noch mehr als nostalgisches Schmunzeln provozieren können, ist fraglich. Es wäre zu wünschen.

Da diese Texte bislang entweder völlig vergessen oder nicht zugänglich waren, bedarf ihre Dokumentation der Ergänzung durch einige Anmerkungen. Anmerkungen zum System des preußisch-deutschen Militarismus, zu den Auseinandersetzungen in der deutschen Arbeiterbewegung, die sich über den Kampf gegen Krieg und Militarismus alles andere als einig war, sowie nicht zuletzt Anmerkungen zu den Texten selbst und zu ihren Autoren.

II.

Am Anfang des Deutschen Reiches von 1871 stand ein siegreich beendeter Krieg. Das sicherte dem Militär nicht nur ein enormes gesellschaftliches Prestige, sondern auch eine privilegierte Machtposition innerhalb des politischen Systems. Es ermöglichte die Fortsetzung preußisch-absolutistischer Heerespolitik trotz mächtig gewordenem Bürgertum und sich organisierender Arbeiterbewegung. [5] Die preußische Monarchie hatte seit dem 18. Jahrhundert ihr Offizierskorps mit dem Landadel besetzt, den sie auf diese Weise zur Loyalität verpflichtete, während die Mannschaften vorwiegend aus den hörigen Bauern dieser Rittergutsbesitzer rekrutiert worden waren. Diese Grundstruktur rettete das Militär ins neue Reich hinüber: das aktive Offizierskorps blieb weitgehend frei von Bürgerlichen, die Landbevölkerung stellte weiter den Großteil der Gemeinen, und das gesamte Heer unterstand direkt dem kaiserlichen „obersten Kriegsherrn“. Dazu mußte freilich die militärische Subordination auch zum bestimmenden Prinzip des zivilen Lebens gemacht werden, und Bürgertum wie zumindest Teile des Proletariats Ideologie und Macht der Armee unterworfen werden.

Anders als in Frankreich, wo im Anschluß an die Revolution die Armee nationalisiert, d.h. in die bürgerliche Gesellschaft eingeschmolzen worden war, wurde im Deutschen Reich die Nation militarisiert. [6] Das deutsche Bürgertum ließ sich die Feudalisierung ohne größere Widerstände gefallen, garantierte ihm doch der Militärstaat politische Verhältnisse, die einer forcierten Kapitalakkumulation äußerst günstig waren. Das Sozialprestige des Bürgers maß sich am militärischen Rang; wer es nicht zum I. Reserveoffizier gebracht hatte, blieb Mensch zweiter Klasse. Zum Reserveoffizier konnten Angehörige der „gebildeten Stände“ aufrücken, nachdem sie als „Einjährig-Freiwillige“ aktiv gedient hatten. Ständige Inszenierungen nationaler Symbolik, die Besetzung niederer Beamtenstellen mit ehemaligen Unteroffizieren, das Kriegervereinswesen sowie die allgemeine Flotten- und Kolonialbegeisterung untermauerten und verstärkten die Allgegenwart des Militärischen in der wilhelminischen Gesellschaft.

Richtete sich die äußere Frontstellung von Militärmonarchie und militarisiertem Bürgertum vor allem gegen Rußland und Frankreich, so hieß der innere Feind Sozialdemokratie. Die sozialistische Arbeiterbewegung avancierte zum Staatsfeind schlechthin. Der Militärführung war der Pariser Kommuneaufstand, der sich unmittelbar vor ihren Augen abgespielt hatte, zum Schlüsselerlebnis geworden. Bebel hatte sich dazu noch im Reichstag leidenschaftlich zur Kommune bekannt. Auch in Deutschland schienen vom schnell anwachsenden Industrieproletariat, das der Sozialdemokratie offenbar unaufhaltsam neue Mitglieder zuführte, ernsthafte Angriffe auf die bestehende Ordnung zu drohen. Deshalb setzten die verantwortlichen Militärs alles daran, das Heer von „unzuverlässigen Elementen“ freizuhalten oder, sofern das nicht möglich war, diese strengster Kontrolle und Disziplinierung zu unterwerfen.

In den Führungsrängen des Heeres gab es zeitweise starke Kräfte, die sich gegen Truppenvergrößerungen aussprachen, um eine Zunahme sozialdemokratisch gesinnter Rekruten zu verhindern. Zwar bestand allgemeine Wehrpflicht – sie war in Preußen 1814 eingeführt worden – , doch wurde nur ein Teil der Dienstpflichtigen auch wirklich eingezogen. Aus dem gleichen Grund hielt man bis 1893 auch an der dreijährigen Dienstzeit fest. Wer so lange dem „erzieherischen Wirken“ von Unteroffizieren und Offizieren, sprich Kasernenhofdrill und oft genug brutalen Quälereien ausgesetzt war, dem, so hoffte man, dürften alle staatsfeindlichen Flausen vergangen sein. Gegen die lange Dienstzeit hatte es jedoch erheblichen Widerstand gegeben; im konjunkturellen Aufschwung waren die jungen Männer auch als Arbeitskräfte gesucht. Außerdem war mit Industrialisierung und Urbanisierung das Bildungsniveau allgemein gestiegen und man glaubte, aus dem Rekrutenmaterial auch in kürzerer Zeit technisch brauchbare Soldaten formen zu können. Mit der nunmehr zweijährigen Dienstzeit stieg die Zahl der ausgebildeten Mannschaften und die Wehrpflicht wurde konsequenter durchgeführt.

Die Militärführung sah sich auch weiterhin in doppelter Frontstellung, gegen den inneren Feind und die äußeren Feinde, doch die Gewichtung verlagerte sich: Je mehr Weltmachtambitionen und eine Konfrontationsstrategie hart am Rande des Krieges die Außenpolitik bestimmten, desto mehr drängte rein quantitatives Effektivitätsdenken Vorstellungen einer kleinen, aber absolut zuverlässigen Truppe zurück. Da somit auch immer mehr sozialistische Kräfte in die Armee gelangten, wurde es umso dringlicher, ihren Einfluß durch Überwachung und Repression zu neutralisieren. Diesem Ziel dienten noch vor allen Sondermaßnahmen gegen Sozialdemokraten oder solche, die man dafür hielt, die regulären Techniken der Disziplinierung.

Diese waren seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert, sondern allenfalls ausgefeilt worden. Militärische Disziplin hieß nach der denkbar einfachen Formel des Obermilitärstrategen Moltke: Autorität von oben, Gehorsam von unten.[7] Der Drill, die trotz formellem Verbot der Prügelstrafe alltäglichen Mißhandlungen[8], sowie das System der zahllosen Kleidungs-, Sauberkeits- und Grußvorschriften, die, da heillose Überforderung auch der Pflichteifrigsten, für die Rekruten einen Zustand permanenter Bestrafbarkeit bedeuteten, sollten nur eines bewirken: bedingungslose Unterwerfung unter die Vorgesetzten.[9] Die Armeeführung glaubte zwar, ihre Erziehung werde die Mannschaften schon gegen sozialistische Ideen immunisieren, doch traf sie darüberhinaus noch spezielle Vorkehrungen, um eine Infizierung der Truppe in jedem Fall auszuschließen[10]: Sozialdemokratischen Soldaten blieben alle Aufstiegschancen, selbst die zum Unteroffizier, verwehrt. Wiederholte Durchsuchungen von Schlafräumen und Spinden, Postüberwachung sowie Kontrolle ziviler Kasernenbesucher sollten staatsfeindliche Literatur zutage fördern. Die Ergebnisse solcher Fahndungen waren allerdings mager.

Umso härter traf es aber Rekruten, bei denen etwas gefunden wurde: So gab es 14 Tage Arrest für den Besitz einer sozialdemokratischen Broschüre und ebenfalls Arrest für die Abschrift eines „Arbeiter-Soldaten-Liedes“ im Notizbuch – von den Dauerschikanen, die solche Rekruten dann trafen, ganz zu schweigen. Die Kontrolle erstreckte sich auch auf die Freizeit; für Wirtshäuser, in denen man sozialdemokratische Gäste vermutete, verhängten die Garnisonskommandeure spezielle Militärverbote, die allerdings aufgrund gemeinsamer Proteste von SPD-Reichstagsfraktion und Gastwirtsverbänden wieder gelockert werden mußten. In manchen Städten wurden die Militärverbote zeitweise auch auf sozialdemokratische Handwerker, Ärzte und Rechtsanwälte ausgedehnt. Ab 1885 versuchte man, zum Dienst einberufene Sozialdemokraten in Schwarzen Listen zu erfassen. Die Polizeibehörden in den Heimatorten waren angehalten, profilierte Parteimitglieder oder Sympathisanten an die Garnisonen zu melden. Eine „leidenschaftslose Behandlung und der erziehende Ernst des Dienstes“ sollten sie dann zu „patriotischem Denken und Fühlen“ zurückführen; falls das nichts fruchtete, sahen entsprechende Erlasse scharfe Bestrafungsmaßnahmen vor.

Als weniger sinnvoll erwies sich die Verteilung sozialdemokratischer Rekruten auf ländliche Garnisonen, die man vor allem in der Zeit des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 praktizierte. Allzu oft führte das statt der beabsichtigten Isolierung zur Ausbreitung der zersetzenden Lehren in bis dahin „sozialistenfreien“ Orten. Das Anwachsen der SPD nach Aufhebung des Sozialistengesetzes veranlasste die Militärführung, ihren Repressionsapparat noch auszubauen. Kaum verdeckt sprach man in höheren Offizierskreisen über einen Präventiv-Bürgerkrieg gegen die organisierte Arbeiterbewegung; in den Generalstabsschubladen lagen die entsprechenden Operationspläne.[11]

Sie kamen nicht zur Anwendung. Der Kampf gegen den „inneren Feind des Vaterlandes“ zeitigte auch Wirkung, ohne ihn zum offenen Krieg zu eskalieren. Er schweißte Bürgertum und militarisierten Staat noch fester zusammen. Die SPD schwor von sich aus revolutionärer Gewalt ab und schlug nationalere Töne an, um der Rede von den „vaterlandslosen Gesellen“ die Grundlage zu entziehen. Das fiel ihr umso leichter, als Staats- und Militärführung bei der Begründung ihrer Repressionen Anarchisten und Sozialdemokraten gleichsetzten und auf diese Weise die Partei und ihre Anhänger offensichtlich für Aktionen bestraft wurden, mit denen sie nun wirklich nichts zu schaffen hatten.

Schon 1878 hatten zwei Anschläge auf den Kaiser, die allerdings nicht von anarchistlschen Propagandisten der Tat, sondern von Einzelgängern verübt worden waren [sic], zur Rechtfertigung des Sozialistengesetzes herhalten müssen. 1895 scheiterte das Kriegsministerium dann im Reichstag mit einer „Umsturzvorlage“, weil es als Belege angeblicher Zersetzungsarbeit der Sozialdemokratie im Heer fast nur anarchistische Flugschriften vorweisen konnte – darunter einige, die dieser Band dokumentiert.

III.

Daß Sozialdemokraten nationaler Wehrhaftigkeit das Wort redeten, stand durchaus im Einklang mit ihrem Parteiprogramm und vermutlich auch – genauere Untersuchungen liegen dazu allerdings nicht vor – mit den vorherrschenden Einstellungen ihrer Anhängerschaft.[12] Die SPD lehnte über alle internen Gegensätze hinweg das Militär nicht grundsätzlich ab, sondern nur seine quasi-absolutistische Form.

Die Grundzüge sozialdemokratischer Wehrpolitik faßte 1908 der Politikwissenschaftler Walther Borgius in der neugegründeten „Zeitschrift für Politik“ zusammen: „Sie bekämpfen die Klassenscheidung im Heere, die in dem Institut der Einjährig-Freiwilligen, in der prinzipiellen Trennung des Offizierskorps vom Unteroffizierskorps liegt. Sie bekämpfen das System der Berufssoldatenschaft, wie sie diese beiden Vorgesetzten-Gruppen darstellen. Sie bekämpfen die Verwendung des Heeres als Unterstützungstruppe der Polizei gegen den „inneren Feind“. Sie bekämpfen die lange Dienstzeit, das geheime Militärstrafverfahren, die Härten der Disziplin, die künstliche Trennung des Heeres vom Volke (durch Kasernen und Kasinos etc.). Sie bekämpfen endlich das Prinzip, daß die Entscheidung über Krieg und Frieden in Händen des Fürsten oder einiger weniger leitender Staatsmänner liegt, statt bei der Volksvertretung, sowie überhaupt, daß die Militärverwaltung – die Entscheidung über Versetzungen, Ernennungen und Verabschiedungen etc. – in bürokratischer Form gehandhabt wird, statt in vollster Öffentlichkeit unter Mitwirkung der beteiligten Truppen selbst. Sie bekämpfen endlich die Form des stehenden Heeres mit der darin liegenden Brachlegung zahlloser Menschenkräfte und seiner von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigenden Kostenlast, treten also ein für eine Volksmiliz, etwa des Genres, wie es die Schweiz heute schon durchgeführt hat, nur noch etwas mehr gereinigt von Klassenherrschaft und kapitalistischem Geiste. Da sie im übrigen aber, gleich den übrigen politischen Parteien, die Eroberung der politischen Macht erhoffen und erstreben, diese jedoch identisch ist mit der militärischen Gewalt, so können sie gar nicht Gegner des Militärs als solchen sein, sondern nur das Bestreben haben, es ihrer Partei und ihren Ideen dienstbar zu machen.“[13]

Ihre Grundlage hatte diese Politik in der Annahme, die kapitalistische Gesellschaft werde zwangsläufig an ihrer eigenen Dynamik zugrundegehen, und auf ihr Ende folge dann der sozialistische Volksstaat. Strittig war dabei allein, ob sich der Übergang als großer „Kladderadatsch“, als Zusammenbruch und revolutionäre Machtergreifung, so die Marxisten von Kautsky bis Luxemburg, oder als friedliches Hineinwachsen in die neue Ordnung, so die Revisionisten, vollziehen werde. Der Geschichtsautomatismus sollte für alle Bereiche der Gesellschaft gelten; wie der Kapitalismus und mit diesem sollte auch der Militarismus untergehen an der Dialektik seiner eigenen Entwicklung. Was für den Kapitalismus die Entfaltung der Produktivkräfte, war für den Militarismus die allgemeine Wehrpflicht: Ihre konsequente Durchführung brachte immer mehr Proletarier in die Armee, die sich dadurch nach und nach in ein Volksheer verwandeln sollte. Optimistisch blickt Friedrich Engels 1891 in die Zukunft: „Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenigen Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluß.[14]

Wer die Geschichte so sicher auf seiner Seite wußte, konnte getrost darauf verzichten, ihr durch eigene Aktion nachzuhelfen. Ja, jeder Aktionismus war gefährlich, da er die Gegenseite zu Krieg oder Bürgerkrieg provozieren konnte, was den Sieg der Sozialdemokratie um Jahre verzögern, ihr in jedem Fall aber hohen Blutzoll abverlangen würde. Sozialdemokraten hatten daher die Aufgabe, außenpolitisch alle Friedensanstrengungen zu unterstützen und im Innern die eigene Organisation zu stärken sowie mit ihr – auf legalem Wege – für gesellschaftliche Demokratisierung einzutreten. In der reformistischen Praxis trafen sich Revisionisten und Marxisten, auch wenn letztere noch an revolutionärer Rhetorik festhielten. Das stimmte durchaus auch mit den praktischen Interessen der organisierten Arbeiter überein: Mit dem konjunkturellen Aufschwung seit den 90er Jahren waren die Reallöhne und damit auch Hoffnungen auf Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb der kapitalistischen Ordnung gestiegen. Der Kampf um höhere Löhne brachte die Arbeiter aber auch in partielle Interessenidentität mit Kapital und bürgerlichem Staat. Materielle Verbesserungen waren für die Arbeiter eher zu erkämpfen, wenn auch die Akkumulationsbedingungen günstig waren. Diese hingen aber von der Position des national organisierten Kapitals auf dem Weltmarkt sowie von seinem Anteil an der kolonialen Ausbeutung ab. Die wiederum sicherte der Nationalstaat mit seinem Militär. Das schuf den Nährboden für die Wirksamkeit nationaler Ideologien auch in der Arbeiterbewegung und verfestigte Organisationsfetischismus wie Legalismus. Proletarischen Internationalismus demonstrierte man vorwiegend noch bei festlichen Reden zum Ersten Mai. Und die Strategie eines politischen Massenstreiks, die eine radikale Minderheit in der Partei vehement verfocht, stieß bei der Mehrheit auf wenig Gegenliebe.

Tribüne sozialdemokratischer Politik war der Reichstag, wo die SPD-Fraktion insbesondere die zunächst alle sieben, später alle fünf Jahre anstehenden Debatten über den Militärhaushalt nutzte, um den Militarismus zu geißeln und die allgemeine Volksbewaffnung zu fordern. Die entschiedenste antimilitaristische „Tat“ der Sozialdemokraten blieb denn auch ihre regelmäßige Ablehnung des Militäretats.

Ihre Parole, „diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ war daher auch keine Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung und zum Steuerboykott, sondern Abstimmungsanweisung für die Abgeordneten. Doch selbst der parlamentarische Antimilitarismus blieb in der Partei nicht unbestritten und schließlich stimmte man 1912 einer Heeresvermehrung zu, weil ihre Finanzierung zu Lasten der Wohlhabenden ging, was man als politischen Erfolg verbuchte. Von da war es nicht mehr weit bis zum August 1914, als der SPD ein noch größerer Triumph zuteil wurde. Der Kaiser höchstpersönlich kannte nun „keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“ und nahm damit die vormaligen vaterlandslosen Gesellen in die Volksgemeinschaft auf.

Die sozialdemokratische Militarismuskritik in den Jahrzehnten davor entzündete sich häufig an den brutalen Praktiken der Rekrutenausbildung. In dieser Frage war sich die Partei auch einig. Regelmäßig machte die sozialdemokratische Presse neue Fälle von Soldatenmißhandlungen publik, und auch im Reichstag kam die Rekrutenschinderei wiederholt zur Sprache. Das zog zwar zahlreiche Verfahren wegen „Armeebeleidigung“ nach sich – den Höhepunkt bildete ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg im Juli 1914, bei dem die Verteidigung in der Lage war, mehr als 900 Zeugen zu benennen, die über Mißhandlungen auszusagen bereit waren – doch schützte die Öffentlichkeit, für die die Partei sorgte, zumindest sozialdemokratische Rekruten einigermaßen vor Übergriffen.

