Arnold Roller
Der sociale Generalstreik
Der Generalstreik als Kampfmittel.
2. Der Verlauf des Generalstreiks.
3. Der Generalstreik und die Armee.
4. Welchen Gefahren läuft das Proletariat?
5. Oekonomische Momente. Lohnkämpfe und Generalstreik.
II. Nach dem Siege des Generalstreiks. Grundzüge der gesellschaftlichen Neuorganisation.
Der Generalstreik als Kampfmittel.
1. Was ist der Generalstreik?
Und erkenne deine Macht!
Alle Ruder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will!
Georg Herwegh.
Eine neue Idee, eine neue Waffe des kämpfenden Proletariats, schob sich in den letzten Jahren mit Macht in den Vordergrund und steht jetzt auf der Tagesordnung aller Diskussionen in der Arbeiterbewegung aller Länder.
Diese Idee, die sich dem internationalen Proletariat überall von selbst mit Gewalt aufdrängt, ist der Generalstreik. Noch bis vor Kurzem war unter den sozialistischen Arbeitern der allgemeine Glaube an den Erfolg des Parlamentarismus unerschüttert.
Doch die Ereignisse und die Zuspitzung der politischen und sozialen Verhältnisse in den letzten Jahren liessen das internationale Proletariat bald erkennen, dass auf diesem Wege nichts zu erreichen ist, und drängten es dazu, sich nach neuen Kampfmitteln umzusehen. Auch dort, wo der parlamentarische Sozialismus sich unübertroffen am Stärksten entwickelt hat und dabei seine Machtlosigkeit mit jedem neuen Wahlsieg und jeder neuen quantitativen Zunahme nur um 8o klarer offenbart — in Deutschland regen sich sogar im gemässigten Lager Stimmen, die nach einer neuen Taktik rufen.
Die Idee des Generalstreiks, die man noch bis vor Kurzem bloss mit höhnischen und verächtlichen Worten abfinden zu können glaubte, für deren Propagandisten man nur Verleumdung und Beschimpfung hatte, muss jetzt schon auf allen internationalen und nationalen Kongressen aller Arbeiterparteien ernstlich diskutirt werden, und ein Mitglied der deutschen sozialdemokratischen Partei — Dr. Friedeberg — propagirt diese Idee schon offen im Schoose der Partei.
Im Allgemeinen ist aber die Stellungder Sozialdemokratie dieser Idee gegenüber — wo sie ihr nicht mehr direct feindlich ist — doch immer sehr zweideutig, und es sprechen sich auch alle Resolutionen, die auf den Parteikongressen darüber gefasst werden, dort, wo sie nicht unzweideutig dagegen waren, nach langen Erörterungen über die Definition der Worte Generalstrike nur für den politischen Massenstreik aus, zur Erzielung gewisser einzelner Forderungen — verwarfen aber immer den Generalstreik als Mittel uni Weg zur endgültigen sozialen Umwälzung.
Der Name Generalstrike lässt allerdings
Missverständnisse zu, weil unter demselben Namen ganz verschiedene Dinge zusammengefasst werden. So bezeichnet man oft als Generalstreik den Streik. aller Angehörigen eines Behufs zur Erringung höherer Löhne, z. B. den Generalstreik der Bergarbeiter ; man spricht vom Generalstreik in einer Stadt,z.B. dem 'Generalstreik in Florenz', endlich vom Generalstreik in einem ganzen Lande oder einer Provinz zur Erzielung politischer Rechte, z. B. des Wahlrechts in Belgien oder in Schweden.
Doch die Auffassung des Generalstreiks, welche die tiefgehendste ist, die eine ganze Weltanschauung der sozialen Umwälzung und sozialer Neuorganisation enthält, ist die Auffassung der Proletarier der romanischen Länder, die unter Generalstreik nichts anderes als die Einleitung der sozialen Umwälzung selbst verstehen.
Deshalb nennen wir diesen Generalstreik zur Unterscheidung von den „Generalstreiks" für Lohnforderung oder für politische Ziele („die politischen Massenstreiks") — den sozialen Generalstreik.
Diese Auffassung des Generalstreiks soll hier hauptsächlich behandelt werden.
Die Generalstreiks-Idee wird bisher in derselben bornirten Weise,mit ähnlichen 'blödsinnigen Redensarten von den deutschen Arbeitern bekämpft, wie der dickwanstige Bourgeois seit jeher den Sozialimus bekämpfte, indem er ihm immer und immer wieder das Märchen vom Theilen vorhält und damit den Unsinn des Sozialismus dargelegt zu haben glaubt. aber nur seine eigene Ignoranz bewiesen hat.
„Generalstrike ist Generalblödsinn" ist die stereotype Redensart, mit welcher die Sozialdemokraten den Generalstrike abzufertigen glaubten.
Wo man sich schon auf Auseinandersetzungen über den Generalstreik einliess, wiederholte man immer folgende Argumentation : „Generalstreik ist Utopie. Es ist niemals möglich, das Proletariat derart zu organisiren, dass sämmtliche Arbeiter die Arbeit niederlegen, und wenn das Proletariat einmal schon so mächtig organisirt und klassenbewusst wäre, um einen Generalstreik erklären zu können, dann braucht es auch keinen Generalstreik mehr, denn dann hat es schon sowieso die Majorität im Lande, sowie die Macht, Alles zu thun, was es will."
Wir wollen darauf aufmerksam machen, dies doch auch mit der besten Organisation des Proletariats und der schönsten Majorität im Lande und in den Parlamenten Nichts gegen den Willen des Herrenhauses oder Bundesrathes, Nichts gegen das Veto des Kaisers erreicht werden kann, der zur Unterstützung seines 'Willens das ganze Heer hat, während das Parlament sich höchstens mit seinen Papierwischen gegen die Bajonette der Soldaten vertheidigen könnte.
Die Durchführung und der Erfolg des Generalstreiks sind nun nicht davon abhängig, dass alle Arbeiter die Arbeit niederlegen. Gewiss wäre es erst erstrebenswerth, die ganze Arbeiterklasse soweit aufzuklären, dass am Tage, an dem der Generalstreik ausbrechen soll, wie auf einen Ruf das ganze Proletariat aller Länder gleichzeitig seine Werkstätten, Fabriken und Bergwerke verlässt und so schon durch den blossen Ausdruck seines Willens seine Fesseln abwirft. Doch so sehr dieses Ideal der Propaganda würdig ist, so schön und erstrebenswerth dieser Traum ist, so kann er doch nur ein Traum bleiben.
Immer empörten sich nur energische, begeisterte Minoritäten gegen die Tyrannei und Unterdrückung und gaben so die Initiative der grossen, dumpfen Masse, die zwar unzufrieden war und über ihr Schicksal klagte, aber zur Empörung noch lange nicht den Muth besass. Von klagender Unzufriedenheit bis zur Revolte ist noch ein weiter Weg, In jeder Revolution weckten erst durch ihre Erfolge die energischen Minoritäten den Muth der noch furchtsamen Massen.
Dasselbe gilt auch bei jedem Streik.
Obwohl die Gewerkschaften in der Regel nur eine Minorität der Arbeiter ihres Faches darstellen,veranlassen, organisiren und leiten sie fast immer die Streiks der zum grössten Theil unorganisirten Massen. So tritt in den Streik oft nur eine kleine Minderheit, der erst im Laufe des Streiks die Uebrigen folgen.
Oft schliessen sich erst während des Streiks viele verwandte Industrien und Zweige an und dehnen den Streik auf immer weitere Gebiete, immer grössere Massen aus.
Auch das Beispiel des Streiks wirkt suggestiv, ansteckend auf die Massen.
Für die Anhänger und Propagandisten des Generalstreiks, wie ihn z. B. Die französischen und spanischen Proletarier verstehen, handelt es sich also weniger darum, zu erreichen, dass alle Arbeiter gleichzeitig die Arbeit niederlegen, als vielmehr darum, zu erreichen, dass alle Arbeiter im ganzen Lande jede Produktion, Kommunikation und den Konsum für die herrschenden Klassen zu unterbrechen, und zwar für die Zeit, die nothwendig ist, um die totale Desorganisation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung herbeizuführen, damit nach deren Zusammenbruch das Proletariat durch seine Gewerkschaften selbst Besitz ergreift von sämmtichen Produktionsmitteln, den Bergwerken, den Häusern, der Erde, kurz der gesammten ökonomischen Macht,
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2. Der Verlauf des Generalstreiks.
Nach Berichten und nach Beobachtungen von bis jetzt ausgebrochenen Generalstreiks können wir uns annähernd ein Bild des wahrscheinlichen Verlaufes eines sozialen Generalstreiks vorstellen.
Nach der nothwendigen Zeit der Propaganda, nachdem die Massen und Organisationen entsprechend vorbereitet und mit der Idee vertraut sein werden, sobald auch die Begleitumstände günstig sind und der Generalstreik ausbrechen soll, erklären vor allem sämmtliche Gewerkschaften — die doch zur Propagirung dieser Idee am Meisten berufen sind — den Generalstreik in ihrem Fache.
Die Nichtorganisirten werden bald mitgerissen — wir sahen es letzthin in Italien (und in Russland, Red. der "Freih.") —, die Bewegung verbreitet sich, dehnt sich rasch auf das ganze Land aus, generalisirt sich — sie wird zum Generalstreik des Proletariats.
Wir sahen es im April 1902 in Belgien, wie da, auf die Aufforderung der Gewerkschaften, binnen wenigen Tagen 350,000 Mann die Arbeit niederlegten.
Die moderne Industrie mit ihrer aufs Aeuserste getriebenen Arbeitstheilung und Komplizirtheit eignet sich ausserordentlich dazu, einen Generalstreik von einer Minorität hervorzurufen, und den Stillstand der für das Leben der modernen Gesellschaft hauptsächlich nothwendigen Betriebe und Produktionszweige zu veranlassen.
Nun werden aber die nothwendigsten Produkte oft in der Weise hergestellt, dass sie nicht nur in derselben Fabrik durch 20 bis 30 Hände hindurchgehen, sondern oft von einer Fabrik in die andere zur weiteren Verarbeitung wandern. Die Rohstoffe zur Erzeugung dieser Objekte kommen oft von fernen Gegenden, und so bildet der Transport durch die Eisenbahn und die bezüglich des Transports der Waaren und der Rohstoffe erforderliche Verständigung mittelst Post und Telegraph ebenfalls nothwendige und unvermeidliche Glieder der Produktion. Stockt nun eines dieser Glieder, ein Zahn von dem ungeheuren Räderwerk des Mechanismus der modernen Gesellschaft, so ist schon ein ganzer Zweig der Industrie unterbrochen.
So berichteten z. B. die Zeitungen Anfangs Februar 1904 aus England folgende Notiz: "Infolge Zerbrechens eines Maschinentheiles in den Rope Works in Belfast (Irland) musten 4000 Arbeiter eine Woche lang die Arbeit aussetzen."
Wenn nun sämmtliche Kohlenbergwerksarbeiter die Arbeit einstellten, so sind in einigen Tagen die Kohlenlager erschöpft und der Eisenbahn- und Postverkehr schon von selbst unterbrochen. Sämmtliche Hochöfen und Giessereien, sämmtliche Dampfmaschinen und die durch sie betriebenen Fabriken und Electricitätswerke sind zum Stillstand verurtheilt. Sämmtliche Gewerke, denen die Kohle zur Erzeugung des Gases mangelt, müssen ihren Betrieb unterbrechen und mit ihnen die Hunderte von Gasmotoren und die von diesen betriebenen Werkzeugmaschinen. Nach Untergang der Sonne ist die ganze Stadt in Dunkelheit gehüllt, keine elektrische Glüh- oder Bogenlampe, keine Gasflamme spendet ihr Licht.
Diesen furchtbaren Erfolg könnte schon nach einigen Tagen, oder höchsteins einigen Wochen, allein der Streik der Bergarbeiter herbeiführen, die sowieso stets an der Bresche stehen, die an grosse Massenstreiks schon gewöhnt sind und auf die in dem grossen Kampfe der Zukunft gewiss in erster Linie gerechnet werden kann. Aber auch die Eisenbahner in vielen Ländern (Amerika leider noch ausgenommen, Red. d. " Freih.") sind, wie bekannt, nicht die letzten in der Arbeiterbewegung. Sie würden gewiss nicht mit dem Streik warten, bis die Kohle ausgegangen ist, sondern gleich auf das erste Signal mitkämpfen, wenn es sich darum handeln wird, Alles zu gewinnen. In allen anderen Betrieben ist die Arbeit schon durch den Streik einer Minorität unterbrochen, die theils als Konsequenz der Arbeitstheilung die Uebrigen zum Feiern zwingt, theils lediglich durch ihr entschlossenes Auftreten das auf die Zahmen und Feigen als gesunde Einschüchterung wirken kann, diese bewegt, ebenfalls die Arbeit zu verlassen.
Sobald nun auch die Bäcker und andere Angestellte der Lebensmittelgewerbe die Arbeit niederlegen, macht sich der Generalstreik noch gewaltiger fühlbar und lässt endlich — vielleicht zum ersten Mal—auch die herrschenden Klassen das entsetzliche Gespenst des Hungers verstehen und fühlen.
Dies ist der Beginn, die Einleitung. — Jedoch nach der Ansicht der romanischen Genossen, sowie nach den Erfahrungen in allen bisherigen Generalstriks zu urtheilen, würde der Getteralstrik leider nicht so friedlich verlaufen können, wie er anfing.
