Titel: Reise nach Rußland 1920
Untertitel: mit einem aktuellen Vorwort »59 Jahre danach«, Erinnerungen an Lenin und einem Gespräch
AutorIn: Souchy, Augustin
Datum: 1920
Bemerkungen: Reise nach Rußland 1920 (neunzehnhundertzwanzig) Augustin Souchy, Mit e. aktuellen Vorw. »59 Jahre danach« u. e. Gespräch hrsg. von A. W. Mytze. — Repr. nach d. Ausg. 1920 im Verl. d. Sydikalist Kater, Berlin. — Berlin: Verlag Europäische Ideen; Berlin: Guhl, 1979.— ISBN 3—921572—12—6

      59 Jahre danach

      Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine?

      Vorwort

      Die sozialistische Bewegung in Rußland.

      Die Marxisten (Sozialdemokraten)

      Die Narodniki (Volkssozialisten)

      Die Rechten Sozialisten-Revolutionäre.

      Die Linken Sozialisten-Revolutionäre.

      Die Maximalisten.

      Die Anarchisten und Syndikalisten.

      Die Anarchisten des „Nabat“.

      Das Land.

      Die wirtschaftliche Lage der Bauern.

      Die politische Lage der Bauern.

      Die Stadt und die Industrie.

      Die Entwicklung der Gewerkschaften.

      Die Organisation der Gewerkschaften.

      Die Opposition in den Gewerkschaften.

      Verstaatlichung oder Sozialisierung.

      Die Vertrustung.

      Die Kustarbetriebe und Artels.

      Die Konsumtion.

      Das Leben der Arbeiter in den Städten.

      Arbeiterversicherung.

      Das Finanzwesen.

      Die Sowjets (Räte).

      Die Rote Armee.

      Die Erziehung.

      Die Revolution in der Ukraine.

      Machno.

      Die sozialistische Bewegung in der Ukraine.

      Der Kommunismus und die Bauernschaft

      Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine.

      Erinnerungen an Lenin

      Gespräch mit Augustin Souchy

      VERÖFFENTLICHUNGEN (BÜCHER UND BROSCHÜREN) von Augustin Souchy (1892)

59 Jahre danach

Im Februar 1917 wurde das russische Zarenreich gestürzt. Im Oktober des gleichen Jahres fiel die bürgerlich-demokratische Regierung Kerenski. Fünf Monate später kapitulierte das revolutionäre Rußland vor der deutschen Militärmacht. Acht Monate danach brach das deutsche Kaiserreich zusammen. Gleichzeitig dankte das österreichische Kaiserreich ab. Der Fall von Jahrhunderten alten Monarchien erweckte die Hoffnung auf die Weltrevolution, die eine soziale Regeneration der Menschheit einleiten sollte. Die im Osten aufgegangene Sonne der Freiheit würde, so glaubten wir, sich über die ganze Welt verbreiten und Frieden, allgemeinen Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und all das bringen, wofür die sozialistische Arbeiterbewegung seit mehr als einem Jahrhundert gekämpft hatte. Unter der Parole Hände weg von Sowjetrußland wandten wir uns gegen eine militärische Intervention in das Revolutionsland.

Ich hatte die russische Revolution in öffentlichen Versammlungen verteidigt und brannte darauf, das große Werk der sozialen Erneuerung kennen zu lernen. Gleichzeitig drangen aus dem Osten Gerüchte über Hegemoniepraktiken der herrschenden Revolutionspartei in den Westen, die uns beunruhigten. Im Sommer 1919 wurde in Moskau auf Initiative der Bolschewisten die Komintern (Kommunistische Internationale) gegründet, zu deren Teilnahme auch die damals beachtlichen syndikalistischen Organisationen eingeladen wurden. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarchosyndikalisten) sandte mich als Gastdelegierten zum II. Kongreß der Komintern.

Im April 1920 schiffte ich mich in Stettin nach Revall ein. Am 1. Mai in Petrograd — dem heutigen Leningrad — angekommen, blieb ich kurze Zeit in der Nevametropole, reiste danach weiter nach Moskau, machte im Anschluß daran Reisen in die Wolgastädte Nischni-Nowgorod (heute Gorki), Samara, Saratow und in das Gebiet der Wolgadeutschen. Auf einer zweiten Reise besuchte ich die Städte Charkow, Kiew, Poltawa und zahlreiche Dörfer in der Ukraine. Im Sommer nahm ich am II. Kongreß der Komintern in Moskau teil. Mit dem spanischen Syndikalisten Angel Pestaña, den französischen Delegierten Le Petit und Vergeat, dem Vertreter der englischen Shop Stewards und späteren Vorsitzenden des Trade Union Kongresses Jack Tanner, dem Delegierten der syndikalistischen Gewerkschaften Australiens, Paul Freeman, und anderen Linksgewerkschaftern erklärten wir uns für die russische Revolution, waren aber nicht bereit zum Anschluß an eine kommunistische Partei-Internationale, der die Gewerkschaftsbewegung untergeordnet werden sollte. Ich diskutierte über diese und allgemeine Revolutionsprobleme mit den Parteiführern Sinowjew, Kamenjew, Losowski, Victor Serge, sprach fast täglich mit dem Sekretär der Komintern, Radek, und wurde von Lenin zu einem privaten Gespräch im Kreml eingeladen.

Meine Reisen durch das Land und die Gespräche mit den Partei- und Gewerkschaftsführern gaben mir Gelegenheit, die Probleme der Revolution und die Standpunkte, Argumente und Strategien der bolschewistischen Politik kennen zu lernen. Ein einwöchiger Aufenthalt bei Peter Kropotkin in Dimitrow, sowie wiederholte Zusammenkünfte und Diskussionen mit Wollin, dem Theoretiker der Machnobewegung, mit den bekannten Anarchisten Alexander Berkman, Emma Goldman und mehreren anderen, mit dem linken Sozialrevolutionär und ehemaligen Kommissar für das Justizwesen, I. Steinberg, sowie auch mit der berühmten Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa boten mir die Möglichkeit, die verschiedenen Auffassungen über Zielsetzungen und Wege der sozialen Revolution zu konfrontieren. Zahllose Gespräche mit Arbeitern, Bauern, Intellektuellen und Beamten sowie Besichtigungen von Fabriken, Landgütern, Bauernhöfen etc. verhalfen mir zu Einblicken in die Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse.

Nach einem halbjährigen Aufenthalt zurück in Deutschland, schrieb ich auf Vortragsreisen das nieder, was ich im Revolutionslande gesehen, gehört und erfahren hatte. Die erste Fassung des Manuskriptes überließ ich dem Verlag Der Syndikalist, Berlin, in der Absicht, nach meiner Rückkehr dem Entwurf die endgültige Fassung zu geben. Doch die von allen Seiten geäußerten Wünsche nach einem authentischen Bericht über aktuelle Probleme der russischen Revolution veranlaßten den Verlagsleiter Max Winkler, das unfertige Manuskript in Druck zu geben und es im Januar 1921 unter dem Titel Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine zu veröffentlichen. Die Brisanz des Themas verbürgte dem Buche trotz stilistischer Mängel beachtlichen Erfolg. Als erste Publikation eines freiheitlichen Sozialisten, in welcher die russische Revolution bejaht, die Parteidiktatur aber kritisiert und abgelehnt wird, wurde der Bericht in mehrere Sprachen übersetzt.

Mein Kriterium über die Entwicklung und Entartung der Revolution aus dem Jahre 1920 hat sich nicht geändert. Ich war mir zwar klar, daß man nach mehrjährigem Krieg und plötzlichem Zusammenbruch uralter Institutionen nicht sofort einen paradiesischen Zustand erwarten konnte. Doch die vielen Mißstände, und vor allem die politischen Unfreiheiten waren offensichtlich auf die neue Staatsstruktur, auf das diktatorische System von Führern und Geführten, von Befehlenden und Gehorchenden zurückzuführen, das die bolschewistische Partei zwangsweise eingeführt hatte. Die alten Dorf- und Volksgemeinschaften, der Mir und das Artel, wurden von den neuen Behörden aufgelöst, freie Kooperation und freiwillige Zusammenarbeit konnten sich nicht entfalten. Die Freiheit war bekanntlich für Lenin und seine Partei ein bürgerliches Vorurteil. Unter Berufung auf den Ausspruch von Engels, daß man nicht mit einem Sprung aus der Knechtschaft in das Reich der Freiheit gelangen könne, sollte zwischen dem absterbenden Kapitalismus und dem aufsteigenden Sozialismus eine Übergangsperiode eingeschoben werden, in welcher mittels des demokratischen Zentralismus die proletarische Elitepartei die Schlacken und Eierschalen der bürgerlichen Ordnung beseitigen würde. Meine Frage, wie lange die Übergangsperiode dauern werde, konnte mir keiner der bolschewistischen Führer beantworten. Nach Lenins vieldeutigem Orakelspruch sollten Sowjetsystem plus Elektrifizierung den Kommunismus ergeben, wonach auch die Übergangsperiode ihr Ende haben würde. Inzwischen sind 59 Jahre vergangen, das Land ist längst elektrifiziert, das Rätesystem parteistaatlich verankert, sowjetische Raumflüge erforschen den Äther, der Kommunismus aber schwebt immer noch in den Wolken. Chruschtschow prophezeihte, daß Mitte der siebziger Jahre die Grundnahrungsmittel gratis zur Verfügung stehen würden und damit der Verwirklichungsprozeß des Kommunismus seine Endphase erreicht haben werde. Auch das war ein Bluff. Wir stehen jetzt am Ende der siebziger Jahre. Wo ist die klassenlose Gesellschaft, wo das Reich der Freiheit, Towarisch Breschnew? Verschämt liegt der Schleier des Vergessens immer noch über der Theorie der Übergangsperiode. Zynisch spricht man in Diplomatenrussisch nur noch von einer „anderen Gesellschaftsordnung".

In den ersten Jahren war die Revolution von inneren und äußeren Feinden bedroht. Ende 1920 aber war die innere Reaktion besiegt, der äußere Feind nicht mehr zu fürchten. Die Revolutionsregierung wurde von vielen Ländern anerkannt und hatte politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zum Ausland angeknüpft. Der Revolution drohte keine Gefahr mehr. Die Epoche der Freiheit, der Freiheit in der Revolution, hätte beginnen sollen. Doch die Diktatur nahm ihren Fortgang. Lenin sagte in einer seiner Ansprachen: „Wenn eine Reaktion nötig sein sollte, werde ich sie machen." Und die Reaktion kam. Es war die NEP, die Neue ökonomische Politik, die in Verbindung mit einer immer stärkeren Beschneidung der Rechte der Arbeiter- und Bauernräte zum Kronstädter Aufstand im Frühjahr 1921 führte, den Trotzki blutig niederschlug. Die Arbeiterräte waren übrigens bereits vorher entmachtet. Als ich im Sommer 1920 Fabriken besichtigte, gab es keine Arbeiterselbstverwaltung, alles war von staatlich eingesetzten Beauftragten verwaltet.

Die Verfolgung von Revolutionären, die nicht der kommunistischen Partei angehörten, setzte nach dem Oktobersiege Ende 1917 ein. Von 1918 bis 1920 wurden nach offiziellen Angaben 128 010 Personen — die meisten von ihnen Arbeiter und Bauern, Sozialisten und Anarchisten aller Richtungen — verhaftet, 9 641 erschossen, 9 599 als Geiseln behalten. Nach dem Attentat auf Uritzky, den Chef der Petrograder Geheimpolizei (Tscheka), und nach einem fehlgschlagenen Attentat der Sozialrevoluionärin Dora Kaplan auf Lenin wurden in Petrograd 512 Geiseln erschossen. 1923 richteten bewaffnete Polizisten unter 300 gefangenen Sozialdemokraten auf der Solowjetzki-Insel im nördlichen Eismeer ein Blutbad an.[1] Als Stalin 1928 die Zwangskollektivierung auf dem Lande einführte, begann die Vernichtungskampagne gegen die Kulaken, der Hunderttausende zum Opfer fielen. In den dreißiger Jahren waren die Gefängnisse voll von Sozialisten und Anarchisten aller Tendenzen. Auch die Verfolgung von Trotzkianhängern nahm ihren Fortgang. Daß die Verletzung der Menschenrechte trotz Helsinki bis auf den heutigen Tag andauert, davon zeugen die Gefängnisse, die Arbeits- und Konzentrationslager und psychiatrischen Isolierungshäuser, wo Tausende politischer Nonkonformisten eingesperrt sind, weil sie ihre politische Meinung auszudrücken wagten.

Die Geschichte der russischen Revolution zeigt, daß der Urheber der Verfolgungen und des Massenterrors nicht Stalin, sondern Lenin ist. Lenin war es, der für den Strafkodex von 1922 nachfolgenden Passus schrieb:

„Propaganda oder Agitation oder Beihilfe oder Anteilnahme an einer Organisation, die demjenigen Teil der Weltbourgeoisie Hilfe leistet, der nicht die Gleichberechtigung des zur Ablösung des Kapitalismus kommenden kommunistischen Eigentumssystems anerkennt und der zum gewaltsamen Umsturz dieses Systems strebt, sei es in Form einer Intervention oder Blockade oder Spionage oder Finanzierung der Presse und ähnlicher Mittel, wird mit dem Höchstmaß der Strafe (Hinrichtung) geahndet; mit Umwandlung dieser Strafe bei mildernden Umständen in eine Freiheitsentziehung oder Verbannung im Ausland.“

Die russische Revolution erweckte anfangs in der internationalen sozialistischen Bewegung Hoffnung auf den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus im Weltmaßstab. Man dachte an die Parallelerscheinung der großen französischen Revolution, in der die bürgerliche Gesellschaftsordnung an die Stelle des Feudalismus trat. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Mit wachsender innerer Unruhe sah ich während meines sechsmonatigen Aufenthaltes im Revolutionslande, wie die errungenen Freiheiten verloren gingen. Provisorische Notmaßnahmen wurden institutionell in die Struktur des neuen Herrschaftssystems eingebaut. Ehemalige Berufsrevolutionäre verwandelten sich in machtbesessene Diktatoren. An die Stelle der zaristischen Autokratie war die marxistische Soziokratie getreten.

In den ersten Revolutionsjahren fürchteten die kapitalistischen Mächte eine Ausbreitung des östlichen Revolutionsvirus auf den Westen. Das ist lange vorbei. Heute fürchtet der kapitalistische Westen keine Sozialrevolution à la russe, und auf die Arbeiter übt der kommunistische Osten auch keine Anziehungskraft mehr aus. Die Praxis Lenins und seiner Nachfolger hat die marxistischen Theorien diskreditiert. Die Sowjetunion ist Geschäftspartner des internationalen Kapitals. In Italien, Spanien und auch in Frankreich wollen selbst die kommunistischen Parteien ihren eigenen Kommunismus, nicht den russischen. Als ich 1920 Rußland bereiste, war das Land revolutionär. Die heutige Sowjetunion ist ein auf Erhaltung ihres Herrschaftssystems bedachtes konservatives Land. Die Revolution ist seit mehr als einem halben Jahrhundert in den Ruhestand getreten. Ob sich die soziokratische Diktatur auf friedlichem Wege wandeln oder ob sich das Volk selbst durch radikale Eingriffe, durch eine neue Revolution, seine Befreiung erobern wird, das kann nur die Zukunft beantworten.

Die Entwicklung in Rußland macht eine Revision der marxistischen Revolutionstheorie erforderlich. Das russische Experiment hat nicht gezeigt, wie eine soziale Revolution durchgeführt werden soll, es zeigte vielmehr, wie sie nicht gemacht werden darf, wenn soziale Gerechtigkeit und Freiheit das Ziel sein soll. Der Aufbau einer freiheitlich sozialistischen Gesellschaft ist eine viel zu wichtige und bedeutsame Aufgabe, als daß sie Berufsrevolutionären oder Eliten überlassen werden dürfte. Auch das Inkareich war eine von Eliten organisierte Gesellschaftsordnung, in der es Heloten, aber keine freie Persönlichkeit gab. So ist auch heute noch die Sowjetunion in ähnlicher Weise von Eliten organisiert. Das Individuum als solches gilt nichts, der Wert der Persönlichkeit wird nicht geschätzt. Der Sozialismus ist nur dann eine vorzugswürdigere Gesellschaftsordnung, wenn er neben der sozialen Gerechtigkeit auch die Freiheit garantiert. Doch wahre politische Freiheit gab es in Rußland nicht im Zarenreiche, nicht unter Lenin und sie gibt es auch heute nicht. Die russische Revolution hätte nur durch einen Sozialismus in Freiheit zum Vorbild dienen können. Die Parteidiktatur ist ein reaktionärer Rückschlag.

Ich war 1920 nicht der einzige Enttäuschte unter den vielen Delegierten und ausländischen Gästen. Einer von ihnen war Bertrand Russell, der in seiner 1921 in London erschienenen Schrift The Practice and Theory of Bolshevism schrieb: „Der Despotismus, der die Bolschewisten kennzeichnet, ist ein fester Bestandteil ihrer Sozialphilosophie, er würde sich wiederholen müssen, wenn auch in gemäßigter Form, wo immer diese Philosophie an Einfluß gewinnt.“

Was Bertrand Rüssel 1921 schrieb, gilt auch heute noch. Damals wie heute werden Nonkonformisten und das System kritisierende Dissidenten harten Verfolgungen ausgesetzt. Immer noch sind freie Räte, freie Kolchosen, freie Gewerkschaften, freie Genossenschaften, freie Vereine, freie Versammlungen, Auslandsreisen und andere Grundrechte verboten. Der Bürger hat keine, der diktatorische Staat alle Rechte.

Dem gegenüber möchte ich zum Abschluß eine konzentrierte Zusammenfassung der Lehren meiner Rußlandreise aus dem Jahre 1920 im Zusammenhang mit meinen Erfahrungen aus andern Revolutionärländern während der letzten 58 Jahre darlegen. Die Beseitigung des Zarismus durch die Revolution von 1917 war eine sozialpolitische Notwendigkeit, die Errichtung der bolschewistischen Diktatur dagegen ein tragischer historischer Fehler. War die Enteignung des privaten Großgrundbesitzes und der privaten Industrie- und Handelsunternehmen ein Akt ausgleichender Sozialgerechtigkeit, so hat sich die Verstaatlichung der Wirtschaft als kontraproduzierende Maßnahme mit schwerwiegenden Folgen erwiesen. Wohl wurden die wenigen Reichen ärmer, die vielen Armen aber nicht reicher. Daß in den ersten Revolutionsjahren nicht sofort ein Sozialparadies erwartet werden konnte, war uns allen klar. Doch wenn in einem an Rohstoffen reichen Lande mit einem technisch begabten Volke 60 Jahre nach der Revolution der durchschnittliche Lebensstandard immer noch niedriger ist als in an Naturschätzen armen privatkapitalistischen Ländern, dann muß das am System der Staatswirtschaft liegen. Es ist Zeit, die zentrale Verwaltungswirtschaft abzuschaffen und autonome Kollektivunternehmen einzuführen. Das Rätesystem war ein Schritt auf dem rechten Wege, doch die Räte müssen frei gewählt werden, ihre Tätigkeit frei vom Parteizwang ausüben dürfen, die Leitung in eigene Hände nehmen. Die Kommunistische Partei muß ihren Herrschaftsanspruch aufgeben, der autoritär zentralistische Staat muß abgeschafft und durch Föderationen von autonomen Gemeinden, von wirtschaftlichen und kulturellen Einheiten abgelöst werden. Damit würden die politischen Gefangenen befreit, Gefängnisse, Konzentrationslager, psychiatrische Zwangsanstalten verschwinden. Die geheime Staatspolizei und Militärmacht müssen aufgelöst, die vollständige Abrüstung durchgeführt, die Waffen des Völkermordes zerstört werden. Die öffentliche Ordnung muß im Einverständnis mit der Allgemeinheit geregelt werden.

Utopie, Phantasie, Traum? Nein. Nach dem Siege der Oktoberrevolution regten sich Hoffnungen dieser Art in breiten Massen des russischen Volkes. Heute würden Millionen und aber Millionen Menschen nicht nur in Rußland, in allen Ländern, eine solche gewaltlose, herrschaftsfreie, von der Gefahr eines neuen Weltbrandes befreite Gesellschaft begrüßen. Ich mit meinen 86 Jahren werde den Wandel nicht mehr erleben.

München, Februar 1979

Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine?

Resultat einer Studienreise von April bis Oktober 1920 von Augustin Souchy

Das Recht der Uebersetzung und des Nachdrucks einzelner Kapitel ist nur durch den Verlag zu erwirken.

Verlag „Der Syndikalist", Fritz Kater Berlin 0 34, Kopernikusstraße 25 II

Vorwort

Als die russische Revolution ausbrach, als der Zarismus gestürzt wurde, gab es keinen Sozialisten, der diese Revolution nicht begrüßte. Alle, vom gemäßigten Staatssozialisten und Reformisten bis zu den radikalsten Anarchisten, ja selbst die Liberalen Europas sahen in dem Sturz des Zarismus einen Fortschritt. Als dann Kerenski die Trümmer des russischen Staatsschiffes in den sicheren Hafen der Entente steuern wollte und den Krieg mit Deutschland fortsetzte, machte sich unter den russischen Massen Unzufriedenheit bemerkbar, denn die Revolution sollte ihnen ja Frieden bringen! Da Kerenski mit der Koalition Miljukow und Gutschkow sich der Entente verschrieb, konnte er natürlich die Friedenswünsche des russischen Volkes nicht erfüllen. Es war klar, daß die revolutionäre Welle nicht halt machen, sondern sich in der Richtung des Friedens weiterbewegen würde. Die Partei aber, die auf ihr Programm den Frieden setzte, hatte daher die größte Aussicht auf Erfolg. Dies waren die Bolschewiki.

Die politischen Gründe für den Sieg der Bolschewiki waren da. Zu diesen politischen gesellten sich noch psychologische und wirtschaftliche.

Die psychologischen Gründe. Das russische Volk lebte seit Jahrhunderten unter der Herrschaft des Zarismus. Die Autokratie von oben tat alles, um den Autoritätsglauben unten zu erhalten. Dieser Autoritätsglaube ist so tief in das Leben des Volkes eingedrungen, daß er sogar zu dem Leben der Bauern untereinander gehörte. Symbolisch hierfür ist das Wort „Väterchen“. Einer der stärksten Faktoren zur Konservierung dieses Glaubens war die Religion. Der Katholizismus der orthodoxen griechischen Kirche findet noch heute in Rußland seine festeste Stütze. Die Revolution hat wohl den Autoritätsglauben an den Zaren erschüttert, aber nicht völlig ausgemerzt. Der Glaube an die Autorität lebt in Rußland noch weiter und ist heute noch stärker als beispielsweise in England oder Amerika. Aus diesem Grunde war es natürlich, daß das neue politische System wieder autoritär sein mußte in dem Maße, wie der Autoritätsglaube noch weiter existierte. Der Bolschewismus ist ein autoritäres System. Theoretisch will er selbst marxistisch, d. h. autoritärsozialistisch sein.

Die wirtschaftlichen Gründe. Schon während der Kerenski-periode wuchs die Unzufriedenheit und damit die Forderung nach Selbständigkeit unter den Arbeitern. Die Arbeiter, vertreten durch die Arbeiterräte oder Fabrikkomitees, wollten nicht länger Lohnsklaven des Fabrikbesitzers sein. Sie wollten die Fabrikbesitzer enteignen und selbst die Fabriken übernehmen. In langem andauernden Kampfe gelang ihnen dies schließlich in einem günstigen Augenblick. Da sie aber auf die Uebernahme der Produktion gar nicht vorbereitet waren und auch keine Gewerkschaften hatten, die dazu imstande gewesen wären, die Industrien zu leiten, so war die erste Periode nach der Uebernahme der Fabriken durch die Arbeiter ein allgemeiner Zerfall. Die Arbeiter arbeiteten für sich, aber nicht für die Gemeinschaft. Eigene Industrieverbände hatten sie nicht, und was sie davon hatten, war zu wenig entwickelt, so daß in dieser allgemeinen Zerfahrenheit eine streng zentralistische Partei die einzige Macht war, die das Chaos einigermaßen bekämpfen konnte. Man kann sogar noch von Glück sprechen, daß die Partei der Bolschewiki da war, die Kraft genug dazu hatte. Sonst hätte vielleicht eine nicht sozialistische Partei, z. B. die der Kadetten, eine sofortige Reaktion angebahnt. So, wie es kam, war freilich das Ideal des Sozialismus nicht erfüllt, aber unter den gegebenen Umständen der einzige Ausweg. Ein anderer wirtschaftlicher Faktor war die Unterstützung des Strebens der Bauern nach Enteignung des Landes von den Großgrundbesitzern. Es waren also auch die wirtschaftlichen Faktoren in Stadt und Land für den Sieg der Bolschewiki günstig.

Heute gibt es viele Sozialisten, die die Herrschaft der Bolschewiki in Rußland verwerfen. Sie sind Gegner der Bolschewiki, weil die Verhältnisse in Rußland unter der Herrschaft der Bolschewiki nicht sozialistisch sind. Allerdings, wenn man den Maßstab des Sozialismus oder Kommunismus auf die russischen Verhältnisse anlegt, dann ist es wahrlich nicht schwer, zu finden, daß in Rußland kein Sozialismus oder Kommunismus herrscht, und dann kann man — von dieser hohen Warte aus — den Bolschewismus verurteilen.

Wir haben unter den Gegnern des Bolschewismus drei Arten zu unterscheiden.