Rosa Luxemburg gehörte zur Gruppe der Linksradikalen in der SPD, die vor allem in den letzten Vorkriegsjahren hartnäckig die blinden Flecken des parteioffiziellen Antimilitarismus bloßlegten. Im Zentrum standen dabei die Frage, wie die Arbeiterbewegung auf einen möglichen Kriegsausbruch reagieren solle, sowie Pro und Contra einer speziellen antimilitaristischen Agitation. Für die Linksradikalen, zu deren Wortführern neben Luxemburg noch Karl Liebknecht, Karl Radek, Anton Pannekoek, Franz Mehring und Clara Zetkin zählten, waren Kriegsverhinderung und Revolution untrennbar miteinander verbunden. Einigkeit herrschte mit der Parteiführung noch darüber, daß ein Krieg binnen kürzester Zeit eine ökonomische und soziale Katastrophe nach sich ziehen werde. Nur postulierten die Linksradikalen das Zusammenfallen von Kriegsausbruch und revolutionärer Situation, die dann durch Massenaktionen bis zur Revolution gesteigert werden sollte, was auch den Krieg verhindern würde.[16]

Für die Parteiführung um Bebel und Kautsky und erst recht für die Revisionisten eine halsbrecherische Strategie, die nur in einer verhängnisvollen Niederlage der Arbeiterbewegung enden konnte. „Da für Parteiführung und Parteimehrheit Kriegsausbruch und Ausbruch der Revolution nicht wie für die Linksradikalen zusammenfielen, kam es für sie auf zwei Dinge an: Erstens die Basis für die Errichtung der künftigen sozialistischen Gesellschaft, das Deutsche Reich zu erhalten, woraus sie die Notwendigkeit der Landesverteidigung herleiteten. Zweitens die sozialdemokratischen Organisationen vor der Vernichtung zu bewahren, um die Macht nach dem großen ‚Kladderadatsch‘ zu übernehmen, woraus sich die Notwendigkeit ergab, alles zu vermeiden, was die Militär- und Zivilbehörden dazu veranlassen könnte, die sozialdemokratischen Führer zu verhaften und die Organisation zu zerschlagen.“[17]

Unterstützung erhielten die deutschen Linksradikalen durch französische und britische Sozialisten, die die Zweite Internationale darauf festlegen wollten, eine Kriegserklärung mit staatenübergreifenden Streikmaßnahmen zu beantworten – die Vorschläge variierten von Soldatenstreiks, über Arbeitsniederlegungen in Rüstungs- und kriegswichtigen Industrien, bis zum Generalstreik und allgemeiner Volkserhebung. Ihre Anträge auf den internationalen Sozialistenkongressen 1907 in Stuttgart und 1910 in Kopenhagen scheiterten jedoch am Widerstand der deutschen Sozialdemokratie, die zwar die Behandlung der Frage nicht völlig verhindern, aber in den Abstimmungen doch äußerst unverbindliche Resolutionen durchdrücken konnte. Es ist jedoch auch zweifelhaft, ob die Zweite Internationale als relativ loser Zusammenschluß eigenständiger, nationaler Parteien überhaupt in der Lage gewesen wäre, direkte Aktionen zur Abwehr eines Krieges oder zu seiner Umwandlung in eine Revolution zu organisieren. Diese Schwäche lieferte der deutschen Parteiführung denn auch die Argumente, um die aktivistischen Linken des Illusionismus zu bezichtigen.[18]

Fraglich war auch die Streikbereitschaft der deutschen Arbeiter. Ihr Einschwenken in nationalen Taumel und Kriegseuphorie des August 1914 straft zumindest jene dumpf marxistisch-leninistische Verratsthese Lügen, nach der „die Opportunisten mit Hilfe des Parteivorstandes in den Jahren 1913 und 1914 Massen der Arbeiter vom aktiven Kampf gegen den Krieg abzuhalten vermochten.“[19] Nicht minder töricht wäre es allerdings, den tatsächlichen Verlauf der Geschichte für ihren einzig möglichen zu halten und aus der praktischen Folgenlosigkeit antimilitaristischer Agitation zu schließen, sie sei von vornherein unsinnig gewesen.

Für eine solche Agitation hatte sich schon sehr früh Karl Liebknecht eingesetzt. Bereits 1904 hatte er auf dem Bremer Parteitag der SPD beantragt, die Partei solle „unter den Proletariern, die zur Armee einberufen werden, vor dem Eintritt in dieselbe in geeigneter Weise Propaganda für die Ideen des Sozialismus“[20] machen und zu diesem Zwecke eine Broschüre zusammenstellen, welche zukünftige Soldaten über ihre Rechte aufkläre. Liebknecht nahm auch Kontakt zu sozialdemokratisch ausgerichteten Jugendverbänden auf und bemühte sich ab 1906 um den Aufbau einer internationalen Jugendorganisation, deren Hauptaufgabe er darin sah, den sozialistischen Nachwuchs gegen den Militarismus zu immunisieren.

1907 erschien seine Broschüre „Militarismus und Antimilitarlsmus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung“[21], in der Liebknecht seine Militarismuskritik ausführte und die antimilitaristische Agitation, für die er in der Partei Raum schaffen wollte, gegen syndikalistische und anarchistische Vorstellungen abgrenzte. Die Broschüre brachte ihm nicht nur einen Hochverratsprozeß und anderthalb Jahre Festungshaft ein, sondern vor allem herbe Kritik aus den Reihen der eigenen Partei. Obwohl sich Liebknecht strikt gegen Agitation in Kasernen, gegen individuelle Dienstverweigerung und erst recht gegen Aufforderungen zu Wehrstreik und Befehlsverweigerung ausgesprochen hatte, fürchteten seine Parteifreunde, die Agitation könne unter Rekruten auf fruchtbaren Boden fallen und die „friedliche Koexistenz“ von Partei und Militärstaat aus dem Gleichgewicht bringen.

Für den Revisionisten Wolfgang Heine etwa schien es kaum gefährlicheres geben zu können als ein Bröckeln der Disziplin: „Der berechtigte Widerwille gegen den Militarismus, das heißt gegen die unsittlichen und verkehrten Seiten des deutschen Heerwesens, kann von jungen, unreifen Leuten nur gar zu leicht als Abscheu vor dem Militärdienst und vor den Pflichten der nationalen Wehrhaftigkeit verstanden werden. In diesem Alter neigt man dazu, Gefühle auf die Spitze zu treiben und sich in volltönenden Phrasen zu bewegen, die man freilich ebenso schnell wieder vergißt, wie man sie angenommen hat. Immerhin ist zu befürchten, daß einige junge Leute in jugendlicher Demonstrationslust und falsch verstandenem Opfermut draußen angenommene Redensarten in der Kaserne anwenden und dadurch nicht nur sich selbst zu Grunde richten, sondern auch die Partei schädigen könnten.“[22]

Dabei bewegte sich Liebknecht durchaus im Rahmen der parteioffiziellen Lehren. Gegen Bebels Verhaltensregel für sozialdemokratische Rekruten, sie sollten, solange sie in Kaisers Rock steckten, den Mund halten und sich nicht anmerken lassen, daß sie Sozialdemokraten seien, da ihnen das schlecht bekommen möchte[23], hatte er womöglich gar nichts einzuwenden. Liebknecht ging es darum, den Reichstags-Antimilitarismus seiner Partei durch außerparlamentarische Agitation zu ergänzen. Doch seine Aufklärung über den Militarismus, diesen „brutalen Exekutor“ und „blutig-eisernen Schutzwall des Kapitalismus“, mündete nicht in die Organisierung praktischen Ungehorsams.

Erkennen, Durchhalten, Abwarten lautete auch Liebknechts Devise: „Nehmt diese Erkenntnis (des Militarismus, UB) in euch auf, ihr Proletarier, die ihr zu den Waffen gerufen werdet, und alle Versuche, euch in der Kaserne der großen Sache des proletarischen Befreiungskampfes abspenstig zu machen, müssen nicht nur zuschande werden, sondern die Begeisterung eurer Überzeugung, eurer Idee, nur umso höher und heißer entfachen. Als doppelt gestählte Streiter werdet ihr aus dem Heere des Kapitalismus in die Reihen der proletarischen Armee zurückkehren.“[24]

So vielsagend schließt sein Artikel zum „Rekrutenabschied“, in dem es an eindeutigen Worten gegen das Militär sonst nicht fehlt. Solche Vorsicht hatte ihren Grund sicher in der massiven Repression durch Polizei und Justiz. Wenn schon antimilitaristische Agitation so rigide verfolgt wurde, wie Liebknecht es am eigenen Leibe erfahren mußte, mit welchen Maßnahmen würden die Staatsorgane dann erst gegen antimilitaristische Aktionen vorgehen?

Aus seiner Zurückhaltung klingt aber auch die Loyalität gegenüber einer Partei, der Wählerstimmen wenn nicht alles, so doch in jedem Fall mehr bedeuteten als praktischer Widerstand. Gegen den Plan des französischen Syndikalisten und militanten Antipatrioten Gustave Hervé, auf Kriegsgefahr oder Mobilmachung mit Militärstreik und allgemeiner Insurrektion zu antworten, argumentierte Liebknecht ganz „realpolitisch“ mit Kautsky: „Zum Generalstreik und Militärstreik gegen jeden der Arbeiterklasse schädlichen Krieg ist die Zeit noch nicht reif. (...) – Das Proletariat ist in seiner überwiegenden Mehrheit noch nicht klassenbewußt, noch nicht demokratisch aufgeklärt, geschweige denn in jedem Fall für jene antipatriotische Aktion zu haben, die eben soviel Opferwilligkeit und kalten Mut wie Besonnenheit im Strudel der leidenschaftlichsten chauvinistischen Brandung heischt. Ein voller Erfolg ist nicht zu erzielen; das Maß des Erfolges, der Wehrlosmachung, wird in direktem Verhältnis zu dem Maße an Schulung und Bildung stehen, deren die Arbeiterklasse jedes Landes teilhaftig ist: Das rückständigste Land bleibt am wehrhaftesten. Eine Aktion dieser Art wäre so lange eine Prämie auf kulturelle Rückständigkeit, als nicht die Schulung und Kampfbereitschaft der großen Masse des Proletariats in den vom Krieg betroffenen Ländern fast gleichmäßig aufs höchste gesteigert ist.“[25]

Bei aller Nüchternheit und klaren Voraussicht argumentiert Liebknecht hier doch nach dem Motto: Abrüstung von unten? Ja, aber auf keinen Fall einseitig; dann lieber gleich gar nicht.

In einem eigenen Abschnitt seiner Militarismus-Antimi1itarismus-Schrift geht er der Unterscheidung von sozialdemokratischem und anarchistischem Antimilitarismus nach. Dabei wiederholt er jedoch nur die gängigen Attacken der „wissenschaftlichen Sozialisten“: Die anarchistische Auffassung sei utopisch; Anarchisten hielten die Beeinflussung des Willens für die einzig wesentliche Voraussetzung des Erfolgs und jene bei gehöriger Anstrengung jederzeit für möglich; sie verkennten den „organisch-kapitalistischen Charakter des Militarismus“ und begriffen daher seine isolierte Beseitigung als ihr Endziel. Die moralisierende Menschentümelei ihrer Propaganda ignoriere „die Klassenkampfinteressen des Proletariats“ und gleiche so „in sehr diskreditierender Weise den pathetischen Deklarationen der Tolstoianer und den ohnmächtigen Kriegsbeschwörungen jener Weltfriedensfreunde vom Schlage der Bertha von Suttner“.[26] Konsequenterweise argumentiert Liebknecht für eine besondere antimilitaristische Agitation der SPD auch mit dem Vereinsinteresse: Sie schien ihm geboten, „schon um den anarchistischen Antimilitarismus, der sich auch in Deutschland bereits zu regen beginnt, im Keime zu ersticken.“[27]

IV.

Im Vergleich zum mächtigen Apparat der SPD nahmen sich die anarchistischen Keime, die Liebknecht zu ersticken gedachte, freilich recht bescheiden aus: Lokale Zirkel in vielen, wenn auch längst nicht allen größeren Städten, einige – untereinander zum Teil heftig konkurrierende – Zeitungsprojekte mit angegliederten Broschürenverlagen sowie die „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, die sich in Opposition zu den zentralistisch aufgebauten, sozialdemokratisch ausgerichteten Freien Gewerkschaften dem revolutionären Syndikalismus zugewandt hatte.[28] Die anarchistischen und syndikalistischen Gruppen im Deutschen Reich dürften um 1907, dem Jahr, in dem Liebknechts Antimilitarismus-Broschüre erschien, kaum mehr als 10.000 Mitglieder gehabt haben.[29] Ständige Bespitzelung und massive Verfolgung durch die Staatsorgane zwangen sie häufig zu konspirativem Vorgehen und behinderten die Ausbreitung ihrer Ideen. Gefängnis und Beschlagnahmungen waren an der Tagesordnung. So mußte allein in der anarchistischen Wochenzeitschrift „Der freie Arbeiter“ zwischen 1904 und 1914 fünfzigmal der verantwortliche Redakteur wechseln, da er verhaftet worden war oder ihm dieses drohte.[30]

Antimilitaristische Agitation nahm in der anarchistischen Presse einen festen Platz ein; „Der freie Arbeiter“ widmete ihr zeitweise sogar eine besondere Monatsbeilage.[31] Anarchistischer Antimilitarismus richtete sich nicht allein gegen das stehende Heer preußisch-deutscher Provenienz mit adeliger Offizierskaste, Rekrutenschinderei und langer Dienstzeit. Vielmehr bekämpften die Anarchisten das Militär als Fundament eines jeden Staates. Ohne Militär kein Gewaltmonopol, ohne dieses kein Staat. Da sie die politische Macht nicht erobern, sondern zerstören wollten, lag ihnen nichts an Demokratisierung, umso mehr aber an Zersetzung und Abschaffung der Organe dieser Macht. Zudem ist kaum ein schärferer Gegensatz denkbar als der zwischen militärischer Disziplin und anarchistischem Pathos der Freiheit. Praktisch standen den Anarchisten und Syndikalisten die staatlichen Truppen immer dann gegenüber, wenn diese eingesetzt wurden, um Streiks oder Aufstände niederzuschlagen. Gelang es nicht, das militärische Gewaltpotential zu neutralisieren, war die Strategie direkter Aktionen und damit jede revolutionäre Praxis im anarchistisch-syndikalistischen Sinne zum Scheitern verurteilt.

Das zeigte sich zunächst in den romanischen Ländern, wo starke Gewerkschaften eine Allianz mit politischen Parteien kategorisch abgelehnt hatten und Streiks, Sabotage und Boykott mit der Perspektive des revolutionären Generalstreiks propagierten. Ausschließlich der siegreiche Generalstreik sollte ihrer Auffassung nach den Kapitalismus stürzen und die freie Assoziation der Produzenten aufrichten können, während Wählerstimmen, auch wenn sie die Mehrheit im Parlament erreichten, ohne soziale Machtmittel wirkungslos blieben. Um ihre Mission zu erfüllen, hatten die Gewerkschaften sich daher als reine Kampfvereinigungen zu verstehen und unbeirrbar auf den Generalstreik hinzuarbeiten. Jeder Streik war bereits verkleinertes Abbild und praktische Vorbereitung des endgültigen Aufstands. An Häufigkeit und Elan der Arbeitsniederlegungen zeigte sich das wachsende revolutionäre Potential; die spontanen ökonomischen Kämpfe zur Verbesserung der Lebensbedingungen sollten eskalieren zur Abschaffung von Staat und Privateigentum und zugleich die Vorstufen zukünftiger gesellschaftlicher Organisation ausbilden.[32]

Antiparlamentarismus und Aktivismus führten Anarchisten und Syndikalisten zusammen; ihre Zusammenarbeit, die bis zur Verschmelzung der beiden Strömungen führte, geschah zunächst jedoch nicht ohne wechselseitige Vorbehalte: Warfen die Syndikalisten den Anarchisten Individualismus, Organisationsfeindlichkeit sowie fehlende Verankerung im Proletariat vor, so befürchteten diese, über den ökonomischen Tageskämpfen könnten die Syndikalisten das revolutionäre Ziel aus dem Auge verlieren. Zudem bestehe die Gefahr, daß sich in den Syndikaten eine Bürokratie herausbilde und so die antiautoritäre Bewegung selbst in autoritäre Bahnen gerate.[33]

Anstöße zu einer gezielten antimilitaristischen Agitation auch in Deutschland kamen zum einen von den Syndikalisten Frankreichs, wo die Armee wiederholt gegen Streikende vorgegangen war, zum anderen von zum Teil christlich motivierten Anarchisten, die im Anschluß an Tolstois Lehre des passiven Widerstands individuelle Dienstverweigerung und Fahnenflucht propagierten.[34] In Frankreich hatte der frühere Gymnasialprofessor und Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstands Gustave Hervé eine Kampagne zur systematischen Agitation unter Rekruten initiiert. Hervé gab zunächst im vorwiegend ländlichen Departement von Yonne die Soldatenzeitung „Pioupiou de l’Yonne“ (Der Rekrut von Yonne) heraus, in der er frisch eingezogene Rekruten zu Desertion und Ungehorsam aufrief. Die Auflage des „Pioupiou“ stieg bis auf 20.000 Exemplare pro Nummer. In den Arbeiterzentren verbreiteten syndikalistische Sozialisten andere Soldatenzeitungen, ebenfalls konsequent antipatriotisch und antimilitaristisch. Die lokalen Gewerkschaftszusammenschlüsse, die Arbeiterbörsen, hielten engen Kontakt zu ihren eingezogenen Mitgliedern und den Rekruten der örtlichen Garnisonen. Bereits 1902 hatte der nationale Kongreß der Arbeiterbörsen die Zusammenstellung eines Soldatenhandbuchs beschlossen, das innerhalb zweier Jahre in einer Auflage von über 200.000 Exemplaren verbreitet wurde. Dieses „Manuel du Soldat“ dürfte auch dem in diesem Band dokumentierten „Soldaten-Brevier“ als Vorbild gedient haben.

Die antimilitaristische Agitation in Frankreich blieb nicht ohne Wirkung: Im Stahlrevier von Montceau-les-Mines fraternisierten Truppen offen mit Streikenden; bei einer Arbeitsniederlegung in Limoges schossen Soldaten statt auf die Arbeiter über deren Köpfe hinweg; in Südfrankreich meuterte bei Winzerunruhen ein ganzes Regiment; die Zahl der Desertionen stieg beträchtlich. Aufsehen erregte ein großer Prozeß gegen Hervé und andere, die zur Rekruteneinziehung im Herbst 1905 antimilitaristische Plakate angeschlagen hatten. Gegen die 26 Angeklagten wurden insgesamt 36 Jahre Gefängnis verhängt, die Arbeiterbörse wurde geschlossen.

Auch solche Strafen vermochten der Bewegung keinen Abbruch zu tun. Neue Plakate wurden angeschlagen, die mit nahezu 2.000 Unterschriften versehen waren, nebst der Anmerkung, daß alle Unterzeichner sich der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellten.