Wir sahen es in Spanien und Belgien, dass die Bewegung spätestens dann in das Stadium der Konflikte trat, sobald das Proletariat selbst vor die Frage gestellt war, wie es seinen Hunger stillen könne und es 'durchaus keine andere Lösung sah als die ihm dann natürlich dünkende, d. h. die Lebensmittel zwangsweise den gefüllten Magazinen zu entnehmen.
Die Proletarier können zwar die ganze Produktion zum Stillstand bringen, können aber nicht auch in Konsumiren aufhören. So würden sie während der Kampf- und Uebergangsperiode nur dasselbe thun müssen, was die herrschenden Klassen ununterbrochen seit jahrtansenden thun : konsomiren, ohne zu produziren. Dieses Vorgehen von Seiten der herrschenden Klassen nennt das Proletariat "Ausbeutung"; wenn es die Proletarier thütt, nennen es die besitzenden Klasse "Planderring" — und der Sozialismus nennt es "Expropriation".
Der Hunger treibt den sonst noch so Zahmen, das Brot von dort zu nehmen, wo es ist. Und wie es auch bei allen Revolutionen und Volksbewegungen zu sehen war, sind da gerade die Frauen, die vorher in der Politik oft die reaktionärsten waren, nun, wo es sich darum handelte, den Hunger ihrer Kleinen zu stillen, die Revolutionärsten und Kühnsten bei der Stürmung und Plünderung der Bäckereien und der Fleischerläden.
Noch weit intensiver würde der Kampf werden, sobald es sich bei dem Proletariat darum handeln würde, nun auch von Produktionsmitteln Besitz zu ergreifen.
So ist der Generalstreik nicht nur die Einleitung der Revolution, zu der er nothwendig führt, sondern die soziale Revolution selbst. Er ist nur der Name der sozialen Revolution der Zukunft.
Jedoch ist dies nicht mehr die Revolution in der traditionellen Form, wie sie vom Kleinbürgerthum 1789 und 1848 geschlagen wurde. Die epischen Zeiten der Barilcadenkämpfe sind vorbei. An Stelle der schmalen, krummen Gässchen,in denen eine Barrikade so schnell zu errichten und so leichtzu vertheidigen war, sind nun in allen grossen Städten bereits lange Strassen entstanden, in denen die Heeresmacht sich vollständig entfalten kann und mit der grössten Leichtigkeit sofort alle Barrikaden nehmen kennte. Schliesslich kann heute in den Grossstädten kaum mehr an eine Barikade gedacht werden, da das wichtigste Material dazu die Pflastersteine fehlen. An Stelle der Pflastersteine sind jetzt in allen Hauptstrassen und Centren der grossen Städte nur Holzstöckel oder Asphaltpflaster. Und mit Holzstöckel und losgerissenen oder abgebröckelten Asphaltscheiben kann man keine Barrikaden mehr errichten.
Deshalb ist es nicht mehr denkbar, dass sich das Volk gegenwärtig unter diesen Umständen zur Revolution in dieser alten verlebten Form entschliessen könnte.
Ganz anders verhält sich aber die Sache beim Generalstreik.
Der ungeheure Vortheil des Generalstreiks ist der, dass er ganz gesetzlich und für das Proletariat vollständig gefahrlos anfängt und dadurch von Anfang an, auf Tausende rechnen kann, die niemals den Muth gehabt hätten, auf die Aufforderung zur Revolution auf die Strasse zu gehen, sondern ruhig am Ofen zu Hause geblieben wären und die Revolution dadurch geschwächt, ja unmöglich gemacht hätten. Dieselben, die nun jetzt wieder aus Angst zu Hause bleiben, theils aus Furcht vor den Einschüchterungen der Streikenden, theils aus Furcht, in die Unruhen auf der Strasse irgendwie verwickelt zu werden, unterstützen schon durch ihr blosses Zuhausebleiben in der besten Weise den Generalstreik.
Andere grosse Massen von Proletariern, die sich nie um die Sache gekümmert haben, die der Stimmzettel niemals begeistern konnte und auch dem Rufe der Revolution niemals gefolgt wären, da ihr ganzes Leben nichts anderes war, als das ewige, gleichmässige Dahinvegetiren zwischen dumpfem Schlaf und geisttödtender, erschlaffender Arbeit, sind nun, wegen der Arbeitslosigkeit plötzlich auf die Strasse geworfen, vor die Frage gestellt, für oder gegen, und fühlen sich instinktiv zur Theilnahme getrieben.
Eine unbestrittene Thatsache ist es ja, dass eine kühne That, sei es eines Individiums oder einer energischen, begeisterten Minorität, Tausende aus dem Schlafe riittelt und in ihnen mit einem Schlage begeisterte Kämpfer für die Sache gewinnt, während Jahrzehnte thatenloser Agitation sie nicht aus der Gleichgültigkeit herausreissen konnten.
Bei den Generalstreiks in Barcelona im April 1903, sowie schon im Jahre 1893, ferner in Bilbao im Oktober 1903, die eigentlich nur die Kraftproben, die ersten Scharmützel waren von dem wahrhaftigen grossen Generalstreik der Zukunft — wie ja auch ca. 300 Bauernrevolten der grossen französischen Revolution vorangingen — kam es zu verschiedenen Zusammenstössen zwischen dem Volk und der bewaffneten Macht.
Doch ganz verschieden war das Bild dieser Kämpfe von allen vorher bekannten Revolten der Proletarier in den Städten.
Trotz des ausserordentlichen. Ernstes der Situation waren die Zusammenstösse unbedeutend, denn die Arbeiter verlegten sich nicht mehr darauf, in der zwecklosen und gefährlichen Weise wie bisher die Soldaten selbst oder die wenigen gut vertheidigten Gebäude anzugreifen, sondern verwendeten ihre ganze Energie darauf, gewaltsam jede Produktion und Kommunikation zu verhindern.
Die herrschenden Klassen waren nämlich entschlossen, trotz des Generalstreiks mit allen und jeglichen Mitteln den Betrieb aufrecht zu erhalten.
Sie scheuten keine Massregel. Mit allen möglichen Mitteln der Einschüchterung und Drohung suchte man Streikbrecher zu werben. Doch als dies Alles nichts nutzte, steckte man Soldaten in die Werkstätten, Bergwerke, Bäckereien usw
Das Proletariat sah sich nun auch seinerseits gezwungen, seine abwartende Stellung aufzugeben und seinen festen Willen, jede Produktion und Kommunikation zu verhindern, energischer durchzuführen.
So war im Jahre 1893 der erste Gedanke der belgischen Arbeiter, alle Kommunikations- und Transportmittel abzuschneiden, um die Verständigung der Militär- und Polizeibehörden unmöglich zu machen, sowie das rasche Hin- und Hersenden, Zusammenziehen und das Verproviantiren von Truppen zu verhindern.
So geschah es oft, dass in der Nacht von unbekannter Hand die Telegraphendrähte nach allen Richtungen durchschnitten wurden.
Es geschah öfters, dass auf den Eisenbahnstrecken an einsamen Stellen die Schienen aufgerissen, die Weichenstellungsapparate zerstört oder die Weichen derart gestellt wurden, dass Eisenbahnzusammenstösse unvermeidlich gewesen wären. Durch Steinwürfe wurden öfters die Signalscheiben, nach denen sich die Zugführer richten, zerschlagen. Die Zirkulation wurde so öfters auf mehrere Tage für ganze Strecken unmöglich gemacht.
Während des Strassenbahner-Streiks in Nürnberg 1902 trieben die Streikenden Eisenstücke in die Nuthen der Strassenbahnschienen und verhinderten so die Zirkulation der Wagen.
In Barcelona und Belgien kam es auch vor, dass in einer Fabrik oder in einem Maschinenhaus die wenigen Anhänger des Generalstreiks alle übrigen Arbeiter zum Aufgeben der Arbeit dadurch veranlassten, dass sie die Maschinen beschädigten. Unbemerkt streuten sie Schmirgel in die Oel- und Fettbüchsen der Maschinen, andere wussten gar durch das blosse Nachlassen oder festere Anziehen einer Schraube die grössten Maschinen zum Zerbrechen oder gar zur Explosion zu bringen.
In Maschinenfabriken werden oft Eisenstücke zwischen die Zahnradwerke geworfen, wodurch die Zähne der Räderwerke in Stücke gingen. Während der 9eneralstreiks der Bergarbeiter in Nord-Amerika und auch im October 1903 in Spanien — zerstörten die Arbeiter die Versteifungen und Gerüste in den Gruben, wodurch für alle Arbeiter für lange Zeit der Zutritt zu den Gruben überhaupt unmöglich wurde. Die spanischen und amerikanischen Bergarbeiter bedienten sich zu diesem Zwecke der Axt, des Feuers und auch der Dynamitpatronen, die ihnen doch sehr leicht zugänglich waren, da sie dieselben täglich zur Arbeit benutzten. Während des Generalstreiks in Holland geschah es oft, dass von den Strikeru ein Schiff oder ein Schleppboot quer über den Fluss an einem Brückenpfeiler versenkt wurde, und so der ganze Schiffsverkehr und die Kommunikation auf den Flüssen und Kanälen unterbrochen wurde.
Der Streik der Hafenarbeiter, die sich weigerten die Schiffsladungen zu löschen, verhinderte auch die Herbeischaffung von Konsumgegenständen auf dem Seeweeg oder aus anderen überseeischen Ländern.
In frischer Erinnerung sind auch noch die Berichte aus Barcelona, wie da die Bourgeoisie selbst aus Furcht vor den Streikenden ihre Läden schloss und so die Zahl der nicht Arbeitenden noch durch ihre Angestellten vergrösserte, wie die Proletarier, durch Hunger getrieben,Lebensmittelläden stürmten und Soldaten sie vertheidigen mussten. Allgemein bekannt ist ja auch folgendes humoristisches Detail aus Barcelona :
„Da die Soldaten viele Lebensmittelläden beschützten, konnten die reichen Bourgeois noch immer ihre Dienstmädchen zu den Bäckern und Fleischern zum Einkaufen schicken. In allen Nebenstrassen und am Eingang der Häuser wurden aber die Köchinnen schon von den Arbeitern erwartet, die ihnen die Nahrungsmittel einfach wegnahmen und für sich verwendeten."
Die Idee, sich während des Generalstreiks der Arbeiter-Produktiv- und Konsum-Genossenschaften zur Verproviantirung der Streikenden zu bedienen, wurde bald aufgegeben und man nach kurzer Ueberlegung zu der Ueberzeugung gelangen musste, dass sich in einem solchen Kampfe die herrschenden Klassen durch sentimentale Rücksichten auf die Gesetzmässigkeit durchaus keinen Zwang anlegen, sondern die Vorräthe des Proletariats für sich und die Truppen einfach beschlagnehmen würden.
3. Der Generalstreik und die Armee.
Aus all dem Vorhergehenden ist zu ersehen, dass es die bewaffnete Macht nicht mehr so leicht hat, die „Ordnung" wiederherzustellen, wie es bei allen bisherigen gewöhnlichen Strassenrevolten, oder wie 1848, wo das Militär nur in den Zentren der Hauptstädte zusammengezogen zu werden brauchte, um dort in die wie auf dem Präsentirteller vor ihren Flinten zusammengehäuften Proletariermassen hineinzufeuern. Nein, der Generalstreik in der Form, wie er hier geschildert, verändert gewaltig das Bild.
Auch jetzt hätte das Militär die Aufgaben, in den grossen Städten die Regierungsgebäude und Paläste vor dem Hass des Volkes zu schützen. Denn alle die verhassten Zwingburgen und Zentralstellen der Macht der herrschenden Klasse, wie Polizeipräsidien, Justitz-Paläste und Gefängnisse, Reichsbanken, und Finanzministerien, können von der aufgeregten Masse bedroht werden. Auch einzelne vom Volke besonders gehasste Persönlichkeiten könnten in der allgemeinen Verwirrung ebenfalls ausserordentlicher Gefahr für ihr Leben ausgesetzt sein.
Vor 'Allem würde das Militär diese beschützen müssen. Es würde aber auch versuchen müssen, die Zirkulation der Eisenbahn aufrecht zu erhalten. Dazu wird man aber nicht nur die Eisenbahnstationen mit Soldaten bevölkern müssen, nicht nur aus Soldaten Kondukteure, Zugführer und Lokomotivführer machen, sondern auch jeden Eisenbahnzug mit einer entsprechenden Anzahl Soldaten bewachen lassen müssen, um den Zug vor eventuellen Angriffen zu vertheidigen. Doch könnte auch dies vielleicht nicht genügend erscheinen, die Zirkulation aufrecht zu erhalten, weil befürchtet werden könnte, dass die erbitterten Streikenden an allen Orten die Schienen, Weichenstellungen und Signale zerstören, weshalb — um die Zerstörungen und Entgleisungen zu verhindern — wieder Soldaten dazu verwendet werden müssen, um die zahllosen Kilometer der Schienenwege zu bewachen.
Soldaten würden kommandirt werden müssen, die Telegraphen- und Telephonlinien zu bewachen, den Postverkehr aufrecht zu erhalten und zu beschützen. Soldaten würden in die verschiedenen Fabriken und Werkstätten, Gaswerke und Bäckereien hineingesteckt, um die allernothwendigste Produktion und Verproviantirung zu versichern.
Wieder andere Soldaten Würden die "Arbeitswilligen" vor den Ausbrüchen des Zornes desVolkes beschützen müssen. Vor jeder Werkstätte, vor jeder Fabrik, vor jedem Magazin, die vom Volke bedroht zu werden schienen, müsste zum Schutze eine Abtheilung Soldaten aufgestellt werden.
