Lope Vargas
Um die Rechnungen zu begleichen
Gegen die Justiz, ihre Richter und ihre Gefängnisse
Unantastbarkeit
Wenn man bedenkt, dass in der christlichen Tradition bereits der erste Mensch, der auf der Erde erschien, gegenüber der göttlichen Vorschrift ungehorsam war und sich deshalb eine Strafe zuzog, und dass es ein direkter Nachkomme von ihm war, der den ersten Mord beging, wird deutlich, dass sich der Ursprung der Justiz in der Nacht der Zeit verliert, entstanden als Antwort auf das Problem, das von demjenigen gestellt wird, der die soziale und ökonomische Ordnung stört.
Sich gegen das Recht[1] zu erklären, klingt deshalb in den Ohren der meisten wie ein geschmackloser Witz, eine Provokation, ein Wahnsinn, gerade in einer justizialistischen Zeit wie derjenigen, die wir heute durchleben. Ein Gemeinplatz von jahrhundertealter Beständigkeit besagt nämlich, dass man das Recht nicht bekämpfen kann, weil das ansonsten bedeuten würde, für die Ungerechtigkeit, für den Missbrauch, für die Tyrannei zu sein. Und diese Überzeugung ist derart tief in den menschlichen Geist eingedrungen, dass sich alle, die im Verlaufe der Geschichte das Recht kritisierten, stets beeilten, zu präzisieren, nur gegen ein bestimmtes Wirken von ihm, gegen eine schlechte Handhabung von ihm oder gegen eine für falsch gehaltene Anwendung von ihm zu sein. Aber das Recht an sich, das Recht als solches, wurde stets als ein unantastbares Konzept betrachtet.
Sowohl die Unordnung des menschlichen Verhaltens wie die Notwendigkeit, ihm mittels dem Recht Einhalt zu gebieten, als gegeben vorausgesetzt, richtet sich der einzige Zweifel, der den Adel dieser Massnahme zu beflecken vermag, höchstens auf die Rechtschaffenheit von demjenigen, der damit beauftragt ist, es zu sprechen. Um sich auszudrücken, hat die mit Schwert und Waage ausgerüstete Göttin Priester nötig, die sich manchmal der ihnen anvertrauten Aufgabe nicht als gewachsen erweisen mögen. Die ganzen Diskussionen über die Justiz enden hier, mit der Forderung nach einem menschlichen Richter, der mit den Traditionen eines Gerichtswesens, das in den Artikeln eines grausamen Kodex mumifiziert und verknöchert ist, zu brechen vermag. Das Recht brauche, um sich «wirklich» zu äussern, nicht einen Richter-Funktionär, als natürlicher Gegner jener, die den Kodex gebrochen haben, und der auf automatische Weise Strafen verteilt, sondern einen Richter, der sowohl in den Freisprüchen wie in den Verurteilungen den Hauch der Gleichheit und der Brüderlichkeit verspüren lässt. Denn – so sagt man uns – das Gesetz muss für den Mensch gemacht sein, und nicht der Mensch für das Gesetz. Wer weiss!
Unterwerfung
«Justiz (s.f.): ein Artikel, den der Staat in mehr oder weniger verfälschtem Zustand dem Bürger verkauft, als Belohnung für seine Treue, die Steuern und die erbrachten Dienste» (Ambrose Bierce).
Es gibt im Grunde mehr als einen guten Grund, weshalb die Kritiken an der Justiz hauptsächlich auf ihre angebliche Neutralität abzielten. Wenn es wahr ist, dass Gerechtigkeit ein Synonym für Tugend ist – für eine, ich würde zu sagen wagen, transzendentale Tugend, die, wenn auch vielleicht nicht mehr Ausdruck des göttlichen Willens, dennoch weit entfernt bleibt von den menschlichen Kleinlichkeiten –, so kann man andererseits nicht verbergen, dass sie sich konkret durch Gesetze ausdrückt, die vom Menschen gemacht sind. Und der Mensch ist, wie man weiss, nicht perfekt.