Zur Agitation kam die praktische Solidaritätsarbeit. Viele Syndikate richteten einen „Soldatenpfennig“ ein; die durch monatliche Abzüge von den Gewerkschaftsbeiträgen oder durch Sonderumlagen aufgebrachten Summen schickte man mit entsprechenden Begleitbriefen an die eingezogenen Genossen. Die Gewerkschaftshäuser veranstalteten regelmäßig Soldatenabende, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Arbeitern in der Fabrik und Arbeitern in der Kaserne zu stärken. Planmäßig unterstützte man Deserteure und Dienstverweigerer.[35]

Außer in Frankreich existierten nennenswerte antimilitaristische Bewegungen noch in Italien, Belgien, Schweden und den Niederlanden. Getragen wurden sie von Syndikalisten und Anarchisten, in Belgien und Schweden auch von den Jugendorganisationen der sozialistischen Parteien. In Deutschland kamen antimilitaristische Aktivitäten über vereinzelte, von der Polizei bald vereitelte Versuche nicht hinaus. Die „Antimilitarismus“-Beilage des „freien Arbeiters“ existierte nur über zwölf Monate. In dieser Zeit veröffentlichte sie Auseinandersetzungen mit dem sozialdemokratischen Antimilitarismus, Tolstoi—Nachdrucke sowie zum Teil schwülstig-pathetische Lyrik und Prosa gegen Krieg wie Militär; eine regelmäßige Sparte berichtete über antimilitaristische Aktionen, doch handelte es sich dabei – sieht man ab vom unfreiwilligen Antimilitarismus des Hauptmanns von Köpenick, über den sich „Der freie Arbeiter“ weidlich amüsierte – ausnahmslos um Aktionen in anderen Ländern. 1907 erschien eine deutsche Übersetzung von Hervés Kampfschrift „Leur Patrie“ mit einem Vorwort des Arztes Raphael Friedeberg, der wegen seiner Generalstreiks- und Anti-Parlamentarismusagitation aus der SPD ausgeschlossen worden war.[36]

Wieviele Exemplare des als offizielle Propagandaschrift des Kriegsministeriums getarnten „Soldaten-Breviers“ wirklich in die Hände von Rekruten gelangten, ist nicht mehr festzustellen. Klar ist, daß die Tarnschrift Anfang 1907 in Berlin verteilt wurde. Dort fielen einige Exemplare in die Hände der Polizei und veranlaßten den preußischen Kriegsminister, in einem Brief an alle Generalkommandos vor dieser Broschüre zu warnen, die „nicht allein dazu bestimmt und in hohem Maße geeignet ist, Widerwillen gegen die Erfüllung der militärischen Pflichten zu erzeugen, sondern auch zu Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und Meuterei auffordert.“ [37]

Die Ermittlungen nach Verteilern und Urhebern sowie die Suche nach weiteren Exemplaren blieben jedoch im gesamten Reich zunächst erfolglos. Erst ein Jahr später wurden bei einer Hausdurchsuchung gegenüber einer Kaserne zwei weitere „Soldaten-Breviere“ gefunden. Diesmal vermutete der Kriegsminister eine besonders listige Verteilungsstrategie: Die Anarchisten beabsichtigten nach polizeilichen Ermittlungen, „daß den abends in die Kaserne zurückkehrenden Mannschaften von weiblichen Personen diese Drucksachen zugesteckt werden.“[38]

Doch auch diesmal blieb das Ergebnis weiterer Nachforschungen negativ. Gedruckt worden war das „Soldaten-Brevier“ in Holland, möglicherweise auch in London, wo sein Verfasser, Siegfried Nacht, seit 1906 lebte.[39] Nacht, 1878 in Wien geboren, in Ostgalizien aufgewachsen, von Beruf Elektrotechniker, hatte seit seinem 18. Lebensjahr in anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen verschiedener europäischer Länder gearbeitet. Nach einem Aufenthalt in Berlin lebte er einige Jahre in Paris, dann kurz in London; 1902/1903 durchwanderte er Spanien, wurde auf Gibraltar verhaftet, reiste bald darauf nach Italien, wurde ausgewiesen; auf dem internationalen antimilitaristischen Kongreß 1904 in Amsterdam trat er als Delegierter für Portugal und Spanien auf. Kurz darauf gab er in Böhmen die Zeitschrift „Generalstreik“ heraus, die allerdings nur sechs Ausgaben erlebte. Es folgten Aufenthalte in Zürich, Österreich und Frankreich, die jeweils mit Ausweisungen endeten. Anschließend hielt er sich in England auf, bis er 1910 nach Italien ging, wo er bis zu seinem Tod lebte.[40]

Große Verbreitung fanden seine Broschüren „Die direkte Aktion“ und „Der Soziale Generalstreik“, die unter dem Pseudonym Arnold Roller erschienen. [41] Sie machten die Taktik des revolutionären Syndikalismus im deutschen Sprachraum bekannt – freilich nicht nur dort: „Der Soziale Generalstreik“ wurde in 17 Sprachen übersetzt! – und beeinflußte die Vorstellungen deutscher Anarchosyndikalisten bis in die Weimarer Republik.

Nachts Schriften zeigen einen ungebrochenen Aktivismus sowie einen fast religiösen Glauben an die revolutionäre Kraft des Generalstreiks. Seine nur allzu berechtigte Kritik am sozialdemokratischen Geschichtsdeterminismus, aus dem in der Praxis nichts als Abwarten und Integration in die kapitalistische Gesellschaft folgte, schlug um in voluntaristische Revolutionsmechanik, die dann so klingt: „So steuert nun die Entwicklung der revolutionären ökonomischen Kämpfe der Gegenwart, gleichzeitig mit den fortwährenden Gegenwarts-Erfolgen, mit fortwährendem Gewinn immer größerer Freiheit für das Proletariat – geradezu von selbst endlich zum siegreichen ökonomischen Generalstreik als Entwicklungsresultat der vielen kleineren revolutionären Streiks zum Ziele hin.“[42]

Solche Gewißheit ist von heute aus kaum mehr nachvollziehbar. Das Gegenteil gilt von Nachts Demontage der Staatssozialisten. Als diese nach dem Ersten Weltkrieg dazu kamen, ihren Staat zu machen, bewahrheitete sich das, was – nicht allein – Nacht befürchtet hatte: Die deutschen Sozialdemokraten waren, als sie in Weimar mitregieren durften, längst zum funktionalen Teil der kapitalistischen Ordnung geworden; und ihre jakobinischen Brüder in Rußland, die Bolschewisten, verwandelten die Diktatur des Proletariats in eine der Partei über das Proletariat. Für Nacht konnte die Befreiung der Arbeiter nur ihr eigenes Werk sein; sozialistische Staatspolitik hieß Fortsetzung der Unfreiheit mit anderen Mitteln.

Bedeutsamer ist vielleicht Nachts Ruf nach direkter Aktion. Die deutsche Arbeiterbewegung versagte 1914 nicht zuletzt deshalb, weil sie in den Jahren zuvor ihre Macht allein an der Mitgliederstärke ihrer Vereine gemessen hatte. Von Leuten wie Nacht hätte sie lernen können, was die gemeinsamen Gegner längst wußten: Daß Macht nur der besitzt, der sie, wenn es darauf ankommt, auch einsetzt. Nachts Antimilitarismus war alles andere als friedlich; er war auch kein Verfechter bloß gewaltlosen Widerstands. Für ebenso legitim wie notwendig gegen die Mordmaschine Militär hielt er alle Aktionen, die ihre Einsatzfähigkeit behindern und zugleich die Loyalität der Mannschaften zerstören.

Das „Soldaten-Brevier“ stellte nicht den ersten Versuch anarchistischer Kasernenagitation in Deutschland dar. Bereits 1880 war die aus London eingeschmuggelte Flugschrift „An unsere Brüder in der Kaserne“ per Post an Soldaten einer Berliner Garnison geschickt worden. In anderen Garnisonsstädten war sie von Zivilisten verteilt, auf Fensterbänken oder Kasernengängen abgelegt, in einigen Fällen sogar durch die Fenster in Mannschaftsstuben geworfen worden. Als Absender gab das Flugblatt die „Freiheit“ an, jene seit 1879 in London erscheinende, von Johann Most herausgegebene Zeitschrift, die einen zunächst sozialrevolutionären, später explizit anarchistischen Kurs verfolgte.

Johann Most, der, 1846 geboren, nach sozialistischer Betätigung und Kerkerhaft in Österreich sozialdemokratische Zeitungen in Chemnitz und Mainz redigiert hatte und von 1874 bis 1878 auch ein Reichstagsmandat der SPD besaß, war kurz nach Inkrafttreten des Sozialistengesetzes ins britische Exil gegangen, das er 1886 dann in Richtung USA verlassen mußte.[43] Er war vielleicht das größte Rednertalent, das die deutsche Arbeiterbewegung hervorgebracht hat, ein wortgewaltiger Polemiker und Satiriker sondergleichen. Sein vehementer Antiparlamentarismus, die Propaganda der sozialen Revolution sowie seine Begeisterung für Sprengstoffanschläge und Attentate mußten ihn in Konflikt mit der biederen, unterm Sozialistengesetz erst recht auf Vorsicht bedachten Sozialdemokratie bringen, die ihn im August 1880 dann auch ausschloß. Bei vielen Anhängern der Sozialdemokratie stand die „Freiheit“ in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes jedoch gerade wegen ihrer markigen Sprache in höherem Ansehen als das im Züricher Exil herausgegebene Parteiorgan „Der Sozialdemokrat“. Beschränkt wurde die Verbreitung der „Freiheit“ eher durch die Schwierigkeit, sie unentdeckt ins Land zu schmuggeln und zu verteilen.

Mosts Antimilitarismus war weniger vom Anliegen der Kriegsverhinderung motiviert; im Gegenteil: er proklamierte den sozialen Krieg und reizte die Soldaten zum „Umdrehen der Gewehre“, zur offenen Rebellion auf. Da letztlich die Macht der Waffen über Sieg oder Niederlage der sozialen Revolution entscheiden würde, hing alles daran, auf welche Seite sich die Waffenträger schlugen. Klassenkampf in der Armee hieß daher Kampf der Kommandierten gegen die Kommandierenden, hieß Aufstand der proletarischen Mannschaften gegen die adligen Offiziere. Mosts Revolutionspropaganda lebte vom Bild der großen Insurrektion, gleichsam einer potenzierten Pariser Kommune. Es war die Vorstellung der proletarisch radikalisierten bürgerlichen Revolution; Kapitalismus und Staat begriff Most entsprechend auch eindimensional als Ausbeutung und Tyrannei. Warum die Arbeiter sich nicht erhoben und die Soldaten brav ihren Dienst versahen, blieb ihm daher letztlich unverständlich. So mußte das Pathos seiner Sprache oft ausgleichen, was an Bezug zur Realität der Arbeiterbewegung fehlte. Most verkörpert so die Ohnmacht ihres aktivistischen Flügels, eine Ohnmacht, die in gleichem Maße zunahm wie die Entradikalisierung der Sozialdemokratie mit ihrem Zuwachs an Macht.

Die offizielle Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung stellte Most in der Abteilung Urviecher des historischen Kuriositätenkabinetts ab, wenn sie ihn nicht sogar völlig ignorierte. Was bedeutete schon eine unbändige, aber in Deutschland kaum erhältliche Zeitung aus London? Was vereinzelte Flugblattaktionen vor den Kasernen gegen die Machtfülle des preußisch-deutschen Militärstaats? Es wäre auch aussichtslos, die radikalen Unterströmungen, die Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Syndikalisten, gegen den Hauptstrom der Arbeiterbewegung ausspielen zu wollen. Aussichtslos, weil radikale Opposition in diesem Lande darauf beschränkt blieb, ihre Kritik der Wirklichkeit entgegenzuhalten, ohne in die Geschichte wirklich eingreifen zu können. Die Auseinandersetzung mit sozialdemokratischer Opposition gegen Militär und Krieg nahm in dieser Einleitung nicht zuletzt deshalb einen so breiten Raum ein, weil der anarchistisch-syndikalistische Antimilitarismus nur in seiner Abgrenzung zum „großen Bruder“ zu begreifen ist. Darin zeigt sich seine Bedeutung wie seine Schwäche. Seine Bedeutung: die kompromißlose Propaganda des Ungehorsams; seine Schwäche: daß es nicht gelang, ihn praktisch zu organisieren.

Die Flugschrift der „Freiheit“ wie auch das hier ebenfalls neben dem „Soldaten-Brevier“ wieder veröffentlichte Flugblatt-Gedicht „Wie man’s macht“ wären wohl kaum über ein Jahrhundert lang erhalten geblieben, wenn nicht der Kriegsminister sie 1895 dem Reichstag als Belege staatsgefährdender Umtriebe der Sozialdemokratie vorgelegt hätte. Auf diese Weise überlebten sie als Anlagen zur sogenannten Umsturzvorlage ausgerechnet in den Reichstagsprotokollen.[44] Ihre erneute Publikation erfolgt nicht nur in der Absicht, diese raren Grabungsfunde einer Archäologie des Antimilitarismus in Deutschland zu präsentieren, sondern auch mit der leisen Hoffnung, sie könnten noch immer als „ätzende Aufklärungssäuren“, um mit Most zu sprechen, wirken. An Wehrkraftzersetzung mangelt es in diesem Land heute nicht weniger als vor hundert Jahren. Es entbehrte nicht der Ironie, wenn auf diese Weise ein Kriegsminister des wilhelminischen Deutschlands dazu beitragen könnte, seinen bundesrepublikanischen Nachfolgern Ärger zu bereiten.

Soldaten Brevier (1907)

I. Vor dem Fahneneid

Die Musterung

's ist Musterung. Da treten Mann für Mann

In Reih‘ und Glied die jungen Leute an.

Ein grimmer Oberst, Arzt und Korporal

Erwarten prüfend sie im kalten Saal.

Befehl erschallt, sich nackend auszukleiden,

Ob gern, ob ungern, fragt der Kaiser nie.

Zur Waage tritt, entrückt den freien Weiden,

Das Vieh, das Vieh.


Wie Ellenware mißt sie der Sergeant,

Indes sie zitternd stehn an kahler Wand.

Brust, Muskeln greift und schätzt man gleich zu Haufen,

Als wollte pfundweis man ihr Fleisch verkaufen.

Verhandelt wird der Balg, der Jüngling stiert

Wortlos, beklommen, halbwegs schon vertiert.

Ein Wunder, daß nicht brüllte schon und schrie

Das Vieh, das Vieh.



Wenn gut das Fleisch und dito gut die Knochen,

Wird Brauchbarkeit dem Klumpen zugesprochen.

In einer schmutzig massigen Kaserne

Nimmt der Sergeant ihn, daß er Mannszucht lerne,

Mit Brust- und Nackenstößen in Empfang.

Sklavisch, diszipliniert in Kompagnie

Wird hin und her gedreht am Koppelstrang

Das Vieh, das Vieh.


Es wird das Schamgefühl der jungen Seele,

Des Herzens frische Keuschheit, stumpf und matt.

Da wird brutale Rohheit zum Befehle,

Und blinde Knechtschaft hat Gesetzesstatt.

Der stolze Geist muß sich Gemeinem beugen,

Was grob und schmutzig, was im Kot gedieh,

Davon muß fromm durch Tat und Wahrheit zeugen

Das Vieh, das Vieh.


Da wird dir Menschentotschlag, Plünd’rung, Mord

Mit Lust gelehrt, ein Hohn auf Gottes Wort.

Du lernst die Notzucht keine Schande heißen,

Lernst Land und Volk in blut’ge Stücke reißen,

Geschwister, Väter, Mütter niederstechen,

Wenn das Kommando dir die Vollmacht lieh.

Nach Trommeltakt lernt jegliches Verbrechen

Das Vieh, das Vieh.


Was übrig blieb aus jener dunklen Zeit,

Wo mit dem Keulenstumpfe mordgeweiht

Der Tiermensch auszog, Feinde zu enthäuten

Und fremder Weiber Schoß sich zu erbeuten.

Wogegen edle Seelen zornentloht

Umsonst sich bäumen, ekel bis zum Tod,

Als Regel lernt, was Wildheit auf uns spie,

Das Vieh, das Vieh.


O Rindvieh, Rindvieh, Tier im Menschenleibe,

Des Feindes blinde, totbestimmte Scheibe,

Mit deines Fahneneides feigem Schwur

Kanonenfutter für die andern nur

Unwissend du, stumpfsinnig, adellos

Gehorchst du des Kommandos Despotie,

Bleibst du denn ewig aller Menschheit

bloß Ein Vieh, ein Vieh?


Ludwig Palagyi

Die Blutsteuer

Die Musterung ist vorüber.

Die Ausgehobenen, die „Genommenen“, schmücken ihre Hüte mit bunten Bildern und Bändern; mit Singen und Johlen wandern sie von Wirtshaus zu Wirtshaus. Alle Strassen widerhallen vom alkoholischen Freudengebrüll der Rekruten. Sie freuen sich! Sie freuen sich, denn sie wissen nicht, was ihrer harrt.

Man verlangt von euch die Blutsteuer, die ungerechteste und barbarischste, die es gibt. Und ihr feiert einen Festtag.

Ihr Proletarier, ihr Besitzlosen, ihr werdet die Aufgabe haben, das Eigentum anderer zu beschützen – selbst auf die Gefahr hin, euer eigenes Leben opfern zu müssen! Jawohl, du gehst hin, um Mordmaschine zu werden! Obwohl du selbst Proletarier, mußt du dem kapitalistischen Staate zur Verfügung stehen, um die Ausbeuter zu verteidigen.

Du sollst morden lernen, um gelegentlich Menschen zu töten, die du zwar niemals gesehen, die aber eine andere Sprache sprechen. Du sollst aber auch, wenn es dir befohlen wird, auf Vater und Mutter, auf deine Brüder und Schwestern schießen.

Beim Militär wird man dich lehren, welche edle Aufgabe du jetzt erfüllst, mit tönenden Worten und Redensarten wird man deinen Geist zu umstricken suchen, um dich glauben zu machen, daß du als Soldat der Verteidiger des Rechts und der Gerechtigkeit, des „häuslichen Herdes“ wirst.

Man sagt dir Rekrut, daß die Armee die Aufgabe hat, das Vaterland zu verteidigen und in seinem Namen verteidigt man das schrecklichste aller Verbrechen, den Massenmord, den Krieg. Haben die Engländer Transvaal und die Amerikaner die Philippinen zur Verteidigung ihres Vaterlandes verwüstet?

Haben die Franzosen Madagaskar, Tonkin, Algier geplündert, um ihr Vaterland zu verteidigen, oder um die Eingeborenen zu enteignen? Morden die Deutschen die Neger in den afrikanischen Kolonien, weil das deutsche Vaterland bedroht ist?

Es geschieht um zu plündern, einzig und allein um zu plündern!

Weshalb bedeckten hunderttausende Leichen russischer Soldaten die Schlachtfelder Mandschuriens nach dem russisch-japanischen Kriege? Um das Vaterland zu verteidigen?

All dieses Blut wurde vergossen, weil die russischen Großfürsten die Wälder Mandschuriens behalten wollten.

Man wird dir sagen, welch hohe Pflicht und Glück es ist, den König zu verteidigen – für den König, der dir befiehlt, auf Vater und Mutter zu schießen – das Leben zu geben.

Doch denke darüber nach. – Weshalb? Was gibt der König dir? Er nimmt dir Alles, deine Freiheit, dein Leben, dein Blut, wenn er es braucht. Dich schickt er zur Schlacht, wenn er persönliche Streitigkeiten auszufechten hat, die dich gar nichts angehen – und bist du endlich zum Krüppel geschlagen und im Elend, da kümmert sich kein König um dich, und du kannst verhungern und verrecken.

Du sollst das „Vaterland“ ebenso wie gegen den „äußeren“ auch gegen den „inneren“ Feind verteidigen – und sollst die Ordnung, die Gesetze aufrechterhalten.

Du sollst die Gesetze verteidigen!

Doch alle Gesetze sind nur zum Schutze der Reichen. Und wenn schon irgendwo ein Gesetz zum Schutze der Armen, ein „Arbeiterschutzgesetz“ besteht, so kümmern sich die Fabrikherren niemals um sie. Wenn dann die Arbeiter streiken, um von den Herren die Achtung dieses Gesetzes zu erzwingen, dann sendet der Staat sofort euch Soldaten, um die Gesetzesbrecher gegen eure Brüder, die Arbeiter zu beschützen.

Wer ist der „innere“ Feind? Das bist du selbst, das sind deine Brüder, deine Eltern, wenn sie nicht mehr hungern wollen und etwas mehr Brot verlangen. Gegen die sollst du kämpfen.

Was ist die „Ordnung“? Das ist die Ruhe der Reichen, die nicht gestört werden darf von den Hungerleidern, die um ihren Anteil an Glück und Sonnenschein, nach Brot und Freiheit rufen. Diese Ordnung sollst du verteidigen!

Antworte nicht: „Ich bin nicht verantwortlich ... ich habe zu gehorchen!“ – Hast du nicht ein Gehirn, um zu denken und danach zu handeln?

Du bist verantwortlich für deine Handlungen. Schwäche und Feigheit ist es, wenn du dich hinter dem Willen oder dem Befehl eines anderen verbirgst.