Nun ginge es aber so nicht nur in den Hauptstädten zu. In den Industriezentren der Provinz, Kohlenbergwerken, Eisenhütten, Textilindustrie – Gebieten wären dieselben Ereignisse zu befürchten . Die sozialistische Agitation brachte es mit sich, dass selbst in den kleinsten Städten die Theorie von der "Expropriation der Expropriateure" verbreitet ist, und es können die Arbeiter dadurch verleitet werden, selbst und ohne auf die Dekrete der "Diktatur" des Proletariats zu warten, mit der Enteignung der Bourgeoisie und der Besitzergreifung der Magazine und Produktionsmittel zu beginnen.
Auch auf dem Lande wäre der Erfolg des Generalstreiks keine Utopie. Wegen der Ausdehnung des Grossgrundbesitzes ist es jetzt schon möglich, wie es viele Fälle in Ungarn, Galizien, Russland, Italien und Spanien bewiesen haben — ungeheure Landarbeiterstreiks hervorrufen.
Nichts ist so ansteckend, so suggestiv, wie die Rebellion. So wäre es durchaus nicht ausgeschlossen, dass die Landarbeiter und ärmeren Bauern, den städtischen Arbeitern nachahmend, wie zur Zeit der französischen Revolution Hand an die riesigen Güter der Grossgrundbesitzer legten. In den letzten Jahren kam es besonders in Russland häufig vor, dass streikende Mbeiter auf 's Land, rings um die Stadt in die Dörfer der Nachbarschaft gingen, dort die Bauern aufklärten und sie leicht für ihre Sache gewannen, wenn sie ihnen predigten: „Ihr braucht dem Staat keine Steuern, dem grossen Grundherrn keine Pacht mehr zu zahlen, dem Wucherer, dem Hypothekengläubiger seid Ihr nichts mehr schuldig — wir haben soeben alle diese Papiere verbrannt Ihr braucht Eure Söhne nicht mehr zu den Soldaten zu schicken, sie können bei Buch zu Hause bleiben und auf den Feldern helfen; jenen Feldern, welche Eurer Arbeit gehören I Fürchtet die Soldaten nicht; sie sind ja schon in den Städten und an den Eisenbahnen zu sehr beschäftigt, um auch noch dem Grundherrn helfen zu können, sie sind machtlos, sie können Euch nichts thun." So könnte nach Meinung der herrschenden Klassen auch die "Ordnung" und 'Sicherheit des Eigenthums" auf dem Lande bedroht werden.
Die Militärmacht hätte nun die ungeheure Aufgabe, all dies zu verhindern, und nicht mehr nur die politische, sondern was viel schwieriger ist, auch die ökonomishe Macht der herrschenden Klassen zu beschützen.
Man wird also nicht mehr die Soldaten vom ganzen Lande in die Hauptstädte zusammenziehen können, man wird nicht mehr 100,000 gut bewaffnete Soldaten gegen ein paar Tausend Rebellen marschiren lassen können, denn die Soldaten haben jetzt zersprengt im ganzen Lande in allen Industrienzentren, auf allen Eisenbahnlinien, ja in den kleinsten Ortschaften die "Ordnung aufrecht zu erhalten."
Vielleicht könnte da den Machthabern der rettende Gedanke kommen, zur Einberufung der Reserven zu schreiten? Doch bald müssten die Machthaber einsehen, dass sie hier vor einem furchtbaren Dilemma ständen. Ruft man die Reserven ein, so heisst das nichts Anderes, als die streikenden Arbeiter von ihren Genossen wegrufen um ihnen gute Gewehre in die Hand zu geben. Die Regierungen müssen zum Mindesten befürchten, dass die eingezogenen Reservisten die Unzufriedenheit und Disziplinlosigkeit in die Reihen der Liniensoldaten bringen. Riefe sie aber die Reservisten nicht ein, so erkennte sie ihre Machtlosigkeit selbst an, und die Zahl der vorhandenen Soldaten erwiese sich bald als ungenügend.
Aber auch die grösste bewaffnete und bestdisziplinirte Armee kann nicht Alles beschützen. Ueberall kann es nur kleine Gruppen von Soldaten geben, isolirt gegen die grossen Massen des Volkes, gegen die übermässige Zahl der Proletarier. Die Armee wird zerstreut und zersprengt, immobilisirt an allen Ecken und Enden, und erweist sich bald als unfähig, die in dieser Form durchgeführte Empörung des Proletariats zu unterdrücken.
Nicht zuletzt sind hier auch psychologische Momente zu berücksichtigen.
Die elementarsten Erfahrungen der Massenpsychologie lehren es, dass sich der Einzelne in grossen Massen viel eher zu Thaten hinreissen lässt, sich von Wenigen, besonders Solchen, die eine Autorität über ihn ausüben, eine Prestige über ihn haben, leicht solche Handlungen suggeriren lässt, die ihm sonst widerstreben würden. Darauf wird auch am Meisten beim Militarismus gerechnet. Der Soldat verliert inmitten grosser Truppenkörper, aufgeregt von der Militärmusik, in Furcht gehalten von den Offizieren, die er für ein höheres Wesen hält, seine klaren Sinne, sein Selbstbestimmungsrecht und gehorcht wie hypnotisirt oft den unmenschlichsten und barbarischsten Befehlen. Er ist im Stande, auf Vater und Mutter zu schiessen.
Jeder direkte Kontakt mit dem Volke ist den Soldaten unmöglich, so lange sie sich in der Disziplin, unter der ständigen Furcht vor dem Kriegsgericht und dem Revolver der Offiziere befinden, und besonders wenn sie in grossen Truppenmassen gegen das Volk zu marschiren kommandirt werden.
Aber so, einsam, vor alle Fabriken zerstreut, in kleinen Gruppen kommt der Soldat mit den Arbeitern leicht in Berührung, die ihm zureden, Manifeste zustecken können, ihm berichten, dass in seinem Heimathsort, vielleicht zur selben Stunde, den Soldaten anderer Regimenter befohlen wird, auf seine Eltern und seine Geschwister zu schiessen.
In kleinen Gruppen hat der Soldat Zeit,zu überlegen, er ist entrissen dem brutalen Mordsbegeisterunerausch grosser,bis an die Zähne bewaffneter Truppenmassen ; er ist nicht mehr in der ansteckenden Berührung des Milieus der Schule des Mordes ; er hört nicht mehr Dreinhau-Musik und Schlachten- und Todtschlaglieder der in der Kaserne brutal gemachten Soldaten, sondern rings um sich die Lieder der Empörung gegen die Unterdrücker und Ausbeuter, die ihn erinnern werden, dass er auf die Seite des Volkes gehört, dem er ja nur gewaltsam entrissen wurde, und nicht auf sie Seite seiner Tyrannen.
Da der Generalstreik der klarste und unverschleierteste Ausdruck der Empörung des Prcletariats gegen seine Ausbeuter ist, erkennt der Proletarier im Waffenrock jetzt rasch, dass er nicht mehr für "Gott, Kaiser und Vaterland," diese hehren Ideale" sondern einfach für die Fortsetzung der Ausbeutung seiner Brüder, seiner eigenen Ausbeutung, sobald er den Waffenrock wieder gegen die Arbeitsblouse vertauscht haben wird, kämpfen soll.
So zum Schutze einer Fabrik Wache stehend, erkennt er bald, dass er als sein eigener Wächterhund verwendet wird, und Manchen bewegt endlich diese Erkenntniss, zum Volke zurückzukehren. Die anderen zerstreuten und zersprengten kleinen Gruppen von Soldaten würden in dem Falle leicht zu entwaffnen sein, so dass sie auf die Volksmassen nicht schiessen könnten. Viele Soldaten, denen der Muth fehlte, selbst zum Volke überzugehen, würden sich mit innerer Freude und mit nur scheinbarem Widerstande entwaffnen lassen.
Was besonders in den romanischen Ländern die Stellung des Proletariats während eines Generalstreiks der Armee gegenüber ganz besonders erleichtern wird, ist die energische antimilitärische Propaganda, die die dortigen Gewerkschaften unter den Rekruten, Einberufenen und Reservisten betreiben, wie auch die revolutionäre Propaganda im Heere selbst.
Zu diesem Resultat wird aber allerdings eine vorhergehende unermüthliche antimilitarische Propaganda beitragen müssen, wie sie von den französischen Gewerkschaften betrieben wird. Die Art ihrer antimilitärischen Propaganda haben diese in ihrem Rapport "Antimilitarismus und Generalstreik" an die Gewerkschafts-Konferenz in Dublin in grossen Umrissen dargelegt. Dieser Bericht ist auch in deutscher Sprache (z. B. in der "Freiheit") erschienen. Ganz besonders muss darauf hingewiesen werden, denn zurUmwälzung der bestellenden Gesellschaftsordnung ist der Antimilitarismus und dessen Propaganda die unerlässliche Ergänzung des Generalstreiks.
Das ist die ungeheure Ueberlegenheit der sozialen Revolution, die als friedlicher Generalstreik anfing, dass sie die Revolution auf das ganze Land ausdehnt. Wie die Zerstreuung der Revolution die Bedingung ihres Sieges ist, so ist dieselbe Zerstreuung der Militärmacht die Ursache ihres Unterganges. In kurzer Zeit wird sie disziplinlos gemacht entwaffnet und vollständig gebrochen. Mit dieser fällt auch das ganze bestehende, auf Bajonetten beruhende System.
Ist vielleicht ein Eingreifen "fremder Mächte" zu befürchten ? Unnöthige Sorge. Es ist durchaus keine Utopie, darauf zu rechnen, dass der Generalstreik international, zugleich in allen Ländern stattfinden wird. Die Geschichte zeigt es ja, dass 1848 beinahe alle Länder Europas von der revolutionären Bewegung erschüttert wurden. Dabei waren alle diese Revolutionen durchaus national, oft feindlich gesinnt gegen die Revolutionäre anderer Länder und in fast gar keinen gegenseitigen Beziehungen. Waren nicht auch im Mittelalter zur Zeit der Bauernkriege fast gleichzeitig die Erhebungen der Bauern in Deutschland, die Jacquerien in Frankreich, in Kroatien, die Erhebung der " Comuneros de Castilla " in Spanien? Und doch hatten die Bauern des einen Landes keine Ahnung davon, dass in anderen so weit entfernten Ländern deren Schicksalsgenossen um verwandte Ideale kämpfen.
Jetzt dagegen ist das Proletariat aller Länder schon fängst international gesinnt und organisirt, es reicht sich die Bruderhand über die Grenzen der Staaten hinweg, unterstützt sich gegenseitig in seinem 'Kampfe gegen den Kapitalismus, berathschlagt regelmässig seine Kampfmethoden auf häufigen regelmässigen Gewerkschafts- und Parteikongressen. Ist da unter solchen Umständen nicht um so eher darauf zu rechnen, dass die Revolution des Proletariats, die soziale Revolution, d. h. der Generalstreik international sein wird, oder dass zum Mindesten in den bedeutendsten Ländern zu gleicher Zeit revolutionäre Erschütterungen stattfinden werden. ?
Die gefürchteten "fremden Machte" werden also genügend bei sich selbst zu Hause zu thun haben und werden wohl kaum daran denken können, anderen Mächten zu Hülfe zu kommen.
4. Welchen Gefahren läuft das Proletariat?
Die professionellen Abwiegler und Einschläferer, die an der Spitze der Arbeiterbewegung stehen, verstanden es vortrefflich — wenigstens in Deutschland und Oesterreich —, durch das fortwährende Schreckgespenst des Blutbades, das unter dem Proletariat angerichtet würde, seinen revolutionären Geist zu ersticken. Durch dasselbe Gespenst versucht man es auch jetzt wieder, vor der Idee des Generalstreiks abzuschrecken. Obwohl nun die Gefahr, die das Proletariat während des Generalstreiks läuft, im Vergleich zu den früheren Revolutionen nur einen verschwindenden Bruchtheil darstellt, gebietet es dennoch die Aufrichtigkeit, sich nicht darüber zu täuschen, dass immerhin in den verschiedenen kleinen, aber dennoch leider unvermeidlichen von der Militärgewalt herbeigeführten Zusammenstössen auch auf Seiten des Proletariats Opfer unvermeidlich sind. Hat das Proletariat deshalb schon ein für allemal die Flinte ins Korn zu werfen und nur noch von der " Entwickelung der ökonomischen Verhältnisse " zu erwarten, bis im Jahre 4000 nach Millerand's oder Marxi Geburt die kapitalistische Gesellschaftsordnung" von selbst" zusammenstürzt und dem Sozialismus Platz macht?
Nein ! Das Proletariat wird alle diese feigen Spekulationen zu Schanden machen und wieder seine Grösse beweisen, indem es zeigen wird, dm es seinen Muth noch nicht verloren hat, für die Freiheit Alles zu wagen. Der Tod oder die Verstümmelung im Kampfe, in der Revolution womit der Proletarier immer geschreckt wird, bedrohen sie ihn nicht täglich, stündlich vielmehr in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung? Statistiken weisen für Frankreich allein die furchtbare Zahl von durchschnittlich jährlich 174,000 Getödteten durch Berufsunfälle oder Gestorbenen an Berufskrankheiten. Nun bedenke man aber noch die ungeheure Zahl der täglichen Verletzungen und Verstümmelungen in den Werkstätten und Fabriken, die von Niemandem gezählt werden.
So mordet der Kapitalismus, nur um keine kostspieligen Arbeitsschutzmassregeln oder zeitraubenden Vorsichtsregeln anzuwenden, d. h. nur um Nichts an seiner Profitrate einzubüssen, jährlich mehr Proletarier, als wohl je in allen Revolutionen gefallen sind.