Die ersten sind die Vertreter des Kapitalismus und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dies sind alle Staaten, die während des Krieges die Entente gegen Deutschland und Oesterreich-Ungarn bildeten, die jetzt sich im Völkerbunde zusammengeschlossen haben (Völkerbund ist ein viel zu edler Name für dieses imperialistische Gebilde), sowie Amerika. Außerdem das kapitalistische Deutschland. All diese bekämpfen den Bolschewismus nicht etwa deshalb, weil er ihnen nicht das brachte, was sie von ihm erhofften, — sie waren im Gegenteil von Anfang an gegen den Bolschewismus —, sondern weil sie sich von ihm bedroht fühlen, weil sie fürchten, daß ein bolschewistisches Rußland ständig eine Revolutionsgefahr für alle anderen Länder sei. Eine Revolution aber fürchten sie vor allem in ihrem eigenen Lande, da sie dann ihre Privilegien, vor allem das Privateigentum verlieren würden, worauf die ganze heutige Gesellschaftsordnung beruht. Außer diesen allgemeinen, internationalen kapitalistischen Interessen gibt es auch noch speziell nationalistische. So gehört z. B. heute Frankreich deshalb zum schärfsten Gegner des Bolschewismus, weil die französischen Kapitalisten mehr wie alle anderen mit ihrem Geld in Rußland interessiert sind. Sie wollen ihr Geld, das sie dem zaristischen Rußland geliehen hatten, unter allen Umständen zurück. Obwohl nun die Bolschewisten wiederholt erklärten, daß sie gewillt sind, dies zu tun — freilich, im Beginn annullierten die Bolschewiki alle Schulden des Zarismus —, sind die französischen Kapitalisten damit nicht zufrieden; sie wollen auch in Zukunft Geschäfte machen in dem an Naturschätzen so reichen Rußland. Und dies trifft ebenfalls auch für alle anderen kapitalistischen Staaten zu. Aus diesen Gründen bekämpfen sie nun Sowjetrußland mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen: durch offenen und geheimen Krieg, durch die Blockade und durch Unterstützung der russischen Konterrevolutionäre.

Die zweite Art der Gegner des Bolschewismus sind die gemäßigten und reformistischen Sozialdemokraten. Diese waren teils von Anfang an Gegner der bolschewistischen revolutionären Taktik, z. B. der Gutheißung der Vertreibung der Konstituante durch die Anarchisten; zum Teil waren die Bolschewiki an dieser Auseinanderjagung beteiligt, teils wurden sie später Gegner der antidemokratischen und antihumanistischen Mittel der Bolschewiki, wie z. B. des Zeitungs- und Versammlungsverbotes. Auch waren sie prinzipielle Gegner der unmittelbaren und absoluten Expropriation der Kapitalisten und des Grund und Bodens ohne Entschädigung. Ihrer Meinung nach hätten die Bolschewiki Anschluß an die Demokratien des Westens suchen sollen. Sie nahmen Marx zur Hilfe und sagten, diaß der Sozialismus sich erst durch den Kapitalismus hindurch entwickeln muß. Politisch müßte in Rußland nach dem Sturze des Zarismus erst die Demokratie kommen und wirtschaftlich der Kapitalismus; dann, nachdem diese Entwicklung sich langsam vollzogen hätte, wäre Rußland für den Sozialismus reif geworden. Der Sozialismus muß erst durch die progressive Entwicklung kommen, er ist ein Produkt der Evolution. Rußland war für den Sozialismus noch nicht reif. Sie bekämpfen ebenfalls die freiheitsfeindlichen Tendenzen der Bolschewiki, ihre Außerordentlichen Kommissionen usw. Wenn sie aber an der Macht sind, dann lassen sie sich in ihrer Politik keineswegs von humanistischen Gesichtspunkten leiten. Ein Noske, also einer dieser Richtung, als Wehrminister hat sich nicht humanistischer, vielleicht noch heuchlerischer benommen, als die Bolschewisten. Im ganzen lehnt diese Richtung der Sozialdemokraten, Sozialpatrioten, Reformisten, oder wie man sie noch sonst genannt hat, die Prinzipien und die Methoden und Taktik der Bolschewisten ab, weil die Bolschewiki ihnen zu radikal sind. Auch diese Sozialdemokraten bekämpfen die Bolschewiki versteckt oder offen — meist versteckt — mit allen Mitteln der Gewalt. Sie helfen der bewaffneten Konterrevolution, halten die Blockade gegen Rußland aufrecht usw. Während der sozialdemokratischen Regierung in Deutschland tat diese alles gegen das bolschewistische Rußland, was sie nur tun konnte.

Zu der dritten Art der Gegner der Bolschewiki endlich gehören die antiautoritären Sozialisten, die Anarchisten und Syndikalisten. Während die zwei erstgenannten Gegner der Revolution überhaupt sind, so sind die letzteren durchaus revolutionär. Sie sind auch nicht Gegner der Bolschewisten in demselben Sinne wie die zwei erstgenannten; sie sind vielmehr Gegner der bolschewistischen Lehren, Gegner der bolschewistischen, autoritären Weltanschauung; sie sind Weltanschauungsgegner. Sie kämpfen auf geistigem Gebiete gegen die Bolschewiki. Während die reformistischen Sozialisten gegen die Bolschewiki sind, weil diese ihnen zu weit gingen, verhalten sich die revolutionären Syndikalisten und Anarchisten den Bolschewiki negativ gegenüber, weil sie ihnen nicht weit genug gingen. Sie werfen den Bolschewiki vor, daß ihre Methoden die Grundlagen der alten Weltordnung des Staates und des Kapitalismus nicht gründlich genug beseitigten, daß sie dem Geiste der Autorität, dem Vorurteil des Staates, dem System der Lohnsklaverei zu viel Konzessionen gemacht und dadurch die Revolution in ihrer weiteren Entwicklung gehemmt haben. Sie nehmen es den Bolschewisten übel, daß diese einen neuen Staat errichtet und dadurch die Revolution in falsche Kanäle geleitet haben. Sie zeigen den Bolschewisten ihre Inkonsequenz, die darin liegt, daß sie auf der einen Seite behaupten, der Staat sei eine Unterdrückungs- und Klasseninstitution, und daß eine freie Gesellschaft nur ohne Staat bestehen kann, auf der anderen Seite aber ihre ganze Kraft daran setzen, um diesen Klassenstaat so kräftig wie möglich, so fürchterlich wie er nur je war, zu gestalten, und ihn durch den stärksten Zentralismus vervollkommnen. Die revolutionären Syndikalisten und Anarchisten sagen weiter, daß die Bolschewisten sich durch die Einführung dieses Staates und dieses Zentralismus nicht der Freiheit nähern, sondern sich immer weiter von ihr entfernen. Als Gegner der Eroberung der politischen Macht werfen sie den Bolschewisten vor, daß diese durch die Eroberung der politischen Macht zu viel Machtpolitiker geworden sind und die wichtigere Seite des Sozialismus und Kommunismus in den Hintergrund schoben. Da sie nun einmal den Weg der politischen Macht betreten, waren sie auch dazu gezwungen. Daraus resultieren dann die Unterdrückungen der anderen sozialistischen Parteien und Richtungen, das Verbot von Zeitungen und Versammlungen usw. Diese dritte Art sind also Gegner der bolschewistischen Methoden der Eroberung der politischen Macht, des Zentralismus und des Staatssozialismus. Es braucht wohl aber nicht erst gesagt werden, daß sie gleich den Bolschewisten erbitterte Gegner des Privateigentums, des Kapitalismus, der bürgerlichen Demokratie und also auch jeder Nationalversammlung sind.

Wie man leicht ersehen kann, sind die Kapitalisten und Sozialreformisten schärfere und politische Machtgegner der Bolschewisten. Die Anarchisten und revolutionären Syndikalisten dagegen sind wohl auch prinzipielle Gegner der bolschewistischen Methoden, aber wenn die Bolschewisten es wirklich ehrlich mit der Zerstörung des Staates meinen, dann müßten sie sich ihnen nähern, und dann könnte aus dieser Gegnerschaft eine Waffengemeinschaft erwachsen. So wie die Sache jetzt steht, verhalten sich die Anarchisten und revolutionären Syndikalisten den Bolschewisten negativ, wenn nicht ablehnend gegenüber.

Den Deckmantel der „Objektivität" vorzuschützen bedeutet oft Feigheit, denn freier Beurteilung ohne jeden subjektiven Einschlag ist niemand fähig, am allerwenigsten aber Persönlichkeiten. Ich sage es daher frei heraus, daß ich revolutionärer Syndikalist bin und eine anarchistische Weltanschauung habe. Wenn ich aber, gleich meinen Gesinnungsgenossen, nicht alle Methoden und Taktik der Bolschewiki anerkenne, dann wäre es im höchsten Grade geschmacklos von den Bolschewiki, uns als konterrevolutionär abzutun, wie man es so gern tut, um den revolutionären Syndikalismus und Anarchismus vor den revolutionären Arbeitern zu mißkreditieren. Vor Ausbruch der Revolution und vor dem Kriege wäre es keinem russischen Bolschewiki eingefallen, einen revolutionären Syndikalisten und Anarchisten als konterrevolutionär zu bezeichnen, nur weil dieser den Staat, die Diktatur des Proletariats, den Zentralismus ebenso verwarf wie den Kapitalismus. Im Gegenteil, damals hatte der Anarchist und Syndikalist viel mehr Recht gehabt, den Bolschewiki diesen Beinamen zu geben. Er tat es natürlich dem russischen Bolschewiki gegenüber nicht. Jetzt ist die Sache anders. Die Bolschewiki sind herrschende Partei. Ihre Theorien, ihre Methoden und ihre Taktik sind nicht nur platonisch; sie sind kalte Wirklichkeit geworden, die für das russische Volk oft recht hart fühlbar ist. Die Theorien und Methoden, die früher in den Zeitungen ein mehr oder weniger dankbarer Diskussionsstoff waren, sind heute in Rußland Verordnungen, Dekrete, Gesetze für das russische Volk. Wenn wir also heute gegen diese Theorien und Taktik polemisieren, so sind wir gezwungen, auch zu den Dekreten Stellung zu nehmen. Tun wir aber dies, so stempeln die Bolschewiki uns, wenn unsere Kritik abweisend ausfällt, als Konterrevolutionäre. Enthalten können wir uns dieser Kritik heute natürlich ebensowenig wie früher. Der Unterschied ist aber, daß wir heute konkrete Unterlagen haben, während wir früher nur mit Hypothesen arbeiteten. Es ist aber notwendig, eines zu besten: die Unterscheidung zwischen den Dekreten und Gesetzen samt Verordnungen, die aus den Theorien herstammen und denen, die auf die Verhältnisse in Rußland zurückzuführen sind. Eine Kritik der letzteren wäre, in Anbetracht dessen, daß die bolschewistische Partei eine revolutionäre Partei ist, eine Kritik der Revolution selbst. Eine solche können wir aber heute, insbesondere als Revolutionäre, noch nicht vornehmen. Eine Kritik der ersteren aber halten wir heute für ebenso unabweisbar wie früher die Diskussionen zwischen den verschiedenen sozialistischen Richtungen. Außerdem müssen wir aber die Wirkungen beider Arten Dekrete und Gesetze, derjenigen, die aus den Theorien herstammen, und derjenigen, die auf die Verhältnisse zurückzuführen sind, auf das Volk untersuchen. Denn so wenig wir an Dekrete und Gesetze glauben, so müssen wir doch zugestehen, daß sie eine Reaktion beim Volke auslösen. Das Volk reagiert teils freundlich, teils feindlich auf diese Dekrete, je nach ihrer Natur und nach den Wünschen des Volkes. Auch gibt es solche Dekrete, die die revolutionären Kräfte des Volkes auslösen und befördern, und solche, die sie eindämmen und die revolutionäre Initiative vernichten.

Eine solche Untersuchung ist aber äußerst schwierig. Die Klassifizierung der Dekrete und Gesetze in solche, die aus den Theorien herstammen, und solche, die auf die Verhältnisse zurückzuführen sind, ist nämlich m der Praxis nicht bei allen möglich. Eine Reihe Dekrete sind das Resultat einer Mischung von beiden Elementen. Wenn nun die Wirkungen ganz öder teilweise revolutionsfördernd oder freiheitswidrig sind und das Volk dementsprechend reagiert, dann könnte man leicht in die merkwürdige Lage kommen, 60 Proz. gutheißen zu wollen und 40 Proz. zu verurteilen. Eine soziale Revolution ist aber kein Rechenexempel, da heißt es eben, entweder man akzeptiert die Revolution und dann natürlich auch diese Unschönheiten, oder man akzeptiert sie nicht.

Es ist aber für unseren Zweck gar nicht nötig, eine solch unmögliche Analyse für das soziale Geschehen, wobei wir den Prozentualgehalt jedes Komponenten ausrechnen, vorzunehmen. Es handelt sich hier nicht in erster Linie um eine Kritik des Bolschewismus, sondern um eine klare Erkenntnis der Revolution in Rußland und dessen, was sie uns gebracht hat. Die Hauptabsicht hierbei ist, daß die revolutionären Arbeiter Deutschlands und Westeuropas, für die dies Buch geschrieben ist, daraus eine Lehre ziehen, und bei einer ausbrechenden Revolution im eigenen Lande die Erfahrungen der russischen Revolution sich zunutze machen. Der Zweck dieses Buches ist also nicht ein konterrevolutionärer, sondern ein revolutionärer. Wenn die Arbeiter bei der getreuen und sachgemäßen Wiedergabe der Verhältnisse in Rußland auch hie und da oder im großen ganzen zu einer Ablehnung solcher Verhältnisse für ihr eigenes Land kommen, so soll dies nicht eine Abweisung der sozialen Revolution sein, sondern nur eine Lehre, wie sie es nicht zu machen haben, wenn im eigenen Lande eine Revolution ausbricht. Dies ist der Hauptzweck dieses Buches, und auch die Schilderungen aus Rußland, die ich wahrheitsgetreu, ohne Schminke und ohne Verheimlichungen, gebe, sollen diesem Zwecke untergeordnet sein.

Wenn nun die Verhältnisse in Rußland nicht so sind, wie mancher sie erhoffte, oder wie er sich die Durchführung der sozialen Revolution denkt, so möge er bedenken, daß die russische Revolution nicht zu einer Zeit kam, als die russischen Arbeiter und Bauern in ihren großen Massen darauf vorbereitet waren, ihr wirtschaftliches und politisches Leben nach den Prinzipien der Freiheit zu organisieren, sondern daß die Revolution den Arbeiter völlig unvorbereitet vorfand. Wenn man dann noch den verhältnismäßig technischen Tiefstand der russischen Arbeiter dazu addiert, dann stelle man sich die Frage, ob man sich vorgestellt hätte, daß die Revolution so kommen würde, wie sie sich in dem Geiste einiger Theoretiker oder weit fortgeschrittener Revolutionäre ausmalte.

Stellen wir uns also vor die Frage: wünschten wir deshalb, weil die russische Revolution nicht das brachte, was wir von ihr erhofften, lieber, sie wäre nicht gekommen? Dann kann doch nur ein Antirevolutionar den verneinenden Wunsch hegen. Jeder Revolutionär muß aber wie der Soldat mit Gewehr bei Fuß mit seinem Herzen, seinen ganzen Gefühlen und Sympathien bei der Revolution stehen. Und wie könnten wir auch anders! Wo wir ständig die Revolution erstrebten, erhofften und auf sie hinarbeiteten, sollten wir jetzt, da sie gekommen, die wir in unseren Liedern besungen, uns von ihr zurückziehen, wie eine lieblose Mutter vor einem mißgestalteten Kinde? Nein, die Revolution ist da; sie ist nicht so, wie wir sie erhofften. Es ist ein mißgestaltetes, ja vielleicht ein teilweise untergeschobenes Kind. Aber es ist unser Kind. Wir sind die Eltern. An uns ist es, das Kind anzuerkennen, es zu pflegen, zu erziehen, es umzuformen und zu einem starken, freien, stolzen und möglichst vollkommenen zu machen.

Berlin, im Dezember 1920.

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Eine graphische Darstellung .

Die sozialistische Bewegung in Rußland.

Da der Hauptzweck dieses Buches die Darstellung der russischen Revolution und der Verhältnisse, die durch sie geschaffen sind, ist, so sollen die sozialistischen Parteien oder Bewegungen,, die in Rußland existieren, nur in dem Maße dargestellt werden, als es zum Verständnis der russischen Verhältnisse und der Revolution notwendig ist.

Die Marxisten (Sozialdemokraten)

Die russische sozialistische Bewegung war im Anfange nicht sozialdemokratisch. Auch der Sozialismus, den Bakunin vertrat, war nicht auf Grund der sozialdemokratischen Theorien entstanden. Es war ein Sozialismus, der sich aus dem besonderen landwirtschaftlichen Charakter des Landes ergab. Dieser Sozialismus nannte sich die Bewegung der Narodniki. Diese Bewegung war eine speziell russische Schule des Sozialismus. Später entstand unter dem Einflusse Westeuropas auch in Rußland eine speziell sozialdemokratische Schule des Sozialismus. Hauptsächlicher Begründer dieser Schule war Plechanow, der seine Anschauungen unter dem Einflüsse von Marx und Engels bildete. Es bildeten sich so im Jahre 1883 die Anfänge der sozialdemokratisch-marxistischen Partei. Da diese Schule nicht aus den Tendenzen der russischen Arbeiter- und Bauernbewegung, sondern aus dem Auslande die Bausteine zu ihren Theorien holte und speziell unter Anlehnung an die deutsche Arbeiterbewegung sich entwickelte, so werden für den westeuropäischen und speziell für die deutschen Arbeiter die Prinzipien und Theorien dieser Schule geläufig sein. Es ist Marxismus. Freilich hat sich unter der Herrschaft der russischen Knute ein revolutionärer Kampfesgeist unter ihnen, wie unter allen russischen Revolutionären erhalten, da sie gegen den Zarismus radikal zu sein gezwungen waren.

Die sozialdemokratische Partei Rußlands war aber sehr früh in einen rechten und in einen linken Flügel geteilt. Im Jahre 1905 kam es zwischen beiden Flügeln zu einem offenen Bruch und zur Spaltung. Die Radikalen waren in der Mehrheit und nannten sich daher Mehrheitler, auf russisch Bolschewiki. Die Gemäßigten waren in der Minderheit, auf russisch Menschewiki. Bei der Minderheit, den Menschewiki, blieb Plechanow, zu ihnen gehörten weiter Martow und Abramowitsch. Der Führer der Bolschewiki war Lenin. Plechanow starb kurz nach Ausbruch der russischen Revolution. Er galt als der Vater der russischen Sozialdemokratie.

Das Programm der Menschewiki ist dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie oder dem rechten der Unabhängigen ähnlich. Selbst taxieren sie sich jetzt auf den gleichen Standpunkt wie die rechten U. S. P. D.

Mehr interessiert uns hier das Programm der Bolschewiki, weil diese Partei an der Macht ist, zur herrschenden Partei in Rußland geworden ist. Es ist also ihr Programm, das mehr oder weniger verwirklicht wurde. Und wenn man auch nicht vollständig die Verhältnisse in Rußland auf ihr Programm zurückführen kann, da ja das Leben immer anders ausfällt als wie es in Programmen steht, so hat doch das Programm dieser Partei einen zweifellosen Einfluß auf die Entwicklung seit Machtergreifung durch die Bolschewiki und auf die jetzige Situation in Rußland ausgeübt, wenn man überhaupt zugibt, daß die Menschen Einfluß auf das soziale Geschehen ausüben. Wenn wir nun die wichtigsten Punkte aus dem Programm der Bolschewiki herausnehmen, dann haben wir gewissermaßen ein Kriterium, in welchem Maße die Verhältnisse in Rußland auf die Politik und die Theorie der Bolschewiki und in welchem Maße sie auf die Revolution selbst zurückzuführen sind.

Zu den Grundprinzipien der russischen Bolschewiki gehört die Diktatur des Proletariats, die Eroberung der politischen Macht durch die sozialdemokratische Partei, was fälschlich durch das Proletariat genannt wird. Die Enteignung der Fabriken, Gruben, Schiffe, Hütten, kurz der gesamten Industrie sowie des Grund und Bodens und die Ueberführung in Staatseigentum. Die Organisierung des wirtschaftlichen Lebens durch den Staat. Es heißt wörtlich in ihrem Programm: „Die Staatsmacht hört auf, ein Schmarotzerapparat zu sein, der über dem Produktionsprozeß steht; sie beginnt sich in eine Organisation zu verwandeln, die lediglich die Funktionen erfüllt, das Wirtschaftsleben des Landes zu verwalten." Die Aufhebung der politischen Rechte für die Klasse der Ausbeuter, sowie alle sonstigen Freiheitsbeschränkungen, die sich für die Durchführung der Diktatur als notwendig erweisen, die Organisierung des Verbrauchs durch obligatorische Mitgliedschaft aller Staatsangehörigen in den Konsumvereinen sind notwendige Folge. Diese sind dann Staatsorgane.

Dies sind kurz skizziert die Grundsätze und das Programm der bolschewistischen Partei, die sich später, nachdem sie die Macht erobert hatte, kommunistische Partei nannte. Nach Lenins Erklärungen nannte sie sich deshalb kommunistische Partei, weil sie sich von den Sozialdemokraten unterscheiden wollte und gleichzeitig die Arbeiter, die bisher in der anarchistischen und revolutionär-syndikalistischen Bewegung waren, zu sich herüberziehen wollte.

Wir werden später Gelegenheit haben, zu sehen, in welchem Maße die Partei ihr Programm dem gesellschaftlichen Leben in Rußland aufdrücken konnte.

Die Narodniki (Volkssozialisten)

Die Rechten Sozialisten-Revolutionäre.

Während die Marxisten, sowohl die Bolschewiki als auch die Menschewiki, eigentlich ein fremdes Gewächs auf russischem Boden sind, so ist der Sozialismus der Narodniki rein russischen Ursprungs. Narod heißt auf deutsch Volk. Der Sozialismus der Narodniki war der Sozialismus des Volkes, der Volkstümlichen. Einer der ersten und hervorragendsten Männer in dieser Bewegung war Lawrow. Auch Tschernitschewsky gehörte zu ihnen. Diese Bewegung ist älter als die der Marxisten. Sie nannten sich auch später die Partei der Sozialrevolutionäre. Während die Marxisten nach ihrer Theorie dem Proletariat der Städte eine größere Bedeutung zumessen, war die Partei der Sozialrevolutionäre vorwiegend eine Partei der Bauern. Es war mehr ein Bauernsozialismus als ein Sozialismus des städtischen Proletariats. Da nun Rußland ein Agrarland ist, so war die Partei der Sozialrevolutionäre natürlich die populärste unter einer Bevölkerung, die aus über 80 Proz. Bauern besteht. Zu dieser Partei gehörte die Großmutter der Revolution, Breschkowskaja, „Babuschka“, wie man sie nannte, die, nachdem sie durch die Revolution aus sibirischer Gefangenschaft befreit wurde, nach dem Sturz der Kerenskiregierung ins Ausland ging und gemeinsame Sache mit den amerikanischen Kapitalisten machte.

Aehnlich wie bei den Marxisten entwickelte sich auch in dieser Partei ein linker und ein rechter Flügel.

Der rechte Flügel war für die konstituierende Versammlung, also parlamentarisch, gleich den Menschewiki, ihr geistiger Führer ist Tschernow. Sie hatten auch noch mehr mit den Menschewiki gemeinsam, obzwar sie weder Marxisten waren noch sind. Sie waren auch für die Koalitionsregierung mit den Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), und sie bildeten mit den Kadetten Gutschkow, Miljukow und den Menschewiki die Koalitionsregierung unter Kerenski. Kerenski selbst gehörte dem rechten Flügel der Partei der Sozialrevolutionäre an. Nach dem Programm der rechten Sozialrevolutionäre sollte die Nationalversammlung (Konstituante) über die Verfassung des Reiches, sowie über die Sozialisierung und alle wichtigen Fragen entscheiden. Es war und ist das Programm der bürgerlichen Demokratie.

Die Linken Sozialisten-Revolutionäre.

Anders war der linke Flügel der Sozialrevolutionäre. Diese Revolutionäre waren die alten Terroristen gegen das zaristische System. Sie sind auch heute noch Terroristen, unterscheiden sich aber von den Bolschewiki hierin, daß sie nur den persönlichen Terror anerkennen, den systematischen, organisierten Terror aber ablehnen. Sie sind für die Ermordung eines Despoten (Zaren), aber gegen die Anwendung von Abschreckungsmitteln durch eine zu diesem Zwecke eigens errichtete Institution, wie es während des Zarismus die Ochrana war und während der Bolschewikiherrschaft die Außerordentliche Kommission (Tscheka) ist.

Der Revolutionsprozeß beschleunigte die Spaltung in der großen Partei der Sozialisten-Revolutionäre. Noch nach der Revolution, bis zum November 1917, war der linke Flügel, die Opposition in der Partei, gegen die Koalitionsregierung; sie vertrat hauptsächlich den internationalen Standpunkt, und endlich, im November 1917, bildete sie sich als neue Partei der linken Sozialisten-Revolutionäre.

Diese neue Partei bildete sich hauptsächlich aus dem werktätigen Bauerntum, und ihre geistigen Führer waren bestrebt, die Massen der Bauern dem Einfluß der rechten Sozialisten-Revolutionäre zu entziehen. Außerdem wollte sie diejenigen Elemente in den Revolutionsprozeß hineintragen, die dem Marxismus fremd sind, und die sich hauptsächlich in der russischen Schule der „Narodnitschestwo" entwickelt haben: den Föderalismus, den ethischen Gesichtspunkt und den Aktivismus. Bis zum Frieden von Brest-Litowsk arbeitete die Partei der linken Sozialisten-Revolutionäre solidarisch mit den Bolschewiki in allen Sowjets und in der Regierung. Sie übernahm von den sieben Volkskommissariaten das für Rußland so wichtige der Landwirtschaft, um das Gesetz der Sozialisierung des Grund und Bodens zu verwirklichen.