Höre: In die menschliche Grausamkeit wurde Bresche geschlagen durch die Idee der Brüderlichkeit, die schon heute beginnt, die Unterdrückten aller Völker zu vereinigen, doch deine Herren hetzen ein Volk gegen das andere, um dich umso leichter von deinen wirklichen Feinden abzulenken, die dich knechten und ausbeuten.

Doch wenn es gegen das Volk geht, da halten die Herrschenden brüderlich zusammen, da kennen sie keine Völkerstreitigkeiten mehr.

Als im Sommer 1905 die Arbeiter in Longwy an der Grenzecke Frankreichs, Deutschlands und Luxemburgs in den Streik traten, – da beschützten deutsche, französische und luxemburgische Soldaten und Gendarmen zusammen und gleichzeitig die Fabriken des Herrn v. Wendel, dessen einer Sohn preussischer Ulanenhauptmann und der andere französischer Offizier ist. Als die Metallarbeiter von Villerupt in den Streik traten, da wurden 1.500 deutsche und 1.500 französische Soldaten in das Streikgebiet zum Schutze der Unternehmer abgesandt, um die deutschen und französischen Arbeiter niederzuzwingen.

Hier waren die „vaterlandslosen“ Kapitalisten unter dem gemeinsamen Schutze aller „patriotischen“ Armeekommandanten und der Soldaten verschiedener Länder, die brüderlich Posten standen vor denselben Fabriken gegen ihre streikenden Brüder.

Es kam recht häufig vor, daß z.B. in Spanien spanische Arbeiter von spanischen Soldaten erschossen wurden, als sie gegen amerikanische Compagnien (Rio Tinto) streikten; in Frankreich wurden französische Arbeiter von französischen Soldaten erschossen, als sie gegen englische Kapitalisten streikten; so wurden russische Arbeiter von russischen Soldaten im Interesse deutscher Kapitalisten erschossen und es kann auch noch ganz gut kommen, daß in Deutschland deutsche Soldaten ausrücken werden, um englische Kapitalisten gegen deutsche Arbeiter zu beschützen.

Lernt, Soldaten an diesen klaren Beispielen die Solidarität von euren Herrschern, kommt endlich auch ihr zur Einsicht, daß wie eure Herren brüderlich Zusammenhalten gegen das Volk, gegen euch selbst, ihr auch brüderlich Zusammenhalten sollt mit den Arbeitern, euren Brüdern, diesseits und jenseits der Grenzen – gegen die Ausbeuter und Unterdrücker aller Länder und Sprachen.

Euer Feind ist nicht jenseits der Grenze!

Euer Feind ist euer Herr!

Euer Feind ist jeder, der sich zum Herrn über euch aufwirft, der euch erniedrigt, der euch ausbeutet.

Überlege dir das alles genau, denke daran, was deiner harrt im Frieden und im Kriege, lies aufmerksam die nachfolgenden Seiten durch und richte danach dein Verhalten.

Der Krieg

Wenn ich bloß an dieses Wort, den Krieg denke, ergreift mich ein Schaudern, wie wenn man mir von mittelalterlicher Hexerei, von der Inquisition sprechen würde, von einer längst entschwundenen Sache, von etwas Furchtbarem, Schrecklichem, Widernatürlichem. Wenn man von Menschenfressern spricht, lächeln wir mit stolzer Verachtung, im Bewußtsein unserer Überlegenheit über diese Wilden.

Wer sind aber die Wilden, die wirklichen Wilden, diejenigen, die Kriege führen, um die Besiegten zu verzehren, oder diejenigen, die kämpfen, bloß um zu töten, aus keinem anderen Beweggrund, als nur um zu töten?

Die jungen Soldaten, die dort in der Ferne vorüberziehen, sind für den Tod bestimmt, wie jene Hammelherde, die der Schlächter auf den Straßen vor sich hertreibt. Sie ziehen aus, um irgendwo auf einer Ebene zu fallen, den Kopf durch einen Säbelhieb gespalten, oder die Brust von einer Kugel durchbohrt. Und es sind junge Leute, welche arbeiten, produzieren, nützlich sein könnten. Deren Väter sind alt und arm, deren Mütter, die sie durch zwanzig Jahre lang geliebt, vergöttert haben – wie eben Mütter lieben – werden in sechs Monaten, oder in einem Jahr vielleicht erfahren, daß deren Sohn, das Kind, das sie mit so viel Mühe und Sorgfalt, mit so viel Liebe erzogen hatten, wie ein verreckter Hund in eine Grube geworfen wurde, nachdem ihm von einem Bombensplitter die Eingeweide zerrissen und, während er noch lebte, von den drüberreitenden Kavallerieattacken zertreten, zermalmt, zur unförmigen Masse zerquetscht wurde. Weshalb hat man ihren Jungen getötet, ihren schönen Jungen, ihre einzige Hoffnung, ihren Stolz, ihr Leben? Weshalb? Sie weiß es nicht. Ja, weshalb, weshalb?

Der Krieg! ... Schlachten führen! ... morden! ... würgen! ... Menschen niedermetzeln! ... Und wir haben heute zu unserer Zeit, bei unserer Zivilisation, bei der Ausdehnung der Wissenschaften und dem hohen Grad der Philosophie, bei dem das Menschengeschlecht angelangt zu sein glaubt, – Schulen, in denen man töten lernt, von großer Entfernung zu töten, es mit großer Perfektion zu tun, viele auf einmal, arme Teufel, unschuldige Menschen zu töten, die Familie besitzen und niemals mit den Gerichten zu tun gehabt haben.

Und was am meisten empörend ist, ist, daß das Volk sich nicht gegen seine Regierungen erhebt, ja das Empörendste an allem ist, daß sich die ganze Gesellschaft nicht einmütig empört bei dem bloßen Worte Krieg.

Der Krieg ist in Anklagezustand versetzt. Die Kultur führt auf Beschwerde des Menschengeschlechtes die Anklage gegen ihn und fordert die große Schar Eroberer und Häuptlinge vor ihren Richterstuhl. Die Völker beginnen zu begreifen, daß die Masse eines Verbrechens nicht dessen Verminderung bedeuten kann, daß, wenn töten ein Verbrechen ist, viele töten kein Milderungsgrund ist, daß wenn stehlen eine Schande ist, der Raub im Großen keine Ehre sein kann. Rufen wir diese Wahrheiten in die Welt und verachten wir, entehren wir den Krieg!

Moltke antwortete eines Tages den Friedensdelegierten mit folgenden seltsamen Worten: „Der Krieg ist heilig und ein Element der göttlichen Weltordnung. Er unterhält beim Menschen alle guten und edlen Eigenschaften, Ehre, Tugend und Mut und verhindert den Rückfall in den niedrigsten Materialismus.“

Also sich zu großen Herden vereinigen von 400.000 Menschen, Tag und Nacht ruhelos marschieren, an nichts denken, nichts studieren, nichts lernen, nichts lesen, niemandem nützlich sein, von Schmutz strotzen, im Schlamme schlafen, leben wie die Bestie in fortgesetzter Verblödung, Städte zerstören, Dörfer verbrennen, Völker ruinieren, hernach einem andern menschlichen Fleischhaufen begegnen, sich darüber herstürzen, Ströme von Blut vergießen, dieselben mit zerhackten Gliedmaßen vermengen, der aufgeweichten und geröteten Erde Leichname übergeben, denen Hände und Beine fortgerissen, die Schädel gespalten, ohne Zweck für jemanden und verenden in einer Ecke des Feldes, während Eltern und Kinder daheim vor Hunger sterben, das ist’s, was man nicht einen Rückfall in den niedrigsten Materialismus nennt!

Die Männer des Krieges sind die Geißeln der Welt. Wir kämpfen gegen die Natur, gegen die Unwissenheit, gegen Hindernisse jeder Art, um dieses elende Leben weniger hart zu gestalten. Wohltäter und Weise benützen ihr Leben, um zu arbeiten, zu suchen, was ihren Brüdern helfen, sie trösten, sichern könnte. Unbesorgt um ihr eigenes Wohl häufen sie Entdeckungen, vergrößern den menschlichen Geist, erweitern die Wissenschaft und geben täglich ihrem Vaterlande Wohlstand, Zufriedenheit und Kraft.

Da kommt der Krieg. In sechs Monaten haben die Heerführer die Anstrengungen von zwanzig Jahren zerstört, die Geduld und Genie zustande brachten.

In ein Land einfallen, die Männer erwürgen, die ihr Hab und Gut zu verteidigen wagen, weil sie mit Blusen, statt mit einem Käppi bekleidet sind, die Wohnungen der Unglücklichen verbrennen, ihre Einrichtungen zerbrechen oder stehlen, den Wein aus den Kellern trinken, die Frauen, denen man auf der Strasse begegnet, schänden, Millionen in die Luft sprengen und hinter sich das Elend und die Cholera lassen – das nennt man dann nicht Rückfall in den niedrigsten Materialismus.
Was haben denn die Kriegsmänner bis jetzt nur vollbracht, um ein bißchen Intelligenz zu beweisen? Nichts. Was haben sie erfunden? Kanonen und Flinten.

Nun wohlan, da die Regierungen sich so das Recht herausnehmen über Leben und Tod ganzer Völker, möge man nicht überrascht sein, wenn eines Tages die Völker den Tod ihrer Herrscher bestimmen.

Das wird des Volkes Verteidigung sein.

Wenn die Völker dies endlich begriffen haben werden, wenn sie selbst mit den mörderischen Machthabern abrechnen und sich endlich weigern, sich ohne Grund abschlachten zu lassen, wenn sie sich ihrer Waffen gegen diejenigen bedienen würden, die sie ihnen gaben, um zu morden, dann, seit diesem Tage ist der Krieg verschwunden.

Guy de Maupassant

Was ist das Vaterland?

Alle diese Greuel, Entsetzen und Verbrechen des Krieges will man entschuldigen, verherrlichen im Namen des Vaterlandes. Obwohl der Krieg schon heute von recht vielen Philanthropen verabscheut wird, so wagt es doch noch niemand, das Götzenbild Vaterland anzugreifen, dieses Wort, in dessen Namen alle Kriege geführt wurden, das der Deckmantel aller Verbrechen war.

Schon von der frühesten Kindheit wird dir von den Eltern und den Lehrern die Vaterlandsliebe als die heiligste und selbstverständlichste Pflicht eingeprägt.

Doch nun Soldat, Proletarier, glaube nicht mehr der uralten Lüge, erwäge selbst in deiner Vernunft, was dir das Vaterland gibt und welchen Wert es für dich haben kann. Höre was ein schweizerischer Offizier vor dem Kriegsgericht erklärte, als er sich endlich weigerte, länger seinen ehrlosen Dienst zu tun:

„Was ist denn das Vaterland, das von mir verlangt, es zu verteidigen? Was ist denn dieses Vaterland, das, nachdem es mich von allem entblößt hat, noch mein Blut verlangt? Ihr erzählt mir, das Vaterland sei unsere geliebte Erde, es sind dies unsere Dörfer und unsere Städte, es sind unsere Mitbürger! Das Vaterland sei die Familie! Es sind dies die Frauen und die Töchter des Volkes! Das Vaterland, das sind auch die freiheitlichen Einrichtungen, die uns leiten, das ist die Schönheit des Heimatortes, unsere herrlichen Gebirge, unsere wunderbaren Alpen! Dies alles, sagt ihr – ist das Vaterland.

Nun wohlan, ich pfeife auf dieses Vaterland. Ihr sagt, es ist unsere geliebte Erde, aber ich besitze keinen Quadratzentimeter von dieser Erde. Ich habe so wenig Recht darauf wie auf die Erde Chinas oder Perus. Ihr sagt unsere Erde, wenn es sich darum handelt, sie zu verteidigen, aber ihr sagt nicht unsere Erde, wenn es gilt, ihre Früchte zu genießen, ihre Produkte zu verteilen. Ich habe also kein Interesse, sie zu verteidigen.

Das Vaterland, das sind unsere Dörfer und unsere Städte. Aber sie gehören mir ebensowenig wie die Erde, auf der sie sich befinden; ich kann in ihnen nicht wohnen, wenn ich nicht den schweren Zins an den Hausbesitzer zahle, gleichgültig ob der Besitzer Schweizer, Deutscher oder Franzose ist. Wie könnt ihr verlangen, daß ich unter diesem Vorwand Menschen töte?

Das Vaterland sind meine Mitbürger, fügt ihr hinzu – wenn ich keine Güter zu verteidigen habe, soll ich doch wenigstens die Waffen ergreifen, um diejenigen zu verteidigen, die dieselbe Existenz teilen wie ich. Gewiss, ich werde mich auch dieser Solidaritätspflicht nicht entziehen. Es gibt eine große Zahl von Mitbürgern, die tatsächlich meiner Verteidigung bedürfen; es sind dies meine Arbeitskameraden; aber es gibt auch viele andere, die meine Feinde sind, die Feinde der Klasse, der ich angehöre; das sind die Kapitalisten, die Ausbeuter der Arbeit der Armen. Ebenso gibt es aber auch unter den Bürgern anderer Länder Menschen, die meine Freunde sind. Es sind dies die Unglücklichen, die Ausgebeuteten; und andere gibt es, die meine Feinde sind: die Ausbeuter, die Kapitalisten.

Die Einteilung der Menschen, die ihr macht, in Mitbürger und Ausländer, anerkenne ich nicht. Die beiden einzigen Völker, die ich unterscheide, das Volk der Ausgebeuteten auf der einen und das Volk der Ausbeuter auf der anderen Seite, verteilen sich nicht auf der Erde nach den Grenzen der Staaten. Ich kann also nicht zu Gunsten der Kapitalisten „meines“ Landes, meine Kameraden des Nachbarlandes töten lernen. Jeder Mensch auf der Erde, der unterdrückt ist, und leidet, ist mein Mitbürger, jeder Unterdrücker ist mein Feind.

Das Vaterland ist auch mein Weib und meine Kinder, die Frauen und Töchter des Volkes, sagt ihr, und ihr fordert mich auf, die Waffen zu ergreifen, um sie zu verteidigen. Nun, gerade ihr habt alle Ursache zu wünschen, daß euch dies erspart bleibe, denn die Feinde der Frauen und Töchter des Volkes sind nicht jenseits der Grenzen zu suchen. Das sind diejenigen, die sie auf den Feldern, in den Fabriken, im Bureau, in den Magazinen, überall mit schwerer Arbeit überbürden, ihren Körper ruinieren und die Schuld daran tragen, daß sie nur schwächliche Kinder in die Welt setzen, die im Vorhinein dazu bestimmt sind, die Opfer im Kampf ums Dasein zu werden.

Die Feinde der Frauen und Töchter des Volkes sind alle Kapitalisten, die deren Schwäche und Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, mißbrauchend, ihnen Hungerlöhne zahlen, sie zum Elend und oft zur Prostitution verdammen. Und solltet ihr mich zwingen, die Waffen zu ergreifen, um sie zu verteidigen, werde ich sie gewiß nicht gegen diejenigen kehren, die ihr denkt.

Das Vaterland, sagt der Kapitalist, das sind auch unsere freiheitlichen Institutionen, für die unsere Ahnen ihr Blut vergossen haben. Oh, gewiß, wir haben in unserer Konstitution eine ganze Reihe von „Freiheiten“; die Freiheit der Meinung, die Press- und Versammlungsfreiheit, das Vereinsrecht und was weiß ich noch welche anderen mehr!

Doch, was ist aus allen diesen „Freiheiten“ für den Arbeiter geblieben, für den, der vom Kapitalisten abhängig ist? Für ihn sind sie nicht da!

Um frei zu sein, muß man die Möglichkeit haben, es sich leisten zu können, und die Proletarier haben diese eben nicht – nicht einmal in der Schweiz, im klassischen Lande der Freiheit. Wie viele Kameraden möchten ihre Ideen verbreiten und können es nicht, weil sie wissen, daß sie der Meister dafür aus der Arbeit jagen würde, und obwohl sie das, was sie als die Wahrheit erachten, in alle Welt hinausrufen möchten, wagen sie’s kaum, ihren Kameraden in die Ohren zu flüstern. Sehen wir es nicht, wie von den Kühnen, die es wagen, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen, einer nach dem anderen der trockenen Guillotine des Kapitalismus, dem Aushungern durch Ausschluß aus jeder Arbeit verfällt?

Freiheit der Meinung und Pressfreiheit gibt es also nicht für den Proletarier, ebensowenig die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Wir sehen, wie die Unternehmer jeden Tag Arbeiter auf die Straße werfen, weil sie an dieser oder jener Organisation teilgenommen haben, die ihnen mißfällt. Ebenso ist es mit allen Freiheiten, denn wer keine ökonomische Freiheit hat, kann auch keine andere genießen. Weshalb soll also der Proletarier Unglückliche wie er selbst töten, um Freiheiten zu verteidigen, die zu genießen ihm verwehrt sind, und die ihm daher auch kein fremder Sieger mehr entreißen kann.

Was den Reiz des Heimatortes anbetrifft, die Schönheiten unseres Landes, die in eure Auffassung des Vaterlandes gehören, da muß ich noch einmal fragen, – haben die Arbeiter etwas davon? Hat die Mehrzahl der Frauen des Volkes die Muße, um in die Wälder zu gehen und dort den Liedern der Vögel, dem Murmeln der Bäche zu lauschen? Ist nicht für sie dies alles nur vertreten durch die schmutzigen Mauern der Fabrik, das schreckliche Schwirren der Maschinen und Transmissionen; dann, wenn sie schon zu Hause sind, haben sie die Zeit, etwas anderes zu sehen, als den mehr oder weniger schmutzigen Hof oder die Straße? Werden nicht unsere herrlichen Alpen alljährlich an den internationalen Kapitalismus verpachtet? Und während wir die unglücklichen Arbeiter des Landes verweisen, die bessere Löhne verlangen, bieten wir in den herrlichsten Gegenden allen Kapitalisten der Welt freundliches Asyl an, damit sie hier die Reichtümer vergeuden, die von den arbeitenden Klassen aufgespeichert wurden.

So ist alles, was euch das Vaterland bietet, für uns fremd und unzugänglich, und wenn ihr uns als „Vaterlandslose“ bezeichnet, so habt ihr wohl recht; wir haben keines, denn ihr habt es ganz allein in die Tasche gesteckt und uns nichts davon gelassen. Das Vaterland ist für uns nur ein Moloch, ein blutdürstiger Götze, den wir vernichten wollen!“

Aus Charles Naines Verteidigungsrede vor dem Kriegsgericht in Freiburg 1903 wegen Dienstverweigerung.

***

„Als Vorwand aller modernen Kriege wird das dynastische Interesse angegeben, die Nation, das europäische Gleichgewicht oder die Ehre. Dieser letzte Grund ist vielleicht von allen der tollste, denn es gibt wohl kein Volk auf der Welt, das sich nicht schon mit allen Verbrechen und allen Schandtaten befleckt hätte. Es gibt nicht eines darunter, das nicht alle Demütigungen erlitten hätte, die das Schicksal einem elenden Menschenhaufen zufügen könnte. Und wenn es trotzdem immer noch eine Ehre unter den Völkern gäbe, so ist es doch ein merkwürdiges Mittel, sie dadurch zu wahren, daß man Kriege führt, das heißt, durch das Begehen aller Verbrechen, durch die sich der Mensch nur schänden kann: durch Brandstiftung, Raub, Notzucht, Mord.“ Anatole France

Die Schlachtbank des Vaterlandes

Der Mathematiker und Astronom Flammarion hat berechnet, daß seit Beginn der indo-europäischen Zivilisation, also in 30 Jahrhunderten in den Schlachten etwa 1.200 Millionen Menschen gefallen sind. Da jedes Jahrhundert 36.525 Tage hat, mußten, um in dieser Zeit je 40 Millionen Menschen
umzubringen, jeden Tag ununterbrochen 1.100 Menschen oder einer per Minute getötet werden.