Der Tod bedroht den Proletatier jeden Tag, jeder Stunde während der Arbeit, wo er jeden Augenblick Gefahr läuft, vom Gerüst zu stürzen, in der Grube verschüttet, in der chemischen Fabrik vergiftet, vom electrischen Strom getödtet, von einer Kesselexplosion in Stücke gerissen zu werden.
Ist er ohne Arbeit, bedroht ihn oft der Tod in seiner schauerlichen Form — der Hungertod oder der Selbstmord zu dem ihn die Verzweiflung treibt.
Andererteits müssen aber auch die meisten Proletarier stündlich darauf gefasst sein, auf den blossen Ruf der Machthaber sofort als Musssoklat in den Krieg zu ziehen, um Unschuldige zu tödten,um für die Interessen ihrer Feinde, ihrer Unterdrücker und Ausbeuter zu kämpfen — und tausendmal eher dem sicheren Tode entgegenzugehen, als in irgend einer Revolution.
In einer grösseren Schlacht sind oft vielmehr Menschen gefallen, als in allen Revolutionen zusammen.
In der Schlacht bei Leipzig blieben auf dem Schlachtfelde 143,000 Mann, bei Waterloo fielen 46,000 Mann, bei Königgrätz 40,000 Mann. Durch die Napoleonischen Kriege verloren 3 Millionen Menschen ihr Leben. Man denke auch an die unerhörten, grauenhaften Menschenopfer des russisch – japanesischen Krieges ! —
Der geringste Fortschritt, die geringste wissenschaftliche Errungenschaft kostet Tausende von Menschenleben. Wie viele Chemiker starben, vergiftet von den Gasen der von ihnen erfundenen neuen chemischen Verbindungen oder zerschmettert durch deren Explosion! Wie viele Aerzte starben an den Bazillen, die sie zum Heile der Menschheit bekämpften — Wie viele Märtyrer kostete jede neue Wahrheit! Wie viele der grössten Männer der Menschheit, Apostel der Wahrheit, fanden ihren Tod auf dem Scheiterhaufen, am Galgen, auf dem Rade, unter der Guillotine, in unterirdischen Kerkern, oder in den Eisfeldern Sibiriens ? ! —
Welch' ein Meer von Blut ! Welch' winziger Blutstropfen ist im Vergleich damit alles Blut, das in den Revolutionen geflossen ist ? !
Merkwürdig ! —Von dem Muth, in den Krieg zu ziehen, wird das Volk nicht abgewiegelt, wohl aber von dem Muthe, für seine eigene Freiheit und Zukunft zu kämpfen.
In der Revolution für nationale Unabhängigkeit oder für politische Rechte wusste das Volk mit Begeisterung sein Leben einzusetzen und scheute nicht den Tod.
Ist die soziale Revolution, die endlich das ganze Menschengeschlecht von allen Fesseln und jeder Noth für immer befreien soll, nicht ein unendlich höheres Ideal, nicht unendlich eher würdig, dass man für sie seine ganze Persönlichkeit einsetzt und sei es auch sein Leben ?
Dabei bietet die Revolution, als Generalstreik durchgeführt, unvergleichlich weniger Gefahr für das Proletariat, verhindert das rasche Zusammenziehen grosser Truppenmassen, macht alle Zusammenstösse mit den Truppenkörpern unnöthig, ja unmöglich, und bietet so auch die meisten Aussichten auf Erfolg, auf einen mit den geringsten Opfern erkauften bestimmten und endgültigen Sieg.
5. Oekonomische Momente. Lohnkämpfe und Generalstreik.
Jede historische Epoche hat ihre besonderen Kampfsmittel, ihre besonderen ökonomischen Bedingungen und technischen Formen der Revolution. Das Ritterthum kämpfte gepanzert mit Schwert und Spies : die Bürger der mittelalterlichen Communen kämpften organisirt in ihren Verschwörungen ; die Bauern in den Bauernkriegen, deren Banner der Bundschuh war, hatten ihre besondere Kampfestaktik ; eine andere Form der Revolution war die , jacquerie" der revolutionären Bauern zur Zeit der grossen französischen Revolution, und die Kampfesform der Epoche des revolutionären Kleinbürgerthums war die Barikadenschlacht.
Das Proletariat kann nicht mehr die Kampfmittel vergangener Epochen anwenden, sondern es schafft sich selbst als nothwendiges Resultat der ökonomischen Entwickelung und des Ausbaues seiner ökonomischen Organisation die besonderen Bedingungen und neuen Formen seines Kampfes.
Gegenwärtig weissen alle Momente auf den Generalstreik hin, und so sieht sich das Proletariat in allen Ländern, trotz der heftigsten Bekämpfung seitens seiner Führer, nothwendig dazu gedrängt, überall diese Waffe zu ergreifen, sobald es sich nur um einen wichtigeren Kampf, um eine ernstere Entscheidung handelt.
Bei dem fortwährend wachsenden Solidaritätsgefühl des Proletariats, bei den immer zahlreicheren und mächtigeren Organisationen der Arbeiter, und ganz besonders als logisches Resultat der immer zahlreicheren und massenhafteren Streiks musste die Idee des Generalstreiks geradezu unvermeidlich von selbst entstehen.
Die Streiks hatten, um siegreich zu sein, die fortwährende Tendenz, immer grösser zu werden, d. h. immer grössere Massen desselben Faches in den Streik zu ziehen. Immer häufiger wird von den Gewerkschaften der Generalstreik einer ganzen Branche in Erwägung gezogen.
Immer häufiger begegnen wir aber auch der Erscheinung, dass während grösserer Streiks Arbeiter anderer Industrien die Arbeit niederlegen, nur um die Forderungen der streikenden Genossen zu unterstützen. Es sind dies die „Solidaritätsstreiks. "
Zum Theil weissen ja auch die Unternehmer selbst das Proletariat auf diesen Weg durch die von den heutigen Kapitalisten immer häufiger durchgeführten Generalaussperrungen.
Um die Arbeiter einer Branche oder einer Fabrik mürbe zu machen, scheuen die Unternehmer aus Solidarität für ihre bedrohten Klassengenossen nicht davor zurück, Tausende von unbetheiligten Arbeitern aufs Pflaster zu werfen, nur damit diese die streikenden Arbeiter zwingen, die Arbeit wiederaufzunehmen, oder um deren Organisationen zu zerstören.
Immer mehr begegnet man der Erscheinung, dass die in ihren Unternehinerverbänden organisirteu Kapitalisten sich gegenseitig unterstützen, um den Forderungen der Arbeiter zu widerstehen.
Versuchen nun als Antwort die Gewerkschaften durch gegenseitige Verständigung und Unterstützlink den Streikenden zu helfen, so haben wir in diesem Falle nicht mehr den Kampf einer bestimmten Arbeiterkategorie gegen eine bestimmte Anzahl von Kapitalisten, sondern den Kampf des gesammten Proletariats gegen die gesammte Kapitalistenklasse. Und so nähert man sich, getrieben durch das wachsende Solidaritätsgefühl des Proletariats, dem grössten und stärksten Ausdrucke des Streiks, nämlich jenem Streik, in. welchem die ganze Arbeiterklasse endlich der ganzen Kapitalistenklasse die Arbeit verweigert, das ist : dem sozialen Generalstreik.
So entstand innerhalb der Gewerkschaften aus den täglichen Kämpfen, aus den Erfahrungen des Streiks selbst die ganze Theorie vom Generalstreik, dieser neuen modernen Kampfesmethode, die am besten geeignet ist, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu beseitigen.
Durch zwei grundlegende Momente unterscheidet sich aber der als soziale Reform aufgefasste Generalstreik — sagen wir kurz : der soziale Generalstreik — ausserordentlich zu seinen Gunsten von jedem anderen Streik, sei es auch dem Generalstreik einer Branche, der doch nichts weiter ist als ein Lohnkampf.
1. Während in jedem Lohnstreik die Streikenden nothwendig Geld brauchen, um im Streik ausharren zu können, ist im sozialen Generalstreik jedes Geld unnöthig und überflüssig, da doch Nichts produzirt wird und alle Läden gesperrt sind.
2. Während jeder Lohnkampf-Streik, sei es auch der Generalstreik einer ganzen Branche, nur während seiner „günstigen Geschäftskonjunktur" auf Erfolg rechnen kann, hat der soziale Generalstreik die günstigsten Aussichten zur Zeit einer „schlechten Konjunktur," d. h. Einer ökonomischen Krise, die ja bekanntlich immer nur das Resultat der relativen Ueberproduktion ist, d. h. der die Kaufkraft der Volksmassen übersteigenden Aufstapelung von Produkten. Nun lehrte schon Marx, dass jede Revolution immer nur nach einer ökonomischen Krise folgte, die das Elend der Massen steigerte und deren revolutionäre Stimmung verursachte.
Während des sozialen Generalstreiks werden die Proletarier die nationalökonomische Erklärung wohl verstehen und wissen, was sie zu thun haben, wenn man ihnen sagen wird : „Wisst Ihr, weshalb Ihr noch mehr hungert als sonst ? Weil die Getreidemagazine von Roggen und Weizen mehr strotzen als sonst. Wisst Ihr, weshalb Ihr in Lumpen geht und Ihr und Eure Frauen und Kinder frierend und obdachlos herumirren müssen? Weil in den Waarenhäusern zu viele Kleider herumliegen, weil die Bauspekulanten zu viele Häuser bauten."
So ist die Krise der lieberproduktion die beste Garantie des Gelingens des sozialen Generalstreiks, weil die vorhandenen Produkte es gestatten, alle Bedürfnisse zu befriedigen, trotzdem während des Ringens und des Uebergangsstadiums vor der vollständigen Neuorganisation Nichts produzirt wird, nämlich durch allgemeines Zulangen seitens der Arbeiter.
Ist es nicht die allernatürlichste und die allergründlichste Form der Revolte der Sklaven, wenn sie am Tage, wo sie ihr Joch endgültig abwerfen wollen, ihren Herren laut und vernehmlich erklären : „Wir wollen Euch nicht mehr gehorchen, wir wollen für Euch nicht mehr die Waffen tragen, wir wollen nicht nicht für Euch arbeiten. Aber wir achten auch nicht mehr Eure Besitzrechte und ergreifen endlich selbst Besitz von Allem, was ihr uns geraubt habt, von allen diesen Reichthümern und Schätzen, die wir doch geschaffen haben, aber niemals geniessen durften"
Dieser passive Gehorsam, die Resignation des Proletariats sind es, worauf die ganze Macht der herrschenden Klassen beruht. Ebenso wie die politische Gewalt der herrschenden Klassen nur auf den Waffen beruht, die wir selber schmieden, die wir selber tragen, um unsere Ausbeuter gegen uns selbst zu beschützen, so beruht ja auch ihre ganze Pracht und ihr Reichthum auf unserer Arbeit. Ist unser Gehorsam zu Ende, ist deren Macht gebrochen. Hören wir auf, für sie zu arbeiten, so können sie trotz all' ihrem Gelde verhungern, und sie müssen unterliegen.
Was anders kann Percy Bysse Shelley in seinem herrlichen Gedicht „An Englands Männer" gedacht haben, als er schrieb :
Männer Englands ! was bestellt
Euren Zwingherrn Ihr das Feld ?
Warum webet Eure Hand
Der Tyrannen Prachtgewand ?
Warum gebt der Drohnenbrut,
Die von Eurem Schweiss und Blut
Frech sich nährt, Ihr immer noch
Speis' und Trank und frohnt im Joch ?
Bienen Englands! warum schafft
Ihr zur eig'nen Schmach und Haft
Waffen, Ketten immerdar
Für die feige Drohnenschaar?
Sat Korn — doch für den Zwingherrn nicht
Schürft Gold — doch nicht dem faulen Wicht !
Webt Kleider nicht dem Schelm zu Nutz !
Schweisst Waffen — selber Euch zum Schutz !
6. Uebersicht.
Die charakteristischen Hauptmomente der Idee des Generalstreiks lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen:
1. Der Generalstreik ist die unter den gegenwärtigen Umständen einzig mögliche, von den ökonomisch-technischen Verhältnissen des Kapitalismus selbst geschaffen und bedingte Form der Revolution.
2. Der Generalstreik kann die Gesellschaft am empfindlichsten erschüttern, weil er sie bei der Vorbedingung des Lebens, ihrer Hauptstütze angreift : der Produktion und dem Konsum.
3. Der Generalstreik ist der klarste, direkteste und unverschleierte Ausdruck der Empörung des Proletariats und nur das Resultat der Entwickelung seines täglichen Kampfmittels, des Streiks.
4. Dank der Arbeitstheilung genügt es, dass nur einige Räder an dem komplizirten Mechanismus der modernen Produktion stillstehen, um ganze Serien und Reihen von abhängigen Maschinen, Fabriken, ja ganze Industrien ausser Möglichkeit zu bringen, den Betrieb fortzusetzen.
5. Der Generalstreik braucht keine Geldunterstützungen und kann während ungünstiger Konjunktur noch besser gelingen, als bei günstiger.
6. Der Generalstreik kann auf die grössten Massen und den grössten Erfolg rechnen, weil er ganz gesetzlich anfängt, keinen Heroismus erfordert, Niemanden der Gefahr aussetzt und selbst durch die Aengstlichkeit Derjenigen, die zu Hause bleiben, gefördert wird.
7. Durch die Unterbrechung aller Transport- und Kommunikationsmittel ist es nicht mehr möglich, Produkte und Nahrungsmittel von den „ruhig" gebliebenen Gegenden herbeizuschaffen. Die politischen und militärischen Behörden verlieren die Möglichkeit rascher Verständigung und Truppenentsendung.