Jemand hat uns überliefert, dass der Ursprung des Wortes Gesetz [ital: legge] von der indo-europäischen Form légere, also lesen [ital: leggere] abstammt[2]. Das Gesetz, das wir alle zu befolgen haben, wurde geschrieben, egal ob auf die Tafeln von Moses oder in ein Gesetzbuch. Die entscheidende Frage zeigt sich sofort klar: Wer hat das Gesetz geschrieben? Natürlich derjenige, der die Macht dazu hatte. Und wieso tat er das? Ebenso deutlich: um die eigenen Privilegien zu verteidigen. Darum ist das Gesetz, als solches, zwangsläufig willkürlich, denn es gehorcht den Interessen von jenen, die es durchsetzen können, das heisst jenen, die die Autorität besitzen. Hinter der Rhetorik, die es als vom Menschen verfolgtes, edles Ideal hinstellen will, ist die Justiz nichts anderes als ein Mittel, um ein bestimmtes Wertesystem geltend zu machen. Es ist kein Zufall, wenn die Verbote, die durch die Geschichte hindurch auferlegt wurden, derart verschieden voneinander sind, dass es unmöglich ist, eine einzige Praxis zu finden, die universell als «kriminell» betrachtet wird, nicht einmal der Inzest oder der Vatermord. Wäre die Gerechtigkeit wirklich ein höheres Mittel, dessen normative Prinzipien die Essenz des menschlichen Wesens betreffen, dann wären ihre Gesetze ewig und universell und würde der Mensch in ihrer Erfüllung seine Realisierung finden. Stattdessen ändern sich diese Gesetze jedoch ständig – je nach sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ordnung, die sie regeln sollen –, und das kann nur eines bedeuten: in den Gesetzen drückt sich ein menschlicher, und gewiss nicht ein göttlicher Wille aus.
Den willkürlichen Charakter des Rechts anzuerkennen, impliziert jedoch an sich nicht seine Infragestellung. So parteiisch es auch sein mag, das Recht scheint dennoch unerlässlich. Im Mythos, den Platon Protagoras in dem gleichnamigen Dialog darlegen lässt, wird gesagt, dass sich die Menschen, solange sie die politische Kunst nicht erlernen, die im gegenseitigen Respekt und in der Gerechtigkeit besteht, nicht in einer Stadt vereinen können und den Tieren ausgeliefert bleiben. Der Respekt vor dem Recht würde den Menschen also gestatten, zusammenzuleben. Noch heute ist es eine verbreitete Meinung, dass das Verschwinden der Regeln, auf denen unsere Zivilisation basiert, die grausamsten Instinkte entfesseln würde. Ohne eine Autorität, repräsentiert vom Staat, welche ihre Triebe mässigt, seien die einzelnen Individuen nicht fähig, zusammenzuleben. Sich selbst überlassen, würden die Individuen die Gewalt des Gesetzes durch das Gesetz der Gewalt ersetzen (die Polizei als einziges Bollwerk gegen das Überwuchern von Morden, Vergewaltigungen und Blutbädern unter Unschuldigen). Das Recht entsteht also aus der Feststellung, dass es im Individuum kein Gesetz, keine Ordnung gibt. Der Staat entsteht demnach a posteriori, ebenso wie die Regeln, die Gesetze und die moralischen Bräuche, und ruht auf dem brodelnden Magma der moralischen Anomie. Das Individuum unterwirft sich dem Staat nur, weil es glaubt, seine Beziehungen beschützen und stabilisieren zu müssen. Es konstruiert eine äussere Ordnung, um die Unordnung zu stillen, die in ihm brütet, doch eine solche Organisation wird mit der inneren Sphäre, mit dem menschlichen Geist und seinen geheimsten (und beängstigendsten) Trieben nie irgendetwas zu tun haben. Das Individuum, als monströses Wesen, soll dem Bürger, dem Untertan des Staates Platz machen; der Einzige, der imstande ist, zu leben, ohne Schäden zu verursachen, da er ein gewissenhafter Befolger der Vorschriften des Rechts ist. Das Gesetz ist also das, was uns verbindet, und zwar im doppelten Sinne: das, was uns vereint, der Knoten des sozialen Bandes, und auch das, was unsere freien Bewegungen behindert.