Alexander der Große ließ zwei Millionen Menschen vernichten.

Cäsar ließ über drei Millionen Gallier, die Ureinwohner des heutigen Frankreich, ausrotten.

Napoleon I. verursachte den Tod von acht Millionen Menschen, – drei Millionen Franzosen und fünf Millionen Ausländer.

Die bekanntesten Kriege seit dem Jahre 1799 bis zum russisch-japanischen Kriege – ohne diesen – zogen ca. 15 Millionen Menschenopfer nach sich, die sich folgendermaßen verteilen:

Die Napoleonischen Kriege (1799–1815) – 8.000.000

Der russische Krimkrieg (1854) – 800.000

Die Kriege Italiens – 300.000

Der Bürgerkrieg Nordamerikas (1861–65) – 1.000.000

Die Kriege Preußens (1861–66) – 300.000

Der deutsch-französische Krieg (1870–71) – 700.000

Russisch-türkischer Krieg – 400.000

Die Bürgerkriege Südamerikas – 500.000

Kolonialkriege (Indien, Mexiko, Algier, Transvaal, Abessinien, Madagaskar, China) – 3.000.000


Total: 15.000.000

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Die Völker düngen mit ihrem Blute die Felder, auf denen die Lorbeerbäume ländergieriger Fürsten und ruhmsüchtiger Feldherrn sowie die Goldbäume unersättlicher Kapitalisten wachsen.

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Wie lange wird es noch dauern, bis eine Zeit kommt, wo sich die Menschen beim Kopf fassen werden, weil es ihnen unbegreiflich erscheinen wird, daß Hunderttausende junger, bewaffneter Männer auf einen bloßen Wink, gehorsam, wie die Schafe zur Schlachtbank, zur Verstümmelung, in den sicheren Tod gingen für andere, ohne zu wissen weshalb – statt ihre Waffen dazu zu benützen, diejenigen zu vernichten, die es wagten, solche völkermörderischen Gedanken auszubrüten.

Antipatriotismus

Oft hört man, wie Leute von ziemlich fortgeschrittenen Ideen, selbst manche Sozialisten, erklären, daß auch sie das Gewehr ergreifen würden, um das Vaterland zu verteidigen, wenn durch den Angriff seitens einer reaktionären Macht schon im Lande bestehende Freiheiten bedroht werden könnten.

Allerdings haben sie da nicht den Mut, die logische Fortsetzung dieses Gedankens auszusprechen, – daß sie z.B. das deutsche Vaterland auf keinen Fall gegen eine Invasion von Frankreich verteidigen würden – weil doch durch einen Sieg Frankreichs, mit der Einführung französischer Institutionen größere Freiheiten im besiegten deutschen Vaterlande aufblühen würden – wie dies ja auch der Fall war nach den Napoleonischen Kriegen.

Von diesem Gesichtspunkt des Patriotismus für die politischen Freiheiten – dürfte also auf keinen Fall ein freiheitsliebender Deutscher die Waffen gegen Frankreich ergreifen – ob zum Angriffs- oder zum Verteidigungskriege. Nachdem nun der Patriotismus um die eine Hälfte – den unbedingten Patriotismus für Thron und Vaterland – beschnitten wurde, wollen wir nun darüber ein wenig nachdenken, ob die politischen Freiheiten des Vaterlandes wirklich verdienen, mit dem Blute und dem Leben Tausender seiner Söhne gegen die politische Unterdrückung durch eine fremde, noch reaktionärere Macht verteidigt zu werden.

Nun lassen wir die sehr berechtigte Frage beiseite, ob es überhaupt ein noch unfreieres Land gibt als Deutschland, ob überhaupt in Deutschland oder Österreich Freiheiten da sind, die verteidigt werden können. Wir wollen für einen Augenblick vergessen, welche grausame, unerbittliche Klassen- und Junkerjustiz in Preussen-Deutschland herrscht, wie viele Tausende jährlich dort auf Jahre hinter Kerkermauern begraben werden für ein freies Wort, ein Flugblatt, für Streikvergehen, für Majestätsbeleidigungen. Nehmen wir an, Deutschland hätte wirklich politische Freiheiten wie Frankreich oder die Schweiz – wären nun auch diese politischen Freiheiten wirklich so viel wert, daß hunderttausende Proletarier in einem Kriege ihr Leben für sie opfern?

Diese kleine Milderung der Verfolgungen und der Unterdrückung ist wahrhaftig nicht wert, mit hunderttausend Proletarierleichen erkauft oder aufrechterhalten zu werden. Immer und überall zeigt uns die Geschichte, daß die Proletarier nicht nur durch jeden Krieg geschädigt werden, sondern gerade nach „siegreichen“ noch viel mehr als nach „unglücklich“ verlaufenen. Denn die siegreiche Monarchie und der Kapitalismus wird durch den Sieg gegen den äußeren Feind auch gestärkt gegen den „inneren“ Feind und zwar einerseits durch den Enthusiasmus des siegreichen Patriotismus und andererseits durch den Blutverlust des Volkes, dessen Jugend in den „siegreichen“ Schlachten gefallen ist. Nach solchen Siegen wird die Reaktion immer frecher, die Willkür unbeschränkter. Das wissen alle Herrscher sehr gut und betrachten deshalb immer einen Krieg als recht erwünschte und gelegene Ablenkung der Volksaufregung nach Außen, sooft es im Inneren des Landes zu brodeln beginnt.

Demgegenüber sehen wir wieder, wie gerade nach verlorenen Kriegen im Lande Perioden freierer politischer Entwicklung beginnen, wie in Preußen nach Jena 1806, wie Frankreich im Jahre 1871 mit seiner Niederlage auch das Kaisertum los wurde; wie gegenwärtig die revolutionäre Bewegung in Rußland durch die Niederlagen im japanischen Kriege gefördert wurde.

Im Interesse des Proletariats liegt also eher, daß das „Vaterland“ besiegt werde.

Aber mildern auch in den „freiesten“ Ländern die politischen Freiheiten das Elend der Arbeiterklasse? Werden nicht jedesmal, sobald die Arbeiter auch des „freiesten“ Staates sich regen, um bessere Lebensbedingungen zu erringen, unter Mißachtung aller dieser politischen Rechte Gendarmerie, Polizei und Heer aufgeboten, um die Arbeiter niederzuzwingen? Wäre es da nicht Wahnsinn, seitens der Arbeiter mit ihrem Blut und ihrem Leben solche Freiheiten zu verteidigen, die doch nur Freiheit, oder etwas kürzere Gefängnisstrafen für ehrgeizige Journalisten und Redner bedeuten.

Nein! Wenn das Proletariat schon sein Blut und sein Leben in die Schanze schlagen soll, dann nicht für wertlose politische Freiheiten, – sondern nur für seine volle Freiheit, die Wohlstand für Alle bedeutet.

Sollte ein solches Land angegriffen werden, in dem Freiheit und Wohlstand für Alle blühen – dann ja, dann wollen wir es gewiß in unserem Interesse verteidigen; das Vaterland von heute mögen aber die beschützen, die sich darin wohl und glücklich fühlen.

Nun, Proletarier, Soldaten! Wenn ihr wieder einmal, bewaffnet bis an die Zähne, mit scharfen Patronen ausgestattet, zu Hunderttausenden ins Feld ziehen müßt, um hinter einem bunten Lappen gegen einen „fremden“ Feind zu kämpfen – erinnert euch, daß ihr im Lande selbst den eigenen Feind und Unterdrücker habt, der euch viel ärger aussaugt und unterdrückt. Dieser Feind im Innern des Landes ist die über euch herrschende, besitzende Klasse. Denkt daran, daß es eine erbärmliche Feigheit ist und kein Mut, mit Waffen in der Hand willenlos in den Krieg, in den Tod, zur Schlachtbank zu gehen. Statt feige in den Tod zu gehen – weil andere es wünschen – bleibt mutig am Leben, verwendet eure Waffen gegen eure Unterdrücker, die euch doch unmöglich widerstehen könnten, – und die Kriege und die Menschenopfer und alles Elend hat dann für alle Zeiten ein Ende.

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Der französische Sozialist und Propagandist der Ideen des Antipatriotismus und Antimilitarismus – Gustave Hervé erklärte: „Wenn die Kriegsmobilisation verkündet wird, dann geht nur alle in die Kaserne und nehmt die Gewehre und Patronen in Empfang, die man euch geben wird. In der Weise bewaffnet, faßt die Kapitalisten beim Kragen und befreit euch von euren Unterdrückern.“

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Die sozialistische Bauern-Föderation des Departements Yonne (Frankreich) erklärte: „Wenn der Krieg erklärt wird, werden die Liniensoldaten sofort desertieren und in ihre Heimatsorte zurückkehren. Die Landwehr und die Reservisten bleiben ruhig zu Hause und lassen die „Patrioten“ zur Grenze marschieren. Sobald diese letzteren schon in gehöriger Zahl getötet sein werden, beginnen wir mit der Insurrektion im Innern und wir werden umso leichter den Sieg davontragen, weil es nicht mehr genug Soldaten geben wird, die sich uns entgegenstellen könnten.“

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Würde nur ein entsprechender Teil des deutschen Proletariats ähnlich denken wie diese französischen Bauern – dann wären alle Kriege für immer verschwunden.

II. Das Los des Soldaten

Was harrt deiner in der Kaserne?

Kaum habt ihr die Schwelle der Kaserne übertreten, so weht euch schon ein neuer Hauch, ein neuer Geist entgegen.

Nehmt Abschied von eurer jugendlichen Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, denn, wie euch schon die ersten Tage der Abrichtung zeigen werden, wird die ganze lange Zeit, in der ihr im „Ehrenrock des Kaisers“ stecken werdet, eine ununterbrochene Kette der brutalsten und rohesten Demütigungen, Beschimpfungen und Mißhandlungen.

Mit allen Mitteln der Einschüchterung und des Schreckens wird euch jede Regung von Freiheits- und Gerechtigkeitsgefühl, euer freier Wille, eure Menschenwürde aus der Seele gerissen, um aus euch diese blind gehorchenden Mordautomaten, diese verächtlichen würdelosen Sklaven zu machen, denen man es ungestraft wagen kann zu befehlen, auf Vater und Mutter zu schießen.

Um Menschen dahin zu bringen, werden die jungen Leute, denen man in der Kindheit so oft davon sprach, welche Ehre es ist, des „Kaisers Rock“ zu tragen, welche Lust es ist, Soldat zu sein, von ihren Vorgesetzten unaufhörlich beschimpft, geschlagen, mißhandelt und wehe dem, der sich dagegen wehren, antworten oder gar Zurückschlagen würde. Jahrelange Gefängnisstrafen für die Unglücklichen wären darauf die Antwort.

Die Vorgesetzten können euch mißhandeln so viel sie wollen und gehen straflos aus. Bekannt ist der Fall dieses deutschen Unteroffiziers, der erst dann zu drei Monaten Arrest verurteilt wurde, als ihm 1.800 Soldatenmißhandlungen nachgewiesen wurden, die mehrere Soldaten zum Selbstmord trieben.

Beschwert sich aber ein Soldat, so wird dieser in der Regel bestraft, weil er sich zu beschweren wagte. Auf Schritt und Tritt regnet es Ohrfeigen, Disziplinarstrafen, Kasernenarrest.

Durch alle diese Mittel wird euch alle Ehre aus dem Leibe gerissen, denn unterwürfiger, sklavischer Gehorsam und erniedrigende Demut, dieser so viel gerühmte „Respekt“ und Disziplin, sind Merkmale der Würdelosigkeit und Feigheit.

Jawohl, die Kaserne ist die Schule der Feigheit und Ehrlosigkeit. Menschen, die man niemals gesehen, zu morden, weil andere es befehlen, gegen Unbewaffnete, gegen Frauen und Kinder aus dem eigenen Volk seine Waffen zu richten – und andererseits alle Beschimpfungen und Demütigungen roher Vorgesetzter unterwürfig und stumm zu ertragen, trotzdem man eine Waffe an der Seite trägt, – ist elende, ehrlose Feigheit.

Durch die fortgesetzten Erniedrigungen und Mißhandlungen werden Hunderte von jungen Soldaten zum Selbstmord getrieben. Gerade in Deutschland und in Österreich sind die meisten Soldatenselbstmorde, die so zahlreich sind, daß die Zahl der Selbstmorde beim Militär verhältnismäßig acht mal so hoch ist, als im Zivilstand. In Österreich kommen jährlich ca. 400 Selbstmorde in der Armee vor. Alle diese Unglücklichen sind ausschließlich Opfer der Mißhandlungen, denn über Nahrungssorgen oder „unglückliche Liebe“ hat sich der Soldat gewöhnlich nicht zu beklagen.

In keinem Berufe des Zivilstandes ist die Sterblichkeit so groß wie beim Militär, also dort, wohin die lebensfähigsten, die gesündesten jungen Männer ausgewählt werden.

Und hast du deine Dienstzeit vorüber, da bist du noch lange nicht frei. Noch viele Jahre lang bist du als Reservist leibeigener Sklave des Militarismus. Regelmäßig mußt du dann noch auf zwei bis vier Wochen zur Waffenübung und du mußt deine Arbeit verlassen und deine Frau und Kinder dem Hunger preisgeben. Du selbst wirst wieder, nun als Mann, beschimpft und geschuhriegelt von viel jüngeren Vorgesetzten. Bei deiner Rückkehr von der Waffenübung findest du oft deine Arbeitsstelle schon besetzt und bist für das „Vaterland“ arbeitslos geworden. Wie viele Reservisten, die sich von ihrer Familie auf einige Wochen verabschiedeten, kommen nicht wieder von den mörderischen Manövern, denen so viele durch Sonnenstich und die Überanstrengungen zum Opfer fallen. Und kommt der Krieg, da streckt der Staat wieder seine Hand nach deinen Knochen aus, um sie zur Schlachtbank zu schicken.

Soldat, Reservist, wirst du wirklich deine Kameraden, die Genossen deines Elends, vergessen und mit deinen Waffen denen folgen, die euch Proletarier immer verachten und mißhandeln?

Wirst du deine Waffen dazu benützen, um diesen Zustand zu verewigen, in dem du, ob Arbeiter oder Soldat, leibeigener Sklave bleibst der Reichen, – Arbeitstier im Frieden, Schlachtvieh im Kriege, Maschinenfutter oder Kanonenfutter?

Auf dem Schlachtfeld

Um die Blut- und Todesgreuel der Schlacht, die ja die eigentliche Bestimmung des Soldaten ist, abzuschwächen, setzen sich hunderte bürgerlicher Schriftsteller und Maler in Bewegung, um derartig erlogene Schlachtengemälde hervorzubringen, die kein Grauen, sondern nur Begeisterung und Bewunderung hervorrufen.

Da sieht man nur die mutig vorstürmenden Krieger hinter weit entrollten Fahnen, und die Offiziere mit blankem Säbel voran. In allen „glorreichen“ Schlachtenerzählungen liest man, wie die Verwundeten den Schmerz kaum fühlen, weil alle nur von einem Gedanken beseelt sind, und wie sie dann, bei der Kunde vom Siege mit glücklichem Ausdruck auf dem Antlitz verscheiden.

Oh, welche infame, bewußte Lüge bergen doch alle diese Schilderungen, die die Wahrheit verheimlichen!

Hunderttausend zerstückelte, zertretene, verstümmelte, blutende Leichen junger, gestern noch blühender, lebenskräftiger Männer auf einem riesigen Feld. Eine gleich große Menge von stöhnenden, ächzenden, röchelnden Verwundeten mit verstümmelten Gliedern, eingedrückten Brustkörben, ausgestochenen Augen bedeckt den blutigen Boden. Dazwischen abgeschlagene Köpfe mit offenen, stieren Augen und herausquellendem Gehirn, hier einsam ein weggehackter Arm, dort ein weggeschossenes Bein. Hier liegt kraftlos, bedeckt von der Leiche seines Kameraden ein Verwundeter, dem eine Kartätsche die Kinnbacken zerschmetterte. Diesem dort fuhr eine Kanone des eigenen Regiments über den Leib hinweg, als er schon verwundet am Boden lag. Er lebt noch, doch sein Bauch ist offen, seine Eingeweide quellen hervor und mengen sich mit denen seines schon toten Nachbars.

Ja, während der Schlacht können wegen der Verwundeten und Gefallenen die Soldaten mit ihren Pferden und Kanonen keine langen Umwege machen und auf alle Verwundeten achtgeben. Sie reiten und fahren im Galopp über sie hinweg und achten nicht der Schmerzensrufe ihrer am Boden liegenden verwundeten Kameraden. Das Schlachtbild selbst hat sich durch die moderne Kriegstechnik gewaltig verändert. Da die Gewehrkugeln auf 2.000 und die Kanonen auf 5.000 Meter tragen, gibt es keinen Nahkampf mehr, kein „glorreiches Fallen“, sondern nur unvermeidliches wehrloses, feiges Abgeschlachtetwerden. Da fallen gleichmäßig Mutige und Feige.

Der Feind ist wegen der großen Entfernung unsichtbar und die Kugeln fallen oft lautlos wie aus heiterem Himmel auf die Soldaten nieder, die mechanisch ihre Gewehre gegen ein unsichtbares Ziel abfeuern. Die feindlichen Geschütze tragen den Tod viel weiter als den Ton. Der Tod kommt, ohne daß man ihn sieht und hört. Das Krachen der Kanonen übertönt nicht mehr das Stöhnen und Jammern der Verwundeten, die Schreie der Verstümmelten.

In mancher Schlacht des 19. Jahrhundertes fiel oft ein Viertel, ja sogar ein Drittel der ganzen Armee. Alle diese Opfer waren Proletarierkinder, denn geradezu verschwindend ist dagegen die Zahl der gefallenen Offiziere.

Kehrt der Offizier vom Kriege heil zurück, dann harren seiner Auszeichnungen, Avancement, höhere Pension; kehrt er verwundet zurück, harrt seiner das Verdienstkreuz, volle Pension und ein sorgenloses Leben. Fällt er dagegen, wird seine Familie reichlich vom Staat erhalten.

Doch wenn du, Soldat, von der Schlacht verwundet, zum Krüppel geschlagen, arbeitsunfähig zurückkehrst, bist du gezwungen, betteln zu gehen, oder mit Frau und Kindern elend zu verhungern, denn kein Staat nimmt sich eurer an. Fällst du aber in der Schlacht, so folgen dir auch bald ins Jenseits deine Frau und Kinder, denn man wird sie ungestört verhungern lassen.

Und kommst du nach Jahr und Tag vom Kriege heil zurück, dann mußt du, ob auch inzwischen deine Frau und Kinder verhungert sind, dich sofort wieder ins Joch der Arbeit spannen, um wieder, wie vor dem Kriege, Reichtümer für die Faulenzer hervorzubringen, die nach Gutdünken verfügen, ohne euch zu fragen – über euer Schweiß und Blut, über euer Fleisch und Knochen.

Soldat! elender Sklave, macht das Los, das dir bestimmt ist, dir immer noch nicht die Augen auf?

Für 2 Groschen!

Soldat!

Für 2 Groschen den Tag hütest du das Haus und den dicken Bauch deines Hausbesitzers.

Für 2 Groschen hast du für deine Vorgesetzten die erniedrigendsten Hausknechts- und Lakaiendienste zu leisten.

Für 2 Groschen schützest du den Kapitalisten, der dich aushungert, gegen die streikenden Arbeiter, deine hungernden Brüder und Schwestern.