8. Durch die absolute Nothwendigkeit, die grossen Städte und Industriezentren zu bewachen, das Privateigenthum der Ausbeuter zu beschützen, die zahllosen Schienenlinien zu hüten, nicht nur die „Ordnung aufrecht zu erhalten," sondern auch für die Verpflegung der eigenen Armee zu sorgen, und durch den Versuch, die allernothwendigste Produktion von Soldaten fortsetzen zu lassen, wird bald die Zerstreuung und Desorganisation der bewaffneten Macht über das ganze Land bewirkt, und die Folge davon ist deren .vollständige Machtlosigkeit und der Sieg des Proletariats.
II. Nach dem Siege des Generalstreiks. Grundzüge der gesellschaftlichen Neuorganisation.
1. Die Industrie.
Bis hierher wurde die Idee:des Generalstreiks nur als Kampfsmethode erwogen, wurde sie nur von ihrem negativen Gesichtspunkt, ihrer die kapitalistische Gesellschaftsordnung auflösenden, zerstörenden Seite untersucht.
Doch wenn die Idee des Generalstreiks darin schon vollständig abgeschlossen wäre, wenn sie weiter nichts wäre, als ein blosses Kampfmittel, würde sie gewiss nicht den Namen einer Weltanschauung verdienen, würden gewiss nicht Zehntausende von Proletariern in Frankreich und Spanien sich von nun an kurzweg „greve-geneeralistes" in Frankreich und „huelga generalistas" in Spanien, das heisst „Generalstreikler" nennen.
Wieder stehen wir vor einem Beweis ihr die Thatsache, dass nicht die Theorie die Praxis, sondern umgekehrt die Praxis die Theorie gebietet, oder,um präziser zu sein und sich hier besonders auf den behandelnden Gegenstand zu beziehen, dass nicht das Ideal der Zukunft, die erstrebte Gesellschaftsform den Kampf veranlasst, sondern dass die Bestrebungen der Zukunft aus dem Kampf geboren werden, dass das Ideal der Neuorganisation der Gesellschaft sich während des Kampfes ans dem Kampf selbst herauskrystallisirt.
Wir sehen dies klar an der Theorie des Anarchismus, die aus dem Kampf gegen die zentralistische Diktatur des Generalrathes der „Internationale" entstand. „Die Allianz der sozialistischen Demokratie " so nannte sich damals die bakunistische Opposition — stellte innerhalb der „Internationale" der zentralistischen Diktatur der Marxisten die autonomen Föderationen und freien Organisationen der Föderalisten und Kommunisten entgegen. So entwickelten sich aus der Taktik und der inneren Organisation beider Richtungen auch deren Theorien und deren Vorstellungen über die Organisation der Gesellschaft in der Zukunft. Die Zentralisten der „Internationale " sind heute die Sozialdemokraten, die Föderalisten wurden die Anarchisten.
Wie aus der Praxis des Streiks die Theorie und auch die Praxis des Generalstreiks resultirte, so bildet sich auch aus der Praxis, der Propaganda und Vorbereitung der Idee des Generalstreiks als Kampfmittel, wieder eine ganze Weltanschauung der Neuorganisation ud des Neuaufbaues für die Tage nach dem siegreichen Generalstreik.
Da die Streiks hauptsächlich von gewerkschaftlich organisirten Arbeitern ausgingen, ist es auch ganz natürlich, dass in den Gewerkschaften am meisten die Idee des Generalstreiks propagirt wurde. So ist es nun weiter eine logische Folge, dass nach dem siegreichen Generalstreik die Gewerkschaften — diese schon vorhandenen Organisationen — es sein sollen, welche die Produktion sowie den ganzen Neubau der Gesellschaft zu übernehmen haben.
Der Grundgedanke war schon von Anfang an der, dass sich das Volk sofort nach dem Siege in seine Gewerkschaftshäuser, Arbeitsbörsen, in seine ökonomischen Organisationen zu begeben habe, um durch diese Besitz von den Produktionsmitteln zu ergreifen.
Jede Gewerkschaft übernimmt die Produktionsmittel ihres Faches und ihres Wirkungsgebietes, und so kommt allmählich die Produktion wieder in Gang.
Verschiedene Gebiete der Produktion würden natürlich ganz aufgegeben werden, wie z. B. die Waffenproduktion, die Münze, Erzeugung von Kirchengeräthen, Messgewändern, Skapuliren usw., andere wenigstens auf längere Zeit, wie z. B. Von Luxusartikeln, Spielsachen u. dergl.
Die vorhandenen Waffenvorräthe würden umgeschmolzen oder zu nützlichen Maschinen oder Werkzeugen umgewandelt werden. Sollten aber die Proletarier der Nachbarländer sich noch nicht befreit haben, so könnten diese Waffenvorräthe noch viel besser verwendet werden, wenn sie dem kämpfenden Proletariat der noch beherrschten Völker zur Verfügung gestellt würden.
Alle die freigewordenen Arbeiter der aufgehobenen Industrien, die Millionen ehemals Arbeitsloser, die Tausende von ehemaligen Angestellten der Bankhäuser, der Waarenvertheuerungs-Unternehmungen und Schwindelbureaus, alle Börseujobber, Handlungsreisenden, die nun beschäftigungslos gewordenen Pfaffen, Henker, Richter, Polizisten, Offiziere, Lakaien und Minister, die Millionen freigelassener Soldaten werden jahrelang alle Hände voll zu thun haben, um die elenden Baracken, die wahren Pest- und Fieberhöhlen, in denen das Volk gezwungen war, zu wohnen, niederzureissen und an deren Stelle für Alle schöne, bequeme, gesunde Häuser errichten und sie mit allem Komfort der Neuzeit auszustatten. Jahrelang wird man zu arbeiten haben, damit das Volk endlich seine elenden Lumpen, in die es gehüllt ist, vom Leibe reissen und sich nun in schöne, bequeme, den Jahreszeiten entsprechende Gewänder kleiden kann.
Jahrelang wird man auch noch zu thun haben, alle die finsteren Erinnerungen an die Tyrannei zu beseitigen, die Zuchthäuser, Festungen und noch bestehenden Bastillen zu zerstören, alle die römischen Galgen — denn nichts anderes ist ja das Kreuz — von den vielen Palästen und Kirchen herunterzureissen und die Kirchen, je nach ihrem künstlerischen Werth in Pferdeställe, Magazine, Versammlungsorte oder Museen zu verwandeln. Alle die Säulen, die an die Siege in grossen Massenmorde erinnern, alle Monumente zur Verherrlichung der mittelalterlichen Raubmörder, welche die Geschichte höflich nur „Raubritter" nennt, alle die Monumente, die den „rei bombas" und Kartätschenprinzen" dutzendweise vom „dankbaren Volk" (das gar nicht befragt wurde) errichtet wurden, werden in Stücke zerschlagen werden müssen, um an deren Stelle Monumente und Denkmäler der wirklichen Heroen der Menschheit errichten zu können, den Kämpfern und den leider so entsetzlich zahlreichen Märtyrern der Freiheit, den Dichtern und Denkern, welche die Menschheit aus dem Dunkel und der Unterdrückung zum Licht und zur Freiheit emporgeführt.
Nach dieser Uebergangszeit kann und wird wieder das Kunsthandwerk aufgenommen werden, das Dank der kapitalistischen Industrie verschwunden ist, die an dessen Stelle die viel tiefer stehende, wenn auch äusserlich glänzende „Luxusindustrie" setzte.
An den architektonischen Schöpfungen des Mittelalters, der Zeit der freien Handwerksverbände, bewundern wir den Reichthum und die Mannigfaltigkeit der Skulptur, wie sie noch in den alten Münstern, Höfen der Paläste, den alten Universitäten usw. erhalten sind. Jede Säule hat einen anders ausgeführten Kopf,jeder bildhauerisch ausgeschmückte Theil eine andere Zeichnung. Man sieht, dass hier der Arbeiter frei nach seiner Lust und Kunst schaffen konnte, nicht gehetzt von Antreibern und der kapitalistischen Ausbeutung, nicht zum Bruchtheil eines Automaten reduzirt durch die Arbeitstheilung.
Nach dieser Uebergangszeit wird die Arbeit wieder zur Kunst werden, weil sie frei ohne Zwang und Autreiberei ausgeübt werden wird, und als Kunst wird sie, wie jede Kunst, dem Schaffenden nur Freude und Genuss bereiten, und so wird die blosse Freude am Schaffen aller Arbeiter-Künstler deren mächtigster Antrieb sein und die sicherste Garantie einer für alle Bedürfnisse üppig ausreichenden Produktion.
Da auch die Triebe der menschlichen Bethätigung, die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen so verschieden sind, so werden auch die manigfaltigsten Bedürfnisse der Menschheit reichlich befriedigt werden können.
Doch vor der Erreichung dieses Ideals des völlig freien, keinerlei Regelung bedürftigen Communismus wird wohl eine Zeit des Ueberganges nothwendig sein, deren voraussichtliche Form und Organisation sich schon jetzt aus der Form der gewerkschaftlich organisirten Arbeiter ganz von selbst ergibt.
Am klarsten sieht man dies in Frankreich, und am besten bewies es das Organ der französischen Syndicate (Gewerkschaften) "La Voix du Peuple," das sich hauptsächlich die Propaganda des Generalstreiks zur Aufgabe stellt.
Die Organisation ist in Frankreich — in grossen Zügen dargestellt — folgende:
Alle Mitglieder eines Berufes in einer Ortschaft, einer Stadt vereinigen sich zur Orts-Berufs-Gewerkschaft ; nehmen wir als Beispiel den Ortsverein der Möbeltischler in der Stadt X. Alle anderen Berufe in derselben Stadt haben ebenfalls ihre Gewerkschaften. Alle diese Ortsgewerkschaften vereinigen sich in der "Bourse du Travail," der "Arbeitsbörse" derselben Stadt. Hier in der Arbeitsbörse halten sie ihre Versammlungen ab, ihre Unterrichtskurse, ihre Vergnügungen, berathen sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten. Die gemeinsäme Organisation aller Gewerkschaften in jeder Stadt ist also die "Bourse du Travail." Sämmtliche Arbeitsbörsen aller Städte des ganzen Landes sind aber nun wieder unter einander zur "Fédération des Bourses du Travail," dem Verband der Arbeitsbörsen" vereinigt.
Nun ist aber noch ausserdem jede Ortsgewerkschaft Mitglied des Nationalverbandes sämmtlicher Gewerkschaften desselben Faches, also als Beispiel : Der Verband sämmtlicher Möbeltischler-Gewerkschaften Frankreichs. Sämmtliche Berufsverbände sind nun wieder in den Industrieverbänden lokal und national organisirt, so also die Möbel-Tischler-Gewerkschaft im Ortsverband der Holzindustrie; der Ortsverband der Holzindustrie im Nationalverband der Holzindustrie für ganz Frankreich.
Sämmtliche nationalen Industrie- und Berufsverbände Frankreichs aller Berufe sind nun wieder unter einander zu einer grossen gemeinsamen Organisation : der "Confédération générale du Travail" und der "Fédération des Bourses du Travail" verbunden, deren Glieder, schon vorher unter einander vereinigt, sich netzartig kreuzen, vereinigen und in die Hände arbeiten.
Selbstverständlich sind alle Gewerkschaften und Verbande autonom, beigeordnet und nicht untergeordnet; es gibt keine "Executivkommittees," keinen"Generalrath," sondern nur ein Kommittee zur Verständigung und Korrespondenz.
In den Monaten Juni und October 1902 veranlasste nun "La Voix du Peuple" in ihren Spalten eine öffentliche Diskussion und Umfrage (Enquette) über die Rolle dieser vorhandenen Organisation in der Zukunft — am Tage nach dem Generalstreik — und über die Organisations- und Funktionsform, die sie der neu aufzubauenden Gesellschaft zu geben beabsichtigen. Eine ungeheure Anzahl Antworten, welche die Gewerkschaften und Organisationen einsandten, wurden veröffentlicht und ergaben ein in ihrer Uebereinstimmung höchst interessantes Resultat Ausser den allgemeinen Punkten behandelte jede Gewerkschaft in ihrer Antwort hauptsächlich die Stellung, die sie selbst in der Zukunft — während und nach dem siegreichen Generalstreik — einzunehmen beabsichtigt.
So antwortete z.B. unter Anderen im Namen seiner Gewerkschaft der Sekretär des Verbandes der Luxusindustrien, dass deren Mitglieder, von der Nothwendigkeit überzeugt, dass sie ihr Handwerk nach dem Generalstreik wohl für lange Zeit aufzugeben haben, fest entschlossen sind, sich sofort in solchen Berufen zu vertheilen, wo es an Arbeitern mangeln wird, dadurch also als Gewerkschaft zu existiren aufhören und als solche keinerlei Antheil an der Neuorganisation nehmen können.
Einstimmig schrieben aber alle anderen Gewerkschaften, dass sie, ihrer Mission sich wohl bewusst, sofort nach dem Siege von den Produktionsmitteln ihres Berufes Besitz ergreifen und die Produktion fortsetzen werden.
In allen übrigen Fragen genügt es, nur das Resultat, die vorherrschende Meinung der Antworten aller Gewerkschaften mitzutheilen.
Die Industrieverbände werden dazu bestimmt sein, das Rohmaterial unter die verschiedenen Produktionsgewerkschaften der einzelnen Berufe, die diesem Industrieverband angehören, zu vertheilen.
Die Arheitsbörsen hätten sich mit dem intellektuellen und moralischen Gebiete des Lebens zu befassen, der Erziehung dem Unterricht, dem Vergnügen und besonders auch mit der Statistik der Bedürfnisse ihrer Region, ihrer Ortschaft.