Eine solche Konzeption sagt viel über die Welt aus, die sie annimmt. Eine Welt, deren Bewohner äussere Verbote nötig haben aus Mangel an einem eigenen inneren Bewusstsein, sich von einem gemeinsamen Konkurrenzdenken und nicht durch die Solidarität vereint fühlen, sich gegenseitig wahrnehmen, als ob jeder der Aufseher des anderen ist, und denken, dass die Freiheit eine Katastrophe für ihr Leben darstellt, anstatt sie als das zu betrachten, was ihnen einen Sinn geben könnte. Leider ist das alles nichts ungewöhnliches. Wir sind so abgerichtet von einer Erziehung, die seit der Kindheit versucht, den Geist der Unabhängigkeit in uns zu besänftigen und jenen der Unterwerfung zu fördern, wir sind so sehr an ein Leben gewöhnt, das von einem Staat kontrolliert wird, der jeden Aspekt davon mit Gesetzen belegt – Geburt, Entwicklung, Liebschaften, Freundschaften, Ernährung, Tod –, dass wir am Ende jegliche Initiative, jegliche Autonomie, jegliche Fähigkeit verlieren, die Probleme, die uns das Leben stellt, auf direkte Weise anzugehen und zu lösen. Aus diesem Grund wird ein neues Gesetz in jedem Staat als Gegenmittel für alle Übel betrachtet. Anstatt zu versuchen, das Problem zu lösen, indem man seine Ursachen versteht, beginnt man damit, ein Gesetz zu fordern, das ihm Abhilfe verschafft. Die Strasse zwischen zwei Städten ist unbefahrbar? Es muss ein Gesetz her, das den Verkehr regelt. Ein Gesetzesvollstrecker hat seine Macht missbraucht? Es muss ein Gesetz her, das den Polizisten befehligt, respektvoller zu sein. Die Industriellen haben vor, die Löhne zu kürzen? Es muss ein Gesetz her, das die Interessen der Arbeiter verteidigt. Kurzum: um den Konflikten entgegenzutreten, die aus der Tätigkeit des Menschen aufkommen, braucht es nur ein passendes Gesetz. Mittels der Anwendung des Rechts bestrebt der Staat, diese Konflikte zu mässigen und zu verwalten. Man kann also feststellen, dass das Recht die Konflikte nicht beseitigt, sie durchaus nicht vorbeugt. Nichts und niemand kann das. Das Recht beschränkt sich darauf, sie zu normen, sie zu kodifizieren. Dadurch verschärft es diese Konflikte und ruft es andere hervor, bis man bei der Absurdität des „kriminogenen“[3] Gegenmittels angelangt, ein Gegenmittel, das schlimmer ist als das Übel.
Die Feinde des Staates ihrerseits dachten, das Problem anders zu lösen, und schrieben jeden Konflikt unter den Menschen dem Funktionieren des Staates selbst zu. Die «Kriminalität» einmal als Reaktion auf eine fehlerhafte Organisation der Gesellschaft definiert, scheint die Möglichkeit konkreter, ihre Ursachen dadurch zu beseitigen, dass die Beziehungen unter den Menschen verändert werden. Tatsächlich war die Abschaffung des Verbrechens und der Inhaftierung eine der Hauptsorgen des utopischen Kommunismus, welcher an Stelle der geniesserischen Resignation der Christen vor der Sünde eine rationale Suche nach den Heilmitteln für die Existenz der Missstände setzte. Seine grossen Prinzipien waren einfach: Diebstahl und Mord haben ab dem Moment, wo Privateigentum und Familie dem gemeinschaftlichen Leben Platz gemacht haben, keinen Grund mehr, zu existieren. Wenn das Glück allen gesichert ist, werden Neid und Groll verschwinden, und mit ihnen die Gewaltakte, die von diesen Gefühlen hervorgerufen werden. Eine solche Harmonie scheint jedoch ziemlich weit von den menschlichen Leidenschaften entfernt und ist nicht vorstellbar ohne einen kräftigen Reduktionismus. Die unterschiedlichen Versuche, die in der Vergangenheit gemacht wurden, in der Praxis mit der Utopie zu experimentieren, haben immer Konflikte hervorgebracht, die nichts davon wissen wollten, auf einen Schlag zu verschwinden, und die die Abstraktion des vorgestellten Glücks offenlegten. Gegen den Staat und seine Justiz könnte sich die soziale Harmonie nur zum Preis von strengen und enthaltsamen Sitten realisieren. «Ich habe die Texte irgendeines berühmten Sozialisten gelesen – merkte Victor Hugo 1848 an – und ich war überrascht, zu sehen, dass wir hier in Frankreich, im neunzehnten Jahrhundert, so viele Klostergründer haben.» In der Tat versprach das sozialistische Arkadien das Glück nur stillen Zönobiten[4]. Seine Anhänger gelangten oft bis zur totalitären Perfektion, da sie - um die im Menschen anwesende, gefährliche Energie auszutilgen, und ihn an jeder Möglichkeit der Konfrontation mit anderen zu hindern - eine minutiöse Organisation jedes Moments des Lebens theo-retisierten.