Für 2 Groschen wirst du zum Streikbrecher an deinen Brüdern, so oft man dich während der Streiks in die Bäkkereien und Gaswerke steckt, um dort die Arbeit zu verrichten.

Für 2 Groschen sollst du dein eigener Wächterhund werden.

Für 2 Groschen hast du, um die Dividenden der Aktiengesellschaften zu vergrößern, um den Unternehmern neue Absatzgebiete für ihre Schundwaren zu eröffnen, dein Blut auf den Schlachtfeldern zu vergießen, hast du dir Arme und Beine wegschießen zu lassen, hast du dich zum Krüppel schlagen zu lassen, hast du für deine Ausbeuter und Unterdrücker das Leben zu opfern.

Für 2 Groschen sollst du auf das Volk schießen, so oft es nach Brot und Freiheit ruft.

Für 2 Groschen sollst du, um die Knechtschaft und dein Elend zu verewigen, Brudermörder und Vatermörder werden!

***

Die reaktionäre Zeitung der Pariser Aristokratie und Plutokratie, der „Figaro“, ließ sich folgendes Geständnis entschlüpfen: „Die armen Teufel in blauer Bluse durch die armen Teufel in Uniform im Zaume zu halten, ist das Geheimnis der Tyrannei und die höchste Aufgabe aller
Regierungen.“

III. Die Pflicht des Soldaten

An euch Soldaten!

Wenn ihr euch klar geworden seid über das Los, das euer harrt in der Kaserne oder in einem Kriege, über die unwürdige, verächtliche Rolle, zu der ihr bestimmt seid, als Wächterhunde den herrschenden Klassen zu dienen, um eure Brüder, die Genossen eurer Klasse mit euren Waffen ewig in Knechtschaft und Untertänigkeit zu erhalten, werdet ihr zu denken beginnen. Wenn ihr endlich am eigenen Leibe erkannt haben werdet, daß das Kasernenleben eine ununterbrochene Kette von Schmach, Beleidigungen, Demütigungen und Mißhandlungen ist, daß man von euch einerseits unbedingte Unterwerfung, selbst bei den ungerechtesten und empörendsten Mißhandlungen verlangt, daß ihr euch ohne Murren alle Launen und Brutalitäten eurer Vorgesetzten gefallen lassen müßt, um andererseits bei der ersten Regung des arbeitenden Volkes, dem ihr doch alle entstammt, eure Mordwaffen gegen eure Brüder und Kameraden von gestern zu richten, um es durch Tod und Schrecken den Herren wieder gefügig zu machen; wenn ihr euch vor Augen haltet, daß ihr selbst bestimmt seid in einem Kriege, den nur die herrschenden Klassen wollen – und niemals das Volk – als Kanonenfutter ruhmlos niedergemetzelt zu werden, werdet ihr euch vielleicht auch endlich fragen, was ihr nun zu tun habt, um nicht als feiges willenloses Schlachtvieh verachtet oder als Brudermörder und Verräter an eurem Volke – von allen denen, die euch vor dem Eintritt in die Kaserne liebten, – gehaßt und verabscheut zu werden.

Nun hört!

Ihr könnt vieles, recht vieles tun. Nur Mut gehört dazu, keine feige Unterwürfigkeit, sondern wirklicher Mannesmut – und nicht die blind-gehorsame Mörderfeigheit, die man von euch als Soldaten fordert. Ein Mittel, sich dem Militärdienst zu entziehen, ist die Desertion, die Fahnenflucht.

Spuckt denen ins Gesicht, die euch sagen, daß es eine Schande ist, fahnenflüchtig zu werden. Eine viel größere Schande ist es, Mißhandlungen und Demütigungen ungerächt zu ertragen oder Vatermörder zu werden. Im Ausland findet ihr immer Kameraden, die euch mit Rat und Hilfe beistehen werden, um euch zu ermöglichen, euer Brot zu verdienen.

Ihr lernt eine neue Welt, eine neue Sprache kennen, euer Gesichtskreis wird größer. Wenn die Desertionen in allen Ländern recht massenhaft Vorkommen würden, könnten schon dadurch einerseits die Armeen geschwächt werden und andererseits müßte durch diesen Austausch der jungen Leute verschiedener Nationen (wenn so massenhaft Franzosen nach England, Deutsche nach Frankreich etc. desertieren) – der Geist der internationalen Solidarität bedeutend gehoben werden. Und die Regierungen könnten nichts dagegen machen.

Hast du aber, Soldat, mehr Mut und willst abwarten, was da kommen wird, um trotzdem treu nach deiner Gesinnung zu handeln, dann ist es vor allem deine Pflicht, unter den Kameraden – allerdings recht vorsichtig und geheim – die Ideen des Antipatriotismus, des Antimilitarismus und der Solidarität mit der Arbeiterklasse zu propagieren, sei es mündlich oder durch Weitergeben solcher Schriften wie dieser, damit auch andere Soldaten dir folgen in der Stunde des Handelns.

Wenn während eines Streiks deine Kompanie oder dein Bataillon in ein Streikgebiet gesandt wird, um dort die „Ordnung“ aufrecht zu erhalten, dann biete all deinen Einfluß auf, daß womöglich die ganze Kompanie oder das Bataillon sich weigert, in das Streikgebiet abzumarschieren oder, wenn schon dort, auf den Streikort auszurücken.

Die Anwesenheit der Soldaten terrorisiert schon oft die Streikenden und schreckt manche vom weiteren Kampfe ab. So leisten die Soldaten den Kapitalisten schon Helfersdienste durch ihre bloße Anwesenheit am Streikgebiet. Oft fällt der erste Stein tatsächlich seitens der Arbeiter und dann ereignet es sich, daß da gewissermaßen „von selbst“ die Gewehre der wütend gewordenen Soldaten losgehen, – derselben Soldaten, die vielleicht kurz vorher von den besten Absichten beseelt waren.

Deshalb ist es das beste, auf den Streikort überhaupt nicht auszurücken, weil die Anwesenheit der Soldaten die Ausbeuter sofort frecher und unnachgiebiger macht.

Sollte es aber deinem Einfluß nicht gelingen, die Kompanie vom Ausrücken zurückzuhalten, d.h. sollten deine Kameraden zu feige sein – dann zeige ihnen wie klar das Bild ist, wie drüben die Kapitalisten, die Ausbeuter eurer Brüder brüderlich zusammen mit den Offizieren tafeln, mit diesen Offizieren, die eure Schinder und Unterdrücker sind. Die Offiziere sind von derselben Klasse, sind die Brüder dieser Kapitalisten, die eure Brüder ausbeuten und unterdrücken. Die Offiziere und Kapitalisten, die euch beherrschen, sind eine Klasse und halten brüderlich zusammen; die Soldaten sind aus der Arbeiterklasse entnommen, sie sind Brüder der Arbeiter und mögen sich nun ein Beispiel an ihren Herren nehmen und ebenso wie diese brüderlich Zusammenhalten aber nicht zu Brudermördern werden, zur Freude unserer gemeinsamen Feinde.

Beschwöre du Soldat, der du aufgeklärter bist – deine Kameraden mit glühenden Worten – wenigstens, wenn der mörderische Befehl „Feuer“ erschallt, nicht zu schiessen wodurch die Arbeiter sofort erkennen, daß ihr mit ihnen haltet, was ihnen neuen Mut zur Tat gegen die Kapitalisten geben wird.

Beschließt ihr aber dennoch zu schießen, dann verständigt vorher auf irgendwelche Weise die streikenden Arbeiter, daß ihr bestimmt nicht gegen sie schießen werdet und feuert dann die Salve in die Luft ab.

Bei solchen Gelegenheiten ist es aber schon öfter – in Frankreich vorgekommen, daß einige Kugeln doch getroffen haben, nämlich den feigen Mordbuben, der den Befehl gab, auf die Arbeiter zu schießen.

Diese wohlgezielten Kugeln sandten ihm die mutigeren aufgeklärten Soldaten, die da die schönste Gelegenheit ergriffen, um so sich und ihre Brüder zu rächen, den Kameraden ein Beispiel zu geben, was zu tun ist und andere feige Mordbuben von weiteren Verbrechen abzuschrecken.

So oft du Fälle von Soldatenmisshandlungen beobachtest, oder selbst erleidest, teile sie sofort der Öffentlichkeit, den sozialistischen und anarchistischen Zeitungen mit – lasse dich aber niemals zu unüberlegter, sofortiger Vergeltung hinreißen – sei es durch ein Wort oder gar einen Schlag – wenn du nicht schon selbst auf den Tod bereit bist und du deinen Tod teuer und mit einem drohenden Beispiel erkaufen willst. Wenn du kaltes Blut hast, wirst du die günstige Gelegenheit abwarten – und die bietet sich gerade während der Streiks – wo du scharfe Patronen bekommst.

Es kam auch öfters vor, daß während des Schnellfeuerns bei Manövern verhaßte Vorgesetzte, die ihre Untergebenen mißhandelten, plötzlich von einer scharfen Kugel tödlich getroffen wurden. Als dann sofort das Feuern eingestellt wurde, um alle Gewehrläufe untersuchen zu lassen, um die Täter zu entdecken, konnte niemand gefunden werden, denn der Täter hatte in dieser Erwartung, schon im Vorhinein in das Patronenmagazin hinter die scharfe Patrone eine blinde gelegt und auch die sofort abgefeuert, wodurch sein Gewehrlauf wieder genau so aussah, wie der aller anderen Soldaten.

Siehst du aber einen Kameraden, der verzweifelt durch die ewigen Demütigungen und Mißhandlungen sich zum Selbstmord getrieben fühlt – dann halte ihn davon mit allen Mitteln der Überredung zurück. Sage ihm, daß es feige ist, sich nutzlos das Leben zu nehmen, weil er dadurch denen, die ihn in den Tod getrieben, Gelegenheit gibt, noch weitere Opfer zu foltern. Würde er aber vorher seinen Henker erlegen, würde er seine Kameraden von weiteren Folterungen befreien und alle Soldatenmißhandlungen würden bald verschwinden, weil solche Beispiele eine heilsame Lehre und eine Abschreckung für weitere Mißhandlungen wären. Dies ist auch der einzige Weg zur Abschaffung der Soldatenmißhandlungen, denn wenn ein Unteroffizier in Deutschland für 1800 nachgewiesene Soldatenmißhandlungen, die mehrere Selbstmorde veranlaßt haben, nur 3 Monate Kerker bekam, so ist dies nur als eine Aufforderung zur Fortsetzung zu betrachten.

In Frankreich kommen recht selten Soldatenselbstmorde vor, seit die Soldaten dort zur Erkenntnis gekommen sind, daß es ehrlos und feige ist, nutzlosen Selbstmord zu begehen. Es ereignen sich häufiger die Fälle, daß Soldaten sich rächen und die sie mißhandelnden Vorgesetzten niederschießen, worauf sie ja allerdings zum Tode verurteilt werden – was ihnen aber nun gleichgültig sein muß, wo sie zum Tode schon bereit waren, als sie Selbstmord begehen wollten.

Vorher haben sie aber noch die Befriedigung, nicht nutzlos gestorben zu sein, die Menschheit von einem Henker befreit, einem Mörder das Handwerk gelegt und viele Kameraden und Freunde vor einem gleichen tragischen Schicksal bewahrt zu haben.

Wer zum Tode bereit ist, hat die Macht über das Leben seines Feindes.

Und wenn der Tag des Krieges, der großen Mobilisation, kommen wird, – der Tag, an dem ihr alle scharfe Patronen bekommt, dann werdet ihr besseres wissen – wenn ihr diese Seiten gelesen habt – als mit diesen Waffen an die Grenzen zu marschieren, um den Geschützen als Kanonenfutter und den Raben als Leichenfraß zu dienen.

Ihr werdet dasselbe tun, was die französischen Antipatrioten zu tun versprechen. Wie jene, werdet ihr gegen eure Unterdrücker eure Waffen wenden, und mit diesen Freiheit und Wohlstand für euch und eure Brüder erringen.

***

Im Zeitalter, das man als das barbarische zu bezeichnen pflegt, vertrauten die Städte und die Fürsten ihre Verteidigung den Söldnern an, die den Krieg in bedächtiger und vernünftiger Weise führten. Manchmal gab es in einer großen Schlacht nicht mehr als fünf bis sechs Tote. Und wenn die Ritter in den Krieg zogen, so waren sie doch wenigstens von niemandem dazu gezwungen, sie ließen sich zu ihrem Vergnügen totschlagen. Zweifellos waren sie eben nur gerade dazu gut genug.

Niemand hätte zu Zeiten Ludwigs XI. daran gedacht, einen Mann von Wissen oder mit höheren Kenntnissen in die Schlacht zu senden. Heute macht man es dem armen Bauern zur Pflicht, Soldat zu werden. Man reißt ihn von seinem Hause, von seinem Feld, um ihn im Hofe einer häßlichen Kaserne abzurichten, die Menschen regelrecht zu töten. Man beschimpft ihn und sagt ihm, daß es eine Ehre ist – wenn er sich aber dieser Ehre entziehen will, schießt man ihn tot.

Diese Ehrenpflicht besteht für die Armen darin, die Reichen zu schützen und sie in ihrer Macht und Müssiggang zu verewigen.“

Anatole France

***

Ein Rückblick

Die Geschichte der sozialen Bewegung der letzten Jahre hat mehrere Fälle aufzuweisen, wo die Soldaten sich weigerten, dem Kapitalismus Helfershelfer-Dienste zu leisten und die verbrecherischen Befehle ihrer Kommandanten auszuführen.

Im Jahre 1900 gaben die französischen Soldaten des 13. Reg., die von Nevers nach Creusot zur Unterdrückung des Streiks geschickt wurden, so deutlich ihren Willen kund, daß man es nicht wagte, ihnen das Kommando zum Mord zu geben.

Als im Jahre 1901 die Kohlenarbeiter von Montceau in den Streik traten, wurden Truppen herangezogen. Sobald die Soldaten nur angekommen waren, wurde an sie folgender Aufruf verteilt:

An die Soldaten!

Soldaten, die Grubenarbeiter von Montceau befinden sich im Streik. Sie verlangen besseren Lohn. Die Regierung schickt euch hierher, um die Arbeiter den Unternehmern gegenüber zum Nachgeben zu zwingen. Werdet ihr von Neuem, wie in Fourmies, auf das Volk schießen?

Gestern wart ihr Arbeiter; morgen werdet ihr es wieder sein; das Wohl der Grubenarbeiter ist zugleich auch das eure. Unterstützt uns durch die Weigerung, eure Gewehre zum Niedermetzeln eurer Brüder zu gebrauchen. Es lebe die Brüderlichkeit!

Am nächsten Tage sowie später wurden Zettel folgenden Inhalts angeschlagen:

Soldaten!

Schießt nicht auf eure Elendsbrüder!

Soldaten, schießt auf eure Tyrannen und nicht auf das Volk!

Soldaten, dient nicht den Räubern als Wächterhunde, um ihre Schätze zu hüten!

Soldaten, schont nicht diejenigen, die euch mißhandeln!

Soldaten, dreht die Kolben nach oben vor euren Brüdern, den Grubenarbeitern, zum Zeichen der Solidarität!

Soldaten, man zwingt euch ein niederträchtiges Werk zu tun. Empört euch!

Soldaten, rächt euch für die Tage der Qualen und Mißhandlungen!

Die Soldaten begriffen und sandten folgende Antwort an das Streikkomitee:

An die Brüder von Montceau!

Kameraden!

Das Unternehmertum von Montceau verlangte die Sendung von Truppen, um euch durch Zerstörung eurer Einigkeit, eures geeinigten Zusammengehens zu besiegen.

Die Offiziere, Anhänger des Unternehmertums, hatten die Niederträchtigkeit, unter den Truppen Kinder dieser Gegend zu nehmen, um sie den Unternehmern noch gefügiger zu machen. Doch seid dessen sicher Kameraden, daß wir euch die Bruderhand reichen und daß wir eure Ideen teilen, denn morgen gehören wir zu euch. Bleibet auch weiterhin einig und ihr werdet bald siegen.

Niemals, seid dessen sicher, werden wir uns unserer Waffen gegen unsere Väter und unsere Brüder bedienen. Nein, niemals. Niemals!

So sprachen französische Soldaten, Männer, die damit der ganzen Welt ein glorreiches Beispiel gaben.

Die Arbeiter an ihre Brüder, die Soldaten

Wir schüren in den Essen

Die Feuer Tag und Nacht.

Am Webstuhl, an den Pressen

Steht unsere Friedensmacht.


Wir schürfen in dem Qualme

Der Gruben nach Metall,

Den Segen goldener Halme

Dankt uns der Erdenball.


Doch wenn das Korn gedroschen,

Dann heißt es: Stroh als Lohn,

Dann heißt’s: für uns den Groschen,

Den Thaler dem Patron.


Dann heißt’s: für uns den Schrägen,

Das weiche Bett dem Gauch!

Dann heißt’s: nichts in den Magen

Und Kugeln in den Bauch!


Vergebens aus der Tiefe

Steigt der Beraubten Chor

Mit seinem Vollmachtsbriefe

Ans Glück, zum Licht empor.


Was hilft es, daß wir trotzen,

So lang‘ noch mordbereit

Ihr gegen uns den Protzen

Die starken Arme leih’t?


Oh weh, daß ihr im Bunde

Mit ihnen uns verließt,

Und daß ihr uns wie Hunde

Auf ihr Geheiß erschießt!


Ach, wenn sie euch nicht hätten,

Wär‘ alles wohlbestellt,

Auf euren Bajonetten

Ruht die verkehrte Welt.


An euren Bajonetten

Klebt aller Zeiten Fluch;

Wir trügen keine Ketten,

Trüg’t ihr kein buntes Tuch;


Wir brauchten nicht zu frohnen

Für Sultan und Vezier,

Nicht länger für die Drohnen

Zu darben brauchten wir.


Wir hätten nicht zu beben

Vor Pascha oder Scheik

Und könnten bald erleben

Den großen Fürstenstreik.


Durch euch sind wir verraten,

Durch euch verkauft allein:

Wann stellt ihr, o Soldaten,

Die Arbeit endlich ein?


Georg Herwegh

IV. Der Befreiungskampf des Proletariats und die antimilitaristische Propaganda

Gegen die Bestrebungen der Arbeiterklasse haben die herrschenden Klassen ein mächtiges Argument – den Militarismus. Auf dem Militarismus, auf den Bajonetten ruht die ganze Macht der herrschenden Klassen und deshalb hat das Proletariat das größte Interesse, vor allem diese gewaltigste Schutzmacht der Herrschenden zu vernichten oder so viel wie möglich zu schwächen.

Man möge nicht glauben, daß dies auch eine Bekämpfung des Militarismus bedeutet, wenn man sich darauf beschränkt, solche Abgeordnete zu wählen, die versprechen, in den Parlamenten gegen das Militärbudget zu stimmen. Da diese Abgeordneten doch immer die Minorität sind, wird das Militärbudget und das Rekrutenkontingent immer mit überwältigender Majorität aller Parteien angenommen; alles bleibt beim Alten und dieselbe Komödie kann jedes Jahr auf’s Neue beginnen.

Nehmen wir aber den Fall, daß einmal wirklich von einer Majorität der Abgeordneten das Militärbudget verweigert würde – so wird sich eben, wie die Geschichte der letzten Jahrzehnte lehrte, die Regierung nicht im mindesten darum kümmern und trotzdem die Steuern zur Deckung des Militärbudgets einbeziehen und die Aushebungen anordnen.