Die Summe der Statistiken der Bedürfnisse, aufgestellt von den Arbeitsbörsen der einzelnen Regionen, ermöglicht es, dem "Allgemeinen Verband der Arbeit" und dem „Verband der Arbeiterbörsen' des ganzen Landes leicht diese Produkte und Rohmaterialien, die in einer Region im Ueberfluss vorhanden sind, in die Region zu senden, in denen sie benöthigt werden. Aus den öffentlichen Magazinen, in denen die Produkte und Vorräthe aufgestapelt werden, können dann Alle nach Lust und Bedürfniss entnehmen, da sich ja die Produktion nach den Bedürfnissen richtet. So ergibt sich die Organisation der Zukunft schon von selbst aus den vorhandenen Organisationen der Gegenwart.
Die überschüssige Kraft der Genossen, die, nicht mehr wie ehemals, durch allzulauge Arbeitszeit ausgebeutet, sich sofornach der Arbeit todmüde aufs Lager warfen, sondern nun frisch und munter andere Gebiete der Bethätigung suchen, bethätigt sich nach der Zeit der produktiven, schaffenden, manuellen Arbeit in zahllosen Vereinigungen, die ihren Neigungen und Trieben am besten entsprechen.
So verbringen die einen ihre freie Zeit in wissenschaftlichen oder Kunst-Vereinigungen, andere in sanitären Organisationen, diese in Vereinigungen zum Unterricht und zur Aufklärung, jene wieder in irgend einer anderen Gruppe, und so arbeitet sich das ganze ungeheure, verwickelte Netz von Gruppen und Associationen gegenseitig in die Hände, ohne einer Central- oder Exekutivstelle zu bedürfen.
2. Die Landwirthschaft.
Sobald in Folge des Sieges der Proletarier in den Städten, des Siegs des Generalstreiks, keine Macht mehr vorhanden ist, um das „Eigenthum" der Grundherren und Dorfwucherer, das sie dem Bauern geraubt und gestohlen haben, zu beschützen, so werden schon die reaktionären Bauern, die immer nur für die Pfaffen stimmten und niemals für die Staatsdekrete der Sozialdemokratie zu begeistern waren, sofort dabei sein, die grossen Herren zu expropriiren. Die noch nicht ganz getödtete Tradition des ursprünglichen Dorfgemeinde - Communismus wird es schon mit sich bringen, dass man die Wälder, Felder und Weiden, die das Volk von den Grossgrundbesitzern zurücknimmt, zu Gemeindeweiden, Gemeindewäldern und Gemeindefeldern machen wird, die dann schon den grössten Theil des Bodens in der Dorfgemeinde bilden werden.
Die geringe Produktivität des noch allgemein üblichen primitiven Systems des Ackerbaues wird bald durch die grossen Maschinen erhöht, welche die Produktionsgewerkschaften aufs Land schicken, und die von erfahrenen Arbeitern bedient und montirt werden. Die grossen Dampfpflüge und Ackerbaumaschinen, der ständige Kontast der Arbeiter mit den Bauern lassen nun auch bald die Grenzsteine des noch übrigen Bodens all der vielen kleinen Bauerngüter verschwinden.
So kommt dann auch das Land nothwendig und organisch zum Dorfgemeinde-Communisums, zu dieser Organisation, die wenigstens bis zum völligen Verschwinden des Unterschiedes von Stadt und Land, Bauer und Arbeiter — am besten entspricht den produzirenden Gewerkschaften der Arbeiter in den Städten und den Industriebezirken.
Schon Eingangs dieses Abschnittes wurde ausführlich geschildert, wie durch den Zusammenbruch des kapitalistischen Gesellschaft Millionen von Arbeitskräften frei würden, die sich von nun an nützlichen und schaffenden Bethätigungen zuwenden könnten. Während sich ein Theil, wie schon oben erwähnt wurde, dem Herrichten von bequemen Wohnungen für das ganze Volk widmen würde, würde sich der weitaus grösste Theil der Landwirthschaft und Verpflegung zuwenden.
Man wird daran gehen, an die systematische und gründliche Ausnützung der Ozeane und Meere zu denken, an die Ausbeutung der unermesslichen Schätze der zahllosen Lebewesen in deren Innerem und auf deren Grunde, an eine systematische Kultur der Meeresthierwelt.
Bis jetzt sind alle Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technik fast ausschliesslich nur der Industrie zu Gute gekommen, während in den meisten Ländern die Landwirthschaft jetzt noch meist nicht höher steht, wie sie vor 4,000 Jahren war.
Nun würden sich Tausende von Intelligenzen diesem Gebiete zuwenden, die Industrie mit der Landwirthschaft kombiniren und die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft und Chemie hier zur Anwendung bringen.
Da kein anderes Interesse mehr bestehen wird, extensive, d. h. also oberflächliche Raubwirthschaft zum Vortheil Weniger zu betreiben, wird man sich der intensiven, d. h. eindringlichen Bewirthschaftung der Felder zuwenden.
Keine Ländereien werden mehr brachliegen, um als Jagdgründe für grosse Herren zu dienen. Keine Länderstriche wird man unfruchtbar lassen ; man wird darangehen, durch Pulverisiren von Felsen künstliche Erde zu erzeugen. Durch grossartige Bewässerungsanlagen, durch mit Maschinen geschaffene Bodenmeliorationen und Drainage, durch sorgfältige Gartenkultur und Gemüsewirthschaft, allgemeine und ausgedehnte Verwendung von Wärmehäusern, Glasdächern, Kunstdünger usw. kann die Ertragsfähigkeit des Bodens verzehnfacht, ja sogar verhundertfacht werden, wodurch die Ernährungsfrage, an der grosse Revolutionen gescheitert sind,aus der Welt geschafft und ein Wohlstand für alle gesichert wird.
Die Feldarbeit, einige Stunden am Tage während einiger Wochen im Jahre betrieben, erleichtert durch die Maschinen, wird, weit entfernt, eine Plage zu sein, eine von allen Stadtbewohnern gesuchte freudige Erholung werden.
In Kropotkin's Werken „Landwirthschaft, Industrie und Handwerk" und „Wohlstand für Alle", auf die hier besonders verwiesen werden soll, wird diese Frage ausführlich behandelt und durch bestimmte Angaben und Berichte bewiesen, dass selbst in solchen Ländern, die gegenwärtig einen grossen Theil ihres Bedarfs an landwirthschaftlichen Produkten vom Ausland beziehen müssen, Raum genug vorhanden ist, um bei intensiver Kultur die Bedürfnisse des ganzen Volkes reichlich zu befriedigen. Hiermit fällt auch die Befürchtung, dass eventuell jenes Land, in dem das Proletariat siegte, durch den Abschnitt der Lebenszufuhr vom Ausland ausgehungert werden könnte.
Wir sahen nun, wie die Idee und Organisation des Generalstreiks nicht nur zerstörende, negirende Kraft besitzt, sondern in sich selbst schon die Elemente der Neuorganisation der Gesellschaft trägt und deshalb schon den Namen einer Weltanschauung verdient.
III.
1. Die Vorläufer.
Wie für jede grosse Idee, finden wir auch für die Idee des Generalstreiks Analogien in der Geschichte, unbewusste Vorausahnungen bei den grössten Denkern und Dichtern.
So sehen wir schon im alten Rom, 494 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung, die „Secessio in montem sacnim," den „Auszug auf den heiligen Berg" der Plebejer, als sie die Gleichstellung mit den Patriziern verlangten. Dieser erste Generalstreik in der Geschichte, der Streik der Plebejer, war in seinen Folgen mit vollem Siege gekrönt. Doch zurück zur Gegenwart. Als einen der ersten, zweifellos unbewussten Verkünder des Generalstreiks kann man auch Mirabeau betrachten, als er 1789 in der Nationalversammlung den Privilegierten entgegendonnerte : „Nehmt Euch in Acht ! Bringt nicht in Zorn dieses Volk, das Alles erzeugt und das, um Euch Entsetzen einzuflössen, nur die Arme zu kreuzen brauchte."
Fünfzig Jahre später schrieb Max Stirner in seinem Buche „Der Einzige und sein Eigenthum" die Worte : „Die Arbeiter haben die ungeheuerste Macht in den Händen, und wenn sie ihrer einmal recht inne würden und sie gebrauchten, so widerstände ihnen nichts ; sie dürften nur die Arbeit einstellen und das Gearbeitete als das Ihrige ansehen und geniessen. Dies ist der Sinn der hier und da auftauchenden Arbeiterunruhen."
Jene allgemein bekannte Strophe von Georg Herwegh :
Mann der Arbeit, aufgewacht
Und erkenne Deine Macht !
Alle Räder stehen still,
Wenn Dein starker Arm es will !
könnte sie nicht als Schlagwort dienen für die Idee des Generalstreiks?
Der grosse englische Dichter William Morris erzählt in seinem herrlichen Zukunftstraum einer glücklichen und freien Gesellschaft, seinem " News from Nowhere " („ Kunde von Nirgendheim"), wie die alte Gesellschaft durch die Erschütterungen, in die einige nach einander folgende revolationäre Generalstreiks sie versetzen, zusammenstürzte und der neu entstellenden, freien Gesellschaft Platz machen musste.
2. Die Geschichte der Idee.
Schon auf dem Congress der Internationale in Genf im Jahre 1866 wurde der Gedanke ausgesprochen, dass Theilstreiks niemals dauernde Erfolge herbeiführen können, wesshalb es nothwendig wäre, grosse internationale Streiks zu organisiren,welche die Internationale leiten würde. Hauptsächlich wurde jedoch diese Idee als Mittel erwogen, den Krieg zu verhindern — um im Falle des Ausbruches eines Krieges den Dienst zu verweigern —, also als Militärstreik und Einstellung der Produktion der für die Kriegführung nothwendigen Erzeugnisse. Diese Idee wurde von dem Franzosen Charles Longuet und dem Belgier Caesar de Paepe vorgelegt und thatsächlich auf dem darauf folgenden Kongresse der Internationale im Jahre 1868 angenommen. Später vertheidigte diese Auffassung des Generalstreiks, eigentlich die Kompletirung des allgemeinen Streiks durch den Militärstreik, der holländische Delegirte Domela Nieuwenhuis.
Auf allen „internationalen Arbeiter-Kongressen", die seit dem Kongress voll Paris 1889 abgehalten wurden, also in Brüssel 1891, Zürich 1893, London 18%, Paris 1900 und Amsterdam 1904, wurde die Idee des Generalstreiks als Waffe zur Emanzipation des Proletariats von verschiedenen revolutionären Parteien, früher von den Holländern durch Domela Nieuwenhuis und jedesmal von Franzosen, und zwar von den Allemanisten durch Allemane und Aristide Briend. einem Jauresisten, vorgeschlagen, aber immer von den deutschen Sozialdemokraten und deren Nachläufern — also den Ländern, in denen die Arbeiterbewegung noch ganz unbedeutend ist, verworfen.
Eine grössere Debatte war schon auf dem Kongress von Brüssel im Jahre 1891. Es handelte sich um eine Resolution gegen den Krieg. Nieuwenhuis legte dem Kongress, unterstützt von den Holländern, Engländern und Franzosen, eine Resolution vor, die zum Schlusse die Erklärung enthielt, dass „die Sozialisten aller Länder eine etwaige Kriegserklärung beantworten werden mit einem Aufruf an das Volk zu allgemeiner Arbeitseinstellung."
Leidenschaftlich aufgeregt wandte sich Liebknecht dagegen. worauf auch seine rein theoretische Deklamation gegen die Barbarei des Krieges" — gegen die Stimmen der Engländer, Franzosen und Holländer angenommen wurde.
In allen späteren Kongressen begnügte man sich damit, die langen Reden der französhchen Anhänger des Generalstreiks mit einigen „geistreichen" Redensarten á la Auer vom „Generalblödsinn" abzufertigen. Erst auf dem Kongress in Amsterdam 1904 konnten die deutschen Sozialdemokraten einer Generalstreiks-Debatte nicht mehr entgehen, als schon in den eigenen Reihen (Dr. Friedeberg) Stimmen für die Idee laut wurden. Die Resolution, die schliesslich angenommen wurde, ein beredtes Zeugniss für die klägliche Zweideutigkeit der sozialdemokratischen Führer, die jede direkte Aktion des Volkes geradezu fürchten, erklärte sich gegen die Idee des sozialen Generalstreiks zur vollständigen Emanzipation des Proletariats und nur im äussersten Falle für eventuelle politische Massenstreiks zur Erzielung politischer Rechte.
In Frankreich wurde das erste Mal diese Idee auf dem Kongress der nationalen Föderation der Gewerkschaften und korporativen Gruppen in Bordeaux 1888vorgelegt. Angenommen wurde sie vonder ungeheuren Majorität der Gewerk-sehaftskongresse Frankreichs auf den Kongressen in Marseille 1892, Paris 1893, Nantes 1894, Limoges 1895, Tours 1896, Toulouse 1897, Rennes 1898, Paris 1900, Lyon 1901, Montpellier 1902 und Bourges 1904.
Auf politischen sozialistischen Kongressen wurde in Frankreich die Idee behandelt in Bordeaux 1888, Tours 1891, Saint Quintin 1892, Dijon 1894, Paris 1896, Paris 1897 und angenommen in Paris auf dem Kongress im Gymnasium Japy 1899.
Die Allemanisten (P. 0. S. R.) haben immer den Generalstreik propagirt, die Guesdisten (P. 0. F.) waren immer dagegen, ein Theil der Jauresisten (mit Brand an der Spitze) ist dafür, ebenso die Blanquisten (P. S. R.). Auf dem Kongress von Lille 1904 der Blanquisten und Guesdisten wurde die Idee des Generalstreiks als das Ziel der Gewerkschaften und Mittel zur Befreiung des Proletariats verbreitet.