Da die Partei mit dem Frieden von Brest-Litowsk mit dem deutschen Imperialismus nicht einverstanden war, so trat sie aus der Regierung aus. Von da ab, als die Partei aufhörte, Mitregierungspartei zu sein, wurde die Politik der Sowjetregierung von den Bolschewiki allein geführt. Es begann das System des Terrors, das System der zwangsweisen Brotabnahme von den Bauern, die Uebermacht der Polizeiorgane und die Wiedereinführung der Todesstrafe. Mit all diesen Maßnahmen erklärte sich die Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre gleich den anderen sozialistischen Parteien nicht einverstanden. Im Juli 1918, zur Zeit des V. Sowjetkongresses, besaß die Partei schon 40 Proz. der Mandate. Zu dieser Zeit aber wollte die Partei sich gegen die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit dem deutschen Imperialismus mit aller Schärfe wenden. Dies geschah durch den Akt der Ermordung des Grafen Mirbach, des deutschen Gesandten in Moskau.

Dieser Akt gab den Bolschewiki Anlaß und Vorwand zur Abrechnung mit der konkurrierenden Partei, und sie begannen ein System der Verfolgungen, die sich bis auf die Gegenwart, also zwei Jahre, erstrecken. Alle Zeitungen der Partei wurden unterdrückt, mehrere Mitglieder erschossen, hunderte und tausende Sowjetdelegierter, die dieser Partei angehörten, aus den Sowjets ausgeschlossen. Die Folge hiervon war, daß die Partei illegal wurde, ihre tätigsten Mitglieder in die Gefängnisse kamen, und die Partei deshalb die Möglichkeit der unmittelbaren Einwirkung auf die Massen verlor, insbesondere auf das Arbeitsdorf. Das werktätige Bauerntum, das in den Vertretern der Sowjets nicht mehr seine Klassenvertreter erblickte, wurde auf den Weg des verzweifelten Putsches getrieben. Die Aufstände der Bauern aber wurden gewaltsam unterdrückt und führten noch mehr zu den Abgrund, der jetzt zwischen der bolschewistischen Macht und dem Dorfe klafft.

Ich habe die Darstellung über die Entwicklung dieser Partei nach den Berichten eines ihrer Führer gegeben, der in der ersten Periode nach dem Sturz der Kerenskiregierung Mitglied des Rates der Volkskommissare war. Isaak Steinberg hatte das Volkskommissariat der Landwirtschaft unter sich. Auch in der Darstellung des Programmes der Partei werde ich seinen Angaben folgen.

Die sogenannte Uebergangsperiode erscheint dieser Partei nicht als Epoche, die sich prinzipiell von der sozialistischen Epoche unterscheidet. Die Uebergangsperiode soll in den Anfangsformen keine anderen Prinzipien verwirklichen als dieselben, die für die sozialistische Gesellschaft gedacht sind. Wenn man von dem „Absterben des Staates" spricht, so darf man nicht die Staatsideologie und den Staatszwang in der Uebergangsperiode bis zur höchsten Stufe verwirklichen. Man darf sich nicht auf den provisorischen Charakter dieser Uebergangsperiode verlassen, denn die Weltgeschichte hat schon öfters gesehen, daß das Provisorische sich verewigt hat.

Die Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre glaubt nicht an die Durchführung der sozialen Revolution mittels einer kühnen Minderheit, etwa einer kommunistischen Partei. Sie steht auf dem Standpunkt, daß, sofern die soziale Revolution nicht einfach die Ueberführung der Produktionsmittel aus den einen Eigentumshänden in die anderen bedeutet, sondern eine radikale Umwälzung aller sozialen und geistigen Gewohnheiten der Menschen, sowie die Umstellung des Produktionsprozesses und der Güterverteilung, dann ist der Erfolg der Revolution nur dann gesichert, wenn das freie und aktive Schaffen der Massen selbst daran beteiligt ist. Dies bedeutet aber nicht, daß die Partei parlamentarisch ist. Sie ist vielmehr antiparlamentarisch und auch gegen die konstituierende Versammlung.

Diese Partei ist also nicht für die „Diktatur des Proletariats", sondern für die Diktatur der werktätigen Mehrheit. In Agrarländern aber wie Rußland z. B. muß die Grundlage der sozialen Revolution ein Bund des werktätigen Bauerntums und des städtischen Proletariats sein, allerdings nicht notwendigerweise in einer arithmetischen Uebereinstimmung seitens der Bauernmehrheit, sondern in Form einer gleichberechtigten Anteilnahme dieser beiden werktätigen Hauptklassen.

Im Gegensatz zur bolschewistischen Partei stehen die Linken Sozialisten-Revolutionäre auf föderalistischer Basis. Der ganze Gesellschaftsbau der Uebergangsperiode muß auf den Prinzipien des Föderalismus, des politischen sowie wirtschaftlichen, aufgebaut sein. Die Partei ist eine Sowjetpartei und fordert, daß die Wahlen zu den Sowjets, die als die politische Axe der Uebergangsperiode erscheinen, nur unter der Bedingung freier Wahlen für die Arbeitsmassen stattfinden, und daß in der Tätigkeit der Räte die weitgehendsten Prinzipien der Demokratie bewahrt werden müssen, andernfalls verwandelt sich nach ihrer Meinung das ganze Rätesystem in einen Spott über den Willen der Arbeitenden, wie es jetzt ist, und zwingt die arbeitenden Massen, in einem Gefühl der Enttäuschung sich wieder nach dem allgemeinen und freien Wahlrecht und allen anderen formalen Prinzipien der bürgerlichen Demokratie zu sehnen. Die Funktion der Räte soll nur politisch und allgemein kulturell der Ausbau der sozialistischen Gesellschaft sein, und deshalb müssen in ihnen alle Arbeitszweige und alle Arbeitergruppen vertreten sein. Die wirtschaftlichen Funktionen, die Erzeugung und Verteilung der Güter, sollen sich ausschließlich in den Händen der Produzenten und Konsumenten, d. h. also Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften, befinden. Die Partei fordert also nicht eine Nationalisierung der Produktion, mit der Begründung, daß eine solche nur die Verstaatlichung des gesamten wirtschaftlichen Prozesses und die schlimmste Art des Staatskapitalismus bedeute. Die Sozialisierung der Produktionsmittel soll nicht die Ueberführung derselben in das „Eigentum" des Staates bedeuten, sondern deren Verwandlung in ein Gemeingut aller Arbeitenden, wie die Partei es in dem Gesetz der Sozialisierung des Grund und Bodens vorgesehen hat, das von der jetzigen Regierung fast aufgehoben ist. Die Partei propagiert die Schaffung von Produktionsvereinen des werktätigen Bauerntums. Die Güterverteilung soll sich dagegen in den Händen der Arbeiter- und Bauernkonsumgenossenschaften befinden. Der föderative Zusammenschluß dieser beiden Arten der wirtschaftlichen Organe schafft diejenige Gesellschaftspyramide, die die wirtschaftliche Tätigkeit des Dorfes und der Stadt verbindet, wodurch die Rolle des Staates — und sei es auch des Rätestaates — auf die werktätige Anteilnahme aller organisierten Bürger zurückgeführt wird.

Die Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre hat den individuellen Terror von jeher als eines der Kampfesmittel anerkannt, das aber mit der größten Vorsicht angewandt werden muß. Sie verhält sich aber dem Terror als Regierungssystem und als System zur Verwirklichung des Sozialismus völlig ablehnend. Sie verwirft daher auch die Todesstrafe, die von den Bolschewiki wieder eingeführt wurde.

Auf internationalem Gebiet will die Partei mit allen den Organisationen und sozial-revolutionären Bewegungen in Verbindung treten, die andere als rein marxistische Methoden zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft verteidigen.

Ich habe das Programm dieser Partei länger behandelt, als das der Bolschewiki, weil die bolschewistische Literatur ganz Europa überschwemmt und deshalb vorauszusetzen ist, daß die meisten politisch interessierten Hand- und Kopfarbeiter dieses Programm kennen. Andererseits ist von dieser Partei so gut wie gar nichts über die Grenzen Rußlands hinausgekommen, und es ist deshalb ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit.

Die Maximalisten.

Aus der großen Bewegung der Narodniki oder Sozialisten-Revolutionäre gingen unter den Wehen der Revolution von 1905 die Maximalisten hervor. Auf dem Kongreß der Sozialisten-Revolutionäre 1904 stellte ein Flügel unter Riefkin sich zur äußersten Linken. Sie stellten ein Maximumprogramm auf und verwarfen das Minimumprogramm der Partei der Sozialisten-Revolutionäre, aber auch aller anderen Parteien, wie z. B. der damals noch vereinten marxistischen Partei. Alle anderen Parteien, die jetzigen Bolschewiki mit einbegriffen, waren damals Minimalisten.

Schon auf dem Kongreß 1904 wollten sie nichts mit dem Reformprogramm der anderen Parteien zu tun haben. Sie wollten nicht Reformisten, sondern Revolutionäre sein und forderten von einer Revolution die Verwirklichung des Maximums, das die Revolution bringen kann. Schon damals vertrat einer ihrer Theoretiker die Idee der Sowjets. Der Maximalist Tagin war es, der die Idee der Sowjets vertrat und gemeinsam mit den Anarchisten den schärfsten Maximalismus vertrat.

Da die Maximalisten mit den Minimalisten nicht zu einer Einigung kommen konnten, so lösten sie sich von den übrigen Parteien los und gründeten eine selbständige Organisation. Sie nannten sich aber nicht Partei, sondern Union, da sie nicht an die revolutionären Eigenschaften einer Partei glaubten. In einer Partei machen sich stets Machttendenzen bemerkbar, die niemals das revolutionäre Prinzip der Freiheit zur vollen Entwicklung gelangen lassen. Sie verwarfen daher die zentralistische Partei und bildeten eine föderalistische Union.

Schon seit ihrer Bildung vertraten die Maximalisten einen antiparlamentarischen Standpunkt. Sie beteiligten sich niemals an den Wahlen zur Duma und waren, zusammen mit den Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten, die ersten und leidenschaftlichsten Gegner der konstituierenden Versammlung. Die Union der Maximalisten rekrutiert sich aus den Schichten der ärmeren Bauern und des Stadtproletariats. Sie haben die Eigenschaften einer Klassenkampforganisation und sind im höchsten Grade aktive Klassenkämpfer. Sie betonen stets den Einsatz der Persönlichkeit aufs schärfste und unterscheiden sich hier vor allem von den Marxisten. Sie waren ebenfalls Terroristen; sind heute noch für den persönlichen Terror, verwerfen aber, gleich den Linken Sozialisten-Revolutionären, den Regierungsterror und das System des Terrors.

Wie bereits angedeutet, sind sie eine Sowjetbewegung, ja sie gehören zu denen, die als die ersten die Idee der Sowjets vertraten. Sie unterscheiden sich jedoch von anderen Sowjetparteien, z. B. von der herrschenden Partei der Bolschewiki, indem sie sich gegen die Parteisowjets wenden. Eine ihrer Devisen ist jetzt: Alle Macht den Sowjets, aber nicht den Parteisowjets, sondern den Klassensowjets. Sie fordern also die Macht der Klasse, nicht aber die Macht den Parteien, während nach ihrer Meinung die Bolschewiki die Macht nur für die Partei forderten. Aus diesem Grunde hauptsächlich sind sie auch Gegner der bolschewistischen Partei.

Im Anfang der Revolution nach dem Sturz Kerenskis hatten sie gemeinsam mit den Anarchisten an vielen Orten, wie Kronstadt, Samara, Kursk den größten Einfluß. Sie waren aber nicht zentralistisch organisiert, sondern dezentralistisch. In vielen Orten war ihre Fraktion die stärkste im Sowjet. Die Fraktion war aber nicht durch die Parteidisziplin bei der Abstimmung gebunden; jeder konnte stimmen wie er wollte. Dies hängt damit zusammen, daß sie nicht die Macht erobern wollen. Denn die Bolschewiki, die sich schon seit 15 Jahren auf die Eroberung der Macht vorbereitet hatten, waren natürlich zu einem anderen, straffen Organisationsprinzip gezwungen. Die eiserne Parteidisziplin der Bolschewiki erforderte die absolute Befolgung der von der Partei herausgegebenen Parolen. Dieser Zentralismus und diese Disziplin verhalf auch der Partei der Bolschewiki, die bei weitem nicht überall die stärkste war, zur Macht.

Da das Programm der Maximalisten in vielem sich mit dem der Linken Sozialisten-Revolutionäre deckt, so erübrigt sich eine besondere Darlegung. Seit 1905 war die Devise der Maximalisten: In der Vereinigung von Hammer, Pflug und Denken liegt Macht und Recht, und seit 1919: Alle Macht den Räten, keine Macht der Partei!

Da gegenwärtig unter der Herrschaft der Bolschewikipartei alle Parteien illegal, d. h. ungesetzlich geworden sind, so haben sie sich dorthin zurückgezogen, wo es immer noch am meisten möglich war, ihre Ideen unter das Volk zu bringen, nämlich nach der Ukraine. So hatten z. B. die Maximalisten, Anarchisten usw. in der Ukraine, insbesondere unter Machno, die beste Möglichkeit, ihre Ideen zu verbreiten.

Außer den Maximalisten gibt es noch eine Vereinigung linker Sozialisten-Revolutionäre, die auch von den Narodniki aus sich entwickelt haben und sich jetzt Barbisten nennen. Der Name Barbisten kommt von dem Namen Barba = Kampf. Es sind also Kämpfer. Sie unterscheiden sich prinzipiell nicht von den Maximalisten.

Das Agrarprogramm der Maximalisten, Barbisten lehnt sich an die alten Mir-Organisationen an. Nach Möglichkeit sollen die Bauern das Land kommunalistisch bebauen. Das Land der Großgrundbesitzer und Kulaken soll in den Besitz der Kommune übergehen. Die Bauern sollen es dann gemeinsam bebauen. Wo die Bauern das Land unter sich teilen, soll man sie nicht mit Gewalt daran hindern, sondern nur darauf achten, daß keiner mehr bekommt, als er selbst bebauen kann. Die Bauern eines Dorfes, sowohl diejenigen, die ihr eigenes Land selbst bebauen, als auch diejenigen, die das Land gemeinsam bebauen, bilden eine Kommune. Sie treten mit anderen Kommunen und mit den Städten in Tauschgemeinschaft. Sofern die eingetauschten Gegenstände größere Ackerbaugeräte, landwirtschaftliche Maschinen usw. sind, gehen sie in den Besitz der Gemeinde über. Den Bauern soll politisch wie wirtschaftlich die größte Selbständigkeit garantiert werden.

Diese Strömungen sind hauptsächlich in der Ukraine entwickelt, und auch die Anarchisten in der Ukraine bekennen sich zu diesem oder einem sehr ähnlichen Programm, so daß alle diese Bewegungen nur in ihren Schattierungen verschieden sind, nicht aber im Prinzip. Sie alle sind dezentralistisch, antiparlamentarisch, antistaatlich, föderalistisch.

Die Anarchisten und Syndikalisten.

Außer den genannten Bewegungen gehören zur gesamten sozialistischen Welt in Rußland noch die Anarchisten. Wenn wir von einzelnen Persönlichkeiten wie Bakunin, Kropotkin und auch von den russischen Anarchisten im Auslande absehen, so können wir in Rußland selbst das Bodenfassen der anarchistischen Bewegung auf das Jahr 1903 zurückführen.

So wie unter den Sozialdemokraten und den Narodniki, gibt es auch unter den Anarchisten viele Strömungen. Die individualistischen Anarchisten haben keine nennenwerte Bewegung. Die kommunistischen Anarchisten und die Anarchosyndikalisten dagegen hatten beim Ausbruch der Revolution 1917 und später eine Massenbewegung. Da sie aber nicht die Macht erobern, sondern nur zerstören wollten, wie es ihren Prinzipien auch entspricht, so haben sie heute an Bedeutung wieder verloren. Die anarchosyndikalistischen Tendenzen sind freilich heute wieder stärker unter der Arbeiterschaft, während in der Ukraine die anarchistischen Ideen unter den Bauern Fuß fassen.

Es gab und gibt in Rußland die Anarchisten-Narodniki, d. h. die einheimischen Volkstümlichen und die Anarchisten-Emigranten. Die Ideen der Anarchisten sind die gleichen wie die der anderen Länder. Wichtig ist hier nur die Stellung der Anarchisten zur Revolution. Die Tolstoianischen Anarchisten waren in der Minorität. Die revolutionären Anarchisten haben sich aufs aktivste in der Revolution betätigt und auch eine hervorragende Rolle gespielt. Insbesondere im Anfang der Revolution, in deren destruktiver Periode gegen den Zarismus und Kerenski. Sie waren selbstverständlich gegen die Konstituante, für die Formel: Alle Macht den Räten, und all dies noch, bevor die Bolschewisten diese Devisen annahmen. In vielen Orten begannen die Anarchisten die Revolution. So hatten z. B. In Jekaterinburg am Ural die Anarchisten die Revolution eher durchgeführt als die Arbeiter in Petrograd. Bereits am 5. Juni 1917 demonstrierten die Arbeiter unter der Führung der Anarchisten in Moskau und Petrograd gegen die Kerenskiregierung und mit der Devise: Alle Macht den Sowjets.

Die konstituierende Versammlung aufgelöst zu haben, kommt auch nicht den Bolschewiki, sondern den Anarchisten zu. Es war der Anarchist Anatol Gregorewitsch Zelesniakoff, der im Januar an der Spitze von Kronstädter Matrosen in die Sitzung der Konstituante eindrang und den Herren Abgeordneten sagte, daß sie nun genug geschwätzt hätten und nach Hause gehen könnten, im andern Falle die Matrosen ihnen auf den Weg helfen würden. Erst nachdem so durch die direkte Aktion der anarchistisch gesonnenen Arbeiter und Soldaten vor ein faite accompli gestellt, fanden sich die Parteien damit ab, und nachträglich hieß auch Lenin diese Tat gut. Zelesniakoff fiel im Kampfe gegen die Weißgardisten von Denikin bei Jekaterinoslaw am 26. Juli 1919, nachdem Denikin auf seinen Kopf 400 000 Rubel gesetzt hatte.

Die Stellung der Anarchisten-Syndikalisten geht am besten aus ihren Resolutionen hervor. Auf ihrem ersten Kongreß nach der Revolution, am 25. August 1918, beschloß der Kongreß der Konföderation der gesamtrussischen Anarchisten-Syndikalisten:

  1. gegen die Mächte des Staates und des Kapitalismus zu kämpfen;

  2. die selbständigen Sowjets föderalistisch zusammenzufassen und die Vereinigung der unabhängigen Arbeiter- und Bauernproduktionsorganisationen anzubahnen;

  3. den Arbeitern die Bildung von freien Sowjets zu empfehlen und die Institutionen der Räte der Volkskommissare zu bekämpfen, da dies eine Organisation sei, die für die Arbeiterklasse verderblich wirke;

  4. die militaristische Armee aufzulösen und die Arbeiter und Bauern zu bewaffnen; ihnen gleichzeitig die Absurdität des Begriffes „sozialistisches Vaterland" klar zu machen, denn für die Arbeiter und Bauern kann nur die Welt das Vaterland sein;

  5. gegen die konterrevolutionären Tschecho-Slowaken und alle anderen Versuche der Imperialisten aufs schärfste anzukämpfen, aber nicht dabei zu vergessen, daß auch die extreme revolutionäre Partei der Bolschewiki stationär und reaktionär geworden ist;

  6. die Verteilung der Lebensmittel und der anderen Verbrauchsgüter in die Hände der Organisationen der Arbeiter und Bauern direkt zu überführen und die bewaffneten Züge gegen die Bauern einzustellen, denn dadurch werden die Bauern die Feinde der Arbeiter, die Solidarität zwischen Arbeiter und Bauer wird abgeschwächt und die revolutionäre Front in die Hände der Konterrevolution gespielt.

Ein festes Programm haben die Anarchisten-Syndikalisten nicht aufgestellt. Um über ihren Standpunkt ins Klare zu kommen, muß man sich an die Resolutionen auf ihren Kongressen und an ihre sonstigen Publikationen halten. Ich habe daher einen der bemerkenswertesten Anarcho-Syndikalisten in Moskau, A. Schapiro, um die Klarstellung seines Standpunktes gebeten und lasse hier die wichtigsten Punkte folgen:

  1. Grundregel: Die Politik außerhalb des Proletariats in dem gegenwärtigen Stadium der Gesellschaft ist antirevolutionär und konterrevolutionär. Der Parlamentarismus ist deshalb konterrevolutionär, weil er außerhalb des Proletariats liegt. Die Politik innerhalb des Proletariats ist aufs intimste verbunden mit dem wirtschaftlichen Leben. Revolutionäre wirtschaftliche und revolutionäre proletarische Politik sind die treibenden Kräfte der sozialen Revolution.

  2. Wenn eine Revolution einen sozialen Charakter annehmen soll, muß sie auf die breiteste Grundlage gestellt werden. Dies ist die Vernichtung der bestehenden Staatsmaschinerie, die Niederringung des Kapitalismus und aller seiner Hilfsquellen: Bourgeoisie, Liberalismus, Phrasensozialismus, Mittelklasse; die Organisation der neuen Gesellschaft muß sich aufbauen auf wirtschaftliche Unabhängigkeit unter Negierung und Abschaffung des Lohnsystems.

  3. Die Diktatur des Proletariats, die man so nennt, darf nichts sein als ein Werkzeug in der Hand des revolutionären Volkes. Charakteristisch für jede Diktatur ist, daß sie die Tendenz zur Autokratie in sich birgt, insofern sie wahre Diktatur ist. Eine Diktatur des Proletariats kann es also niemals geben. Wenn der Klassenkampf zu einem solchen Stadium gelangt ist, daß die Arbeiterklasse oben und die anderen Klassen unten sind, dann werden die anderen Klassen immer versuchen, ihr Eigentum zurückzuerkämpfen. Es wird daher ein kleiner Teil des Proletariats die Verantwortung tragen. Dies kann aber keine Partei sein, sei es nun eine kommunistische oder eine anarchistische. Die Parteien haben die Erkenntnis, die theoretische Basis, auch die großen Ideale, aber sie haben nicht den Geist des Ueberganges. Eine Partei muß notwendig immer dogmatisch werden.

  4. Eine soziale Revolution ist eine wirtschaftliche Revolution; die Vernichtung des Kapitalismus, die Kontrolle der gesamten Industrie und des Wirtschaftslebens durch die Arbeiter. Die feindliche Klasse bekümmert sich nicht viel um die Form des Staates, sie bekümmert sich um den Kapitalismus, das Wirtschaftssystem, die Fabriken usw. Aus diesem Grunde sind die folgerichtigsten und berufensten Erhalter der sozialen Revolution die revolutionären Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften. Ohne die Teilnahme derselben kann keine soziale Revolution erfolgreich sein.

  5. Aus diesem Grunde könnte man höchstens von der Diktatur der revolutionären Arbeiterorganisationen innerhalb des Proletariats sprechen. Je mehr die revolutionären politischen Parteien und Gruppen in den revolutionären Proletariermassen untertauchen, desto kürzer wird die Uebergangsperiode sein.

  6. Es handelt sich nicht in erster Linie um die Diktatur des Proletariats, sondern um die Errichtung einer Körperschaft, die zur Erhaltung der sozialen Errungenschaften der Revolution von dem Proletariat geschaffen wird. Die Diktatur einer Partei über dem Proletariat führt zu einem seelenlosen Mechanismus, weil die Partei die Prinzipien des Strammhaltens und nicht die Taktik des wahren Lebens anerkennt.

  7. Dogmatische, mechanische Parteidiktatur führt zu dogmatischer, mechanischer Zentralisation, da eine Partei nicht imstande ist, das gesamte wirtschaftliche Leben eines Landes auf andere Weise zu kontrollieren. Dogmatischer und mechanischer Zentralismus tötet jede Initiative und zerstört mehr, als er aufbaut. Er ist charakterisiert durch die Zerstörung und nicht durch den Aufbau.

  8. Axiom: Bei einem Hausbau legt man zuerst das Fundament, das Dach zuletzt! in Rußland war es umgekehrt, die Zentrale bestimmt, was zu tun sei. Die Struktur zerfällt auf halbem Wege, weil von unten kein Entgegenkommen gezeigt wird. Die Betriebsräte dürfen nicht Werkzeuge in der Hand eines zentralisierten Körpers sein, sie müssen Initiatoren sein, deren Wirksamkeit von den Zentralinstanzen nur reguliert werden.

  9. Die Sowjets dürfen nicht Werkzeuge in der Hand einer zentralistischen Körperschaft sein, sondern die wirklichen Lebensspender in ihrem Wirksamkeitsgebiet. Rußland lehrt uns durch teuer erkaufte Erfahrung, daß unser Ruf sein muß: „von unten nach oben!“ Nicht zentralistische Diktatur ist notwendig, am allerwenigsten für alle Zweige des Lebens; jeder Zweig hat selbst zu entscheiden, was zu zentralisieren sei.

  10. Die Politik und die Wirtschaft müssen zu einem verbunden werden. Wenn politische und wirtschaftliche Probleme Hand in Hand gehen, werden sie soziale Probleme. Die Politik ist die Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Die Oekonomie ist die Organisation der Lebensbedingungen. Die Sozialpolitik ist das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch in allen Beziehungen des Lebens.

Die Anarchisten-Syndikalisten sind ebenfalls für die Sowjets, jedoch gegen die Sowjets der politischen Parteien. Aus ihren Resolutionen über die Sowjets kann man den Unterschied zwischen ihnen und den Bolschewiki in dieser Beziehung kennen lernen. Es heißt da unter anderem:

„In Anbetracht der Rolle, welche die Sowjets in dem Kampfe gegen die Konterrevolution spielen, muß konstatiert werden,

  1. daß die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der Taktik der Bolschewiki in bezug auf die Sowjets und anderen Organisationen wächst,

  2. daß die Diktatur der Bolschewiki über die Sowjets und andere Arbeiterorganisationen die Arbeiter auf die Seite der Konstituante zieht,

  3. daß es für die Arbeitermassen notwendig ist, ein klares Verständnis von den Sowjets zu haben, um den revolutionären Kampf erfolgreich zu führen.