Abstraktion
Der Staat behauptet also, dass der Mensch schlecht sei, um seine Existenz zu legitimieren. In seinen Händen ist das Recht eine Waffe gegen die Drohung der Barbarei. Die Feinde des Staates hingegen behaupten, dass der Mensch gut sei, um die Nutzlosigkeit des Staates hochzuhalten. In ihren Händen ist das Recht eine Spritze, die es zu therapeutischen Zwecken zu gebrauchen gilt. Und wenn der Mensch weder gut noch schlecht, sondern schlicht und einfach seinen Drangsalen ausgeliefert ist, was bliebe dann vom Recht? Wenn das Leben kein universelles Ziel hätte, keine Wahrheit zu enthüllen hätte, wenn die Natur des Menschen gar keine Essenz hätte, wenn es nichts richtiges gäbe, das es dem, was falsch ist, entgegenzustellen gilt, da es nur das, was mein ist, und das, was es nicht ist, gibt, stimmt es dann etwa nicht, dass jede Norm, die das menschliche Verhalten reguliert, zu einem unerträglichen Missbrauch werden würde? Im Grunde, wenn das Recht auf die Polizei zurückgreift, um sich durchzusetzen, ist das, eben weil der Charakter des Rechts polizeilich ist. Der Schutz der grundlegenden Bedingungen des zivilen Zusammenlebens – zu deren Garanten sich das Recht macht – äussert sich in der Praxis in der Kontrolle des sozialen Friedens innerhalb des Staates (oder der Gemeinschaft); die Pflicht eines jeden, sein Verhalten, bei sonstigem Freiheitsentzug, dem anzupassen, was vom Gesetz diktiert wird, garantiert nicht im Geringsten die Rechtmässigkeit der Justiz, sondern verweist einzig auf ihre Grausamkeit. Eine Norm, die für alle gilt, ist keineswegs gerecht, da sie abstrakt ist und, was noch schlimmer ist, auch uns in Abstraktionen verwandelt. Die Justiz, die den Mord mit lebenslänglicher Haft oder mit dem Tod bestraft, weiss nicht, wer das Opfer ist, wer der Mörder ist, und was die Gründe seiner Handlung sind, und genauso wenig kennt sie bis auf Letzte alle Konsequenzen. Mit der Farce der «erschwerenden» und der «mildernden» Umstände versucht die Justiz, ihren Urteilen einen Hauch von Leben einzuflössen, ohne es zu schaffen, übrigens, denn sie ist sich ihrer Kälte bewusst. Doch das menschliche Verhalten kann nicht kodifiziert werden, es hat vielseitige Gründe und ist eine Frucht des zufälligen Zusammentreffens von Umständen und unterschiedlichen Charakteren. Eine Norm kann diese Gesamtheit nicht erfassen, sie kann sie nicht in ihrer Einzigartigkeit begreifen, sie ist gezwungen, eine Abstraktion von der konkreten Realität der Einzelnen zu machen, wenn sie sich allen auferlegen will.
Aber die Konflikte, die unter Menschen aufkommen, sind nicht abstrakt, sie sind real. Sie sind das Ergebnis von konkreten sozialen Beziehungen, der Unterschiedlichkeit der Interessen, der Träume und der Charakteren der Individuen. In ihrer Abstraktion isoliert die Justiz das Individuum aus Fleisch und Blut, es aus dem Zusammenhang und aus der sozialen Umgebung heraustrennend, worin seine Tat stattfand, und negiert somit seine Bedeutung. Mehr noch: die Justiz trennt das angeklagte Individuum von der Debatte, die es betrifft, indem es seine Autonomie, wie es im Rest des sozialen Lebens geschieht, an seine Repräsentanten delegiert: an die Anwälte. Genauso wie die Bürger an den Staat die Aufgabe delegieren, zu entscheiden, wie sie ihr Leben zu führen haben, delegieren sie an die Justiz die Aufgabe, wie sie ihre Konflikte zu lösen haben. Die Justiz, als getrennter Mechanismus zur Lösung der Konflikte, verschwindet nicht, wenn ihre Funktionen an andere Entitäten übertragen werden, die über die Individuen gestellt werden, aber wandelbarer, erneuerbarer, Abstimmungen unterzogen oder von Vollversammlungen kontrolliert sind. Eine «menschlichere» Justiz wäre noch immer eine Maschine, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, sich unabhängig von den sozialen Beziehungen und somit unvermeidlich gegen sie zu äussern.