In Deutschland erschienen die ersten Artikel, welche sich mit der Idee des Generalstreiks befassten, in der anarchistischen Presse der 1890..r Jahre („Sozialist " und "Neues Leben"). Eine regelrechte Generalstreiks – Propaganda begann jedoch erst in den Jahren 1902 und 1903 und zwar ebenfalls durch Publikationen in den anarchistischen Blättern, wie auch durch eine von London aus verbreitete Broschüre. Die sozialdemokratische Partei suchte diese Propaganda, theils durch Verdächtigungen, theils durch die bekannte Todtschweige-Taktik zu ersticken. Doch als seit 1903 Dr. Friedeberg die Idee in die eigenen Reihen trug, und zahlreich besuchte Gewerkschafts-Versammlungen seinen Ausführungen beistimmten, musste doch ernstlich darüber diskutirt werden, und man versuchte es nun endlich, in „wissenschaftlicher" Weise diese Idee in Artikeln und Abhandlungen in der "Neuen Zeit" und den „Sozialistischen Monatsheften" zu widerlegen, indem man dort die grössten Lichter sozialdemokratischer Wissenschaft sich dagegen aussprechen liess. Trotzdem ist seit Ende 1903 und Anfang 1904 der Generalstreik auf der Tagesordung aller Diskussionen und in allen Zeitungen zu finden.
Broschüren und Zeitungen in allen Sprachen schiessen nur so aus dem Boden, die den einzigen Zweck haben, die Idee des Generalstreiks zu verbreiten, zu erläutern und seine Unbesiegbarkeit darzulegen.
Hunderte von Liedern in den verschiedenen romanischen Sprachen, die den Generalstreik als die kommende Befreiung feiern, gehen von Mund zu Mund, neue Begeisterung und Siegeszuversicht einflössend.
3. Die Generalstreiks der letzten Jahre.
Wie jede grosse Idee hat auch der Generalstreik seine Bluttaufe, ja mehrere Bluttaufen überstanden, hat auch schon seine ersten Kämpfe und Scharmützel gehabt, deren er sich gar nicht zu schämen braucht.
Der erste in der Neuzeit durchgeführte Generalstreik erfolgte in Alcoy (Provinz Alicante, Spanien) am 8. Juli 1873 unter Leitung des spanischen Ausschusses der „Internationale." Sein Ziel war nicht irgend eine Lohnerhöhung, sondern die „soziale Liquidation" (Abrechnung), die Herstellung der freien Gesellschaft, vorläufig in dieser unabhängigen Commune. Der Minorität der der „Internationale" angehörenden Arbeiter (3000 Mann) gelang es mit Leichtigkeit, alle. Arbeiter, über 10,000, zum Streik zu bringen und so die allgemeine Arbeitsruhe hervorzurufen. Bei dem darauf folgenden Kampfe mit der Gendarmerie und der bewaffneten Burgeoisie siegten die Arbeiter, bemächtigten sich der Stadt und brannten das Archiv und Civilregister mit den Eigenthumstiteln nieder. Die Durchführung der „Liquidation" wurde jedoch durch die Truppen, die von der Regierung in die Stadt geschickt wurden und sie wieder eroberten, verhindert.
Als sich die amerikanischen Arbeiter im Jahre 1886 dazu vorbereiteten, den Acht-Stundentag zu erobern, da dachten sie nicht an den Umweg des Parlamentarismus, sondern beschlossen, ihn direkt durch den Generalstreik, der in den ganzen Vereinigten Staaten am 1. Mai ausbrechen sollte, den Kapitalisten zu entreissen.
260,000 Mann in den ganzen Vereinigten Staaten, davon 40,000 Mann in Chicago selbst, legten auch am 1. Mai die Arbeit nieder.
Als aber nach dem brutalen meuchelmörderischen treberfall der Chicagoer Polizisten gegen einen ruhigen Arbeiterzug am 4. Mai und nachher gegen eine Versammlung die Arbeiter in der Nothwehr auf die Revolverschüsse mit einem Bombenwurf antworteten, war dies das Signal zur Verhaftung aller Redner und Propagandisten des Generalstreiks, die nach einer erbärmlichen Justizkomödie von den amerikanischen Justizmördern dem Galgen überliefert wurden. So büssten die Chicagoer Märtyrer Parsons, Spiess und Genossen die Propagirung der Nee des Generalstreiks mit dem Tode am Galgen. Die Burgeoisie ahnte sofort die furchtbare Bedeutung des Generalstreiks und schreckte vor keinen Repressalien zurück.
Und was ist denn nun die internationale Demonstration des 1. Mal? Sie ist die Tochter des grossen Generalstreiks in Amerika, der am 1. Mai 1886 ausbrach, um den Acht-Stundentag zu erringen. Mit Hinweis und in Anlehnung darauf wurde auf dem internationalen Sozialisten-Kongress in Paris 1889 mit Begeisterung der Antrag angenommen, am 1. Mai in allen Ländern die Arbeit :ruhen zu lassen, um für den Acht-Stundentag zn demonstriren. War dieser Beschluss nicht eine Symbolisirung des Generalstreiks?
War es nicht unter dem Rufe und nur mit Hülfe des Generalstreiks, dass sich die belgischen Arbeiter im Jahre 1893, wenn auch nur ein beschränktes, allgemeines Wahlrecht eroberten ?
Als es sich 1897 in Oesterreich darum handelte, das Wahlrecht zu erobern, schrieen und sangen da nicht die Arbeiter in allen Versammlungen und auf allen Strassen, dass sie es machen wollten „wie in Belgien " ?
Im Februar 1902 erhob sich das Proletariat von Barcelona unter dem Rufe des Generalstreiks und konnte eine Woche lang dem Militär und der Gendarmerie standhalten. Pablo Iglesias, der Führer der spanischen Sozialdemokratie, forderte aber überall seine allerdings nicht zahlreichen Anhänger zum Streikbruch und zur Denunziation der Anhänger des Generalstreiks auf. In manchen Bezirken gingen die Sozialdemokraten gar soweit, während des Generalstreiks Deputationen an die Behörden zu entsenden, um ihnen ihre Loyalität kundzugeben und ihnen zu versichern, dass sie als Anhänger der Gesetzlichkeit an den „Unruhen" durchaus nicht theilnehmen würden.
Auf die heftigen Angriffe, die in der ganzen sozialistischen Presse des Auslandes gegen Iglesias wegen dieses Benehmens gerichtet wurden, antwortete er prahlend in einem Rundschreiben, dass der Generalstreik gewiss gesiegt hätte, wenn auch die Sozialdemokraten daran theilgenommen hätten ; doch hielt er sie davon zurück, „weil das Volk vorläufig noch nicht reg sei für Emanzipation." Die Barcelonaer Genossen unterlagen schliesslich, aber gaben trotzdem den Beweis der Unbesiegbarkeit des Generalstreiks. Da Barcelona nur allein streikte, konnten von ganz Spanien die Truppen nach Barcelona geschickt werden, weil es in den anderen Theilen des Landes ruhig war.
Trotzdem wurde schon die Einberufung der Reserven berathen, und alle Blätter schrieben schon von der Demission des Ministeriums. Und dieses alles wegen Barcelona allein. Hätte der Generalstreik besiegt werden können, wenn eigleichzeitig in ganz Spanien stattgefunden hätte ?
Im April desselben Jahres legten wieder in Belgien 350,000 Proletarier die Arbeit nieder, um unter dem Rufe des Generalstreiks für ein vollständiges, allgemeines Wahlrecht zu kämpfen. Der Kampf, der so vielverheissend begann, ging verloren, aber nur Dank dem Verrathe der sozialdemokratischen Führer. Das Organ der Parteileitung „Le Peuple " verabfolgte an seine Abonnenten Sechs-Francs-Revolver als Prämie, und zwar, wie es ausdrücklich in den Annoncen des Blattes hiess : „Für den Generalstreik." Als aber die Sache gefährlich zu werden drohte, als es Verwundete und Todte gab, da bljessen die Führer Vandervelde, Anseele usw. sofort zum Abzug, weil sie eben fürchteten, verantwortlich gemacht zu werden, wenn etwas Ernstliches vorfiele, weil sie die Freundschaft der Liberaten, die die Beendigung des Generalstreiks verlangten und von deren Abstimmung ziemlich viele sozialdemokratische Mandate abhingen, nicht verlieren wollten. Dieselben Leute. welche die „Prämien-Revolver" vertheilten, welche erklärten, sie wollten bis ans Ende gehen und, wenn alle gesetzlichen Mittel erschöpft seien, weiter gehen, komme, was da wolle, — dieselben Leute nannten dann Jene, welche ihre Worte ernst nahmen und sich der Revolver bedienten, „Lumpengesindel und Agents provocateus " und gaben sogar Arbeitern den Rath, sie zu arretiren — ja Vandervelde erklärte sogar in einer Volksversammlung : „Wir Sozialisten müssen das Gebot : ,Du sollet nicht tödten !' beherzigen." Zum mindesten kann es sonderbar erscheinen, dass diese Herren Denen zuriefen : „Du sollst nicht tödten," auf die geschossen wurde, und so Denen in den Rücken fielen, die sich vertheidigten.
In demselben Jahre (1902) fand der Generalstreik in Genf statt, der als Solidaritätsstreik für die streikenden Tramwayangestellten erklärt wurde. Die Anarchisten hatten die Leitung des Streiks in der Hand. Es kam auch hier zu Zusammenstössen mit der Miliz, die vom sozialistischen Minister Thiebaut, der gerade damals in Abwesenheit des Kriegsministers sein Portefeuille innehielt gegen die Streikenden aufgeboten wurde. Nach der Beendigung des Streiks wurden einige Genossen, die den Streik leiteten, zu Gefängnissstrafen verurtheilt, darunter Bertoni zu einem Jahre.
Im Monat Mai 1902 siegten die Arbeiter in Schweden, als sie mit dem Generalstreik ihre Forderung des allgemeinen Wahlrechtes unterstützten.
Auch Holland stand in der ersten Hälfte des Jahres gänzlich im Zeichen des Generalstreiks. Als im Januar dieses Jahres die Hafenarbeiter von Amsterdam in den Streik traten, stellten bald darauf sämmtliche Eisenbahner zur Unterstützung der Forderungen ihrer Brüder die Arbeit ein. Ein glänzender Sieg, die Bewilligung sämmtlicher Forderungen der Arbeiter, war das Resultat dieses solitarischen Vorgehens. Durch diesen Erfolg erschreckt, brachte die Regierung im Parlament ein schurkisches Ausnahmegesetz gegen die Eisenbahner ein, wonach das blosse Streiken mit sechs Monaten, das "Aufhetzen" mit vier Jahren Gefängniss bestraft werden sollte. Dass sich die Arbeiter so etwas nicht ganz ruhig gefallen lassen wollten, versteht sich von selbst, und nach kurzer Berathung beschlossen sämmtliche Gewerkschaften des Landes, den Generalstreik zu proklamiren. Die Sozialdemokraten hielten Anfangs mit (um wenigstens) den Schein der Arbeiterfreundlichkeit zu wahren ; ihr Führer Troelstrü sagte später auf dem sozialdemokratischen Partei – Kongress wörtlich : Unser Bestand als Arbeiterpartei stand auf dein Spiele",) — als aber der Streik herannahte, da warnte „Het Volk" vor dem „anarchistischen Abenteuer." — Am Tage endlich, an dem der Kampf auf der ganzen Linie entbrennen sollte, schlug das Verhalten der Sozialdemokraten in offenen Verrath um ; es wurden Proklamationen angeschlagen, dass der Generalstreik aufgehoben sei, gefälschte Berichte mit ungünstigen Nachrichten aus dem Innern des Landes verbreitet und so grosse Verwirrung unter den Arbeitern hervorgerufen. Es wurde dadurch thatsächlich bewirkt, dass der Streik nicht allgemein wurde und somit unterliegen musste. Die Absicht, welche die Sozialdemokraten bei ihrem schmählichen Verhalten leitete, war ganz klar, nämlich durch das Misslingen dieses Generalstreiks den Arbeitern zu „beweisen," dieses Mittel sei nichts werth, und das Heil liege im Parlamentarismus, im Wählen von Abgeordneten. Sie gaben das auch ganz offen und cynisch in einem Artikel in der „Neuen Zeit" zu, indem sie zunächst die Schuld am Scheitern des Streiks den Anarchisten in die Schuhe schoben und weiter erklärten, die Niederlage, habe auch ihre gute Seite gehabt, sie habe den Glauben an den Generalstreik erschüttert (!) und das Ansehen der „anarchistischen Krakehler" untergraben. Der alte Nieuwenhuis, der Vater der Arbeiterbewegung in Holland ein „Krakehler !"
Es ist dies Alles übrigens nicht zu verwundern, weil ja Diejenigen, denen die Arbeiterbewegung nichts anderes ist, als ein Mittel, durch die Politik Reichthum, Ruhm und Macht zu erwerben, — auf die am besten der Ausdruck „Soziale Parasiten passt — immer gegen Jede revolutionäre Regung waren, durch welche ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft bedroht oder vielleicht sogar sie persönlich gefährdet werden könnten.