Die Anarchisten-Syndikalisten erklären sich für die Sowjets, jedoch für solche Sowjets, deren Aufgabe die Zerstörung der gegenwärtigen zentralistischen Form des Staates ist. Wir verwerfen hingegen die Sowjets der Volkskommissare, da diese dem Wesen der Sowjets widersprechen und die Arbeiten der wahren Arbeiter- und Bauernsowjets paralisieren.

Wir sind für die Sowjets der werktätigen Bevölkerung, die unter solchen Bedingungen gewählt werden, daß die Arbeiter aus den Fabriken und die Bauern aus den Dörfern direkt vertreten sind und die Delegierten keine Politikanten sind, die von Parteien delegiert sind, wodurch die Sowjetstagungen zu Schwatzbuden degradiert werden.

Wir sind für freie Sowjets, die ihre Beschlüsse nur nach den Entscheidungen ihrer Wähler zu fassen haben. Der Kongreß beschließt deshalb, daß alle anarchistisch-syndikalistische Genossen, an den provinzialen Sowjets teilzunehmen haben, in denen die bolschewistische Partei noch nicht herrscht, und wo es noch möglich ist, frei zu wirken.“

Außer diesen Anarcho-Syndikalisten gibt es noch die Anarchisten-Universalisten und die Pan-Anarchisten, die sich erst nach der Revolution entwickelt haben. Diese beiden Richtungen werden von den Brüdern Gordin vertreten. Diese Richtungen sind noch zu neu und zu unreif, so daß eine Wiedergabe dieser Ideen zu verfrüht ist.

Die Anarchisten des „Nabat“.

Außer den Genannten gibt es in der Ukraine eine besondere anarchistische Bewegung, die seit der Revolution (1918) besteht: die Föderation des Nabat. „Nabat“ heißt Alarm, Sturmläuten. Auf ihrer letzten Konferenz, die Anfang September 1920 in Charkow stattfand, haben sie ihren Standpunkt wie folgt präzisiert:

„1. Die Behauptung der Ueberläufer des Anarchismus, daß die russische Revolution die Schwäche der anarchistischen Theorien bestätigt habe, ist völlig unbegründet. Im Gegenteil: die Grundprinzipien der anarchistischen Lehre bleiben unerschütterlich fest und werden sogar durch die Prüfung, die sie in der russischen Revolution durchgangen sind, befestigt. Die Erfahrungen bestätigen uns noch darin, daß wir in dem Kampfe gegen jegliche Form der Macht und des Kapitalismus fest bleiben.

2. Die Anarchisten haben nie bestritten, daß zwischen dem ersten Tage der Revolution im anarchistischen Sinne und zwischen dem Endziel des Anarchismus oder der anarchistischen Kommune ein Zeitraum ist, während welchem die Reste der alten Knechtschaft allmählich verschwinden und die neuen Formen der freien Gesellschaft sich tastend emporringen. Diese Periode voller Fehler und Irrtümer und immerwährender Vervollkommnung kann verschieden genannt werden: die Periode der Ansammlung der herrschaftslosen Erfahrungen, die Periode der Vertiefung der sozialen Revolution oder auch die erste Stufe der anarchistischen Kommune. Man kann sie auch „ Uebergangsperiode" nennen, um das Charakteristische zu bezeichnen, das von der unvollkommenen zur vollkommenen Form des gesellschaftlichen Lebens führt. Wir ziehen es jedoch vor, diese Bezeichnung nicht anzuwenden, weil in der Geschichte der sozialistischen Bewegung der letzten fünfzig Jahre diese Bezeichnung einen ganz bestimmten Inhalt bekam. Mit dem Begriff Uebergangsperiode wird die Vorstellung von etwas Statistischem, Erstarrtem, verbunden. Der Ausdruck „Uebergangsperiode" ist in dem Programm der internationalen Sozialdemokratie so durchschlagend, ist so durchdrungen von historisch-marxistischem Geiste, des Allmählichen und von den ehernen geschichtlichen Vorherbestimmungen, daß er für uns Anarchisten unannehmbar ist.

3. Wir sind nicht der Meinung, daß der anarchistisch-kommunistischen Ordnung eine syndikalistische Stufe als Uebergangsstufe vom staatlichen zum antistaatlichen, anarchistischen Kommunismus vorausgehen muß. In der Theorie von der syndikalistischen Ordnung, die anstatt der Sowjets kommen soll, ist deutlich der Einfluß der rechtgläubigen marxistischen Theorie von den Etappen, die infolge der Unerbitterlichkeit der ehernen Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung aufeinander folgen müssen, zu merken.

4. Wir lehnen gleichfalls den Gebrauch des Ausdrucks „Diktafur der Arbeit“ ab, trotz der Versuche einiger Genossen, die uns dies anzunehmen raten. Diese Diktatur der Arbeit ist nichts anderes, als die Formel „Diktatur des Proletariats", die jetzt so eklatant bankrottiert hat, zu erweitern. Dies muß aber schließlich unabwendbar zu der Diktatur eines Teiles des Proletariats, nämlich der Partei, der Beamten und einiger Führer über die Massen führen. Der Anarchismus ist unvereinbar mit irgendeiner Diktatur, auch mit der Diktatur der klassenbewußten Arbeiter über die anderen, wenn es auch im Interesse der anderen liegen würde! Wir sind einverstanden damit, daß die Periode der Vertiefung der sozialen Revolution, Ansammlung anarchistischer Erfahrungen oder wenn man so will, auch Diktatur der Arbeit bezeichnet werden kann, auf Grund dessen, daß in dieser Zeit die Interessen der Arbeitenden höher stehen werden als die Interessen der Parasiten. Man konnte aber ebenso diese Periode, die Periode der Diktatur der Konsumtion, Diktatur der Gerechtigkeit, Diktatur des Vertrages oder mit anderen dummen Namen nennen. Wir sagen „dumm“, da die Anzeichen offenkundig sind, ohne daß die Interessen der Konsumtion weniger zu spüren sind als die der Arbeit. Damit wollen wir sagen: Bei wirklichem Vorhandensein der erwähnten Merkmale und etwaiger anderer müssen wir den Inhalt des Wortes „Diktatur“ ausschließen. Mit dem Begriff der Diktatur ist der Begriff der Ludendorff und Rennenkampf verbunden, die Vorstellung der ungezügelten brutalen Gewalt und Regierungsmacht. Die Einführung des Begriffes der Diktatur in das anarchistische Programm würde eine unverzeihliche Verwirrung m die Geister bringen.

5. Die Revolution, die der Anarchismus anstrebt, die Revolution, in der die Parole der Machtlosigkeit und des Kommunismus vorherrschen wird, findet in ihrer Entwicklung viele Hindernisse. Die Kraft des aktiven Widerstandes derer, die an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus und der Macht interessiert sind, die Trägheit und Unwissenheit der breiten Masse der Arbeitenden können solche Bedingungen schaffen, unter denen die sich verwirklichende anarchistische Kommune weit von ihrem Ideal entfernt sein wird. Die etwaigen sozialen Formen der Zukunft konkret zu bestimmen ist augenblicklich unmöglich, schon allein deshalb, weil man den quantitativen und qualitativen Inhalt der Kräfte, deren Resultate die Wirklichkeit dann sein wird, nicht vorhersehen kann. Aus diesem Grunde halten wir die Ausarbeitung irgend eines Programms, das auf ein Unbekanntes angewandt werden soll, für unnütz. Wir stellen kein Programminimum auf und treten gerade auf Grund der jetzigen Ereignisse mit vollem Recht und voller Ueberzeugung vor die arbeitenden Massen, um ihnen die Ideale des Anarchismus und Kommunismus rein zu zeigen.“

Diese Anarchisten sind auch scharfe Gegner der Bolschewiki, der jetzigen Sowjetregierung und erklären sie als nicht nur nicht mehr revolutionär, sondern direkt als konterrevolutionär und reaktionär. Sie sind aber nicht identisch mit der Machnobewegung, haben im Gegenteil in einer andern Resolution von Machno ganz scharfen Abstand genommen und sehen in ihm nur einen Revolutionär aber keinen Anarchisten. Sie werden auch von der Sowjetregierung scharf bekämpft und verfolgt, empfehlen die illegale Arbeit und sind viel in den Gefängnissen.

Das Land.

Die Abschaffung des Privateigentums Grund und Boden ist wohl die tiefste Veränderung, welche durch die russische Revolution in das gesellschaftliche Leben unseres privatkapitalistischen Zeitalters gebracht wurde. Gerade dies gab auch der russischen Revolution den Charakter einer sozialen, d.h. wirtschaftlichen Revolution. Die deutsche Revolution hat an den Grundfesten der privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht gerüttelt, sie kam deshalb nicht über die politische Revolution hinaus.

Nun hat uns zwar die russische Revolution gezeigt, daß bei dem Tiefstand des russischen Arbeiters auf technischem Gebiete die Erwartungen, die von den Sozialisten aller Schattierungen an die Abschaffung des Privateigentums geknüpft wurden, nicht erfüllt worden sind, sondern daß zur ökonomischen Gleichheit, die als die Voraussetzung des Kommunismus gilt, auch noch die Ausschaltung der organisierenden Macht der Kapitalisten und die Uebernahme all dieser Funktionen durch das Proletariat selbst notwendig ist. Dies kann jedoch nicht innerhalb eines oder zweier Jahre Revolution geschehen, sondern es erfordert eine Zeit, die von der Entwicklung und der Fähigkeit des Proletariats des Landes abhängig ist. Den ersten und hauptsächlichsten Schritt hat jedoch die russische Revolution gemacht, das Land gehört nicht mehr den Großgrundbesitzern.

In einem Agrarland wie Rußland, ist die Grund- und Bodenfrage die wichtigste. Wir wollen deshalb bei dieser Frage beginnen.

Die Wegnahme des Grund und Bodens von den Gutsbesitzern war eine solch elementare Forderung der Bauern, daß es nicht erst sozialistischer Theorien bedurfte, um die Bauern dazu zu bewegen. Im Gegenteil, die Bauern waren verpicht aufs Land. Sie warteten häufig gar nicht auf das Gesetz, das ihnen die Besitzungen der Großgrundbesitzer zusprechen sollte, sie konfiszierten selbst. Bereits unter der Regierung Kerenskis begannen die Bauern mit dieser Konfiskation.

In Rußland war die Besitzverteilung vor der Revolution eine andere als in Deutschland. Die Bauern hatten zum großen Teile noch Reste der alten Mir-Organisationen. Sie hatten noch gemeinsame Weideplätze und ähnliche gemeinsame Wirtschaftsinteressen. Sie hatten zum Teil auch eigenes Land, mußten aber so viel Abgaben an den Staat, sowie Pacht an den Gutsbesitzer bezahlen, daß sie doch in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten. Nichtsdestoweniger gehörten 76,3 Proz. des gesamten Ackerlandes den Bauern, 23,7 Proz. den Gutsbesitzern. In der Ukraine gehörten nur 55,5 Proz. des Landes den Bauern und 44,5 Proz. den Gutsbesitzern, in der Ukraine war die Macht der Grundbesitzer noch größer als im übrigen Rußland.

Als die Revolution ausbrach, nahmen die Bauern den größten Teil des Landes der Gutsbesitzer an sich und verteilten es unter sich. In Rußland fielen etwa 90 Proz. des Landes in die Hände der Bauern und nur 10 Proz. bekam der Staat. Jetzt gehören 96,7 Proz. des Ackerlandes den Bauern und 3,3 Proz. der Regierung. In der Ukraine gehören 96,2 Proz. des Ackerlandes den Bauern und 3,8 Proz. der Regierung.

Das Land, das der Staat übernahm, wurde in Staatsgüter umgewandelt. Wo früher ein Gutsbesitzer herrschte, dort herrscht jetzt der Staat. In vielen Fällen ist die jetzige Form den Bauern angenehmer. Oft sind die Herrenhäuser der früheren Gutsbesitzer in dem Besitz der Bauern, die darin ihre Versammlungs- und Vergnügungslokale, sowie Schulen eingerichtet haben. Oft jedoch sind diese Herrenhäuser jetzt zur Verfügung der Sowjetangestellten gestellt, die ihre Sommerferien dort verleben und ihre Kinder dorthin senden. Andere wieder sind zu Kinderheimen umgewandelt und je nach der Art dieser Neuordnung fühlen sich die Bauern zufrieden oder unzufrieden. Haben sie es selbst zu ihrer eigenen oder zu ihrer Kinder Verfügung, dann fühlen sie sich zufrieden; hat jedoch die „Sowbur“, wie die Bauern die Sowjetbeamten nennen, die Gebäude mit Beschlag belegt, dann sind die Bauern unzufrieden.

In einigen sind, wie bereits erwähnt, Kinderkolonien errichtet. Ich habe mehrere davon besichtigt. Im Saratoffgouvernement wurde ein großes Gut verstaatlicht. In den großen Gebäuden und Gärten sind 120 Kinder untergebracht. Fast alle sind Kriegswaisen oder Kinder der Rotarmisten. Die Kinder werden gut verpflegt und, mit deutschem Maße gemessen, mangelhaft, mit russischem gut unterrichtet.

Die Form der Verstaatlichung der Güter ist allerdings keine ideal sozialistische oder kommunistische. Es war aber bei dem Stande der Dinge (Krieg, Autoritätsglauben der Bauern, Demoralisation usw.) eine andere Form viel schwieriger durchzuführen als gerade diese. Nach dem Bericht eines armenischen Sekretärs der Organisation der Landarbeiter in Saratoff verhielt es sich in diesem Gouvernement so, daß die Landarbeiter nach Vertreibung der Gutsbesitzer sich keine Mühe gaben, den landwirtschaftlichen Betrieb aufrecht zu erhalten. Sie verkauften zum Teil die Geräte, oder nahmen sie mit sich für ihren eigenen persönlichen Bedarf, teils arbeiteten sie nur so viel, wie sie für ihren eigenen Lebensunterhalt brauchten, so daß der Staat sich genötigt sah, die Güter unter seine zentralistische Verwaltung zu nehmen, da er aus diesem Gouvernement, das zu den fruchtbarsten Rußlands gehört, das nötige Korn herausschlagen wollte, das er für seine Armee und für die Städte brauchte. Freilich stehen sich dadurch die Landarbeiter um nichts besser als früher, der Unterschied ist nur der, daß sie früher von einem Gutsbesizter entlohnt wurden und jetzt vom Staate. So schloß der Armenier seinen Bericht. Hierbei möchte ich bemerken, daß dieser Mann parteilos war und die Dinge also nicht durch die Brille irgend einer Partei ansah.

Alle Landarbeiter, die auf diesen Sowjetgütern arbeiten, sind organisiert in dem Verband der Landarbeiter, in dem Gouvernement Saratoff hat dieser Verband 7000 Mitglieder, darunter gibt es 70 Kommunisten, von denen 50 zu den Angestellten gehören, so daß auf die eigentlichen Landarbeiter 20 Kommunisten entfallen. Durch diese Organisation bekommen die Landarbeiter ihre Geräte und sonstigen Gebrauchsgegenstände vom Staate geliefert, wenn etwas zu haben ist. Die Arbeiter in den Sowjetgütern sind die einzigen Landarbeiter oder Bauern, die gewerkschaftlich organisatorisch erfaßt sind. Alle anderen Bauern sind nicht organisiert.

Im ganzen Gouvernement Samara gibt es 120 Sowjetgüter. Im Durchschnitt arbeiten 100-300 Arbeiter auf einem Gute. Ich besuchte das Gut Nr. 6. Dort arbeiten 100 Arbeiter. Davon sind 7 Kontorpersonal. Das Gut ist 500 Deßjatinen groß, es werden aber nur 200 Deßjatinen bebaut. Die ständigen Arbeiter werden mit 2000 Rubeln monatlich entlohnt. Durch Prämien können sie jedoch bis auf 4000 Rubeln kommen. Tagelöhner erhalten 100 Rubel pro Tag. Die Arbeitszeit beträgt 8 Stunden. Man machte jedoch im Sommer 2 Ueberstunden, wofür der Lohn von 3 Stunden bezahlt wurde. Die Kaufkraft des Geldes in dieser Gegend ist wie folgt: 1 Paar neue Schuhe 16 000 Rubel, ein Paar alte Schuhe 8000 Rubel, eine Teetasse mit Untertasse aus Steingut 750 Rubel.

Die wirtschaftliche Lage der Bauern.

Das Land ist zwar unverkäuflich, doch können unter der Formel, jeder erhält soviel Land wie er bearbeiten kann, auch Schiebungen gemacht werden. So geben z.B. im Kreise Seelmann in den deutschen Wolgakolonien die armen Bauern für 6 Pfund Butter und 10 Eier eine Deßjatine Land. Sie brauchen Lebensmittel. Land können sie immer wieder bekommen, wenn sie es nur bebauen wollen.

Die deutschen Kolonien an der Wolga bestehen seit 163 Jahren. Die Hauptstadt ist Katrinenstadt. Jetzt wurde sie in Marxstadt umgetauft. Die zweite, also die Sowjetrevolution, brach dort erst 3½ Monate später, im Februar 1918 aus. Auch dort haben die Bauern in den ganzen Kolonien das Land von den Großgrundbesitzern genommen, ehe das Dekret, das ihnen das Land zusprach, herauskam. Schon unter Kerenski nahmen sie das Land an sich.

Außer den Staatsgütern gibt es noch zwei andere Bodenbesitz- und Bodenbearbeitungsformen. Das sind erstens das persönliche Eigentum; es gibt reichere und ärmere Bauern, genau so wie es in Deutschland kleinere und größere Bauern und Häusler gibt. Zweitens die sogenannten Artelle. Ein Artell ist eine russische Arbeitergenossenschaft. Hier sind es also Bauerngenossenschaften meist innerhalb einer Kommune oder eines Dorfes. Außerdem gibt es noch eine dritte kollektive Form der Bodenbearbeitung: Im Frühling und im Herbst bearbeiten die Bauern ihr Land durch gegenseitige Hilfeleistung im Pflügen, Säen, Ernten.

Die Bolschewiki-Kommunisten sind Gegner dieser Besitz- und Bearbeitungsformen des Bodens. Sie haben auf ihrem achten Parteitage vorigen Jahres eine Entschließung angenommen, in der sie ihre Stellung zur Bauernfrage so präzisieren:

„Mit Rücksicht darauf, daß der bäuerliche Kleinbetrieb noch lange fortbestehen wird, erstrebt die kommunistische Partei Rußlands eine Reihe von Maßnahmen, die die Hebung der Produktivität der bäuerlichen Wirtschaft bezwecken. Zu solchen Maßnahmen gehören die Regelung der, bäuerlichen Bodennutzung (Beseitigung der Dreifelderwirtschaft, der schmalen Ackerparzellen usw.).“

Die Vermögensunterschiede sowie die Lebenshaltung unter den Bauern sind heute noch keineswegs ausgeglichen. Wohl teilten die Bauern das Land unter sich. Bei dieser Landteilung erwiesen sich meiner Erfahrung nach die individualistischen Tendenzen der Bauern stärker als die kommunistischen. In dem Dorfe Riliensko, im Gouvernement Nischni-Nowgorod gab es, als die Revolution ausbrach, Regierungsland. Die Bauern teilten dies Land unter sich, so daß jeder eine Deßjatine bekam. Sie zogen also den persönlichen Besitz dem kommunalen vor. Im Dorfe Wuskristiansk im Gouvernement Samara, haben die Bauern jetzt jeder mehr Land wie früher. Eine Familie mit 5 Köpfen erhält z.B. 4 Deßjatinen Land. Dies Dorf hat 10 000 Einwohner. Unter diesen sind 270 Kommunisten, aber noch mehr linke Sozialisten-Revolutionäre.

Daß es auf dem Lande noch reiche und arme Bauern gibt, hat seinen Grund darin, daß die reicheren einen größeren Bestand an Vieh und landwirtschaftlichen Geräten von der vorrevolutionären Zeit sich hinüber gerettet haben. Die Kulaken waren die reichen Bauern, die hauptsächlich ein Geschäft im Dorfe hatten, und durch ihren Handel wohlhabender wurden als ihre Nachbarn. Das Vieh aber wurde nicht konfisziert. Obzwar die Regierung gewisse Normen für den Höchstbestand aufstellt, und was darüber hinaus geht, requiriert, so geht der Kauf und Verkauf von Pferden und Vieh fort. Ein mir bekannter Bauer kaufte im Tambowschen Gouvernement ein Pferd für 300 000 Rubel, für welches er im Moskauer Gouvernement über 500 000 Rubel zahlen muß. In dem oben angeführten Dorfe Riliensko dürfen die Bauern je nach der Größe ihrer Familie drei bis fünf Schafe haben, ein bis zwei Pferde und diverse Kühe. Es gibt im Dorfe Bauern, die noch fünf Kühe haben.

In dem Dorfe Nowo Djewitsch, im Gouvernement Samara, das 5000 Einwohner hat, gibt es 7000 Stück Vieh und 120 Pferde. Ein weiterer Grund dafür, daß es einigen Bauern besser geht als anderen, ist, daß die von früher her Wohlhabenden jetzt noch genügend Ackerbaugeräte haben. Die armen Bauern aber, die nichts haben und auch vom Staate nichts bekommen können, sind auf die reichen Bauern angewiesen. Die Reichen leihen ihnen die Geräte, fordern aber dafür Arbeit von den Aermeren oder anderweitige Vergütigung. In diesem Dorfe gibt es keinen einzigen Kommunisten.

Die soziale Ungleichheit unter den Bauern, die durch den Unterschied in dem Besitz erzeugt wird, wird durch den Mangel an jeglichen Manufakturwaren und Industrieprodukten noch verschärft: das Elend der armen Bauern nimmt zu. Pflüge, Eggen usw. werden, wenn einmal etwas davon ins Dorf kommt, was sehr selten ist, auf Grund des Mangels nicht an die Bauern persönlich verteilt, sondern an die Kommuneverwaltung. Wenn es nun vorkommt, daß unter der Maske eines „Kommunisten“ ein Gauner Kommissar ist, dann behält er, wenn z. B. zwei Pflüge für das Dorf bestimmt sind, einen für sich und einen gibt er fürs ganze Dorf. Es wurden aber fast nur „Kommunisten“ zu Kommissaren ernannt. Ich habe tatsächlich solche Fälle erlebt. Dies war im Dorfe Strokino im Gouvernement Moskau. Es kommen übrigens durch das Kommissarunwesen noch ganz andere Dinge vor. Im Kreise Marxstadt, in den deutschen Wolgakolonien, gibt es sogar Kommissare, die die Kühe von den Bauern requirieren, und sie in ihren eigenen Stall stellen. Was die Regierung den Bauern geben kann an Manufakturwaren, ist so minimal, daß es keineswegs auch nur den notwendigsten Bedarf decken kann. In Nowo Djewitsch erhielten die Bauern in drei Monaten nicht mehr als ein Pfund (russisches Pfund — 400 Gramm) Salz. Einmal erhielten sie auch 4 Archinen Zeug. (1 Archin — 0,71 Meter.)

Der Hunger der russischen Bauern an Manufakturwaren und Industrieprodukten ist unstillbar. Dazu sind die Bauern gezwungen, das Getreide dem Staate abzugeben. In dem Dorfe Nowo Djewitsch müssen die Bauern jährlich 32 Pud Mehl abgeben. Für eigenen Bedarf können sie als Minimum 20 Pud behalten. Außerdem müssen die Bauern Steuern zahlen. Die Steuern sind im allgemeinen sehr niedrig. In den Dörfern muß die Steuer meist in Naturalien abgegeben werden. Das Blatt der kommunistischen Partei der Wolgadeutschen schreibt vom 12. Mai 1920 über eine „Verordnung zur Einziehung der Naturaliensteuer im Bezirk Marxstadt“: „Laut Beschluß des Marxstädter Bezirksvollzugskomitees soll die Naturaliensteuer für das Jahr 1919 von den Dörfern Straßenfeld, Otrogowska, Morgentau-Sujedino, (es folgen noch weitere 19 Dörfer) eingezogen werden usw.“

Außer diesen Steuern müssen die Bauern auch noch Produkte abliefern. So steht in Nummer 83 derselben Zeitung vom 9. Mai ein Dekret, unterzeichnet von Lenin, als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, von dem Verwalter Bonsch-Brujewitsch und dem Sekretär Fotijewa, über die obligatorische Zustellung von Butter und Eier. Der Artikel 3 dieses Dekrets heißt:

Das von dem Volkskommissar für Verpflegungswesen vorgeschriebene Butterquantum für das Jahr 1920 für alle Rayons des Europäischen Rußlands, die keine Milchwirtschaften besitzen, beträgt durchschnittlich 3 Pfund Schmelzbutter von jeder Kuh. Die gesamte abgelieferte und den Organen zur Verfügung gestellte Butter wird an den Annahmepunkten nach festgesetzten Preisen bezahlt.

Der Artikel 9 lautet: „Ungenaue oder unzeitige Erfüllung der vorgeschriebenen Verpflichtung veranlassen den Staat, derartigen fahrlässigen Lieferanten gegenüber, die strengsten Maßregeln zu ergreifen, wie Rechtsverlust auf die ihnen zukommende Ware, Zustellung eines doppelten Butterquantums, Requirierung ihrer Kühe, indem die letzteren denjenigen Lieferanten übergeben werden, die ihren Pflichten pünktlich nachkommen, Arrest der Schuldigen und deren Ueberantwortung an das Volksgericht.“

Man hat so viel von dem Mißverhältnis der Sowjetregierung und den Bauern gesprochen, das durch die Requisitionspolitik der Regierung entsprungen ist. Ich habe auch viel, sehr viel davon in Moskau gehört. Nicht von Konterrevolutionären, sondern teils von Linken Sozialisten-Revolutionären, Maximalisten, Anarchisten, aber auch von Kommunisten selbst.

