Peter Kropotkin
Theorie und Praxis
Wenn wir die Ordnung der Dinge besprechen, welche unserer Meinung nach aus der kommenden sozialen Revolution entstehen muß, sagt man uns oft: «All dies ist bloß Theorie, um die wir uns jetzt nicht zu kümmern haben; lassen wir dies beiseite und beschäftigen wir uns mit praktischen Dingen (zum Beispiel mit Wahlfragen). Bereiten wir die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse vor und später werden wir schon sehen, was aus der Revolution entstehen wird.»
Doch es gibt etwas in dieser Argumentation, was uns an der Richtigkeit und sogar an der Ehrlichkeit derselben zweifeln läßt. Ein jeder nämlich, der dieselbe vorbringt, hat seine eigene fertige Theorie über die Art, wie die Gesellschaft nach der Revolution – oder besser gesagt: sofort am ersten Tage derselben – organisiert werden soll. Weit davon entfernt, seinen Theorien wenig Bedeutung beizumessen, hält er zäh an denselben fest, er macht für dieselben Propaganda, und alles, was er jetzt tut, ist nur eine logische Folge seiner Ideen. Wenn er sagt: «Diskutieren wir nicht über diese theoretischen Fragen!» so meint er damit eigentlich nur: «Stellt nicht unsere Theorie in Zweifel, sondern helft uns, dieselbe zu verwirklichen.»
In Wirklichkeit gibt es keinen Zeitungsartikel, in welchem der Verfasser nicht seine Ideen über die Organisation der Gesellschaft, wie er sie auffaßt, hineinflechten würde. Die Worte «Arbeiterstaat», «Organisierung der Produktion und des Austausches durch den Staat», «Kollektivismus» (auf den kollektiven Besitz der Arbeitsmittel beschränkt, und den gemeinsamen Besitz an den Früchten der Arbeit verwerfend), «Zukunftsstaat», «Parteidisziplin» usw. – all diese Worte findet man fortwährend wieder in den Zeitungsartikeln und Broschüren. Jene, die sich den Anschein geben, daß sie den Theorien gar keine Bedeutung beimessen, tun alles, um ihre Theorie zu verbreiten. Und während wir diese Art Diskussion vermeiden, verbreiten andere ihre Ideen und ihre Irrtümer, gegen die wir eines Tages werden kämpfen müssen. Um nur ein Beispiel anzuführen, genügt es, das Buch Schäffles ‹Die Quintessenz des Sozialismus›[1] zu nennen – dieses Buch, das ein gewesener österreichischer Minister geschrieben hat, der unter dem Vorwand, den Sozialismus zu verteidigen, keinen anderen Zweck verfolgte, als das Herrschaftssystem der Bourgeoisie vor dem Zusammenbruch zu retten. Es ist wahr, daß dieses Buch, welches zu sehr den Exminister erkennen läßt, bei den französischen und deutschen Arbeitern keinen Erfolg gehabt hat; aber dennoch werden seine Ideen, in einer Brühe von revolutionären Phrasen aufgetischt, um sie genießbar zu machen, täglich unter der Arbeiterschaft verbreitet.
Dies ist übrigens ganz natürlich. Dem menschlichen Geist widerstrebt es, sich in eine Arbeit des Niederreißens zu stürzen, ohne sich eine Idee darüber zu bilden – wenn auch nur in wenigen wesentlichen Zügen –, was das zu Zerstörende ersetzen könnte. – «Man wird die Diktatur des Proletariats einsetzen», sagen die einen. – «Man wird eine, aus der Mitte der Arbeiter gewählte Regierung ernennen und dieselbe mit der Organisierung der Produktion betrauen», sagen die anderen. – «Man wird in den aufständischen Kommunen alles in gemeinsamen Besitz nehmen», sagen die dritten. Aber alle, ohne Ausnahme, haben irgend einen Begriff von der Zukunft, an welchem sie mehr oder weniger festhalten; und diese Idee beeinflußt, bewußt oder unbewußt, ihre Art des Handels in der gegenwärtigen Vorbereitungsperiode.
Nein, wir gewinnen nichts damit, diese «theoretischen Fragen» zu vermeiden. Im Gegenteil, wenn wir praktisch sein wollen, müssen wir notgedrungen, von heute angefangen, unser Ideal des kommunistischen Anarchismus von jedem Standpunkt aus darlegen, propagieren und diskutieren.
Übrigens, wenn wir während der verhältnismäßig ruhigen Zeit, die wir jetzt durchmachen, unser Ideal nicht darlegen, diskutieren und verbreiten sollen — wann werden wir es tun?
Wird es an jenem Tag sein, wo inmitten des Kampfes, auf den Trümmern der alten Herrschaftsordnung die Notwendigkeit an uns herantritt, sofort die Tore einer neuen Zukunft zu öffnen? Wo wir bereits eine Entscheidung getroffen haben müssen, und eines starken Willens bedürfen, um dieselbe auszuführen? – Dann wird es nicht mehr Zeit sein zu diskutieren. Dann müssen wir handeln, auf der Stelle, entweder in einem Sinne oder im anderen.