Rache
Der Wunschtraum von jedem Totalitarismus ist es, die Gewalt zu verbannen (abgesehen von derjenigen des Staates natürlich). Wenn alle den Geboten der Justiz gehorchen würden, gäbe es keine Konflikte, gäbe es keine Gewalt. Doch eine Welt ohne Zuwiderhandlungen, ohne Konflikte, ohne Unordnung, ist ein riesiges Konzentrationslager. Eine befriedete Welt ist eine Welt, die dem Rumoren seines grössten Reichtums, der Diversität, zu Gunsten der Stille der Gleichschaltung entsagt hat. So verwerflich sie auch ist, die Gewalt ist eine menschliche Charakteristik. Der Punkt liegt weder darin, dem Staat das Gewaltmonopol zuzuweisen, noch darin, jedes Individuum in einen vollkommenen Gewaltlosen zu verwandeln. Es geht nicht darum, die Konflikte aus unserem Leben zu streichen, sondern darum, sie in ihrer Einzigartigkeit anzugehen. Und ihre Lösung muss von denjenigen gesucht werden, die direkt in sie verwickelt sind, ohne sie an äussere Institutionen zu delegieren (den Staat), ohne sie in beschränkten Räumen einzugrenzen (Gerichte), ohne sich mit automatischen Antworten zufrieden zu geben, die von anderen geschrieben wurden (Strafgesetzbuch).
Nun die Justiz, als öffentliche Antwort auf das «Problem» der Konflikte, definiert die individuelle Antwort auf ebendieses Problem mit einem abwertenden Begriff: Rache [ital.: vendetta]. So edel die Justiz ist, so niederträchtig ist die Rache. Mit ihr gehen Exzess, Missbrauch und Aproximation einher. Als ob die Justiz nicht an sich Exzess, Missbrauch und Aproximation wäre. Paradoxerweise hat man, um diese verabscheute Entschlossenheit des Individuums, die Lösung der eigenen Konflikte mit anderen an niemanden zu delegieren, ein Wort von recht sonderbarer Herkunft gewählt. Die vindicta nämlich war der Stab, womit man den Sklaven berührte, der in Freiheit gesetzt werden sollte. Schwert der Justiz und Stab der Rache befinden sich beide in den Händen von dem, der die Macht besitzt, das stimmt, aber während ersteres ein Versprechen von Strafe und Züchtigung ist, trägt zweiterer den Geschmack der Freiheit mit sich. In Wirklichkeit beweist nichts, dass die Rache der obligatorische Weg für diejenigen ist, welche die Justiz ablehnen. Nur innerhalb einer ökonomischen Logik von Kompensation, welche dem Kapitalismus so lieb ist, muss einem Angriff ein anderer Angriff von gleichem Umfang entsprechen. Die Justiz begleicht die Rechnungen, und diese müssen am Ende immer aufgehen. Das ist eine Hinterlassenschaft vom Erbe der liberalen bürgerlichen Revolutionen, die, da sie jedem Bürger eine gleiche Behandlung vor dem Gesetz sichern mussten, dem Mechanismus der administrativen Entscheidungen ein gleiches Funktionieren für jeden Bürger sichern mussten.
Ein Konflikt hat jedoch nicht nur einen Lösungsweg, weil er unendliche Möglichkeiten vorsieht (auch die Gleichgültigkeit oder die Entfernung). Die Antwort kann auf jeden Fall nur kennen, wer ihn an eigener Haut erfährt – eine Antwort, die nicht kodifiziert sein kann. Darum verschwindet das Recht mit der Autonomie des Individuums, und mit ihm auch die Ungerechtigkeit. Denn man sollte nicht glauben, dass das Recht zu negieren, bedeutet, die Ungerechtigkeit zu bejahen. Genauso wenig wie, die Existenz von Gott zu negieren, die Verherrlichung von Satan bedeutet. Im Grunde hatte Hobbes, ein nicht gerade für subversive Fantasien verdächtiger Denker, nicht völlig unrecht, als er behauptete, dass die Gerechtigkeit schlicht in der Einhaltung der Pakte besteht, und dass es deshalb dort, wo es keinen Staat gibt – das heisst, keine Zwangsmacht, welche die Einhaltung der Pakte sichert –, weder Recht noch Ungerechtigkeit gibt.
Lope Vargas
[1] Das italienische Wort giustizia wurde in diesem Text jeweils entweder mit Justiz oder mit Recht, oder bei Grossschreibung im Italienischen mit Gerechtigkeit übersetzt. Diese dreifache Bedeutung geht bei der deutschen Übersetzung leider etwas verloren. – (Alle im Text angebrachten Fussnoten sind vom Übersetzer)
[2] Im Deutschen deutlicher in dem Wort Legalität.
[3] Kriminogen: Kriminalität generierend
[4] Abgeleitet von den gleichnamigen Mönchsgemeinschaften.