Ich will aber nichts darüber sagen, was ich nicht selbst aus erster unmittelbarer Quelle weiß. Denn dies können vielleicht andere, nicht aber ich selbst beweisen. Nun habe ich für die Fälle, die ich anführe, auch keine anderen Beweise als den Hinweis darauf, daß die Bauern es mir selbst erzählten.

Der Staat braucht für die Städte und für die Armee insbesondere Getreide. Die Bauern brauchen Industrieprodukte, Textilwaren, Manufakturwaren, Kurzwaren usw. Der Staat aber kann ihnen dies nicht geben, weil er selbst nichts oder so gut wie nichts für den großen Bedarf hat. Er kann aber deshalb die Soldaten nicht hungern lassen. Er ist also gezwungen, von den Bauern das Getreide abzufordern. Er bezahlt ihnen dafür einen Maximalpreis. Dieser Maximalpreis der Regierung steht im Verhältnis zu den Maximalpreisen der Regierung für Industrieprodukte. Wenn der Bauer nun von der Regierung die Industrieprodukte bekäme, die er braucht, so würde er zweifellos und anstandslos dem Staate sein Getreide geben. Dies ist aber nicht der Fall. Der Bauer muß die Industrieprodukte zu Wucherpreisen im Schleichhandel, im offenen Schleichhandel, auf dem offenen Markte kaufen. Er bekommt für ein Pud Mehl von der Regierung 100 Rubel. Er muß aber beispielsweise für eine Rolle Garn 3000 bis 5000 Rubel, für ein Pfund Seife 800 bis 1200 Rubel bezahlen. Um dann das kaufen zu können, was er notwendig braucht, ist er gezwungen, sein Korn oder Mehl ebenfalls zu Wucherpreisen auf dem Markte zu verkaufen. Dann bekommt er für ein Pud Mehl gegen 20 000 Rubel. Dadurch wird er in den Stand gesetzt, seinen notwendigsten Bedarf zu decken.

Der Bauer will also das Getreide nicht dem Staate abgeben. Die Gründe dafür haben wir soeben gesehen, sie sind einleuchtend. Da aber der Staat für seinen Bestand das Mehl haben muß, so sendet er Soldaten in die Dörfer, die das Getreide von den Bauern per fas et ne fas requirieren. Die Bauern verstecken das Getreide. Wird es aber gefunden, dann kann man oft sagen: Gnade ihnen Gott! Wir haben vorhin ein Dekret Lenins angeführt, das von der Bestrafung der Bauern handelt. Freilich kommt es dann oft vor, daß die requirierenden Soldaten sich noch viel mehr Rechte herausnehmen, als die Dekrete ihnen geben. Auch läßt es sich leicht vorstellen, daß nicht die ehrenwertesten Proletarier die Requisitionskompagnien bilden, sondern es sind meist die schlechtesten, durch den Krieg noch von den Zeiten des Zarismus her verrohten Elemente. Die Bauern selbst sind schließlich ebenfalls keine ästhetisierenden Philosophen und Pazifisten, sondern natürlich roh, so daß es oft zu Zusammenstößen kommt, bei denen die Bauern, die gar nicht oder nur sehr mangelhaft bewaffnet sind, meist den kürzeren ziehen.

Einzelne Fälle kann man nach Belieben herausnehmen; obzwar diese nicht das Gesamtbild geben, so können sie doch als Illustrationen für die Vorkommnisse dienen. Im Kreise Seelmann in den deutschen Wolgakolonien gingen Ende Mai 2000 Soldaten in die Dörfer, um von den Bauern die letzten Getreidevorräte vor der neuen Ernte zu holen. Im Dorfe Nowo-Djewitsch waren dreimal Bauernaufstände, die immer unterdrückt wurden. Und dergleichen Fälle habe ich auch in der Ukraine gehört.

Einen weiteren Grund zu Bauernerhebungen oder Mißstimmungen gibt das Gesetz der Mobilisation der Arbeitskraft. Dadurch können die Bauern gezwungen werden, für den Staat im Walde Holz zu fällen. Oft wollen die Bauern nicht gehen; sie wollen lieber ihren Arbeiten auf dem Felde nachgehen. Ich kam in ein Dorf, in dem gerade eine Regierungsdeputation war, um die Bauern zum Holzfällen zu bewegen. Auch die Frauen sollten mit. Sie wollten es nicht tun und begannen zu weinen. Schließlich gingen sie doch. Die Bauern wollten zu anderen Zeiten zum Holzfällen gehen, wie sie sagten, aber nicht jetzt. Man konnte es jedoch verstehen, daß sie am liebsten überhaupt nicht gegangen wären. Warum auch? Sie hatten keinen Vorteil davon. Die Bezahlung, die sie dafür bekommen, ist so minimal, daß sie nicht für den Staat arbeiten wollen.

Andererseits ist es dem Staate gelungen, durch diese energischen, oft freilich drakonischen Maßregeln die Frage des Heizmaterials bedeutend zu verbessern. In den Städten Moskau und Petrograd ist es in diesem Winter 1920-1921 schon viel besser als es früher, z. B. Voriges Jahr, war. Den Städtebewohnern, also auch dem Proletariat der Stadt, kommt dies zugute, und nicht nur die Bolschewiki, sondern alle geben zu, daß die Versorgung mit Brennmaterial sich nun etwas gebessert habe. Jedoch verwerfen viele Nichtbolschewiki, also Menschewiki, Sozialisten-Revolutionäre und auch Anarchisten die Taktik, durch welche die Bolschewiki von den Bauern diese Leistungen erzwangen.

Die prekäre Lage der Städte und ihre Abhängigkeit vom Lande in bezug auf Nahrungsmittel und zum Teil auch Brennmaterial führt zu einem Gegensatz zwischen Stadt und Land. Die Bauern stehen den Städten feindlich gegenüber. Allerdings hassen sie vor allem die requirierenden Soldaten, sie sind auch keine Freunde des Staates, da sie vom Staate nichts oder so gut wie nichts bekommen, der Staat aber von ihnen viel haben will. Nur kommt der Gegensatz und im gewissen Sinne, teilweise auch in Wirklichkeit, die Feindschaft zwischen den Bauern und dem Staate beim Bauern in der Form der Feindschaft zur Stadt überhaupt zum Ausdruck. Hierin liegt allerdings eine Gefahr, die aber behoben werden wird, sobald der Staat (für die Bauern die Stadt) die Bauern wieder mit den Erzeugnissen der Industrie versorgen kann.

Durch all diese Umstände und durch die Notlage, in der der Bauer sich befindet, hat er die Lust zum Bebauen der Erde verloren. Die Bauern bebauen das Land lange nicht so intensiv wie früher. Die Produktivität ist zurückgegangen. Wenn man in Deutschland in den maßgebenden Regierungskreisen davon spricht, daß nur die Arbeit, nur eine Erhöhung der Arbeitsintensität das deutsche Wirtschaftsleben retten kann, so ist das freilich richtig. Nur meinen die Kapitalisten die Arbeit des Lohnsklaven, während die Sozialisten, die diese Formel auch akzeptieren können, die Arbeit der gesamten Bevölkerung unter Ausschaltung des kapitalistischen Kuponschneider- und Protzer- oder Faulenzertums meinen. Nun trifft dies in noch viel größerem Maße für Rußland zu. Denn ohne Zweifel ist das russische Wirtschaftsleben noch einige hundertmal mehr zerrüttet als das deutsche. Aber ebensowenig wie die deutschen Proletarier dem Aufruf der Regierung nach intensiverer Arbeit folgen, sondern im Gegenteil die Intensität womöglich noch verringern, so denken auch die russischen Bauern nicht an eine Steigerung der Produktion. Sie sagen sich ähnlich wie die deutschen Proletarier: Für wen? Ich habe ja doch nicht die Früchte hiervon. So kann man in der Tat verzeichnen, daß die Anbaufläche sich sehr verringert hat. Nach den Berichten der Sowjetregierung hat sich die Anbaufläche im Gouvernement Charkow im Jahre 1920 um 65 Proz. verringert; im Gouvernement Jekaterinoslaw um 40 Proz., in den Gouvernements Cherson, Poltawa und Odessa um 15 Proz. Hierbei ist noch zu bedenken, daß in den Gouvernements Jekaterinoslaw sowie Poltawa große Teile vom Kriege überzogen waren. Und doch hat sich die Anbaufläche in diesen Gouvernements nicht so sehr verringert wie im Gouvernement Charkow, welches, seit Denikin geschlagen wurde, frei von jeder Invasion und jeder Armee geblieben ist. Diese Ziffern sind von außerordentlicher Bedeutung. Leider ist es mir nicht möglich gewesen, solche für die anderen Gouvernements, insbesondere für Zentralrußland, herbeizuschaffen.

Der Rückgang der Anbaufläche bei den Bauern ist dasselbe wie die Verminderung der Produktivität bei den Industriearbeitern und Städteproletariern. Aber während man bei den Poletariern den Hauptgrund in der schlechteren Ernährung und der allgemeinen Erschlaffung der Nerven nach den Jahren der kriegerischen Anstrengung, also in unterbewußten Faktoren und nur zum Teil in dem bewußten Unwillen, der aus revolutionärem Klassenbewußtsein entspringt, suchen muß — bei den russischen Proletariern haben wir fast ausschließlich die erstgenannten Gründe vorauszusetzen —, so käme bei den russischen Bauern die Erschlaffung und Gleichgültigkeit nach so vielen Jahren Krieg in geringem Grade in Frage. Der Hauptgrund liegt in den einfachen Worten: Wir haben ja doch nichts davon!

Zu all diesem kommt noch ein Umstand: Der Mangel an Saatgetreide. In vielen Dörfern verbrauchen die Bauern das Saatgetreide oder die Saatkartoffeln für andere Zwecke. Oft auch war die Regierung gezwungen, die Saatkörner der Bauern zum Verteilen an andere Gouvernements zu requirieren.

Die Verteilung ist aber nach dem Muster der schlechtesten russischen Organisation vorgenommen worden, wie sie auch unter dem Zarismus nicht schlechter sein konnte. Die Bürokratie in Rußland ist allerdings ein Kapitel für sich. Aber die Verteilung des Samens interessiert uns in diesem Zusammenhang. Die bolschewistische Zeitung „Der Uralarbeiter“ gibt von den Zuständen folgendes Bild. In einem Artikel vom 19. Mai 1920, Nummer 119, schreibt das Blatt unter dem Titel: „Es ist unmöglich, noch länger zu zögern“:

„Zur Versorgung von Getreidesamen der Wirtschaften braucht man nach den Mitteilungen des Kreis-Komitees 2 910 487 Pud Samen außer dem Gemüsesamen und den Saatkartoffeln. Das Gouvernementkomitee hat aber nur 26,25 Proz. des Samens geliefert, also etwas mehr als ein Viertel des Bedarfs. Davon bekam der Kreis Schadrinsky 9,5 Proz., die Kreise Irbitzky und Krasnoufimsky 17,5 Proz., der Kreis Kamischlowsky aber 51 Proz. Wie ist eine solche ungerechte und unregelmäßige Verteilung des Samens zu erklären?“ Der Verfasser des Artikels sucht die Gründe hierfür in den teils unfähigen, teils unwilligen Personen in den Verteilungskomitees.

In der Tat herrscht in den Lebensmittelkomitees der Gouvernements (man nennt diese Komitees „Gubprodkom“) ein schrecklicher Bürokratismus, der mit dem System des Zentralismus aufs intimste zusammenhängt.

Die Zeitung berichtet weiter, daß man im Gouvernement Jekaterinburg im Ural im ganzen 461 136 Pud Saatkartoffeln brauchte. Bis zum 9. Mai hatte man nur 10 000 Pud 35 Pfund, also gegen 2,2 Proz. Dieses ungenügende Quantum verteilte man noch nicht einmal regelmäßig sondern sandte alles, außer 2600 Pud 35 Pfund, in vier Kreise, während sechs Kreise gar nichts bekamen. Von den restierenden 2600 Pud 35 Pfund nahm der Konsumverein der Kommune (die Konsumvereine in Rußland sind nach dem Siege der Bolschewiki verstaatlicht worden) 1000 Pud für sich. Die angeführten Zahlen zeigen deutlich, in welcher Lage sich das Gouvernement in bezug auf Leistungsfähigkeit und Verteilung der Saatkörner, besonders der Saatkartoffel, befindet. „Ich will nicht nach Gründen suchen, die diesen Bankerott verursachen, muß aber darauf hinweisen, daß der „Gubprodkom“ in seiner jetzigen Zusammensetzung Führer hat, denen der gegenwärtige Effekt die Hauptsache ist, anstatt die Arbeit planmäßig zu organisieren. Die Maßnahmen, die die Führer des „Gubprodkom“ trafen, standen weit hinter den realen Bedürfnissen zurück, die an Ort und Stelle vorhanden waren.“ (Bericht des Bevollmächtigten des Lebensmittelkommissariats beim Rat der ersten Arbeitsarmee vom 12. Mai 1920 Nr. 1743.) Der Verfasser des Artikels sucht einen Ausweg aus diesem Dilemma darin, daß man den Kollektivwirtschaften, den Genossenschaften und Kommunen, sowie anderen Organisationen erlauben soll, das Saatgetreide und die Gemüsesamen sowie Saatkartoffeln selbst im freien Handel zu kaufen. Er weist auf das Gouvernement Petrograd hin, wo man diesen Ausweg fand. Im Gouvernement Petrograd hat man den kommunalen Gemüsegärten, den Sowjetorganisationen und anderen Organisationen den freien Ankauf des Samens gestattet und dabei viel bessere Resultate erzielt. Es wurden mehrere 10 000 Deßjatinen Land mit Saatgetreide versehen.

Aus diesen Berichten geht hervor, daß die ungenügende Belieferung von Samen und Saatgetreide ebenfalls ein nicht geringer Grund für die ungenügende Bebauung des Bodens ist.

Es liegt mir nicht ob, Sowjetrußland zu kritisieren, dies müssen wir in der jetzigen Periode den russischen Genossen selbst überlassen. Woran mir nur liegt, ist, die wirtschaftliche Lage der Bauern darzustellen. Daß diese Lage nicht glänzend ist, haben wohl die Darstellungen gezeigt. Die russischen Bauern leiden Not, große Not. Weniger an Lebensmitteln, als an Industrieprodukten. Gelingt es der russischen Revolution, der jetzt herrschenden Partei, diesen Hunger nach Industrieprodukten zu stillen, dann wird die Revolution sich zu freieren Formen entwickeln können, dann kann keine Reaktion mehr den Lauf des Fortschritts unterbrechen; wo nicht, dann schwebt das Schicksal der Revolution im Dunkeln.

Da ich meine Erfahrungen nicht nur deshalb niederlege, damit sie als totes Material zu einem archivarischen Dasein verurteilt sind, auch nicht, um den Gegenrevolutionären Wasser auf ihre Mühlen zu geben, aber auch nicht, den deutschen Arbeiter zu einer geistlosen und affenartigen Nachahmung der russischen Bolschewiki- und Revolutionspolitik aufzurufen, sondern gerade von dem innigsten Wunsche beseelt bin, daß die deutschen Arbeiter sich die Erfahrungen der russischen Revolution zu Nutze machen und aus diesen lernen sollen, so kann ich mich nicht enthalten, darauf hinzuweisen, daß die deutschen Hand- und Kopfarbeiter sowie Bauern sich davor hüten müssen, einer geist- und leblos arbeitenden Staatsbürokratie — und sei es auch eine „kommunistische“ — die Organisierung der Verteilung zu überlassen. Deutsche Arbeiter! Ihr sehet aus den Beispielen in Rußland, daß der Staat durch seine Organe nicht imstande war, den Bauern das Saatgetreide und die Gemüsesamen sowie Saatkartoffeln herbeizuschaffen. Daß aber die Bauern, wenn sie freie Hand hätten, ihren Bedarf selbst zu besorgen, wie dies in dem Gouvernement Petrograd geschah, in der Tat diese Aufgaben schneller, leichter und viel besser lösten. Möge dies eine Mahnung und ein Wink für die deutschen Arbeiter sein, nicht allzu viel dem Staate und seiner Allmacht zu vertrauen. Auch ein „kommunistischer“ Proletarierstaat macht hier keine Ausnahme; ja es könnte in einem solchen noch schwieriger sein, weil erstens die Arbeiter noch nicht geübt und gewohnt sind in der organisatorischen Staatsarbeit, und weil die alten Bürokraten nach Möglichkeit sabotieren werden. Dies machten sie ja auch in Rußland. Der Einwand, daß man dann eben den Bürokraten Arbeiterkontrolle beigibt, ist nicht stichhaltig, denn dies machte man ja auch in Rußland, und es nützte nichts. Man ist dennoch gezwungen, in allen dringenden Fällen den einzelnen Organisationen oder Privatpersonen die Sache in die Hände zu geben, die dann viel besser in der Lage sind, das Richtige zu treffen und die Organisation durchzuführen als der Staat. Damit soll natürlich nicht die Privatinitiative des Kapitalisten wieder hergestellt werden; — obzwar man auch dies in Rußland macht, indem man bei wichtigen Heereslieferungen oder ähnlichen Lebensfragen privaten Unternehmern die Sache in die Hände gibt — es soll nur darauf hingewiesen werden, daß es keinen unfähigeren Apparat zur Organisierung des wirtschaftlichen Lebens gibt als den Staat. Die Bolschewiki mögen noch so oft behaupten, daß all dies nicht zufriedenstellend organisiert werden konnte, weil man alle Kräfte dem Kriege zuwenden mußte, daß aber jetzt, wenn der Krieg beendet ist, die wirtschaftliche Seite des Aufbaus erst beginnen kann. Die Tatsache, daß gerade während der Kriegszeit, wo der Staat doch seine größten Anstrengungen machte, um sich aller Aufgaben prompt zu entledigen, da er das Messer an der Kehle hatte und gewiß auch vor keinem Mittel zurückschreckte, er nicht imstande war, die gestellten Aufgaben zu lösen, sondern die schwierigsten Sachen in die Hände von freien Organisationen oder gar Einzelpersonen legte, ist ein schlagender Beweis für die Unfähigkeit des Staates, denn wenn er es nicht fertig bringt in einer Zeit, wo, wie in der Stunde der Gefahr der Idealismus zweifellos am stärksten ist, dann ist er in weniger gefahrvollen Zeiten noch weniger dazu imstande.

Die politische Lage der Bauern.

Daß die Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens für die politischen Formen von großer Bedeutung ist, kann man getrost zugeben, ohne Marxist zu sein. So war auch die Besitzergreifung des Landes durch die Bauern in mehr als einer Hinsicht ein gleichzeitig wirtschaftlicher und politischer Akt. Die neue Form des politischen Lebens, die Sowjets, die Räte, hingen aufs intimste mit der wirtschaftlichen Umgestaltung zusammen. Die Bauern teilten in vielen Orten das Eigentum der Grundbesitzer. Um dies gerecht unter sich zu teilen und um die neuen Beziehungen mit den Nachbardörfern sowie ihr Verhältnis mit dem ganzen Lande zu ordnen, wählten sie Räte. Hier haben wir schon die Wurzel des Sowjetsystems. Der Aufbau dieses Sowjetsystems konnte bei den Bauern natürlich nicht so sein, wie bei dem Stadtproletariat. Die Bauern konnten ihre Sowjets nicht nach Fabriken wählen, sie wählten sie nach den Kommunen und Kreisen; sie wählten nicht nach Wirtschaftseinheiten, sondern nach Territorien. Allerdings wählen die staatlichen Sowjetkommunen auch nach ihren landwirtschaftlichen Betrieben.

Die lokalen Sowjets, die Kreissowjets und die Gouvernementssowjets der Bauern hatten und haben meist wirtschaftliche Funktionen, wenn wir absehen von einigen Erziehungsfragen und Schulfragen. Es handelt sich darum, das Verkehrsleben, Wege, Transporte usw. herzustellen, die Handels- oder, sozialistisch gesprochen, die Tauschbeziehungen mit den Städten anzuknüpfen und dergleichen mehr. Das wirtschaftliche und das politische Leben ist hier äußerst intim miteinander verknüpft. All diese Sachen aber haben nichts mit Parteipolitik zu tun. Obzwar nun die meisten Bauern parteilos sind, haben sie ihre Sowjets doch nach Parteien gewählt. Des geschah natürlich im Parteiinteresse, nicht im Interesse der Bauern, hat jedoch seine historischen Gründe. Doch wählen die Bauern häufig parteilose Sowjets.

Es war klar, daß im Anfang der Revolution die Parteien alle ihr Glück unter den Bauern versuchten. Denn wer in Rußland die Bauern hinter sich hat, der kann auf eine starke Macht bauen. So bekamen die Bolschewiki unter den Bauern große Sympathien, als Lenin den Frieden zu Brest-Litowsk machte. Später haben sie diese Sympathien wieder verloren, als sie die Soldaten in die Dörfer sandten zum Getreiderequirieren.

Heute sind die Bauern nicht mehr so sehr von den Parteien eingenommen wie im Anfang der Revolution. Sie sind noch für die Sowjets und werden wohl auch immer für die Sowjets bleiben, aber die Parteien sind nicht so stabiler Natur wie die Idee der Sowjets. Es hat sich oft gezeigt, daß die Bauern jetzt gegen alle Parteien sind. Der Sozialismus oder, richtiger gesagt, die kommunistische Wirtschafts- und Lebensweise scheint für die Bauern nicht eine Sache einer Partei zu sein. Auch sind die Sowjets nicht identisch mit dem Kommunismus, wie viele Arbeiter glauben. Gewiß ist der freiheitliche Kommunismus mit einem Art Rätesvstem immer verbunden. Denn wenn die Bauern oder Arbeiter am Orte ihre eigenen Angelegenheiten selbst verwalten, dann werden sie Räte wählen, die all die Funktionen zu erledigen haben, die nicht von jedem einzelnen erledigt werden kennen. Gegenwärtig gibt es in Rußland viele Bauern, die nicht Kommunisten sind, aber doch für das Rätesystem eintreten. Das Rätesystem ist dann für sie eben nur eine Form direkter politischer Vertretung unter Ausschaltung aller Eingriffe von einer zentralen Instanz, ist lokale Selbstverwaltung.

Da aber in dem gegebenen historischen Moment, als die Revolution ausbrach, die Parteien noch Anziehungskraft auf die Bauern ausübten, so ist es zu verstehen, daß es schließlich einer Partei gelang, sich die Macht innerhalb der Räte zu erkämpfen und zu behaupten. In dem Maße aber, wie es der Partei gelang, Einfluß und Macht in den Räten zu erreichen, haben die freien Sowjets ihre Macht verloren. Freilich wird dies um so weniger empfunden, je größer die Ausbreitung der Partei ist. Wenn die meisten Sowjets als Mitglieder der Partei zum Sowjet gewählt werden, dann fühlen sich die Mitglieder der Partei, wenn sie mit der Taktik und Politik der Partei einverstanden sind, auch dementsprechend frei. Es kommt jedoch oft vor, daß die Bauern keine Parteilisten zu den Sowjetwahlen aufgestellt haben wollen. Dafür habe ich besonders in der Ukraine Beispiele gefunden.

Ich habe mehreren Sitzungen des Exekutivkomitees der Distriktssowjets und Gouvernementssowjets, sowie auch einmal dem Kongreß des gesamten Gouvernementssowjets in Samara beigewohnt. Die Beratungen drehten sich um die Wirtschaftslage. Dabei bemerkte ich aber, daß die Wirtschaftspolitik nach dem Programm der bolschewistischen Partei durchgeführt wird. Die höheren Instanzen, wie z.B. der Rat der Volkskommissare, geben durch die Vermittlung der verschiedenen Volkskommissariate und ihre Abteilungen für Landwirtschaft, für Volksaufklärung, für das Verkehrs- und Transportwesen Dekrete heraus, und die Sowjets sind die Organe, die diese Dekrete durchzuführen haben, respektive für deren Durchführung zu sorgen haben. Es ist dies ähnlich wie eine Provinzialtagung der Gemeinderäte bei uns. Wenn die Zwangswirtschaft durchgeführt ist. dann haben sich die Sitzungen der Gemeinderäte der gesamten Provinz zunächst mit den verschiedenen Bestimmungen und Verordnungen, die von den höheren Instanzen herausgegeben werden, zu beschäftigen.

In einer Sitzung des Exekutivkomitees der Distriktssowjets der Provinz Charkow am 13. September 1920 wurden zwei Punkte behandelt: 1. die Verpflegung des Heeres, 2. die Herbeischaffung des Winterholzes. Nach den Dekreten des Rates der Volkskommissare hatte jeder Bezirk ein bestimmtes Quantum an Holz und an Lebensmitteln, seinen Möglichkeiten entsprechend, zu liefern. Ein Vertreter sprach davon, daß die Bauern in einem Bezirke beim Holzfällen nicht helfen wollen, weil sie nichts bekämen. Man müsse den Bauern wenigstens Versprechungen auf Warenlieferungen machen, dann würden sie dabei behilflich sein. Ohne die Hilfe der Bauern aber könne man die geforderten Quantitäten nicht liefern. Ein anderer sprach davon, daß sich in den Wäldern Banden aufhielten, die den Holzfällern die Arbeit erschweren. Man müsse die Bauern zur Vertreibung der Banden heranziehen; dies aber wollen die Bauern nicht. (Der Grund, weshalb die Bauern dies nicht wollen, war, daß viele von ihnen selbst zu diesen „Banden“ gehörten.) Dann sprach auch ein Delegierter der Abteilung der Verpflegung der Kriegsverwundeten von der polnischen und von der Wrangelfront. Er beschrieb das Elend der Verwundeten in grellen Farben, um die Vertreter der Exekutivkomitees der Sowjets zu bewegen, ihnen Lebensmittel in größerem Maße als bisher zu liefern.