Oft genug wurden schon auch in Deutschland Militärausgaben ohne Bewilligung des Reichstages gemacht und erst später die nachträgliche „Bewilligung“ verlangt. Es ist auch klar, daß machtlose Parlamente nicht die Gewalt, die Macht der herrschenden Kaste auflösen können, wohl aber sah man es nicht nur einmal, daß umgekehrt die Armee „ungefügige“ Parlamente auflöste und auseinanderjagte. So wurde z.B. erst 1905 das ungarische Parlament auf kaiserlichen Befehl von einer Kompanie Soldaten auseinandergetrieben. Der Militarismus ist stärker als der Parlamentarismus und kann also deshalb nicht von diesem geschwächt werden.

Anträge auf Abschaffung des Parademarsches, Einführung von Tuchknöpfen statt blanker Knöpfe u.dgl. sind durchaus keine Schwächung, sondern eher eine Verbesserung, eine Vervollkommnung des Militarismus.

Das Verlangen nach Einführung der Miliz, wie sie in der Schweiz oder zum Teil in Belgien besteht, ist nicht die geringste Einschränkung des Militarismus. In Belgien haben gerade die Milizen in Löwen im Jahre 1903 auf die Arbeiter geschossen, die um das allgemeine Wahlrecht kämpften. In der Schweiz werden bei jeder Gelegenheit, bei jedem Streik, Truppen der Milizarmee gegen die Arbeiter aufgeboten, oft sogar in Kantonen, in denen sozialdemokratische Minister waren wie in Genf unter Thiebeaut und in Basel unter Wullschläger. [45]

Die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung und des Milizwesens würde aber übrigens durchaus nicht die Kriegsgefahr beseitigen, weil die bloße Existenz bewaffneter Heere jederzeit neue Ausbrüche mordsbegeisterten Kriegspatriotismus ermöglichen und fördern kann.

Um dies zu verhindern, gibt es nur einen Weg, und dies ist die vollständige Beseitigung jeder Form von Armee.

Der Kampf gegen den Militarismus, und gegen die ewig drohende Kriegsgefahr muß direkt vom Proletariat unter den Soldaten und Reservisten betrieben werden.

Die Arbeiter haben keine Zeit und keine Geduld, so lange zu warten, bis sich die Versprechungen ihrer Vertreter erfüllt haben, die den Militarismus durch die Parlamente abzuschaffen versprechen, denn unterdessen schießen die Soldaten bei jeder Gelegenheit auf streikende Arbeiter. Sie wollen nicht warten, bis der Krieg beseitigt wird durch Friedenskongresse der Regierungen – die gleichzeitig neue Kanonen und Kriegsschiffe in Angriff nehmen, sie erhoffen nichts von den schönen und sentimentalen Deklamationen der Friedensfreunde (Pazifisten).

Trotz aller Friedensschalmeien der großen Pazifisten könnte kein einziger Krieg vermieden werden, wenn die Herrschenden es beschließen und das Proletariat gehorcht. Der mörderische Krieg wird nicht beseitigt durch den friedlichen Pazifismus, sondern nur durch den rebellischen Antimilitarismus, diese direkte Aktion des Pazifismus. Auf die Kriegserklärung antworten die Antimilitaristen mit dem Militärstreik, Dienstverweigerung, Generalstreik und Meuterei.

Eines der wichtigsten Mittel, den Krieg direkt durch das Volk zu verhindern, wäre, sofort nach der Kriegserklärung alle Transport- und Kommunikationsmittel, Telegraphen, Telephone, Eisenbahnschienen, Tunnel, Brücken, Hafenanlagen etc. so oft wie möglich zu vernichten oder zu sprengen – um die Entsendung der Regimenter zu verhindern.

Massenstreiks, womöglich Generalstreiks in Arsenalen, Militärwerkstätten, Häfen etc. könnten ebenfalls die Kriegsoperationen ganz bedeutend hemmen – ja sogar die Niederlage des eigenen Landes herbeiführen.

Wenn diese Idee recht stark propagiert würde, so könnte schon die bloße Idee Wunder wirken. Die bloße Ankündigung der Arbeiter und Soldaten, daß sie im Kriegsfälle streiken, die bloße Ankündigung, daß das Proletariat, das sich schon gewöhnt hat, im Kampfe mit dem Kapitalismus ihm seine Arbeit zu verweigern, ihm nun auch sein Leben und sein Blut im Kriege verweigern will, um es für die eigenen Ziele, die eigenen Ideale einzusetzen, wäre schon eine direkte Verhinderung des Krieges.

Diese Möglichkeit würde die Regierungen gewiss von zu raschem Kriegsentschluß zurückhalten und sie eher veranlassen, mit der fremden Macht zu paktieren.

Daß es nicht im Sommer 1905 zum Kriege zwischen Deutschland und Frankreich wegen Marokko kam, ist hauptsächlich der energischen Stellung der französischen Arbeiter zu verdanken, die einfach erklärten, nicht in den Krieg gehen zu wollen, was die französische Regierung zum Nachgeben zwang.

Dem Proletariat kann wohl auf jeden Fall eine diplomatische Niederlage seines „Vaterlandes“, ja sogar eine Demütigung seiner Regierung lieber sein, als selbst 100.000 Opfer für einen glorreichen Krieg zu bringen, der ausschließlich der Bourgeoisie zu Gute kommen würde.

Die Mittel und Wege der Antimilitaristischen Propaganda sind unerschöpflich und jeder Tag bringt neue hervor.

Die Arbeiter müßten schon bei ihren Kindern beginnen, ihnen den antimilitaristischen Geist beizubringen.

Den Kindern muß schon von der frühesten Jugend auf der Abscheu vor dem Krieg und der Kaserne eingeprägt werden. Man soll ihnen niemals Bleisoldaten oder Kindersäbel und Gewehre zum Spielen geben, was in ihnen nur die Sehnsucht nach wirklichen Waffen erweckt, für die Zeit, wenn sie „groß“ geworden. Man möge sie – nicht durch Gewalt, aber durch Überzeugung – vom Soldatenspielen zurückhalten. Wenn das Kind von der Schule kommt, den Kopf voll von patriotischen Heldenlügen, Kriegsruhm usw., dann soll ihm gezeigt werden, daß der Lehrer gelogen hat, daß der Krieg nur Massenmord ist, wie der Ruhm der „Großen“, der „Helden“ und der „Heldenkaiser“, – die selbst feige, weit weg vom Schuß, andere für sich bluten ließen, erkauft wird durch Tod und Elend des Volkes.

Nie sollen den Kindern Soldaten-Bilderbogen oder Uniformen gegeben werden: man muß sie aufklären, daß die Uniform verachtet, verabscheut zu werden verdient, weil es die Sklavenlivree der Brudermörder ist. Wenn einmal das Kind während der Arbeitslosigkeit des Vaters nach Brot schreit, dann kann man ihm sagen, daß es die Schuld gerade dieser so schön uniformierten Soldaten ist, denen das Kind so bewundernd nachläuft, – daß im Hause nichts zu essen ist, weil sie die Magazine schützen, in denen alles aufgestapelt ist. So wird das Kind schon frühzeitig beginnen, den Militarismus zu hassen und zu verabscheuen.

Mit der antimilitaristischen Erziehung müßte man auch an die Frauen und Mädchen herantreten. An die Mütter, sie mögen ihre Kinder in diesem Geiste erziehen, wenn sie nicht wollen, daß sie später Kanonenfutter werden; an die jungen Mädchen, damit sie endlich begreifen, welch‘ große Schuld gerade sie am Militarismus haben, indem sie so oft die Uniform bevorzugen, den Soldatenruhm, das Waffenklirren bewundern. Wegen dieser Bevorzugung streben tausende junger Männer nach der Uniform, weil sie darin leichter Eroberungen zu machen erhoffen.

Den jungen Mädchen muß gesagt werden, welche ununterbrochene Schändung der Menschenwürde, welche verächtliche Livree diese Uniform bedeutet, wie ihr so bewunderter Liebster sich darin wie ein Hampelmann bewegen und alle Beschimpfungen seiner Vorgesetzten demütig ertragen muß. Die Mädchen mögen daran denken, daß ihr Liebster, dem sie so begeistert zujubeln, wenn er in den Krieg ziehen muß, höchstwahrscheinlich auf dem Schlachtfeld einen rühmlosen, qualvollen Tod erleiden, oder im besten Falle als elender, gebrochener, kraftloser Krüppel in die Heimat zurückkehren wird. Will sein Mädchen also nicht nachher, wenn es zu spät ist, bittere Tränen um ihn vergießen, dann möge es ihn davon abhalten, zur Schlachtbank zu gehen.

In Frankreich begleiten die Antimilitaristen oft die Ausgehobenen (Rekruten) und Reservisten beim Einrücken demonstrativ auf den Bahnhof, verabschieden sich von ihnen auf herzlichste, erinnern sie an ihre Pflichten gegen ihre Brüder, die Arbeiter und singen ihnen zum Abschied revolutionäre Arbeiterlieder.

Oft stellen sich ganze Gruppen von Arbeitern in zwei Reihen vor den Kasernen auf, warten bis die Soldaten herausmarschieren, gehen, links und rechts in gleichem Schritt mit den Soldaten mit und singen dabei revolutionäre, antimilitaristische Lieder, deren Melodie und Worte sich bald dem Geiste der Soldaten einprägen, bis sie, – was schon öfters vorkam – diese Lieder mitsingen.

In der Schweiz und in Holland kommen auch recht häufig Fälle persönlicher Dienstverweigerung vor. Solche Ereignisse erregten immer großes Aufsehen, das noch größer wurde, als die angeklagten Dienstverweigerer in ausführlichen Reden oder Briefen ihren Schritt begründeten. Diese Erklärungen wurden überall abgedruckt und diese Propaganda durch das Beispiel zeigte, wie durch den bloßen Willen der Völker der Krieg und der Militarismus abgeschafft werden könnte.

Allerdings ist dies in Holland und in der Schweiz viel leichter zu machen, weil dort die Strafen nur einige Monate betragen. Wenn es aber solche Beispiele mit sich bringen könnten, daß nur ein Prozent aller Stellungspflichtigen den Dienst verweigern, so hätte z.B. Deutschland mit ca. 5.000 Militärverweigerern zu tun und wäre dagegen einfach machtlos.

In Frankreich betreiben ganz besonders die revolutionären Gewerkschaften eine systematische und ausgedehnte anti-militaristische Propaganda.

Sie erwecken und pflegen die Solidarität zwischen den Arbeitern in der Bluse und den Arbeitern im Soldatenrock. Sie senden den ehemaligen Gewerkschaftsmitgliedern, die nun beim Militär sind, von Zeit zu Zeit kleine Unterstützungen mit aufmunternden Briefen, in denen sie sie an ihre Kameraden in der Fabrik erinnern.

Die Gewerkschaften laden die Soldaten zu ihren Festen ein, bieten ihnen freundliche Aufnahme in ihren Klubs, oft auch ein besonderes Zimmer und unentgeltliche Benutzung von Schreibmaterial und Briefmarken für ihre Korrespondenz. So bleibt der Soldat mit seinen früheren Arbeitskameraden in ständiger Verbindung und vergißt nicht sein Klasseninteresse. Kommt aber ein Soldat, dessen Kompanie gegen die Arbeiter ausgerückt war, in seine Heimat zurück, so wird er von allen seinen früheren Kameraden, von allen jungen Männern und Mädchen des Ortes als feiger Brudermörder boykottiert und gemieden.

Am Stellungstage für die Militärpflichtigen, und am Einrückungstag der Rekruten werden spezielle Feste und Versammlungen für die jungen Leute abgehalten. Auch erscheinen an diesen Tagen in großer Auflage illustrierte Spezialnummern der Gewerkschaftszeitung, die massenhaft verbreitet werden und in vielen Städten den Militärpflichtigen per Post in die Wohnung zugeschickt werden. Die von der Gewerkschaftsföderation herausgegebene antimilitaristische Broschüre wurde schon in über 200.000 Exemplaren verbreitet.

Die Resultate sind in Frankreich schon heute zu sehen, denn es ereignete sich schon öfters, daß bei Streiks wie in Dünkirchen, Creusot, Montceau usw. sich die Soldaten für die Arbeiter erklärten, und den Streikenden dadurch den Sieg ermöglichten.

Es gibt recht viele Mittel, antimilitaristische Schriften, Flugblätter und Aufrufe gefahrlos an die Soldaten zu verteilen.

Diese Gelegenheit bietet sich sehr gut in den Eisenbahnwaggons zur Zeit, wenn die Soldaten zum oder vom Feiertagsurlaub nach Hause fahren. Während der Manöver, bei Einquartierungen, bei Begegnung bei gemeinsamen Bekannten oder Verwandten, im Wirtshaus, oder im Cafe können solche Schriften zugesteckt werden. Eine sehr günstige Gelegenheit zur Verteilung solcher Schriften bietet sich zur Zeit der Aushebung vor den Musterungs-(Assentierungs-)lokalen, sowie beim Einrücken der Rekruten und Reservisten.

In Rußland werden oft an die Soldaten, in die Kasernen, in der Weise revolutionäre Aufrufe geschickt, daß sie als Einpackpapier für harmlose Sendungen verwendet werden. Während des Besuches bei einem bekannten Soldaten in der Kaserne, kann man ein Paket Broschüren, resp. Flugblätter auf dem „Abort“ vergessen und eins auf die Wand ankleben, worauf jeder ankommende Soldat eines mitnehmen oder dort lesen kann.

Wenn z.B. während eines Streiks die Verteilung solcher Schriften eilig aber gefährlich und der direkte Verkehr zwischen den Arbeitern und den Soldaten unmöglich ist, so kann man sie durch Kinder jedem Soldaten übergeben lassen. Dabei läuft niemand Gefahr, weil doch dem Kinde nichts geschehen kann.

Das Proletariat aller Länder muß endlich mit dieser Propaganda beginnen, wenn es nicht will, daß alle seine Bestrebungen ebenso wie heute, auch im Entscheidungskampf der Zukunft am Widerstand der Armee zerschellen.

Nur durch die rege Propaganda des antipatriotischen Antimilitarismus im Volke und im Heere könnte man die Macht des Militarismus schon heute schwächen, um sie endlich überhaupt zu vernichten, wenn Arbeiter und Soldat, Volk und Heer sich als Brüder erkannt und vereinigt haben.

Soldatenlied

Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne,

Als ich es ward, hat man mich nicht gefragt,

Man riß mich fort, hinein in die Kaserne,

Gefangen ward ich, wie ein Wild gejagt.

Ja, von der Heimat und des Liebchen Herzen

Mußt ich hinweg und von der Freunde Kreis.

Denk ich daran, fühl ich der Wehmut Schmerzen,

Fühl in der Brust des Zornes Glut so heiß.


Ich bin Soldat, doch nur mit Widerstreben,

Ich lieb ihn nicht, den blauen Königsrock,

Ich liebe nicht das blutige Waffenleben,

Mich zu verteidigen, wär genug ein Stock.

O sagt mir doch, wozu braucht ihr Soldaten,

Ein jedes Volk liebt Ruh und Frieden nur.

Allein aus Herrschsucht und dem Volk zum Schaden

Laßt ihr zertreten uns die goldne Flur.


Ich bin Soldat, muß Tag und Nacht marschieren.

Statt an der Arbeit muß ich Posten steh’n,

Statt in der Freiheit muß ich salutieren

Und muß den Hochmut frecher Buben seh’n.

Und geht’s ins Feld, so muß ich Brüder morden,

Von denen keiner was zu Leid mir tat.

Dafür als Krüppel trag ich Band und Orden

Und hungernd ruf ich dann „Ich war Soldat!“


Ihr Brüder all, ob Deutsche, ob Franzosen,

Ob Ungarn, Dänen, ob vom Niederland,

Ob grün, ob rot, ob blau, ob weiß die Hosen,

Gebt euch statt Blei zum Gruß die Bruderhand.

Auf! laßt zur Heimat uns zurückmarschieren.

Von den Tyrannen unser Volk befreien,

Denn nur Tyrannen müssen Kriege führen,

Soldat der Freiheit will ich gerne sein!


Max Kegel

Anmerkung: Satzfehler aus dem Original des „Soldaten-Breviers“ wurden korrigiert und die Rechtsschreibung und Zeichensetzung des „Breviers“ sowie der beiden Flugschriften „An unsere Brüder in der Kaserne“ und „Wie man’s macht“ heutigen Regeln angepaßt.

Flugschriften

An unsere Brüder in der Kaserne (1880)

Soldaten!

Nach den deutsch-preußischen Militärgesetzen seid Ihr selbst bei dem jetzigen hohen Friedenspräsenzstande der Armee nur 1 Prozent der Bevölkerung. Das heißt, auf neunundneunzig Zivilpersonen kommt ein Soldat. Dennoch bildet Ihr eine Macht, von welcher die Reichen und Mächtigen überzeugt sind, daß sie ausreiche, die gesamten Volksmassen „in Zucht und Ordnung“ zu halten, nötigenfalls mit Flinten und Säbeln zu vertreiben.

Was die einen hoffen, das befürchten die anderen. Während die Herrschenden beim Anblick der Waffen, welche in Euren Händen blitzen, sich in stolzer Sicherheit wiegen, und Eure Cadres als uneinnehmbare Festungen betrachten, hinter denen sie in Lust und Freuden des Armen Schweiß und Blut verprassen können, fürchten die Sklaven der Arbeit, daß Ihr Euch verleiten laßt, Brudermord im Großen zu begehen.

An Euch liegt es nun, die Sicherheit der einen in panischen Schrecken zu verwandeln, an die Stelle der Furcht, von welcher die anderen beseelt sind, frohe Zuversicht und Siegesgewißheit zu setzen.

Der ganze Zauber der heutigen Tyrannei, die ganze Trostlosigkeit der geknechteten Massen liegt in Eurer Disziplin, in Eurem blinden Gehorsam gegen Euren sogenannten Vorgesetzten. Diese Disziplin weg, und die Knechtschaft der Völker ist nicht mehr!

Der sogenannte „alte Fritz“ sagte einmal zu einem seiner Generäle, das Wunderbarste an den Soldaten sei, daß sie ihre Befehlshaber nicht totschlügen. Und das ist in der Tat wunderbar.

Millionen arbeitsamer Männer seufzen unter der schrecklichsten Last und wagen es nicht, ihr Joch zu zerbrechen, weil sie sich vor Euch fürchten. Das hat noch einigen Sinn. Denn Ihr seid zwar dem Volke gegenüber eine verschwindend kleine Minderheit, aber Ihr seid bis an die Zähne bewaffnet und das Volk steht ohne Wehr – ein Löwe ohne Klauen und ohne Zähne! Allein auch Ihr handelt nur unter dem Drucke der Furcht, unter dem Einfluß, den die Kriegsartikel auf Euch ausüben, unter dem Schrecken, den Euch ein blutiges Gesetz in die Knochen jagt.

Doch vor wem fürchtet Ihr Euch denn in Wirklichkeit? Vor den Offizieren. Nur diese können ja die Drohungen wahr machen, welche Euch für den Fall des Bruches Eurer vorgeschriebenen Subordination vorschweben. Mithin fürchtet Ihr Euch ebenfalls als Masse vor einer Handvoll Menschen. Und Eure Furcht ist weniger begreiflich wie die des Proletariats, weil ihr in Waffen starrt. Ein Schlag von Euch genügt, und die Kommandantenschaft, von der Generalität bis herab zum Junkertroß, liegt zerschmettert am Boden.

Den meisten von Euch kocht hundertmal das Blut in allen Adern, wenn irgend ein Offizier voll Übermut Euch quält und plagt und Hunden gleich traktiert. Warum wird solch ein Schuft nicht auf der Stelle totgeschlagen?