Wenn die bisherigen Revolutionen dm Volke nicht das gaben, was dasselbe von ihnen mit Recht erwarten durfte, so ist dies nicht deshalb geschehen, weil das Volk zu viel über das Ziel der Revolution, deren Nahen man verspürte diskutiert hat. Die Aufgabe, dieses Ziel zu bestimmen und zu entscheiden, was man tun solle, wurde immer den Führern überlassen, die das Volk ausnahmslos verraten haben, wie dies nicht anders möglich ist. Nicht dieser Umstand, daß das Volk eine fertige Theorie besessen hatte, hat dasselbe am Handeln gehindert – nein es hatte zu wenig oder gar keine Theorie. Die Bourgeoisie in 1848 und 1870 wußte sehr wohl, was sie an dem Tag tun würde, wenn das Volk die Regierung stürzt. Sie wußte, daß sie sich der Regierung bemächtigen, dieselbe durch die Wahlen sanktionieren lassen, den Kleinbürger gegen das Volk bewaffnen würde und dann, mit der Armee, den Kanonen, den Verkehrswegen und dem Geld in Händen, ihre Söldner gegen die Arbeiter loslassen würde, sobald dieselben ihre Rechte zu fordern wagten. Sie wußte schon vorher, was sie am Tage der Revolution tun würde.
Aber das Volk wußte nichts darüber. In den politischen Fragen wiederholte es in 1848 mit der Bourgeoisie: «Republik und allgemeines Wahlrecht!» Und im März 1871 sagte es mit den Kleinbürgern: «Die Kommune!» Aber weder in 1848 noch in 1871 hatte das Volk einen klaren Begriff davon, was es tun müsse, um die Frage des Brotes und der Arbeit zu lösen. «Die Organisation der Arbeit», dieses Schlagwort von 1848 (ein Gespenst, welches unter einer anderen Form von den deutschen Sozialdemokraten unter dem Schlagwort und der Allesheilmethode «Organisation» wiedererweckt wurde), war eine so verschwommene Bezeichnung, daß sie nichts besagte; ebenso der gerade so verschwommene Kollektivismus der Internationale von 1869 in Frankreich. Wenn man im März 1871 alle jene, die auf die Schaffung der Kommune hinarbeiteten, gefragt hätte, was man tun müsse, um die Brot- und Arbeitsfrage zu lösen – welch ein schreckliches Kauderwelsch von widersprechenden Antworten hätte man erhalten! Soll man im Namen der Kommune von Paris von den Werkstätten Besitz nehmen? Kann man die Wohnhäuser anrühren und dieselben als Eigentum der aufständischen Stadt erklären? Soll man von allen Lebensmitteln Besitz ergreifen und die rationsweise Verteilung derselben organisieren? Soll man allen in Paris aufgehäuften Reichtum als gemeinsames Eigentum des ganzen französischen Volkes erklären, und dieses mächtige Werkzeug zur Befreiung des ganzen Volkes verwenden? – Über keine dieser Fragen gab es eine klare Meinung im Volke. Mit den Anforderungen des Augenblickskаmpfes beschäftigt, hatte die Internationale versäumt, diese Fragen von Grund aus zu besprechen. «Es ist eine Utopie, eine Theorie, die ihr da macht!» rief man jenen die diesen Fragen näher traten; und wenn man von der sozialen Revolution sprach, beschränkte man sich darauf, dieselbe mit so allgemeinen Worten wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu bezeichnen.
Es liegt uns fern, ein fertiges Programm für den Fall einer Revolution ausarbeiten zu wollen.
Wir wissen sehr gut, daß jede wahre Volksbewegung ein Schritt voran auf dem Wege der sozialen Revolution ist. Sie erweckt den Geist der Empörung, sie gewöhnt die Menschen daran, die bestehende Ordnung (oder besser gesagt Unordnung), als von Grund aus verwerflich zu betrachten; und man muß den blöden Hochmut eines deutschen Parlamentariers haben, um zu fragen: «Was hat die große französische Revolution oder die Pariser Kommune für einen Nutzen gehabt?» Wenn Frankreich in die erste Reihe der Revolution gelangt ist, wenn das französische Volk im Denken und Fühlen revolutionär ist, so ist dies gerade die Folge davon, daß es so viele jener, von den Doktrinären und Einfaltspinseln so geringschätzig behandelten Revolutionen vollbracht hat.
Aber das wichtigste für uns ist: das Ziel zu bestimmen, welches wir erreichen wollen und nicht nur es zu bestimmen, sondern es durch Worte und Taten bekannt zu machen, sodaß es vor allem volkstümlich wird, so volkstümlich, daß am Tage, wo die Bewegung ausbricht, dasselbe in aller Menschen Mund ist. Dies ist eine größere und viel wichtigere Arbeit, als man sich gewöhnlich vorstellt; denn, wenn dieses Ziel den Augen einer kleinen Anzahl von Menschen ganz klar vorschwebt, so ist dies bei der großen Masse keineswegs der Fall, welche in allen Richtungen von der bürgerlichen, liberalen und sozialdemokratischen Presse bearbeitet wird.