Aus diesen Berichten kann man ersehen, daß die Aufgaben und politischen Funktionen der Sowjets sich auf ein gewisses gestecktes Feld beschränken, über das sie nicht hinausgehen können. Es ist zum großen Teil heute nicht mehr die Organisation von unten nach oben, sondern umgekehrt die von oben nach unten, wie das in einer Zwangswirtschaft zu Kriegszeiten für den Staat auch schwerlich anders möglich ist.

Für die Bauern macht sich aber diese Organisation von oben nach unten oft sehr drückend und unangenehm bemerkbar, um kein kräftigeres Wort zu wählen. Deutlich zum Ausdruck kommt dies auch in den Sowjetkommunen, wo die Verwaltung in vielen Fällen nicht in den Händen eines selbstgewählten Sowjets oder Verwalters liegt, sondern in denen eines von dem obersten Wirtschaftsrat oder Landwirtschaftskommissariat bestimmten. Die Bauern fühlen sich dann alles andere als frei. Erstens ist das Gut in den Händen des Staates, wie wir schon vorhin gezeigt haben. Die Bauern fühlen sich also nicht als Besitzer des Bodens, den sie bebauen. Zweitens übt der eingesetzte Verwalter oft ein ebensolches Regime aus wie früher der Gutsbesitzer. So schreibt die „Prawda“, ein bekanntes Bolschewiki-blatt, vom 1. Juli 1919 in Nr. 141:

„Der Verwalter („Sowchos“) ist oft wie der Hund auf dem Heu, der selbst nichts frißt und anderen nichts gönnt. Die gesamte Wirtschaft ist verfallen. (Es handelt sich um eine Sowjetwirtschaft im Twerschen Gouvernement.) Der Verwalter, ein ehemaliger Gutsbesitzer, ist ein schmutziger, heruntergekommener Greis von melancholischem Aussehen, der schon einer anderen Welt anzugehören scheint. Die Bauern empfinden einem solchen Sowchos oder „Spez“ (Spezialisten) gegenüber nur Haß. In jeder Gouvernements- oder Kreisverwaltung kann man wütenden Angriffen gegen eine solche Wirtschaft beiwohnen. Die Folge einer solchen gemeinschaftlichen Agrarpolitik ist eine Verschärfung des Verhältnisses zwischen den Bauern und der Sowjetmacht.“

Es ist klar, daß, wenn die „Prawda“ dies schreibt, sie auch Grund dazu hat, indem sie die Regierung auf diese Zustände aufmerksam macht. Die Regierung hat nun freilich kein Interesse daran, solche Zustände zu verschärfen, sondern im Gegenteil, zu beseitigen. Es scheint aber nach den vielen Versuchen sehr schwierig zu sein. Und man muß in der Tat nicht dem Unwillen der Regierung oder der Regierungen die Ursache beimessen, denn an dem guten Willen der Führer der Sowjetrepublik fehlt es wirklich nicht, sondern die Ursache hierzu ist das System der Verstaatlichung, der indirekten Beziehungen der Bauern zum Lande und zu der Verwaltung in der Bearbeitung.

Das Ideal der Bauern ist, sich frei zu fühlen und auf freiem Ackergrund zu wirtschaften. Dies ist aber auch das Ideal aller Sozialisten. Unter den beschriebenen Verhältnissen ist die russische Revolution, wie die Zitate aus der „Prawda" zeigen, noch nicht zur Verwirklichung dieses Ideales gelangt. Freilich werfen russische Revolutionäre die Frage auf, ob man sich nicht diesem Ideale mehr genähert hätte, wenn man eine andere Taktik eingeschlagen hätte. Die Linken Sozialisten-Revolutionäre, die Anarchisten, die Anarcho-Syndikalisten, die Maximalisten sowie ein Teil der Ukrainischen Kommunisten bejahen diese Frage. Sie sind vor allem alle gegen die Requisitionspolitik der Regierung und laut ihrer Agrarprogramme gegen die Verstaatlichung des Grund und Bodens, für eine mehr kommunale Form, für eine Form, die den Bauern größere Selbständigkeit gibt, für eine solche Form des Besitzes und der Bearbeitung des Bodens, wo die Bauern durch ihre selbstgewählten Sowjets die Wirtschaft selbst verwalten.

Demgegenüber erklären die Bolschewiki, daß auch sie für diese Grundsätze seien, daß es sich aber bei der praktischen Verwirklichung als so schwierig herausstellte — die Bauern lieferten nichts an die Armeen der Regierung und an die Städte —, so daß man sich zu scharfen Maßregeln gezwungen sah. Die Dekretpolitik der Bolschewiki ist nach ihrer Meinung richtig. Lenin sagt darüber in einer Rede über „Die Stellung der Bolschewiki (Kommunisten) zum mittleren Bauerntum“, gehalten in Moskau im März 1919:

„In ihren Grundlagen sind unsere Dekrete über die bäuerliche Landwirtschaft richtig. Wir haben nicht den leisesten Grund, irgendeines abzuleugnen oder zu bedauern. Sind aber diese Dekrete an und für sich richtig, dann ist es absolut falsch, sie den Bauern mit Gewalt aufzuzwingen. In keinem einzigen Dekret ist davon die Rede. Sie sind gedacht als Wegweiser, als Aufforderung zu politischen Maßnahmen.“

Diese Worte Lenins konnten aber doch nicht hindern, daß die praktische Durchführung der Dekrete Vergewaltigung der Bauern bedeutete. Es ist eben der Unterschied zwischen glatten Theorien und rauher Praxis. Obzwar die Bolschewiki der Bauernfrage die größte Aufmerksamkeit widmen, weil sie wissen, daß dies eine Lebensfrage für sie ist, so bedanken sich doch die Bauern für die Aufmerksamkeit der Regierung. Es ist nicht zu leugnen, daß Lenin Recht hat, wenn er sagt, daß die Dekrete in ihren Grundlagen richtig sind. Er hätte nur hinzufügen sollen, für uns, nicht aber für die Bauern. Die Dekretspolitik geschah im Interesse des Staates. Es sind daher nur die genannten antistaatlichen Parteien, die die Dekretpolitik prinzipiell verwerfen. Nachdem aber die Verwirklichung des Sozialismus, Kommunismus und der Freiheit — die sich nun einmal nicht aus dem Streben und den Wünschen des Volkes verbannen läßt — auch nicht durch Trotzkys und Radeks Artikel, worin sie versuchen, den Arbeitern und Bauern weißzumachen, daß die freie Arbeit ein Bourgeoisvorurteil sei — nur durch die Abschaffung des Staates möglich ist, so kann eine Aenderung, eine Verbesserung der Lage der Bauern, wodurch sie zufriedener werden, nur in der antistaatlichen Richtung erfolgen. Diese Richtung ist aber durch das Wegfallen aller Dekrete gekennzeichnet. Auf diesem Wege wird die Sowjetregierung durch die Bestrebungen der Bauern nach Selbstbestimmung und Selbständigkeit gedrängt. Diese Bestrebungen sind auch in Harmonie mit den antistaatlichen Tendenzen der Maximalisten, Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und auch der Linken Sozialisten-Revolutionäre. Wenn die Bestrebungen und Bewegungen der Bauern und die Tendenzen der Antistaatssozialisten mehr Fuß fassen und sich schließlich zum Siege durchringen werden — dann erst werden die Forderungen der sozialen Revolution ihrer Verwirklichung entgegensehen. Die Bauern wollen keinen Staatskommunismus, wo alles von oben herab kommandiert wird, sie wollen kommunale Selbstbestimmung, Kommunalismus, wenn man so will, d.h. die Freiheit, ihre eigenen Verhältnisse nach eigenem Wünschen und Wollen zu ordnen. Diese Freiheit aber haben sie unter dem System des Bolschewismus trotz aller gutgemeinten Dekrete nicht. Solange aber diese wichtigste aller Fragen, die Bauernfrage, nicht zur Zufriedenheit der Bauern durch die Freiheit der Entfaltung ihrer eigenen Initiative gelöst ist, können wir die soziale Revolution nicht einmal in ihrem ersten Stadium als abgeschlossen betrachten. Erst wenn dies geschieht, dann wird die Grundlage für eine friedliche Höherentwicklung des gesellschaftlichen Lebens geschaffen sein. Unter den gegenwärtigen, von den Bolschewiki geschaffenen Bedingungen ist die Unterdrückung einer Volksschicht oder Klasse durch eine andere und damit der bewaffnete, gewaltsame Aufstand immer noch aktuell. Unter der Herrschaft der Bolschewiki hat die russische Revolution die Bauernfrage nicht gelöst, sondern noch mehr verwickelt. Darüber braucht man sich aber nicht zu verwundern, denn die bolschewistische Partei ist eine marxistische, d. h. städtisch-proletarische Partei, und es ist natürlich, daß die Eroberung des Staates durch einen Teil des städtischen Proletariats — woran die Bauern gar nicht beteiligt waren — ihnen auch keine Befreiung brachte. Die Befreiung der Bauern muß durch die Bauern selbst geschehen. Ohne Zweifel aber hätten die Linken Sozialrevolutionäre oder Maximalisten als Bauernparteien der Frage viel mehr Verständnis entgegengebracht als gerade die Bolschewiki. Die letzteren sind am unberufensten zur Lösung der Bauernfrage im Sinne des Sozialismus.

Die Stadt und die Industrie.

Die Entwicklung der Gewerkschaften.

War für die Bauern die Besitzergreifung des Landes die Hauptsache und der Angelpunkt der Revolution, so war die Besitzergreifung der Fabriken, Gruben und Verkehrsmittel das Ziel des Proletariats der Städte und Industrien. Während aber auf dem Lande die Aufgabe leichter gelöst werden konnte, weil zur Bearbeitung des Bodens — in Rußland waren die wissenschaftlichen Methoden zur Bebauung des Bodens noch nicht eingeführt — kein Mehr von Kenntnissen erforderlich war, als wie die Bauern schon vorher hatten, so stellte sich die Lage in der Industrie schwieriger dar.

Die Zusammenhänge auf dem Lande waren einfach. Die Zusammenhänge in der Industrie sind kompliziert. Auf dem Lande gab es keine Zwischenstadien; die Besitzergreifung des Bodens war das direkte Ziel. In den Industriezentren entstand ein noch anderes Bestreben, das in der ersten Periode der Revolution in der Losung zum Ausruck kam: Arbeiterkontrolle, Kontrolle der Industrie. Diese Losung entstand noch während der Kerenskiperiode. Sie entsprach den Bestrebungen der Arbeiter, die Alleinherrschaft in den Fabriken ebenso zu stürzen, wie die Alleinherrschaft des Zaren in der Politik. Man wollte Demokratie auch in der Industrie, im Wirtschaftsleben. Die Arbeiter fühlten, daß zu ihrer Befreiung der Revolution im politischen Leben auch eine Revolution im wirtschaftlichen Leben folgen müsse. Daß die Arbeiter nicht gleich die Uebergabe der Fabriken forderten, hatte mehrere Gründe. Einmal hätte zu diesem Zwecke die Kerenskiregierung gestürzt werden, oder sie hätte selbst demissionieren müssen, dann aber fühlten sie sich noch nicht sicher, auch in der Lage zu sein, die Produktion gänzlich ohne Unternehmer, der in vielen Fällen auch der technische Leiter war, leiten zu können. Drittens aber mochte wohl unbewußt der Umstand mit einwirken, daß die Arbeiter fühlten, der Zar herrschte und beherrschte das Volk, er war aber nicht Eigentümer des Volkes, er hatte die Alleinherrschaft im Staate, er war aber nicht der Eigentümer des Staates, der Staat war nicht sein Privateigentum. Ein General ist auch nicht der Eigentümer der Soldaten, dennoch beherrscht er sie. Die Herrschaft hat also nicht immer das Eigentum zur Voraussetzung. Es ließ sich also die Möglichkeit denken, daß, wenn auch das Privateigentum der Fabriken und in der Industrie abgeschafft würde, so könnte die Beherrschung weiter bestehen bleiben. In der Tat war dieser Instinkt der Arbeiter richtig, denn gegenwärtig ist das Privateigentum in Rußland im großen und ganzen abgeschafft, ohne daß dadurch die Arbeiter sich als Herren der Produktion oder als Herren der Fabrik fühlen. Das Dekret der individuellen Leitung der Fabriken ist der Grund hiervon. Die Kontrolle der Industrie in der Werkstatt ist also ein wesentlicher Bestandteil der proletarischen Demokratie. Diese mußten die Arbeiter sich also zunächst erkämpfen.

Die Kontrolle der Industrie, die in den Oktobertagen 1917 die Forderung der Arbeiter war, wurde schließlich so stark, daß sie in Herrschaft über die Unternehmer umschlug. Hiermit war die Besitzergreifung der Fabriken durch de Arbeiter auch gegeben die denn auch bald begann. Nun ist aber die Besitzergreifung der Fabriken durch die Arbeiter schließlich nur die negative Seite, deren positive ist die Verwaltung. Erst da, bei der Verwaltung, beginnt die sozialistische und kommunistische Wirtschaft einzusetzen. Auf dem Lande ist dies zwar ebenso, aber die Verwaltung ist da einfacher.

Die Frage, die jetzt am brennendsten war, und die auch im Mittelpunkt der Sozialisierung steht, ist: Welche Organisationen übernehmen die Lieferung der Rohmaterialien und die Abnahme der Fabrikate, und welche Organe versehen die Arbeiter mit den nötigen Mitteln zum Lebensunterhalt? Nur wenn die Arbeiter Organisationen für diese Zwecke geschaffen haben, kann die Uebernahme der Fabriken mit Erfolg gekrönt sein. Das Unglück für die russischen Arbeiter war, daß sie über solche Organe nicht verfügten, daß sie unter der Herrschaft des Zarismus nicht in der Lage waren, sich solche Organisationen zu schaffen. Uebrigens muß hier zu unserem Leidwesen auch der deutschen Arbeiterschaft der Mangel an solchen Organen vorgehalten werden; denn gerade daran scheiterte bekanntlich die Verwirklichung der Sozialisierung in den Novembertagen 1918. Die theoretische Grundlage der Gewerkschaften in Deutschland war nicht dergestalt. In diesem Punkte haben sich nur die französischen syndikalistischen Gewerkschaften durchgerungen zu einem klaren Verständnis über die Rolle der Arbeiterorganisationen zur Verwirklichung der sozialen Revolution. Auch die deutschen Syndikalisten haben schon einen solchen Standpunkt vertreten, wenn früher noch nicht so klar, so stellten sie doch auf ihrem Kongreß 1919 zu Weihnachten ein klares Programm auf. Sie sind aber auch jetzt noch die einzige Arbeiterorganisation in Deutschland, bei der man eine programmatische Klarheit für die Uebernahme und Organisation der Produktion und Konsumtion durch die Arbeiter findet.

Das Fehlen jedes klaren Begriffes über das Handinhandarbeiten der einzelnen Wirtschaftszweige sowie auch das Fehlen dafür geeigneter Organisationen brachte es mit sich, daß die Arbeiter, die keine Idee darüber hatten und nur die kapitalistische Wirtschaftsweise kannten, die Idee dieser beibehielten und im Sinne des Kapitalismus weiter wirtschafteten. Da sie aber die Fabriken übernommen hatten, so waren sie jetzt an Stelle des einen Privateigentümers, des Fabrikbesitzers oder der kapitalistischen Gesellschaften getreten. Das bedeutete, daß sie nun den Profit des Fabrikanten unter sich teilten. Damit war aber der Kapitalismus nicht beseitigt, sondern nur von Privatbesitz in eine andere kollektive Form verwandelt. Die kapitalistische Konkurrenz, die Uebervorteilung der Konsumenten, die günstigere Stellung der Arbeiter, die gesuchtere oder wichtigere Waren produzierten als andere, all dies blieb beim alten, und dies muß unter solchen Umständen überall gleich sein.

De Arbeiter Deutschlands und Westeuropas müssen ihr Augenmerk darauf richten. Daß sich in der deutschen Arbeiterbewegung nicht schon längst der Gedanke Bahn brach, daß die Arbeiter nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten ausgebeutet werden, ist hauptsächlich wohl auf den Einfluß von Marx zurückzuführen. Die gesamte Arbeiterbewegung, die sich die marxistische nennt, war niemals darauf eingestellt, den Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeiter als Konsumenten zu führen; ja man machte auch in der Propaganda nicht genügend auf diesen Umstand aufmerksam. Die Arbeiter sind nicht nur in der Fabrik, wo sie arbeiten, übervorteilt und ausgebeutet, sondern auch in der Befriedigung all ihrer Bedürfnisse.

Das Wirtschaftsleben zerfällt in zwei Teile, die Produktion und die Konsumtion. In der kapitalistischen Wirtschaftsweise wirken natürlich beide Teile ausbeutend für die Arbeiter. Die Arbeiter sollten daher, wenn sie die kapitalistische Wirtschaftsweise vernichten und durch eine sozialistische oder kommunistische ersetzen wollen, beide gleich stark bekämpfen. Dies taten sie aber nicht und tun es auch heute noch nicht. Auch heute noch richtet sich ihr Kampf mehr gegen die Ausbeutung auf dem Gebiete der Produktion. Sie haben sich nur als Produzenten Klassenkampforganisationen geschaffen und kämpfen nur als Produzenten den Kampf gegen das Kapital. Die Konsumgenossenschaften, die in Rußland existierten, waren keine Klassenkampforganisationen. Auch in Deutschland sind sie dies nicht. Wenn es auch Konsumorganisationen gibt, die nur Arbeiter als Mitglieder haben, so sind diese doch nur Klassenorganisationen, aber keine Klassenkampforganisationen. In der letzten Zeit fangen sie auch damit ein wenig an, indem sie die Arbeiter bei Streiks versorgen. So verständlich nun diese Tatsache ist, so bedauerlich ist es, daß die Arbeiter keine Klassenkampforganisationen auf dem Gebiete der Konsumtion haben und hatten. Es ist verständlich, weil die Arbeiter unmittelbar nur als Produzenten ausgebeutet wurden und werden. Als Konsumenten aber werden sie mittelbar ausgebeutet. Die unmittelbare Ausbeutung sehen und begreifen die Arbeiter leicht; die mittelbare schwerer. Dieses Umstandes benutzten sich die Sozialisten; sie zeigten den Arbeitern, daß sie als Produzenten ausgebeutet wurden und riefen sie zur Organisation und zum Kampfe auf. Dies ist aber gerade unverzeihlich leichtsinnig gewesen. Denn es hätte der sozialistischen Propaganda gerade obgelegen, die Seite der Ausbeutung den Arbeitern aufzuweisen, die ebenso wichtig, aber nicht so einleuchtend und nicht so verständlich war. So war es natürlich leicht, die Arbeiter zu einem Kampfe um höheren Lohn zu bewegen. Aber was nützte ihnen dieser einseitige Kampf als Produzent? Gar nichts! Wenn sie auch den Kampf gewannen und höheren Lohn bekamen, so bleibt dem Kapitalisten immer noch die andere Seite der Ausbeutung übrig, an die die Arbeiter nicht gedacht. Der Kapitalist erhöhte den Preis seiner Ware und wälzte so die Lohnerhöhung auf die Konsumenten ab, d.h. mit anderen Worten: die Ausbeutung war durch die Lohnerhöhung um kein Jota vermindert!

Die russischen Arbeiter erkämpften mit ungestümer Gewalt die Abschaffung der Kapitalisten als Privatbesitzer der Unternehmungen. Es glückte ihnen auch. Hätten sie nun mit demselben Ungestüm die zweite Form der Ausbeutung, die der Konsumtion, bekämpft, dann — —. Aber dies konnten sie ja nicht; denn für die russischen Arbeiter kam die Abschaffung des Kapitalismus der Beseitigung der Kapitalisten gleich; sie hatten in ihrem eigenen Unternehmer ihren Ausbeuter verkörpert. Die Ausbeutung bei der Konsumtion aber war keine Person, es war ein System. Ein System läßt sich aber nicht beseitigen durch Beseitigung oder Vertreibung von Personen! Dies sollte sich auch auf dem Gebiete der Produktion bewahrheiten. Ein wirtschaftliches System, das in der menschlichen Gesellschaft die Funktionen der Versorgung der Bevölkerung mit allem zum Leben notwendigen Bedarf erfüllt, kann nicht anders beseitigt werden als durch ein anderes wirtschaftliches System, und zwar in dem Maße, als dieses andere System imstande ist, in jedem einzelnen Falle in die Bresche des alten zu treten.

Dies zeigt uns in allen Stücken die Entwicklung der russischen Revolution. Daraus haben aber die deutschen und die Arbeiter der anderen Länder zu lernen; Sie haben ein sozialistisches Wirtschaftssystem aufzubauen in ihren Organisationen, das an die Stelle des kapitalistischen tritt. Tun sie das nicht, und eine politische Revolution bricht aus, dann wird diese Revolution auch nur politisch bleiben. Aus diesem Grunde gilt es, schon heute damit zu beginnen. Die Arbeiter haben sich zu organisieren in Konsumvereinen, oder solche Organisationen zu schaffen, die die Konsumtion an dem Tage nach der Revolution sofort in die Hände zu nehmen imstande sind. Dies sind aber die Bourse du Travail oder, wie die deutschen Syndikalisten es nennen, die Arbeiterbörsen. Ohne solche Organisationen werden sie denselben Fehler machen wie die russischen, und der Kapitalismus, den man zur einen Türe hinausgeworfen und nun besiegt glaubt, weil seine politischen Vertreter machtlos gemacht worden sind, kommt an allen Ecken und Ritzen des sozialen Gebäudes wieder zum Vorschein und überwuchert die sozialistischen Anfänge solange, bis die Arbeiter durch ihre eigenen neuen wirtschaftlichen Organisationen in der Lage sind, ihn überflüssig zu machen. Ein verhängnisvoller Irrtum aber ist es, dies neue Wirtschaftssystem in die Hände des Staates zu legen.

Wir verließen die russische Revolution dort, wo die Arbeiter sich in den Besitz der Fabriken setzten und teils auf eigene Kosten für sich weiter produzierten, ohne das kapitalistische Konsumtionssystem anzugreifen. Dies wird nun von einigen deutschen sozialdemokratischen Theoretikern, unter anderem auch von Kautsky, als „Syndikalismus“ bezeichnet. Es ist aber nichts fälschlicher, entweder aus Unwissenheit, oder aus wissentlichem Betrug, als dies. Eine Einsichtnahme in die Prinzipienerklärung der deutschen Syndikalisten genügt, um jeden davon zu überzeugen. Eine eingehende Widerlegung dieses Irrtums oder Betruges aber seht über den Rahmen dieses Buches hinaus.

Daß die russischen Arbeiter nichts anderes unternahmen und nichts anderes zu tun in der Lage waren, ist auf den Umstand zurückzuführen, daß sie keine Organisationen dazu hatten; es fehlten ihnen die Gewerkschaften, die als Keimzellen der neuen sozialistischen Wirtschaft die Fähigkeiten entwickelten und sich für diese Aufgaben organisieren, die die Arbeiter in den Stand setzen, das kapitalistische Wirtschaftssystem durch das sozialistische zu verdrängen.

Die russischen Gewerkschaften datieren erst vom Jahre 1905 her. Nach dem Sieg der Reaktion jedoch wurden sie wieder aufgelöst, so daß sie meist unterirdisch weiter existierten. Nach 1910 begannen sie sich von neuem zu entwickeln, wurden aber in den Kriegsjahren von der zaristischen Regierung wieder aufs schärfste bekämpft und unterdrückt.

Nach dem Sturze des Zarismus im März 1917 begannen die Gewerkschaften sich aufs kräftigste wieder zu entwickeln, so daß, als im Juli eine Konferenz der Gewerkschaften in Petrograd (die dritte Konferenz) stattfand, bereits 1 475 425 Mitglieder durch 220 Delegierte vertreten waren. Auf dieser Konferenz zeigte sich, von welchem Charakter die russischen Gewerkschaften waren. Es waren zwei Meinungen vertreten; eine linke und eine rechte. Der linke Flügel war dafür, daß die Gewerkschaften jedes Ansinnen der Klassenversöhnlichkeit und der Möglichkeit des Zusammenarbeitens mit der Bourgeoisie zurückweisen sollen. Dieser linke Flügel war jedoch um ungefähr 15—20 Stimmen in der Minderheit, und seine Anträge kamen nicht durch. Es wurden aber doch Resolutionen angenommen für eine größere Besteuerung der besitzenden Klassen, für Einführung von Höchstpreisen für die wichtigsten Produkte, für eine Kontrolle der Produktion, für eine direkte Beteiligung der wichtigsten Produktionszweige an der Staatsleitung, für strenge Bankkontrolle, für eine zwangsmäßige Syndikalisierung und Vertrustung, für Reorganisation der staatlichen Regulierungsorgane. Gleichzeitig wurde eine Erklärung abgegeben, daß der Prozeß dieser Regulierung allzu schwierig sei, als daß das Proletariat allein oder vorwiegend allein diese Regulierung übernehmen könne.

Aus dieser Stellungnahme der Gewerkschaften kann man ersehen, daß infolge der revolutionären Situation sich die Gewerkschaften mit Problemen beschäftigten, die ebenfalls in der deutschen Revolution zutage traten, wie zum Beispiel die Kontrolle über die Produktion, das Recht der Arbeiter bei Einstellungen und Verabschiedungen von Arbeitern mitbestimmend zu wirken u. dgl. mehr. Auch in Deutschland hat man sich mit diesen demokratischen Forderungen, mit der Ueberführung der Demokratie in die Industrie beschäftigt, was auch die Kapitalisten unter der Losung des „Herr im Hause“ bekämpften. Aber trotz allen Fortschritten, den diese Arbeiterkontrolle bedeutet, so ist sie doch nichts anderes als die Einführung der Demokratie in das wirtschaftliche Leben, ist aber nicht die soziale Revolution selbst. Es können nämlich auch solche Organisationen, die prinzipiell nicht für die soziale Revolution sind, diese Forderungen auf Mitbestimmung aufstellen, wie dies auch die deutschen „freien“ Gewerkschaften taten, die ja eben in dem Sinne „frei“ sein wollen, daß sie nicht im Dienste irgend einer sozialistischen Idee stehen.