Im October 1903 erregte wieder der revolutionäre Generalstreik von Bilbao ungeheures Aufsehen. 25,000 Bergleute streikten, um die Abschaffung des Trucksystems und sanitäre Verbesserungen in den Bergwerken herbeizuführen. Als der Streik nach zwei Wochen immer noch aussichtslos blieb und die Bergleute nun aus den Wohnhäusern, die auch den Bergwerk besitzern gehörten, vertrieben werden sollten schlossen sich aus Solidarität dem Streik noch 65,000 Arbeiter anderer Berufe an, und nun wurde der Generalstreik wirklich revolutionär. Die Arbeiter nahmen die Lebensmittel aus den Magazinen und zerstörten die Eisenbahnlinien mit Dynamit und Schiessbaumwolle. Auch die Gruben selbst wurden angegriffen und schwer beschädigt. Als sich am dritten Tage noch mehrere andere Städte dem Streik anschlossen und nun die Bergleute anfingen, ernstlich die Gruben zu zerstören, gaben die Unternehmer erschrocken nach und bewilligten alle Forderungen. Der Streik hatte einen doppelten Werth, weil Bilbao die einzige Stadt Spaniens war, in der die Sozialdemokraten einen starken Einfluss hatten und wo sie bis dahin versicherten, dass das Trucksystem nur durch Parlamentbeschluss abgeschafft werden könne, und deshalb recht viele sozialdemokratische Abgeordnete erwählt werden müssten, die dann schon Alles besorgen würden.
Im April 1904 Generalstreik der Eisenbahner in Ungarn, der durch die Plötzlichkeit seines Ausbruches geradezu die ganze Welt verblüffte. Ohne jede Organisation gelang es so,000 Eisenbahner gleichzeitig zur Einstellung der Arbeit zu bewegen. Pünktlich 12 Uhr Nachts blieben alle Züge auf freier Strecke stehen ; alle Stationschefs, von denen eine grosse Zahl Reserveoffiziere waren, nahmen an dem Streik einmüthig theil. Die Regierung half sich nur dadurch, dass sie die Reservisten unter den Streikenden, z r,000 an der Zahl, einberief und sie nun als Soldaten zwang, den Dienst zu versehen. Dadurch offenbart sich auf's Neue, dass die Propaganda des Generalstreiks durch antimilitärische Propaganda vervollständigt werden muss.
Im September 1904: Generalstreik in Italien. Binnen zwei Tagen brach da in etwa 100 Städten des ganzen Landes gleichzeitig der Generalstreik aus, um gegen das Eingreifen der Armee in Lohnkämpfen und Erschiessungen streikender, Arbeiter zu protestiren. Wieder ohne Organisation, gegen den Willen der sozialdemokratischen Führer, begann zuerst von den Anarchisten propagirt und geleitet, der Generalstreik in Mailand, dem sich dann alle grösseren Städte und Industrieorte auf die blaue Nachricht mit einmüthiger Begeisterung anschlossen. Alles, was man erreichen wollte, wurde erreicht, denn Ministerpräsident Giolitti liess schon nach dem dritten oder vierten Tage durch alle Telegraphenbureaus und alle Zeitungen, sowie im Parlament feierlich verkünden, dass von nun an den Truppen das Benutzen der Feuerwaffe gegen streikende Arbeiter, wie in Lohnkämpfen und Strassenunruhen überhaupt für immer verboten sei.
Alle die Generalstreiks waren eigentlich nur Scharmützel, aber_ auch eine Vor- schule für den endgültigen grossen Generalstreik der Zukunft, wie ja 300 kleinere Bauernrevolten ( Jacquerieen) der endlich siegreichen „grossen" französischen Revolution vorangingen.
So sehen wir, wie das Proletariat überall, instinktiv, von unten auf, oft gegen den Willen der „Führer" diese einzige wirksame Waffe ergreift, wenn auch vorläufig häufig nur noch zur Erkämpfung politischer Rechte. Doch bald wird das Proletariat erkennen, welch unnöthiger Umweg dies ist, da es doch ohne Vermittelung seiner politischen Führer Alles erreichen kann.
IV. Schlussbetrachtungen.
Bis jetzt wurde die Idee des Generalstreiks behandelt 1. als Kampfmittel, 2. als schöpfende Macht zur Neuorganisation, 3. in ihrer Geschichte.
Nun noch einige Worte über die Philosophie des Generalstreiks.
Jawohl Philosophie: Der Generalstreik hat ebenso gut seine Philosophie wie der Marximus und die Sozialdemokratie. Doch ist die Philosophie des Generalstreiks, d. h. das logische System, auf das diese Idee sich aufbaut, viel einfacher, viel weniger komplizirt und verwickelt als jene und jedem gesunden Menschenverstand zugänglich.
Die marxistische Lehre beruht auf der deduktiven Logik und besonders auf der dialektischen Methode. Die deduktive Logik, die von einzelnen Grundprinzipien auf alles Uebrige schliesst, die, von einem Prinzip ausgehend, dieses auf alle Gebiete auszudehnen sucht, ist zwar die Methode der Dichter und der schöpferischen Phantasie, aber sie war und blieb auch immer die Logik der Autokratie und der Theologie. Die moderne Wissenschaft ist induktiv ; von der Summe der einzelnen Erscheinungen schliesst sie auf das Prinzip ; aus den Erfahrungen und Ergebnissen der Praxis erbaut sie die Theorie.
Die marxistische Dialektik ist eine Art deduktiver Logik, aber durch ihre „geistreichen" Hin- und Hersprünge und Dreherelen ist sie der Wirklichkeit entrückt So ist für das dialektische System charakteristisch die Lehre von der ,Verelendungstheorie," die erst aus der vollständigen Verelendung (nach dem dadurch nothwendig "von selbst" kommenden „Kladeradatsch") den Allgemeinen Wohlstand hervorgehen lässt. Um den bestehendn Staat zu zerstören, ist es nach den marxinistischen Theoretikern nothwendig, zuerst die Staatsmacht zu erobern. Man bekämpft den bestehenden Staat, schwärmt aber für Staatsmonopole in denen die Arbeiter noch mehr ausgebeutet und unterdrückt werden, als in Privatbetrieben.
So entspricht sogar der Kampf der Marxinisten, die Form ihrer Politik, ganz dem deduktiv-dialektischen System ihrer Theorie. Die "Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel" soll nicht vom Volke ausgehen und vom Volke durchgeführt werden — nein, die Staatsmacht soll zuerst erobert, in deren Händen soll sie konzentrirt und nachher von oben herab auf das ganze Volk der Wohlstand wie himmlisches Manna ausgestreut werden. Schliesslich war auch die Grundidee aller politischen Revolutionen deductiv, — die Macht sollte von einzelnen Individuen ergriffen werden, damit diese erst von oben herab dem Volke die ersehnte Freiheit geben.
Die Idee des Generalstreiks in ihrem negativen wie auch positiven Theil ist dagegen durchweg induktiv, baut sich durchweg nur auf der Logik der modernen Wissenschaft auf und entspricht so auch als Resultat den Resultaten der modernen Wissenschaft. Der Generalstreik macht keine dialektischen Umwege, keine Hin- und Hersprünge, er führt organisch direkt und ohne Umwege und Vermittler zum Ziel. Deshalb heisst auch diese Kampfart, im Gegensatz zur politischen, die über den Umweg der ‚Eroberung der politischen Macht" ans Ziel gelangen will, die direkte Aktion des Proletariats. Was wir gesehen haben, ist der Generalstreik die nothwendige Folge der vielen kleinen Streiks. Er wird das Resultat sein des immer stärker erwachsenden Solidäritätsgeffihls des Proletariats und folglich dessen stärkster Ausdruck. Die Organisation der Gewerkschaften und die Vorbereitung des Generalstreiks trägt in sich selber schon die inneren Elemente der zukünftigen Neuorganisation ohne die Umwege der Eroberung der politischen Macht.
So enthält der Generalstreik in sich auch die Forderung der direkten Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gewerkschaften, eine volksthümliche Lehre, die vom Volke geschaffen, vom Volke ausging, während die Lehre von der "Eroberung der Macht" eben von denen ausging, die selbst die Macht erobern wollten, die persönlich nach der Diktatur strebten, die sie ja allerdings in der alten Internationale schrankenlos ausübten. Wir sehen, wie sich von unten auf, ans dem täglichen Kampf der Gewerkschaften, ans den schon vorhandenen Organisationen, also ebenfalls auf induktivem Wege auch das ganze System der Neuorganisation der Gesellschaft entwickelte. So spricht für die Theorie des Generalstreiks die modernste und einzig wissenschaftliche Methode der Forschung und Untersuchung : die induktive Logik.
Jeder peue politische Zustand entsprach einer neuen ökonomischen Phase. So entspricht die absolute Monarchie dem ökonomischen Feudalismusund der Leibeigenschaft, und der Parlamentarismus dem Kapitalismus und der Lohnsklaverei.
Einer freien Gesellschaft ohne Klassenherrschaft und Ausbeutung, einer Gesellschaft der freien Vereinigung und freier Korporation entspricht die Herrschaftslosigkeit — die Anarchie.
Bekannt ist die Stelle aus dem Buche Friedrich Engel's: „Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staates", in der er sagt : „Sie (die Klassen) werden fallen, ebenso unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten organisirt, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: in% Museum der Alterthümer, !eben das Spinnrad und die bronzene Axt". — Dieser Zustand, der Sozialismus ohne Staat, ist der communistische Anarchismus
Ebenso ergiebt sich auch die Form einer jeden Revolution aus den bestehenden ökonomischen Bedingungen.
Es bestehen nicht mehr diese ökonomischen Verhältnisse, die die jakobinische Form der Revolution bedingten ; auch ist durchaus nicht zuerkennen, dass, als Resultat der ökonomischen Gegen«. sitze, der Parlamentarismus es sein kann, das dem Kapitalismus den Todesstoss versetzen wird. Dagegen ist diese Form der Revolution, di?. ganz den ökonomischen Verhältnissen der Gegenwart entspricht, die das logische Resultat der ökonomischen Gegensätze und sozialen Entwickelung ist, nichts Anderes als der Generalstreik.
Die Idee des Generalstreiks ist der beste Reflex der Zuspitzung der ökonomischen Gegensätze und nur der modernste, klarste, endlich unverschleierte Ausdruck der Empörung des Proletariats.
Der Generalstreik wird die Spitze, da, Resultat werden der fortwährend häufigeren und umpfangreicheren Streiks, und so ist er nur du Produkt der grossen Industrie selbst; er ist die Waffe, die der Kapitalismus gegen sich selbst geschmiedet hat und die ihm einen sicheren Tod bringen wird.
Selbst nach dem schönsten Siege im Lohnstreik bleibt der Arbeiter immer ein Lohnsklave. Der moderne Arbeiter ist war nicht mehr der Sklave eines Kapitalisten, aber er bleibt sein Leben lang der Sklave der ganzen Kapitalistenklasse, aus deren Händen er sich in der gegenwärtigen Gesellschaft niemals befreien kann.
Ein viel weiteres Ziel stellen sich nun die Gewerkschaften, wenn sie sich nicht mehr damit begnügen, den Druck des Kapitalismus zu mildern, sondern ihre Organisation u. Kampfesmittel zur Beseitigung jeden Druckes verwenden wollen, wenn sie auf ihre Fahne die vollständige Emanzipation des Proletariats aus der Lohnsklaverei schreiben. Die Gewerkschaften haben aber auch die Aufgabe, in der Zukunft die Produktion zu übernehmen. und so sind sie dazu bestimmt, nicht nur das Erziehungs- und Kampfelement der sozialen Zukunft zu werden, sondern auch das Embryo der Produktion und Neuorganisation nach Beseitigung des Kapitalismus.
Dieses stolze, kühne Ziel mäste zweifellos Tausende neuer und begeisterter Kämpfer den Gewerkschaften zuführen.
Die Idee des Generalstreiks, von den Proletariermassen aufgenommen, ist — wie Jaures selbst zugeben mutete — allein schon an und für sich ,eine Macht, weil sie eine beständige furchtbare Drohung ist. Schon das blosse Gespenst des drohenden Genalstreiks könnte die zur Zeit herrschenden Klassen vor dem allzu straffen Spannen der Zügel zurückschrecken lassen. Jetzt aber existirt diese Drohung nicht, bis jetzt hat das deutsche Proletariat ausser dem Stimmzettel keinerlei Waffen, und deshalb können die herrschenden, Klassen thun, wie sie wollen, ohne irgend einen Widerstand zu befürchten.
Der Mangel eines Ziels, eine bestimmte Erklärung auf die ewig dunkle Frage : wie? — wie kann in absehbarer Zeit die Herrschaft der Junker, Barone unk Kapitalmagnaten gestürzt werden? Diese ewig unbeantwortete Frage ist es, die in dem Glauben und der Ueberzeugung der Genossen zehrt wie tödtliche Schwindsucht.
Durch die Idee des Generalstreiks setzt man aber endlich an Stelle der schwärmenden Sehnsüchtelei nach der" Mutter der Freiheit, Revolution," an Stelle furchtloser Deklamationen über eine Umwälzung in ferner Zukunft, an die man selbst kaum zu glauben wagt, die uns schon wie ein verschwommenes Ideal erscheint und erst dereinst nach langer Zeit "über die Berge wiederkehren soll" — ein wirksames und sicheres Mittel, die kapitalistische Gesellschaft zu beseitigen und Wohlstand und Freiheit für Alle einzuführen.
Ausserdem macht aber der Generalstreik auch all die schurkischen Pläne der Verräther und der nach der Diktatur strebenden Politiker unmöglich, zerstört ein für alle Mal jede Macht, statt sie wieder neuen Tyrannen glaubensselig anzuvertrauen, führt von unten auf die Expropriation und Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel durch und macht so jede Reaction, Gegenrevolution oder Staatsstreich ein für alle Mal unmöglich.
Der soziale Generalstreik ist somit die endgültige Emanzipation des Proletariats