Von diesem Ziel wird unsere gegenwärtige und zukünftige Handlungsweise abhängen. Der Unterschied zwischen dem kommunistischen Anarchisten und dem Sozialdemokraten, dem Jakobiner, besteht nicht nur in ihrer Auffassung über ein mehr oder weniger entferntes Ideal.
Dieser Unterschied wird nicht nur am Tage der Revolution bemerkbar, er zeigt sich schon heute, bei jeder Sache, in jedem Urteil, wie klein auch die Sache sein möge. Am Tage einer Revolution wird der staatliche Kollektivist, der Sozialdemokrat, nach dem Parlament eilen und von dort seine Verordnungen über das System des Eigentums erlassen; er wird bestrebt sein, sich als eine mächtige Regierung einzusetzen, welche die Nase in alles hineinsteckt und Statistiken und Regeln über die Anzahl der Hühner im kleinsten Dorf aufstellt. Der Anhänger der unabhängigen Kommune wird auch aufs Stadthaus eilen und sich auch als Regierung einsetzen und versuchen, die Geschichte des Zentralkomitees der Pariser Kommune von 1871 zu wiederholen; er wird verbieten, daß man das heilige Eigentum antastet, solange der Gemeinderat dies nicht für zweckmäßig hält. Während der kommunistische Anarchist das Prinzip verkünden wird, daß man sich um das Parlament und die Gemeinden nicht kümmern soll, sondern daß die Arbeiter und das arbeitende Volk sofort an Ort und Stelle die Werkstätten, Häuser und Getreidemagazine, kurz den gesamten gesellschaftlichen Reichtum, als Besitz der Gemeinschaft erklären und dementsprechend arbeiten und genießen sollen. Der kommunistische Anarchist wird keine «revolutionäre Regierung» erwählen, sondern in jeder Kommune, jeder Gruppe versuchen, das gemeinsame Produzieren und Konsumieren zu organisieren, um allen Bedürfnissen der frei verbündeten Kommunen und Gruppen in der Gesellschaft nachkommen zu können.
Derselbe Unterschied erstreckt sich bis in die geringsten Betätigungen unseres täglichen Lebens und Handelns. Jeder Mensch ist bestrebt, sein Ziel und seine Handlungsweise zur Erreichung desselben in einen gewissen Einklang mit einander zu bringen; daraus folgt, daß der kommunistische Anarchist und der autoritäre Staatskommunist oder Sozialdemokrat in allen Punkten ihrer unmittelbaren Tätigkeit miteinander im Widerspruch stehen.
Diese Verschiedenheiten sind vorhanden; versuchen wir also nicht, dieselben zu ignorieren. Im Gegenteil, ein jeder von uns verkünde offen sein Ziel, und die Diskussion, welche fortwährend, jeden Tag, jeden Augenblick, in den Gruppen geführt wird – nicht so wie in den Zeitungen, diese ist immer zu persönlich – wird im Schoße der Volksmassen eine gemeinsame Idee schaffen, welcher sich eines Tages große Massengruppierungen anschließen können.
Was den gegenwärtigen Augenblick betrifft, so haben wir ein gemeinsames Tätigkeitsfeld, auf welchem schon heute alle Gruppen gemeinsam vorgehen können. Dies ist der Kampf gegen die Grundlage des Kapitalismus, die Regierung, gegen das Monopolkapital. Was immer unsere Ideen über die zukünftige Organisation der Gesellschaft sein mögen, ein Punkt steht für alle ehrlichen Sozialisten fest: – die Revolution des Sozialismus hat als erste Hauptaufgabe die Expropriation des Kapitalismus zu erfüllen. Also muß jeder Kampf, welcher diese Expropriation vorbereitet, einmütig von allen sozialistischen Gruppen unterstützt werden, was immer für einer Richtung dieselben auch angehören. Und je mehr sich die verschiedenen Gruppen auf diesem gemeinsamen Tätigkeitsfeld und auf allen anderen, welche uns die Grundsätze unserer Anschauung bieten, treffen werden, desto besser werden sie zu einer Verständigung darüber gelangen, was sie während der Revolution zu tun haben werden.
Aber vergessen wir niemals: damit am Tage, wo eine Revolution ausbricht, eine mehr oder weniger allgemeine Idee sich im Schoße der Volksmassen geltend machen kann, dürfen wir nicht versäumen, immerfort unser Ideal der Gesellschaft darzulegen, welche wir erreichen wollen. Wenn wir praktisch sein wollen, verkünden wir das, was die Reaktionäre aller Farben immer «Utopien, Theorien» genannt haben. Theorie und Praxis müssen eins und dasselbe sein, wenn wir siegen wollen.
[1] Schäffle, Albert (1831-1903), Volkswirt und Soziologe, 1871 österreichischer Handelsminister. ‹Die Quintessenz des Sozialismus› erschien 1875.