Als nun die Oktoberrevolution ausbrach und mit dem Siege der Bolschewiki endete, wollten die Bolschewiki als radikale sozialdemokratische Partei auch die Revolution auf den Arbeitsplatz tragen. Die Arbeiter selbst wollten natürlich ebenfalls die Revolution zu einer sozialen machen, d.h. die Kapitalisten ganz ausschalten.

Da zeigte sich aber, daß dies doch nicht so leicht ging, als wie es gedacht war. Und warum nicht? Weil die Arbeiter in Rußland nicht in der Lage dazu waren, den Kapitalismus, in dessen Händen das gesamte wirtschaftliche Leben bisher gelegen hatte, abzuschaffen, ohne das wirtschaftliche Leben selbst den schwersten Krisen auszusetzen. Die soziale Revolution stellte also die Arbeiter vor Aufgaben, denen sie im ersten Ansturm nicht gewachsen waren. Da aber eine Partei, die sich nur auf die Arbeiterklasse und keine andere Klasse — auf die Bauern nur bedingt — stützen konnte, die Macht im Staate hatte, so mußte diese Partei auch die Verantwortung für das wirtschaftliche Leben übernehmen, wenn sie nicht entweder die Kapitalisten in ihren Machtpositionen auf wirtschaftlichem Gebiete belassen oder die politische Macht wieder aufgeben wollte. Sie konnte aber ohne die Arbeiter nichts anfangen, da sie keine Staatsorgane für diese Zwecke zur Verfügung hatte.

Man wandte sich also an die Gewerkschaften. Die Arbeiter strebten nach wirtschaftlicher Freiheit, nach Abschaffung von der Ausbeutung des Unternehmers. Sie jagten in vielen Fällen den Unternehmer zum Teufel, in vielen Fällen ließ er seine Fabriken oder seine Werke selbst im Stiche, teils aus Verzweiflung, teils in der Hoffnung, dadurch die Produktion zu sabotieren, so daß die Arbeiter, die dann ihre eigene Unfähigkeit einsehen lernen, ihn wieder zurückrufen sollten. In vielen Fällen ist es auch so gekommen, daß beute an der Spitze der Unternehmungen wieder der alte Unternehmer von früher steht. Allerdings nicht mehr mit den früheren Eigentumsrechten, aber doch als sogenannter Spezialist, der sich bedeutend besser steht als der Arbeiter.

Als sie nun an die Verwaltung der Produktion gingen, wählten die Arbeiter zu diesem Zwecke Komitees, die sogenannten Fabrikkomitees. Diese Fabrikkomitees übernahmen nun die Fabriken. Da aber der Staat die erzeugten Produkte brauchte, so wandte er sich — an die Fabrikkomitees selbst konnte er sich nicht wenden, weil er dazu einen zu großen Apparat hätte haben müssen, — indirekt an die Fabrikkomitees durch die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften bekamen so die Rolle der Vermittlung der Produktion für den Staat. Die herrschende Partei erkannte bald die wichtige Rolle, die den Gewerkschaften auf dem Gebiete der Produktion und der gesamten Wirtschaft überhaupt zufällt und, da ja viele ihrer Parteimitglieder — es war doch immerhin eine Partei, die sich meist aus Arbeitern rekrutierte — in den Gewerkschaften saßen, so suchte sie durch ihre Mitglieder die Gewerkschaften unter den Einfluß der Partei zu stellen, die Gewerkschaften der Partei unterzuordnen. Dies war der beste Weg für die herrschende Partei, sich der Produktion der Arbeiter versichern, die gesamte Produktion in ihre Dienste zu stellen. Die bolschewistische Partei erklärte denn auch in ihrem Parteiprogramme, daß

„der Organisationsapparat der vergesellschaftlichen Industrie sich vor allem auf die Gewerkschaften stützen muß“.

Die Fabrikkomitees waren also Kinder der Revolution, entsprungen aus dem Bedürfnis der Arbeiter, Organe zur Leitung der Fabriken zu schaffen. Bald aber mußten die Arbeiter inne werden, daß es damit allein nicht getan war. Wollten sie nicht weiter im kapitalistischen Wirtschaftssystem verbleiben, so mußten sie auch die Konsumtion auf eine genossenschaftliche, gemeinschaftliche Basis stellen. Aber zu all diesen Aufgaben hatten sie sich ja nie vorbereitet. All dies war ihnen so neu, daß sie selbstverständlich erst durch viele Versuche, durch viele Fehler hindurch mußten. Sie hatten eben keine Gewerkschaften mit revolutionären Aufgaben, die nicht nur Versicherungsvereine wahrend der kapitalistischen Periode waren, sondern auch die neue sozialistische Organisation in ihrem Schoße trugen. Instinktiv oder aber aus natürlich naheliegenden und einleuchtenden Gründen wandten sie sich an ihre Gewerkschaften. In ihnen mußten sie jetzt ihre natürlichen Unterhändler und Vertreter erblicken. Bestärkt in ihrem Vertrauen zu den Gewerkschaften wurden sie noch durch den Umstand, daß die neue herrschende Partei oder deutlicher gesagt, der Staat sich ebenfalls an die Gewerkschaften mit demselben Anliegen wandte, die Gewerkschaften zu demselben Zwecke gebrauchen wollte. Da die Gewerkschaften aber noch zu neue Gebilde waren, noch zu ungewohnt vor solche Funktionen gestellt wurden, war es verständlich, daß sie sich mehr oder weniger an den Staat anlehnten und die Partei, die am Ruder saß, die noch dazu eine proletarische war und von der sie viele Mitglieder in ihren Reihen hatten, als Führer anerkannten. Die Partei aber, mit allen Machtmitteln des Staates ausgestattet, begann eine intensive Werbearbeit in den Reihen der Gewerkschaften, um sich größeren Einfluß zu sichern. Es gelang ihr auch. Je größer aber der Einfluß der Partei wurde, desto mehr verloren die Gewerkschaften an ihrer Selbständigkeit, desto mehr kamen sie unter die Fuchtel der Partei. In demselben Maße wie diese Entwicklung fortschritt, wurden auch die Rechte der Betriebsräte oder Fabrikkomitees beschnitten.

Die Partei, die durch die Gewerkschaften sich der Produktion versichern wollte — es gelang ihr auch —, wollte und mußte die Produktion so ausgiebig und ertragreich wie möglich gestalten. Die Produktion aber stieg nicht, sondern fiel mit der immer geringer werdenden Zufuhr von Lebensmitteln mehr und mehr. Die Politik der Partei den Bauern gegenüber war durch das Getreidemonopol Bestimmt. Dadurch sollten die Bauern alles Getreide dem Staate liefern. Die Bauern wollten dies nicht. Es kam zu Differenzen. Der Staat begann das Getreide zu requirieren. Dadurch wurden aber die Getreidelieferungen nicht vermehrt, die Arbeiter bekamen nicht genügend Brot. Dies wirkte auf ihre Produktivität vermindernd. Die Fabrikkomitees waren nicht energisch genug, und der Staat griff zu einem anderen Mittel. Er nahm die Leitung aus den Händen der Räte und legte sie in die Hände Einzelner. Die Betriebsräte hatten damit ihre Rolle als Leiter der Produktion ausgespielt und ihre Selbstbestimmung verloren.

Während der Periode des Zarismus und Kapitalismus waren die russischen Gewerkschaften teils ähnliche Organisationen wie die deutschen freien Gewerkschaften, aber doch weit radikaler. Ihre radikale Stellung ergab sich schon aus den Verfolgungen des Zarismus. Sie waren gezwungen, nicht nur Unterstützungs-, sondern auch Kampfesorganisationen zu sein. Inwiefern sie dies waren, davon gibt am besten eine Vorstellung die dritte Konferenz, die bereits erwähnt wurde, die unter den Stürmen der Oktoberrevolution im November 1917 stattfand. Da wurden schon Betriebsräte als notwendige Organe mit den Funktionen der Arbeiterkontrolle anerkannt. Aber unter dieser Periode waren die Gewerkschaften noch Klassenkampforganisationen. Später wurden sie von Klassenkampforganisationen zu Produktionsorganisationen.

Die Veränderung des Charakters der Gewerkschaften war auch von einer Umwandlung ihrer Organisationsform begleitet. Während sie früher nach Berufen organisiert waren, wurden sie jetzt zu Industrieorganisationen. Zweifellos entspricht die Form der Industrieorganisationen der Aufgabe der Gewerkschaften als Produktionsorgane. Denn die nach Industrien organisierten Arbeiter sind besser in der Lage, den Produktionsprozeß zu leiten als die nach Berufen. Dies zeigte sich auch in Amerika. Die Organisation der Industriearbeiter Amerikas ist ebenfalls auf demselben Prinzip aufgebaut, da sie nach ihren Theorien die Produktion übernehmen will. Die I.W.W. sind hier zweifellos die Vorläufer dieser modernen Form der Gewerkschaftsbewegung. Aber die kommunistische Partei Rußlands, (Bolschewiki) trug auch ihres dazu bei, diese Entwicklung zu beschleunigen. Sie hatte durch vorhin angegedeuteten Prozeß mehr und mehr Einfluß in den Gewerkschaften erhalten, so daß ihre Resolutionen auf den späteren Kongressen immer durchdrangen. Durch den überwiegenden Einfluß der Regierungspartei wurden die Gewerkschaften mehr und mehr Werkzeuge des Staates, sie wurden verstaatlicht.

Die Verstaatlichung wurde beschlossen am 2. Kongreß der Gewerkschaften im Januar 1919. Es heißt da: „daß die Sache der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und der Organisation der Gesellschaft auf neuer sozialistischer Grundlage eine langwierige beharrliche Arbeit am Umbau der ganzen Staatsmaschinerie, sowie Schaffung neuer Organe der Rechnungslegung, Kontrolle und Regelung der ganzen Produktion und Verteilung erfordert. Dies schreibt den Gewerkschaften eine energischere und aktivere Beteiligung am Wirken der Sowjetmacht vor durch unmittelbares Mitarbeiten an allen Staatsorganen. Der ganze Prozeß der Verschmelzung der Gewerkschaften mit den Organen der Staatsgewalt, der Prozeß der sogenannten Verstaatlichung muß sich vollziehen als unvermeidliche Folge ihres gemeinsamen engsten und harmonischsten Zusammenwirkens usw.“

Dies würde also bedeuten, daß die Gewerkschaften einen Einfluß auf die Politik des Staates haben, wie umgekehrt die Sowjetorgane einen Einfluß auf die Gewerkschaften haben. Es wurde mir auch in Moskau gesagt, daß dies so sei und daß die Gewerkschaften Vertretungen in den verschiedenen Kommissariaten haben. So ist z.B. der Vorsitzende des Allrussischen Zentralrates der Gewerkschaften M. Tomski auch Mitglied im Kriegskommissariat. Außerdem sind andere Mitglieder des Zentralrates der Gewerkschaften in anderen Kommissariaten, wodurch die am Kongreßbeschluß ausgedrückte Verschmelzung mit dem Staate und Verstaatlichung der Gewerkschaften gewährleistet ist. Aber dies ist nicht so zu verstehen, daß jeder Gewerkschaftler Mitglied in einem Kommissariat des Rates der Volkskommissare werden kann. Denn um diese Möglichkeit zu haben, muß er erst in den Rat der Gewerkschaften gewählt werden. In diesen Zentralrat der Gewerkschaften können aber nur Mitglieder der kommunistischen Partei (Bolschewiki) gewählt werden. Ich kenne alte Revolutionäre, die Kommunisten waren, ehe die sozialdemokratische Partei der Bolschewiki sich ‚kommunistisch‘ nannte, diese sind in den Gewerkschaften; sie sind auch intelligent, so daß sie alle Eigenschaften haben, die sie dazu geeignet machen, in den Zentralrat der Gewerkschaften gewählt zu werden. Dazu kann es aber niemals kommen, solange sie nicht in die kommunistische Partei eintreten. Nun haben sie aber ihre Gründe, nicht in die kommunistische Partei einzutreten. Also können sie niemals an den Arbeiten in den Sowjets mitwirken und die sogenannte Mitwirkung der Arbeiter durch ihre Gewerkschaften ist nur für die Mitglieder der herrschenden Partei möglich. Nicht die Gewerkschaften als solche, sondern die Kommunisten-Bolschewiki, die in den Gewerkschaften sind, haben das Recht der Mitwirkung an den Staatsorganen.

Es muß zugegeben werden, daß die revolutionäre Partei nicht alle Arbeiter oder Angestellten, die in den Gewerkschaften organisiert waren, zu allen Arbeiten, vor allem zu allen verantwortungsvollen Arbeiten, heranziehen konnte. Denn in den Gewerkschaften gab es und gibt es viele, die gegen die Revolution überhaupt sind, und die, wenn man sie herangezogen hätte, zweifellos alles getan hätten, um den revolutionären Fortschritt zu hemmen und aufzuhalten. Aber dies dürfte man doch nicht mit Revolutionären machen, nur weil sie eine andere Meinung haben, weil sie einer anderen Partei oder Bewegung angehören. Das bedeutet, daß man die Revolution monopilisieren will, daß man nur einer Partei das Recht der Revolution zuschreiben will, während es doch in Rußland viele andere revolutionäre Parteien gibt.

Die Industriegewerkschaft ist eine fortgeschrittenere Form der zunft- oder berufsmäßigen Organisation gegenüber. Die Industrieverbände in Rußland werden zentralistisch organisiert. Dadurch war die Sowjetregierung am besten in der Lage, die Gewerkschaft als ihren eigenen Apparat zu benutzen. Die Gewerkschaften in dem rasendem Tempo, das die russische Revolution durchlaufen ist, waren noch zu unreif, um sich die Organisationsform wählen zu können, die ihr am angemessensten waren. Um in der allgemeinen Zerfahrenheit zu einer Ordnung zu gelangen — man versuchte auch eine kurze Zeit, die Gewerkschaften auszuschalten und nur Räte, Zentralräte oder Betriebsrate zu schaffen, aber diese Versuche haben sich überlebt, sie verschwanden nach sehr kurzer Dauer wieder, nachdem die Gewerkschaften auf ihrem ersten Kongreß im Januar 1918 diese Zentralräte der Betriebsräte liquidiert hatten, man wollte und konnte keine Konkurrenzorgane haben, die nur zu gegenseitigen Reibereien, zu einem Bruderkampfe geführt hätten — legte man alles in die Hände einer Zentrale und stattete diese Zentrale mit großer Machtvollkommenheit aus. Durch diese Zentrale konnte dann der Staat die kleinsten Gebilde, die äußersten an der Peripherie gelegenen Punkte und Organisationen erfassen. So war die Organisationsform der Gewerkschaften in Rußland aus der Stunde der Not geboren und trug auch demgemäß diesen Stempel an sich. Die Gewerkschaften haben ihre Selbständigkeit verloren, sie sind Werkzeug des Staates. Trotzky hat nicht so unrecht, wenn er in seinem Anti-Kautzky-Buche sagt: „Hat man einmal die Macht ergriffen, dann kann man nicht die einen Folgen annehmen, die andern ablehnen.“ Aus dem Besitz der Macht, die man um jeden Preis halten wollte und mußte, ergab sich dann eins aus dem andern, die Arbeiter sind weiter beherrscht!

Während die Form des Industrieverbandes die geeignetste Gewerkschaft für die Arbeiterschaft auch der anderen Länder ist, so war der Zentralismus dieser Industrieverbände, der die Unterordnung der Gewerkschaft unter die Partei und Sowjetregierung möglich machte, auf die besonderen Umstände zurückzuführen. Wenn die russischen Bolschewiki aber ihre eigenen Organisationsformen auf alle übrigen Länder übertragen wollen, so befinden sie sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Wie z.B. auf französischem Boden die besondere Form der Arbeiterbörsen entstand und wie in Amerika die der Industrieverbände, so entstand in Rußland unter den eigenartigen Verhältnissen die Abhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei. Wie es nun verfehlt wäre, die französische Form auf amerikanische Verhältnisse zu übertragen, so ist es auch verfehlt, die russische Form auf andere Länder übertragen zu wollen, wie es die Statuten der „Dritten Internationale“ vorsehen. Die Form der Industrieverbände ist wohl geeignet, aber nicht in der Form, wie sie in Rußland entstand. In Schweden ist z. B. die lokale Gesamtorganisation eine für dies Land weit bessere Form nicht nur als Kampfesorganisation gegen den Kapitalismus, sondern auch als zukünftige Grundlage der sozialistischen Produktion. Allerdings läßt eine solche Form die zentralistische Leitung einer Partei von einem Platze aus sehr schwer zu, ja, sie ist dabei undenkbar.

Die Organisation der Gewerkschaften.

Der Aufbau der russischen Gewerkschaften geht teils von oben nach unten, von unten nach oben. Die Funktionen aber gehen jetzt ausschließlich von oben nach unten. Aus diesem Grunde bekommen wir ein besseres Bild von der Gesamtfunktion der Gewerkschaften, die gleichzeitig zur Regulierung der Produktion dienen, wenn wir uns deren Bau von dem Zentrum aus, das die Direktiven bestimmt, betrachten. Alle Industriearbeiter in Rußland müssen obligatorisch Mitglieder der Gewerkschaften sein. Es gibt 4½ Millionen organisierte Arbeiter in Rußland.

Jede Organisation muß zweckmäßig sein, d.h. ihre Form muß den Funktionen entsprechen, die sie zu erfüllen hat. Da die Funktion der russischen Gewerkschaften gegenwärtig ist, die Industrie zu leiten und die Aufgaben des höchsten Wirtschaftsrates, der die Produktion in seinen Händen hat, zu erfüllen, so müssen die Gewerkschaften so organisiert sein, daß sie diesen Aufgaben gerecht werden können. Die Betriebe, (Fabriken, Hütten, Gruben, Verkehrs- und Verteilungsanstalten) sind nicht mehr in den Händen von einzelnen Unternehmern, sondern in den Händen des Staates. Als die Betriebe noch in den Händen der Privatunternehmer waren, war eine solche Gewerkschaftsorganisation, wie sie heute besteht, für die kapitalistische Produktion nicht notwendig. Als aber dann alles verstaatlicht wurde und so in den Besitz eines einzigen Eigentümers, des Staates überging, da mußte dieser Eigentümer Staat auch in der Lage sein, alles von einem Punkte aus organisieren zu können. Wir veranschaulichen uns dies am besten, wenn wir uns ein großes kapitalistisches Konsortium denken, das auch nicht einer einzigen Person gehört, aber doch münden alle Fäden in einem zentralen Punkte zusammen. Von diesem zentralen Punkte wird alles geleitet. Alles muß wieder in diesen Punkt zurück.

Der Verwalter der Produktion ist der oberste Volkswirtschaftsrat. Zur Produktion gehören zweierlei: Menschen und Dinge. Die Organisation der Menschen: Produzenten, Arbeiter und Angestellte, sind die Gewerkschaften. Aus diesem Grunde muß der oberste Wirtschaftsrat durch die Gewerkschaften wirken. Das geschieht auf die Weise, daß die Leiter der Fabriken von dem Obersten Volkswirtschaftsrat auf Vorschlag der Gewerkschaften bestimmt werden. Dann sitzen Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrates in den Provinzialräten der Gewerkschaften. Außerdem haben die Gewerkschaften einen Vertreter in dem Arbeitskommissariat. Der Kommissar des Arbeitskommissariats, der zu gleicher Zeit Mitglied des Rates der Volkskommissare ist, ist durch Mitbestimmung der Gewerkschaften auf diesen Posten gesetzt.

a) Der Zentralrat der Allrussischen Gewerkschaften besteht aus 120 Mitgliedern und ist gewählt von einem Kongreß der Kreiskomitees, der Gouvernementskomitees, der Kreissowjets und der Gouvernementssowjets. Der Vorsitzende des Zentralrats der Allrussischen Gewerkschaften ist Michael Tomski. Zu den Mitgliedern des Zentralkomitees gehören elf Personen. Es sind außer Tomski: A. Andrejeff, W. Kossior, E. Holzmann, A. Losowsky, H. Ziperowitsch, N. Iwanoff, N. Bucharin, P. Rutzutak, J. Lutowinow und W. Schmidt.

Von diesen sitzen im Rate der Volkskommissare (Sownarkom) zwei, einer mit beschließender Stimme, Schmidt, als Volkskommissar der Arbeit, und M. Tomski mit beratender Stimme. Außerdem nimmt M. Tomski im Verteidigungskomitee der Sowjetrepublik mit beschließender Stimme teil. Beide sind Kommunisten, Mitglieder der bolschewistischen Partei, desgleichen auch alle andern genannten. Nichtmitglieder der bolschewistischen Partei können in den Zentralsowjets der Allrussischen Gewerkschaften nicht gewählt werden.

Die Funktionen dieses Zentralsowjets der Allrussischen Gewerkschaften sind:

  1. Regulierung der Arbeit und Löhne (Bestätigung der Lohntarife). Einteilung der Arbeiter in 3 Gruppen, wodurch die qualifizierten Arbeiter sowie die Prämien, Rationen bestimmt werden. Die Errichtung eines wissenschaftlichen Instituts zur Berechnung des Energieaufwandes der Arbeiter.

  2. Die Errichtung eines Arbeitssekretariats zur Zusammenfassung aller Gewerkschaften. Es werden 25 Instrukteure in die verschiedenen Gouvernements gesandt zur Durchführung dieser Aufgabe in den Provinzen, Mitgliederbeiträge zu fixieren. Gegenwärtig beträgt der Beitrag 2 Proz. des Arbeitslohnes. Er ist obligatorisch und wird von dem Lohn abgezogen.

  3. Kulturabteilung: Es werden Vertreter in das Präsidium des Kommissariats für Volksbildung gesandt, um unter Leitung dieses Kommissariats für die jugendlichen Arbeiter Fortbildungsschulen zu organisieren, für alle Arbeiter Abendkurse einzurichten,

  4. Mitarbeit im Obersten Wirtschaftsrat.

Außer dem genannten Präsidium aus 11 Personen gibt es noch ein Plenum der Vertreter der Zentralkomitees der verschiedenen Industrieverbände. Dies besteht aus 40 Personen.

b) Gouvernements- oder Provinzialsowjets. Um diese Funktionen in die Reihen der Arbeiter zu tragen, sendet der Zentralrat seine teils selbstgefaßten Beschlüsse, teils die Verordnungen des Obersten Volkskommissariats oder des Kommissariats der Arbeit zunächst weiter an die Gouvernements- oder Provinzialräte der Gewerkschaften aller Berufe oder Industrien und teils auch an die Zentralkomitees der Industrieverbände.

Diese Gouvernementssowjets bestehen aus 7—15 Personen. Sie werden gewählt von den Kreissowjets aller Gewerkschaften. Das Gouvernementssowjet ist die Zusammenfassung der Arbeiter aller Berufe in einem Gouvernement. Die Funktionen der Gouvernementssowjets sind die Durchführung der Beschlüsse des Zentralsowjets und die Ausführung der von dem Zentralrat überwiesenen Aufgaben, die auf Grund der genannten in vier Punkten niedergelegten Funktionen ausgearbeitet wurden.

c) Die Kreissowjets. Sie werden gewählt von allen organisierten Arbeitern des gesamten Kreises. Sie bestehen aus 5-9 Mitgliedern. Ihre Aufgaben sind, die Arbeiten, die ihm von dem Gouvernementssowjet übergeben werden, auszuführen.

d) Das Zentralkomitee des Industrieverbandes. Außer genannten Organen gibt es die Industrieverbände. Die Zentralkomitees dieser Industrieverbände haben eine Mitgliederzahl von 15 -21. Diese Zentralkomitees werden gewählt von den Kreis- und Provinzialkomitees der betreffenden Verbände. Die Funktionen dieser Zentralkomitees der Industrieverbände sind ungefähr die gleichen wie bei dem Zentralsowjet der Allrussischen Gewerkschaften, nur speziell für die besondere Industrie, z. B. Metall-, Textil- oder Nahrungsmittelindustrie angepaßt. Sie beschäftigen sich also insbesondere mit der Ausarbeitung der Tarife, sind Informations- und Propaganda-Bureaus, haben die zentrale Versorgung der Arbeiter ihres Berufes mit der besonderen Arbeitskleidung, die bei der Arbeit erforderlich ist, unter sich und senden Instrukteure in die unteren Subkomitees. Auch werden von diesen Zentralkomitees in Verbindung mit dem Obersten Volkswirtschaftsrat besondere Kollegien erwählt. Solche Kollegien schuf mit den entsprechenden Departements des Obersten Volkswirtschaftsrates das Zentralkomitee des Verbandes der Lebensmittelindustrie, der Maschinenbauindustrie, der elektrischen Industrie und aller dieser, die für die Lebensmittelversorgung des Landes zu sorgen haben. Diese Kollegien sollten an der Versorgung mitarbeiten. Es gab im Januar 1920: 32 Industrieverbände und auch ebensoviele Zentralkomitees. Auf dem letzten 3. Kongreß wurde jedoch beschlossen, Verschmelzungen vorzunehmen, so daß die Zahl sich auf 23 beschränken soll.

e) Das Provinzialkomitee ist das nächste Organ, auf welches das Zentralkomitee direkt wirkt. Es besteht aus 5-9 Mitgliedern. Jeder Verband hat solch ein Provinzialkomitee. Es gibt ein Provinzialkomitee des Metallarbeiterverbandes, des Verbandes der Lebensmittelindustrie usw. Dies Provinzialkomitee ist gewählt von den Kreiskomitees und den Betriebsräten. Seine Funktionen sind, die Beschlüsse und die Aufgaben, die ihm vom Zentralkomitee aufgegeben werden, auszuführen. In diesen Provinzialkomitees sendet auch der Oberste Wirtschaftsrat Vertreter, um den Komitees bei den Arbeiten behilflich zu sein.

f) Das Kreiskomitee ist in seinen Funktionen wieder eine Tochterorganisation des Provinzialkomitees. Jeder Verband hat ein solches Kreiskomitee. Es gibt also eines der Metallindustrie, der Lebensmittelindustrie usw. Dies Kreiskomitee ist gewählt von den Betriebsräten oder Fabrikkomitees.

g) Fabrikkomitees. Die untersten Organe der Gewerkschaften, die man auch die Zellen nennt, sind die Fabrikkomitees oder Betriebsräte. Sie werden von den Arbeitern gewählt, ihre Aufgaben oder Funktionen sind Mitte 1918 von dem Zentralsowjet der Gewerkschaften, der aus lauter Parteikommunisten besteht, ausgearbeitet worden und den Arbeitern als Verordnungen bekanntgegeben. Sie lauten:

1. Die Betriebsräte ergreifen laut Beschluß des Zentralrates der Gewerkschaften alle Maßnahmen zur Zusammenschweißung der Arbeiter und Angestellten eines Unternehmens zu einer Produktionsorganisation;

2. sie verwirklichen unter den Arbeitern und Angestellten eine vom Verband festgesetzte strenge proletarische Disziplin;

3. sie überwachen die genaue Erfüllung aller Maßnahmen und Bestimmungen des Volkskommissariats der Arbeit, die auf den Schutz der Arbeit gerichtet sind und forschen nach Mitteln zur Erleichterung der Arbeitsbedingungen;

4. sie prüfen, ob das Unternehmen alle Bestimmungen des Volkswirtschaftsrates erfüllt, die auf die Hebung der Produktion und Unterhaltung eines normalen Geschäftsganges gerichtet sind;

5. sie verfolgen streng und genau die gegenseitige Erfüllung des Tarifvertrages und der normalen Produktivität;

6. sie führen in vollem Umfange die Arbeitskontrolle durch;

7. sie übernehmen die Versorgung der Arbeiter und Angestellten mit Bedarfsartikeln innerhalb der Bestimmungen der Lebensmittelinstanzen; zu diesem Zweck treten sie mit den entsprechenden Organisationen in Verbindung und gründen Volksküchen, Konsumvereine usw.;

8. sie verwirklichen die Beschlüsse des Genossengerichts und der von ihm auferlegten Strafen laut dem Reglement des Tarifvertrages;

9. sie beteiligen sich an der Einstellung und Entlassung der Arbeiter und Angestellten laut dem Dekret über die Arbeitsbörsen und der Instruktion der Gewerkschaft.