Warum? Die Disziplin, sagt Ihr, verbietet das. Man würde solch‘ einen Akt der Gerechtigkeit furchtbar, exemplarisch ahnden. Gewiß – Einer, der seine malträtierten Brüder rächen wollte, würde schwer dafür zu büßen haben. Aber muß es denn nur Einer sein, der solchermaßen Menschenrecht und Menschenwürde wahrt! Gebt acht!

Fast täglich erschießt sich mindestens ein Soldat, der die Quälereien seiner Vorgesetzten nicht mehr ertragen kann. Wie wär’s, wenn jeder, dem sein Leben ohnehin zur Last geworden, dasselbe bei einer kühnen Tat riskierte, statt mit bloßer Selbstvernichtung gegen eine barbarische Tyrannei zu protestieren? Solch‘ ein Vorgehen würde allein schon hinreichen, die militärische Disziplin auf einen sehr niedrigen Grad herabzumindern.

Im gleichen Maße aber, in welchem der Soldat seine Offiziere hassen lernt, im gleichen Maße muß er bemüht sein, in den Arbeitern seine Brüder zu erkennen und zu lieben. Soldaten! Man hat das zweifache Tuch, in welches Ihr gepreßt worden seid, zu einer Schranke gemacht, welche das bewaffnete Volk vom unbewaffneten trennt. Während Eure Offiziere Euch wie Sklaven mißhandeln, reden sie Euch ein, Ihr seid zu einem höheren Berufe da wie das „gemeine Pack im Zivilrock“. Es wird ein dummer, nichtiger Stolz in Euch geweckt, der gar keinen Sinn hat.

Mitten aus dem Volke herausgegriffen, kehrt Ihr wieder zu demselben zurück, wenn Ihr als Blut- und Eisensklaven lang genug gedrillt worden. Muß es da nicht jedem von Euch einleuchten, daß Ihre nichts seid als ein Teil des Volkes?

Oh lernet denken und fühlen mit dem Volke und für das Volk – auch wenn Ihr in der Kaserne oder auf dem Exerzierplätze seid, entschiedener noch, wenn es Eure Offiziere wagen, Euch gegen das Volk zum Kampfe zu führen.

Der Tag wird kommen, wo die Massen des Proletariats sich in die Straßen der großen Städte ergießen, um anzustürmen gegen eine unerträgliche Despotie der Reichen wider die Armen. Die Machthaber werden lediglich bei Euch Rettung suchen. Verweigert das erste Regiment, welches gegen das Volk geführt wird, den Gehorsam, so ist’s vorbei mit der ganzen Herrlichkeit der jetzigen Gesellschaft! – Soldaten, Ihr könnt den Kampf kurz und den Sieg leicht machen, wenn Ihr nie vergeßt, daß Ihr unsere Brüder seid, daß unsere Feinde auch die Euren sind.
Nieder mit der Disziplin! Hoch die Rebellion!

„Freiheit“, (Expedient J.Neve) 22, Percy Street, Tottenham Court Road, London W. Preis per Couvert quartaliter 4 Mark.

Anmerkung: Dieses Flugblatt wurde in vielen Garnisonen, z.B. in Berlin, Magdeburg, Aachen, Düsseldorf, Trier, Köln, Darmstadt, Mannheim, Mülhausen i.E. an Soldaten verbreitet.

Wie man’s macht (ca. 1895)

So wird es kommen, eh‘ ihr denkt: – Das Volk hat nichts zu beißen mehr!

Durch seine Lumpen, pfeift der Wind! Wo nimmt es Brot und Kleider her?

Da tritt ein kecker Bursche vor; der spricht: „Die Kleider wüßt‘ ich schon!

Mir nach, wer Rock und Hosen will! Zeug für ein ganzes Bataillon!“

Und wie man eine Hand umdreht, stellt er in Rotten sie und Reih’n,

Schreit: „Linksum kehrt!“ und „Vorwärts Marsch!“ und führt zur Kreisstadt sie hinein.

Vor einem steinernen Gebäu Halt machen läßt er trutziglich:

„Seht da, mein Kleidermagazin – das Landwehrzeughaus nennt es sich!


Darinnen liegt, was ihr bedürft: Leinwand zu Hemden, derb und schwer!

Wattierte Jacken, frisch genäht – dazu von zweierlei Kouleur!

Tuchmantel für die Regennacht! Feldmützen auch und Handschuh‘ viel,

Und alles, was sich sonst gehört zu Heerschau und Paradespiel!


Ihr kennt den ganzen Rummel ja! Ob auch mit Hadern jetzt bedeckt,

Haben die Meisten doch von euch in der Montierung schon gesteckt!

Wehrmänner seid ihr allzumal! So lange jeder denn vom Pflock

Sich seinen eignen Hosensack und seinen eignen blauen Rock!


Ja, seinen Rock! Wer faselt noch vom Rock des Königs? – Liebe Zeit!

Gabt ihr die Wolle doch dazu: geschorne Schafe, die ihr seid!

Du da – ist nicht die Leinwand hier der Flachs, den deine Mutter spann,

Indes vom kummervollen Aug‘ die Trän‘ ihr auf den Faden rann?


Nehmt denn! So recht! Da prunkt ihr ja, als ging’s zu Felde morgen früh,

Oder doch allerwenigstens nach Grimlinghausen zur Revue!

Nur die Muskete fehlt euch noch! Doch sieh‘, da steht von ungefähr

Der ganze Saal voll! Zum Versuch: – Gewehr in Arm! Schultert’s Gewehr!


Ganz, wie sich’s hört! Das nenn ich Schick! Am Ende ... Jungens, wißt ihr was?

Auch die Gewehre wandern mit: – Gewehr bei Fuß! – Das wird ein Spaß!

Und würd‘ es Ernst ... Nun möglich ist’s! Sie machen immer groß Geschrei,

Und nennen diesen Kleiderwitz vielleicht noch gar Rebellerei!


Nennen ihn Einbruch noch und Raub! – In wenig Stunden, sollt ihr seh’n,

Wird uns ein Linienregiment schlagfertig gegenüber steh’n!

Da heißt es denn für seinen Rock die Zähne weisen!

Dran und drauf! Patronen her! Geladen Kerls! Und pflanzt die Bajonette auf!


Stülpt auch den Tschako auf den Kopf, und hängt den Degen vor den Steiß –

Daß ihr ihn ‚Käsemesser‘ nennt, ein glückverkündend Omen sei’s!

Kein Hirn, will’s Gott, besudelt ihn! Kein Herzblut, hoff ich, färbt ihn rot –

Für Weib und Kinder ‚Käse‘ nur soll er zerhau’n und nahrhaft Brot!


Und nun hinaus! Tambour voran, Querpfeifer und Hornistenpaar:

Soll auch die Adlerfahne noch vorflattern, Brüder, eurer Schar?

Den Teufel auch! Was kümmert uns vergangner Zeit Raubvögelpack!

Wollt ihr ein Banner: Eines nur schickt sich für euch – der Bettelsack!

Den pflanzt auf irgendein Gerüst: – da, hier ist ein Ulanenspeer! –

Und tragt ihn, wie die Geusen einst, mit zorn’gem Stolze vor euch her!

Ihr könnt es füglicher, als sie! Ihr tragt den Sack nicht bloß zum Staat,

Ihr seid nicht bloß dem Namen nach – nein, ihr seid Bettler in der Tat!


Marsch denn, ihr Geusen dieser Zeit! Marsch, Proletarier-Bataillon!“ –

Da naht zu Fuß und naht zu Roß die königliche Linie schon!

„Feuer!“ befiehlt der General; „Choc“ heißt es bei der Reiterei. –

Doch, ha! Kein Renner hebt den Fuß und keine Flinte schickt ihr Blei!

Ein Murren aber rollt durch’s Heer: „Auch wir sind Volk! Was königlich!“

Und plötzlich vor dem Bettelsack senkt tief die Adlerfahne sich!

Dann Jubelschrei: „Wir sind mit Euch! Denn wir sind Ihr, und Ihr seid wir!“

„Kanaille!“ ruft der Kommandeur – da reißt ein Leutnant ihn vom Tier!


Und wie ein Sturm zur Hauptstadt geht’s! Anschwillt der Zug lawinengleich!

Umstürzt der Thron, die Krone fällt, in seinen Angeln ächzt das Reich!

Aus Brand und Blut erhebt das Volk sieghaft sein lang zertreten Haupt: –

Wehen hat jegliche Geburt! – So wird es kommen, eh‘ ihr glaubt!

Anmerkung: In Würtemberg verbreitete und beschlagnahmte Flugschrift.

[1] So neuerdings: Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988

[2] Ausnahmen bilden das Sonderheft über „Sozialgeschichte des Antimilitarismus“ der Zeitschrift „graswurzelrevolution“ (Nr. 117/118, Hamburg 1987), das vor allem Texte aus den zwanziger Jahren dokumentiert, sowie die umfassende Studie von Gernot Jochheim: Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und soziale Verteidigung, Frankfurt/M. 1977, die sich jedoch weitgehend auf niederländische Quellen beschränkt. Bei den zahlreichen Reprints anarchistischer Literatur in den letzten zwanzig Jahren blieben antimilitaristische Texte weitgehend ausgespart. Meines Wissens wurde außer Tolstoi-Flugschriften (zuletzt: Rede gegen den Krieg, Frankfurt/M 1983) einzig Gustav Landauers Schrift „Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes“ neu aufgelegt (Reutlingen 1980).

[3] Zum Kampf um die Gegenwart der Vergangenheit vgl. Bemamins „Geschichtsphilosophische Thesen“, u.a. in: ders.: Illuminationen, Frankfurt/M. 1974

[4] Vgl. dazu die Untersuchung von Hubert Treiber zur Sozialisation in der Bundeswehr: Wie man Soldaten macht, Düsseldorf 1973

[5] Vgl. dazu wie zum folgenden insbesondere Eckart Kehr: Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers, in: Ders.: Das Primat der Innenpolitik, Berlin 1970, S.53–63; ferner: Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1983; Manfred Messerschmidt: Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Deutsche Militärgeschichte, Band 2, Abschnitt IV; ders.: Militär und Politik in der Bismarckzeit und im wilhelminischen Deutschland, Darmstadt 1975; Stig Förster: Alter und neuer Militarismus im Kaiserreich, in: Jost Dülffer/Karl Holl (Hrsg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Göttingen 1986, S.122–145

[6] Kehr, a.a.O., S.53/54

[7] Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke, Berlin 1892, Bd.7, S.69

[8] Vgl. dazu die materialreiche Zusammenstellung von Hartmut Wiedner: Soldatenmißhandlungen im Wilhelminischen Kaiserreich (1890–1914), in: Archiv für Sozialgeschichte XXII (1982), S.159–197

[9] Einen Eindruck vom Rekrutenalltag vermittelt die zeitgenössische Autobiographie (von Franz Rehbein: Das Leben eines Landarbeiters, zuerst: Jena 1911, neu: Darmstadt/Neuwied 1973, insbesondere S.168–197

[10] Vgl. zum folgenden Reinhard Höhn: Sozialismus und Heer, Bd.3, Bad Harzburg 1969. Diese voluminöse Arbeit ist allerdings nur als Quellensammlung brauchbar; zu Höhns Darstellung sind einige kritische Anmerkungen nötig: Höhn wirft der Armee in ihrem Verhalten gegenüber der Sozialdemokratie vor, „daß sie die Möglichkeiten, die sich ihr zur Steigerung der Wehrkraft durch die Sozialdemokratie boten, nicht ausnutzte.“ (ebd., S.XII) Ihr habe ein „sachlich differenziertes Bild“ der Lage gefehlt, um die wehrpolitische Situation im Innern richtig einschätzen zu können.“ (ebd.) Auf Seiten der SPD habe nämlich durchaus die Bereitschaft bestanden, „das Vaterland zu verteidigen“ und der Armee sogar eine militärische Erziehung der Jugend bei Verkürzung der allgemeinen Militärdienstzeit zuzugestehen. Hätte die Armee ihre antisozialdemokratische Frontstellung aufgegeben, so „wäre ihre Situation im Jahre 1914 eine ganz andere gewesen. Sie hätte auf beiden Kriegsschauplätzen mit zahlenmäßiger Überlegenheit und einer erheblich größeren Kampfkraft antreten können.“ (ebd.) Deutlicher gesagt: Hätte das Militär die organisierte Arbeiterschaft integriert statt bekämpft, wäre der Krieg zu gewinnen gewesen. Der ehemalige hochrangige SS-Offizier und spätere Leiter der Akademie für Führungskräfte in Bad Harzburg vertritt hier, kaum verbrämt, die Ideologie einer Volks- und Leistungsgemeinschaft; – Überlegungen eines Experten für „Menschenführung und Betriebsorganisation“, wie imperialistische Politik erfolgreicher durchzusetzen gewesen wäre.

[11] Höhn, a.a.O., S.87–106; Wehler, a.a.O., S.159/160

[12] Zum Verhältnis der Sozialdemokratie zu Krieg und Militär vgl. vor allem Günter W. Dill: Krieg dem Kriege?, in: antimilitarismus information, VIII. Jg., Heft 7, Juli 1978, (Themenheft: Antimilitarismus in der Sozialdemokratie vor 1914), S.49–60; Friedhelm Boll: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Resignation und Revolution: Zur Friedensstrategie 1890–1919, in: Wolfgang Huber/Johannes Schwerdtfeger: Frieden, Gewalt, Sozialismus, Stuttgart 1976, S.179–281; ders.: Frieden ohne Revolution?, Bonn 1980; Karl-Heinz Rambke: Diesem System: keinen Mann und keinen Groschen? Sozialdemokratische Wehrpolitik 1907–1914, Phil.Diss., Würzburg 1983; allgemein zur Sozialdemokratie in der Endphase des Kaiserreiches v.a.: Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus, Frankfurt/Berlin/Wien 1974

[13] Walther Borgius: Die neuere Entwicklung des Anarchismus, in: Zeitschrift für Politik, 1.Bd., Berlin 1908, S.532

[14] Friedrich Engels: Der Sozialismus in Deutschland, in: MEW 22, S.251

[16] Groh, a.a.O., S.293

[17] ebd.

[18] Vgl. antimilitarismus information, a.a.O., S.98–106; Groh, a.a.O., S.210–223

[19] Walter Wittwer: Streit um Schicksalsfragen, Berlin (DDR) 1964. S.94

[20] zitiert nach: Helmut Trotnow: Karl Liebknecht, Köln 1980, S.73

[21] in: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin (DDR) 1958, S.247–456

[22] Wolfgang Heine: Wie bekämpfen wir den Militarismus?, in: Sozialistische Monatshefte, 11.Jg. (1907), 2.Bd., S.917

[23] August Bebel im Reichstag am 28.11.189l, zitiert nach: antimilitarismus information, a.a.O., S.75

[24] Karl Liebknecht: Rekrutenabschied, a.a.O. S.189

[25] ders.: Militarismus und Antimilitarismus ..., a.a.O., S.423/24

[26] ebd., S.427–438

[27] ebd., S.450

[28] Vgl. dazu Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969; Borgius, a.a.O.; Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918–1923, Meisenheim am Glan 1969, S.13

[29] Bock gibt für die „Freie Vereinigung“ nach ihrer endgültigen Wende zum Syndikalismus 1907 eine Mitgliederzahl von 9.000 an, sie sank bis 1914 auf etwa 6.000 (a.a.o., s.66)

[30] nach: Linse, a.a.0., S.164

[31] Sie erschien unter dem Titel „Antimilitarismus“ zwischen 1905 und 1906. Anfang 1907 wurde ihr Redakteur, Rudolf Oestreich wegen zweier Artikel über den Hauptmann von Köpenick zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Er hatte geschrieben, beim Militär werde in den vielfach so ideellen jungen Männern der Mensch gemordet und nur ein willenloses Tier bleibe übrig – bereit, auf Kommando seine Menschenbrüder rücksichtslos niederzuschlagen, („Menschenmord“, in: Antimilitarismus, 2.Jg., Oktober 1906; vgl. dazu auch Linse, a.a.O. S.36–38). Da nach der inkriminierten Nummer keine weiteren mehr erschienen (zumindest sind bibliographisch keine weiteren nachzuweisen), liegt die Vermutung nahe, daß das Ende der Beilage mit der Verurteilung Oestreichs zusammenfiel.

[32] Vgl. zum Syndikalismus v.a. Georges Sorel: Über die Gewalt, Frankfurt/M. 1969, sowie Hubert Lagardelle: Die syndikalistische Bewegung in Frankreich, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 26.Bd., Tübingen 1908, S.96–143 und S.606–648

[33] Vgl. zum Verhältnis von Syndikalisten und Anarchisten aus anarchistischer Sicht u.a. Errico Malatesta: Anarchismus – Syndikalismus, Berlin 1978 (anarchistische texte 9)

[34] Vgl. dazu Borgius, a.a.0.; Max Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd.5, Anarchisten und Syndikalisten Teil 1, Vaduz 1984; Jochheim, a.a.O.

[35] Borgius, a.a.0., S.533/534

[36] Gustave Hervé: Das Vaterland der Reichen, Zürich o.J. (1907). Hervé rückte schon vor dem Ersten Weltkrieg von seinem Antlmilitarismus ab, wurde im Krieg zum fanatischen Patrioten und näherte sich in der Folgezeit den Positionen der rechtsradikalen „Action Francaise“ an.

[37] Brief des preußischen Kriegsministers von Einem vom 16.2.1907, zitiert nach: Höhn, a.a.O., S.161

[38] Brief vom 23.1.1908, ebd., S.162

[39] Nettlau gibt als Druckort Holland an (a.a.0., 8.269), während ein handschriftlicher Zusatz auf einem im Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte erhaltenen Exemplar London nennt. [Anmerkung anarchistischebibliothek.org: Siehe auch: Prosopographie von Tabea Feix]

[40] nach: Nettlau, a.a.O., S.269 und Bock, a.a.O., S.17

[41] Arnold Roller: Die direkte Aktion, zuerst New York 1903, neu: u.a. Berlin 1970; ders.: Der soziale Generalstreik, zuerst: Berlin 1905, neu: o.O.o.J. (Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus Bd.2) Ohne Pseudonym war bereits vorher erschienen: Der Generalstreik und die soziale Revolution, London 1902. Nacht arbeitete außerdem für die Zeitschrift „Neues Leben“ und ihre Nachfolgerin, den „freien Arbeiter“. 1908 übersetzte er von London aus Hector Zoccolis „Die Anarchie“ ins Deutsche und stellte dem Buch ein kritisches Vorwort voran (zuerst: Leipzig/Amsterdam 1909, neu: Berlin 1976). Etwa zur gleichen Zeit wie das „Soldaten—Brevier“ stellte er zusammen mit seinem Bruder Max auch ein „internationales Rebellen-Liederbuch“ (London 1906) [Das Vorwort auf anarchistischebibliothek.org] zusammen.

[42] Arnold Roller: Die direkte Aktion, a.a.O., S.60

[43] Zur Biographie Mosts vgl. Rudolf Rocker: Johann Most. Ein Leben als Revolte, zuerst: Berlin 1924, neu: Berlin 1984; Dieter Kühn: Johann Most. Ein Sozialist in Deutschland, München 1974 (enthält ausführliche Auszüge aus Mosts Autobiographie)

[44] Stenographierte Berichte des Deutschen Reichstages 1894/95, 2. Anlagenband, Aktenstück Nr.273, S.1188–1196; dort finden sich auch Auszüge aus weiteren Flugschriften sowie aus Gerichtsurteilen gegen Verteiler antimilitaristischer Agitation.

[45] Das Zentralorgan der schweizerischen Sozialdemokratie, der „Grütlianer“, verteidigte in der Nummer vom 25. August 1904 die Militäraufgebote gegen Streikende.