Dies sind heute die Funktionen der Betriebsräte. Hierzu muß bemerkt werden, daß die Arbeiter also nicht mehr das Recht haben, den Betrieb zu verwalten oder auch nur mitzureden bei dem Produktionsprozeß. Ja man hat sogar am dritten Kongreß 1920 im März sich ausdrücklich gegen dieses Recht der Arbeiter ausgesprochen mit der Begründung, daß jetzt den Gewerkschaften als einheitliches Ganzes und nicht mehr einzelnen Gruppen dieses Recht zukommt. Es sind aber auch nicht einmal die Gewerkschaften, die einen Betriebsleiter ernennen, sondern es ist der Oberste Wirtschaftsrat, der auf Empfehlung der Gewerkschaften dies Recht hat. Leiter eines Betriebes wird also der, der vom Obersten Wirtschaftsrat ernannt wird. In dem Beschluß vom März 1920 heißt es:

„Die Betriebsausschüsse sollen endgültig befestigt werden als lokale Einheiten der Gewerkschaften, mit den Gewerkschaften analogen Funktionen unter Beibehaltung ihrer Verantwortlichkeit und unter der Berichterstattung der höheren Instanzen der Gewerkschaften sowie völliger Enthaltung von jeder Einmischung in die Geschäftsführung des Unternehmens; zur Ausschaltung von Parallelarbeit in den Wirtschafts- und Gewerkschaftsämtern eines Unternehmens sollen alle Produktionskommissionen der Betriebsausschüsse aufgehoben werden.“

Hier wird also ganz offen ausgedrückt, daß den Arbeitern gegenwärtig gar kein Recht über den Produktionsprozeß auf dem Arbeitsplatze zukommt, ja sogar die Kontrolle ist aufgehoben, die in der ersten Zeit der Revolution eine so starke und populäre Forderung war. Es heißt doch ausdrücklich, daß die Arbeiter sich von jeder Einmischung in die Geschäftsführung enthalten müssen.

Auch die im Artikel 9 angeführte Einstellung und Entlassung der Arbeiter und Angestellten haben die Arbeiter heute nicht mehr unter sich. Durch das Gesetz der Mobilisation der Arbeitskraft werden die Arbeiter gezwungen, auf den Arbeitsplatz zu gehen, auf den sie angewiesen werden. Verlassen sie aber diesen Platz ohne Erlaubnis der Behörden, dann können sie bestraft werden. Und dies kommt oft vor. Man will dadurch die Bourgeoisie treffen, indem man alle Arbeitskräfte registriert. Aber wie die Moskauer Zeitungen im Frühling 1920 berichteten, gab es in Moskau 312 000 nicht registrierte Elemente, die also von diesem Dekrete nicht oder nur ungenügend getroffen wurden. Unter diesen 312 000 sind die wenigsten Arbeiter, die meisten Bourgeoiselemente. Dieses Beispiel läßt erkennen, wie schwierig es ist, die Rechten zu treffen und die Bourgeoisie zur Arbeit heranzuziehen; jetzt will man dies durch Einführung von Arbeitsbüchern bekämpfen. Hoffen wir, daß es jetzt und in der Zukunft besser gelingen möge, auf daß die Arbeiter entlastet werden.

Betrachten wir aber die Form der Organisation an und für sich und vergleichen wir sie mit anderen Gewerkschaften, so finden wir die der deutschen Syndikalisten den russischen am nächsten. Auch hier haben wir die zwei Pole Industrie- oder Berufsverband mit seinen Zusammenschließungen und Arbeiterbörsen. Der Unterschied besteht nur darin, daß die russischen Gewerkschaften das Prinzip der Arbeiterbörse nicht ganz durchgeführt haben. Wir haben in Rußland nur Kreissowjets (dies würde der Arbeiterbörse bei den deutschen Syndikalisten entsprechen) und Gouvernements- oder Provinzialsowjets. Man hat in Rußland keine Föderation der gesamten Arbeiterbörsen des ganzen Landes. Diese Funktion läuft in den Zentralrat der Allrussischen Gewerkschaften, der aber gleichzeitig vorwiegend eine zentralistische Zusammenfassung der Industrieverbände sein soll und ist. Da dies also nur ein Mittelpunkt für beide Fiktionen ist, so muß notwendigerweise seine Funktion schwerfällig sein.

Ein weiterer Unterschied besteht aber noch im Wesen der beiden Organisationen; die russischen Gewerkschaften sind absolut zentralistisch; die einzelnen Abteilungen haben kein Selbstbestimmnngsrecht; sie haben die Beschlüsse und Verfügungen des Zentralrats restlos durchzuführen. In der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten) haben die Lokalorganisationen, die Arbeiterbörsen und die einzelnen den Industrie- oder Berufsföderationen angeschlossenen Unionen vollständiges Selbstbestimmungsrecht. Die Idee, die den russischen Gewerkschaften zugrunde liegt, ist aber dieselbe oder doch eine ähnliche wie die der deutschen Syndikalisten; beide wollen die Organisationen sein, die die Aufgaben der Produktion und Konsumtion in der sozialistischen Gesellschaft zu lösen haben.

Diese Aufgaben, die sich die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten) theoretisch gestellt hat, hatten die russischen Gewerkschaften Gelegenheit, in der Praxis umzusetzen; selbstverständlich unter anderen Bedingungen und unter Anwendung anderer Mittel. Man hat jedoch noch nicht die restlose Erfassung des gesamten wirtschaftlichen Lebens durch die Gewerkschaften durchführen können. Losowsky, einer der Mitglieder des Präsidiums des Zentralrates der Allrussischen Gewerkschaften, sagt in einer Broschüre über die russischen Gewerkschaften, daß dies das Ideal sei, dem man sich zweifellos in der Zukunft nähern wird, daß dies aber in der gegenwärtigen Zeit noch nicht möglich sei.

Die Lebensmittelversorgung wird zum großen Teil noch vorgenommen von den verstaatlichten Konsumgenossenschaften (Centrosojus), die mit dem Kommissariat für Volksverpflegung zusammenarbeiten und in jedem Orte eine Abteilung haben. Diese Abteilung versorgt durch Betriebsräte oder Fabrikkomitees die Arbeiter mit Lebensmitteln. Uebrigens ist die Versorgung mit Lebensmitteln nicht in den Händen einer einzigen Organisation; da die Lebensmittel so knapp sind, pfuscht jeder daran herum. Auch spricht Losowsky davon, daß in demselben Maße wie die Gewerkschaften sich vervollkommnen und alle Funktionen des wirtschaftlichen Lebens erfüllen, werden auch die Sowjets verschwinden. Die Sowjets sind also für die Theorien der Bolschewisten nur in der Uebergangsperiode, der Diktatur des Proletariats, die Waffen zur Niederringung des Kapitalismus.

Die Opposition in den Gewerkschaften.

Wir haben den gegenwärtigen Stand, die Form und die Funktionen der russischen Gewerkschaften gesehen. Ich bemühte mich nun, zu erfahren, ob die russischen Arbeiter alle geeint mit der jetzigen Beschaffenheit der Gewerkschaften zufrieden sind, oder ob es Tendenzen gibt, die sich in der Opposition befinden. Da konnte ich eine Opposition konstatieren, die aus zwei Lagern stammt, erstens aus dem der Menschewiki, zweitens aus dem der Anarcho-Syndikalisten.

Die Opposition der Menschewiki hat sich hauptsächlich in den Reihen der Buchdrucker festgesetzt. Sie steht auf dem Standpunkt der Demokratie; sie ist der Meinung, daß die Arbeiter mit den anderen Parteien und Klassen zusammenarbeiten sollen, nur dann könne sie sich ein Fortentwickeln der wirtschaftlichen Verhältnisse denken. Früher stand diese Richtung auf dem Boden der Konstituante, jetzt aber, da dies überlebt ist, stellt sie sich auf den Boden vollendeter Tatsachen. Nichtsdestoweniger strebt sie danach, daß die Gewerkschaften, wie in kapitalistischen Staaten, das Streikrecht haben und frei vom Staate sein müssen.

Die Opposition der Anarcho-Syndikalisten zeigt sich in verschiedenen Gewerkschaften. Unter diesen sind zu nennen: die Bäckergewerkschaften in Moskau, sowie verschiedene Klubs der Anarcho-Syndikalisten, als Propagandavereine innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter aller Berufe. Es ist dies eine Fachopposition, deren organisatorische Form der dänischen Fachopposition gleichkommt. Die Stellung dieser Fachopposition den Zentralgewerkschaften gegenüber ist nicht wie die der Menschewiki, sondern radikalerer Natur. Die leitenden Ideen dieser Opposition stammen aus der anarcho-syndikalistischen Weltanschauung, die den Theorien des marxistischen Bolschewismus diejenigen des freiheitlichen Sozialismus, dem Staatskommunismus den antistaatlichen Kommunismus entgegenstellen. Aus diesem Grunde bekämpfen sie die Unterordnung der Gewerkschaften unter die politischen Parteien überhaupt und unter den Staat jetzt insbesondere. Sie weisen auf das Schwinden des Interesses der Arbeiter an ihren Gewerkschaften hin, das durch die Verstaatlichung der Gewerkschaften eingerissen hat und verderblich auf die freie Entwicklung der Arbeiter, aber auch gefahrvoll für die soziale Revolution wirkt. Nach ihnen sind durch die Verstaatlichung der Gewerkschaften die Arbeiter zum Objekt der herrschenden Partei geworden, während der Sinn der sozialen Revolution der ist, daß die Arbeiter zum soziologischen Subjekt werden sollen. Kurz gesagt, sie stellen der Verstaatlichung der Gewerkschaften die Syndikalisierung des Staates entgegen, d. h. die Auflösung der Funktionen des Staates in die Funktionen von Zweckorganisationen. (Prinzipiell gehen auch die Bolschewiki mit den Syndikalisten in diesem Punkte einig, z. B. Losowsky in seiner Broschüre über die russischen Gewerkschaften; sie meinen jedoch, daß dies einer späteren Zeit überlassen werden muß; jetzt, während der Diktatur, sei noch nicht daran zu denken.)

Da aber ihrer Meinung nach das Hochkommen dieser Tendenzen die Herrschaft der proletarischen Partei abschwächen würde, so sahen sie eine Gefahr darin und bekämpfen diese Richtung. Die Syndikalisten sehen also eine Gefahr in der Verstaatlichung der Gewerkschaften und die Kommunisten-Bolschewiki sehen eine Gefahr in der Syndikalisierung des Staates. Doch geben die Bolschewiki zu, daß die Entwicklung dahin gehen muß, wo die Syndikalisten sie jetzt schon treiben.

Diese Ideen der Anarcho-Syndikalisten werden auch unterstützt von den sogenannten Industrialisten. Die Industrialisten wenden sich ebenfalls gegen die Oberherrschaft des Staates über die Gewerkschaften und fordern Selbstbestimmung und Autonomie, Unabhängigkeit vom Staate. In Petrograd war diese Richtung im Sommer dieses Jahres 1920 besonders stark vertreten, und der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, Sinowjeff, der bekanntlich auch der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Dritten Internationale ist, bekämpfte damals stark diese Richtung.

Die Forderung nach Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei und also vom Staate tritt in letzter Zeit auch unter den Parteikommunistischen Gewerkschaften auf. So war z.B. bei dem Kongreß der Eisenbahner im Sommer 1920, als das Exekutivkomitee des Verbandes gewählt wurde, das aus zwanzig Mann bestand, die Hälfte für die Selbständigkeit der Gewerkschaften, d.h. dafür, daß die Gewerkschaften selbst das letzte Wort in allen Gewerkschaftsangelegenheiten haben sollten und nicht die Partei. Dabei waren alle Gewählte Parteimitglieder. Nichtmitglieder der kommunistischen Partei können in das Exekutivkomitee eines Verbandes überhaupt nicht gewählt werden. Als dies Exekutivkomitee sich nun einen Vorsitzenden wählen sollte, konnte man nicht einig werden, weil gerade 10 davon der einen und 10 der anderen Richtung angehört und natürlich jede Richtung einen der ihren als Vorsitzenden haben wollten. Wie man also daraus ersehen kann, nimmt der Unwille der Gewerkschaftler, sich von der Partei regieren zu lassen, mehr und mehr zu. In demselben Maße wie dies aber geschieht, gewinnen die syndikalistischen und industriellen Ideen Einfluß, die die absolute Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei fordern.

Infolge der Oberherrschaft der Partei über die Gewerkschaften werden den Gewerkschaften auch keine Handlungen gestattet, die sich gegen die Partei richten. Da es nun die Partei ist, die auch das Ruder des Staates in ihren Händen hat, so richtet sich jeder Angriff der Gewerkschaften, der gegen die Partei gerichtet ist, auch gegen den Staat und umgekehrt.

So war z. B. in Moskau ein Streik der Bäcker. Die Bäcker forderten eine größere Brotration. Bis dahin hatten sie ebensoviel wie die Bevölkerung Moskaus, nämlich ein Pfund oder 400 Gramm täglich. Die Militärbäcker aber hatten 4 Pfund Brot täglich, sie bekamen die militärischen Rationen. Nun forderten die anderen Bäcker ebensoviel. Gerechter freilich wäre ihre Forderung gewesen, wenn sie darauf bestanden hätten, daß die Militärbäcker auch nicht mehr als ein Pfund bekommen. Von einem hohen moralischen Niveau zeugt der Streik jedenfalls nicht. Die Regierung bewilligte die Forderungen der Bäcker natürlich nicht, und die Bäcker streikten. Hierbei muß bemerkt werden, daß der Sekretär des Verbandes der Bäcker ein Anarcho-Syndikalist war, namens N. Pawlow. Die Maßnahmen, die die Regierung daraufhin unternahm, werden in der ,,Prawda“ vom 19. Juni 1920 wiedergegeben: Die Plenarsitzung der Gewerkschaften behandelte die Sache in ihrer Eigenschaft als Regierungsorgan. Genosse Melnitschanskv, der Vorsitzende der Moskauer Sowjets der Gewerkschaften, erstattete Bericht über den Fall und sagte, daß die Untersuchungen ergeben haben, daß der Einfluß der Anarcho-Syndikalisten bei den Bäckern stark zu spüren sei. Ein vollständiger Bericht erschien in Nummer 126 der „Prawda“ von Genossen Melnitschansky. Das Plenum nahm darauf folgende Resolution an: Infolge des systematischen Mißbrauches und der Auflehnung gegen die Disziplin der Gewerkschaften durch die Mitglieder des Komitees des Verbandes der Moskauer Bäcker wird beschlossen, die Sektion der Moskauer Bäcker aufzulösen und die Bäcker in den Verband der Lebensmittelindustrie einzureihen. Die Mitglieder des bisherigen Komitees der Sektion des Bäckerverbandes N. Pawlow, Kameschow, Nuschenkow, Wurgow und Komznitzow sind aus der Gewerkschaftsbewegung auszuschließen und außerdem vor ein Richterkollegium zu stellen. Sie verlieren das Recht, in irgendeiner Versammlung aufzutreten und können niemals mehr in einen verantwortungsvollen Posten der Gewerkschaften gewählt werden."

Es kommen natürlich noch andere Konflikte in der Gewerkschaftsbewegung vor, Streiks, Insubordinationen u. dgl. Der Hinweis auf einen Konflikt genügt aber, um zu sehen, daß Reibungen und Konflikte auch in den russischen Gewerkschaften und vor allem auch zwischen einzelnen Gewerkschaften und der Regierung vorkommen, ähnlich wie in anderen kapitalistischen Staaten. Weiche von den verschiedenen Tendenzen aber schließlich die Oberhand gewinnen wird, ist nicht schwer zu sagen; ganz offenbar die, weiche die Losung vertreten, daß in den Gewerkschaften alle Macht den Gewerkschaften gehören soll, weil die Arbeiter sich schließlich selbständig machen und ihre eigenen Rechte der Arbeit konstituieren wollen. Die Richtung, daß der Staat in den Gewerkschaften aufgehen soll, wird zuletzt siegen, weil sich die Arbeiter bei diesem Siege am freiesten fühlen.

Wenn auch die russischen Anarcho-Syndikalisten, Anarchisten und Indusfrialisten, sowie alle anderen Revolutionäre allen Grund haben, an den Gewerkschaften zu arbeiten, bis das ganze System den Forderungen des Kommunismus entspricht, so darf man doch keinen Augenblick den Fortschritt vergessen, der darin liegt, daß die Arbeiter überhaupt soweit gekommen sind, durch ihre eigenen Organisationen die Arbeit und damit die gesamte Industrie zu organisieren. Der Fortschritt liegt hier im Siege der Idee, wenn auch die Idee noch nicht vollkommen verwirklicht wurde, so hat man doch als Vertreter des Fortschritts kein Recht, die ersten, unvollkommenen Anfänge zu verwerfen. Im Vergleich zur Idee des Zarismus ist die Angriffnahme der Arbeiterorganisationen, der Gewerkschaften, als Produktionsorganisationen ein ganz gewaltiger Fortschritt, dessen Bedeutung wir heute gar nicht hoch genug einschätzen können. Dies richtig zu werten, bleibt erst späteren Generationen vorbehalten. So wie wir heute die französische Revolution im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts als einen Riesenfortschritt ansehen, trotz Napoleons Despotie, die der Ludwigs des XVI. nicht nachstand — denn die Früchte der Revolution, die Aufhebung der Leibeigenschaft konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden — so begrüßen wir die russische Revolution trotz der Herrschaft der Bolschewiki. Denn noch sind die Bolschewiki nicht das für die russische Revolution, was für die französische ein Napoleon war; wohl aber sind sie — wenn man den Vergleich hinnehmen will, die russischen Jakobiner mit einer starken Mischung proletarischer Elemente. Der Geist des Fortschritts aber lebt in der Verwirklichung der Idee, daß die Arbeiter selbst eine Gesellschaft, die auf die Arbeit sich gründet, in ihren eigenen Organisationen schaffen können. Als Revolutionäre und Männer der Freiheit bejahen wir die russische Revolution, bejahen die Idee, daß die Gewerkschaften das wirtschaftliche Leben zu leiten haben und wollen dafür einstehen, daß diese Idee immer reiner verwirklicht wird. Dann wird unser vorläufiges Ideal nach einer Gesellschaft, die sich auf die Arbeit gründet, der Erfüllung entgegensehen.

Verstaatlichung oder Sozialisierung.

Der Unterschied zwischen Verstaatlichung und Sozialisierung ist oft sehr fein, insbesondere da, wo es sich um industrielle Unternehmungen handelt. Beim Lande ist es einfacher. Wir können in Rußland im großen ganzen von einer Sozialisierung des Bodens sprechen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß das Land den Bauern persönlich gehört, sie aber nicht das gesetzliche Recht haben, es zu verkaufen. Daß es trotzdem hier und da geschieht, zeigt eben nur, daß neue wirtschaftliche Lebensformen sich durch Dekrete allein nicht einführen lassen. Pacht und Zinsen haben aufgehört, und es sind nur Steuern, hauptsächlich in Naturalien, übrig geblieben. Ein Teil der früheren großen Güter ist in Staatsbesitz übergegangen, und bei diesen könnte man wohl von Verstaatlichung anstatt von Sozialisierung sprechen.

Dasselbe wie für die Staatsgüter trifft zu für die verstaatlichten Industrieunternehmungen. Der Staat monopolisierte die Gruben, Verkehrsmittel, den größten Teil der großen Fabriken, Handels- und Geschäftshäuser. Wenn früher diese Unternehmungen einer Unmenge kleiner oder teilweise auch einer kleinen Zahl großer Industrieritter (wie hier in Deutschland Stinnes) und Großkapitalisten gehörten, so gehört jetzt alles einem Eigentümer, dem Staat. Dennoch liegt hier mehr als eine einfache Verstaatlichung vor. Wir haben in Deutschland schon unter dem Wilhelminischen Regime verstaatlichte Eisenbahnen und Post gehabt; auch in Amerika wurden die Eisenbahnen in großem Maßstabe während des Krieges verstaatlicht. Diese Art Verstaatlichung ist aber von der in Rußland dadurch verschieden, daß Privatpersonen wirtschaftliches Interesse daraus ziehen. Der Staat gibt Schuldscheine und Obligationen heraus, und die Besitzer dieser Obligationen sind Nutznießer eines arbeitslosen Einkommens durch den Bezug von Renten usw. Der Staat hat hier sozusagen die Rolle einer kapitalistischen Aktiengesellschaft übernommen. Aehnlich ist es häufig bei der Kommunalisierung; bei dieser spielen die Kommuneverwalter der Städte diese Rolle.

Dies fällt in Rußland weg. Die russische Sowjetregierung schreibt keine Obligationen aus und hat alle kapitalistischen Ansprüche annulliert. Dem Ausland gegenüber ist man hier allerdings nicht so konsequent verfahren. Durch die jetzige Konzessionenpolitik mit den kapitalistischen Staaten hat die Sowjetrepublik — es mag berechtigt sein oder nicht — auf eine primitivere Form der Privatwirtschaft zurückgegriffen.

Der Unterschied zwischen der Verstaatlichung in den kapitalistischen Staaten und Sowjetrußland ist klar. Ist aber dieser Unterschied so groß, daß er in einer Sozialisierung ausmündet?

Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich erst klar sein, was man unter Sozialisierung zu verstehen hat. Wenn das Wirtschaftsleben vom Staate als einer Machtorganisation vollständig losgelöst ist, dann kann man von einer Sozialisierung sprechen. Aber es ist noch eine andre Problemstellung möglich. So ist z.B. für einige englische Guildsozialisten der Staat die Organisation der Konsumenten unter vollständiger unabhängiger Demokratie oder Selbstregierung der Industrie. Für andre Guildsozialisten wie S. G. Hobsen ist der Staat eine Institution, die garnichts mit dem wirtschaftlichen Leben, auch nichts mit der Konsumtion zu tun hat. Dennoch kann man nicht sagen, daß die Guildsozialisten eine Verstaatlichung anstreben, sondern sie wollen eine Sozialisierung, d.h. den Uebergang der Produktion und Konsumtion in die Produktions- und Konsumtionsorganisationen.

Legen wir also diesen Maßstab an, dann kann man in Rußland noch von keiner Sozialisierung sprechen, sondern von einer Verstaatlichung. Wenn die Fabriken, Gruben, Verkehrsmittel usw., also das, was man Industrie nennt, nicht direkt in den Händen der Produktionsorganisationen ist, sondern dem Staate gehört, so muß man von einer Verstaatlichung sprechen, die allerdings anderer Art ist, als die in den kapitalistischen Ländern.

Aber auch von einer anderen Seite aus betrachtet, muß man davon Abstand nehmen, das Wirtschaftssystem in Rußland als sozialistisch zu betrachten. Die Verstaatlichung ändert nichts an dem Lohnsystem. Mit dem Gedanken der Sozialisierung oder Vergesellschaftung verbinden wir zugleich den der Abschaffung des Lohnsystems. In Rußland aber haben wir noch das Lohnsystem; der Umstand, daß die Bezahlung zum Teil in Naturalien erfolgt, und daß man versucht, dies Bezahlungssystem immer mehr auszubauen, ist auf die enorme Entwertung des Geldes zurückzuführen. Man machte da aus der Not eine Tugend. Mit der Abschaffung des Lohnsystems wird die soziale Gleichheit erstrebt. Diese soziale oder genauer ausgedrückt ökonomische Gleichheit findet man aber in Rußland noch nicht. Wir können also nicht von Sozialisierung, sondern wir müssen von Verstaatlichung oder Nationalisierung sprechen.

Den letzten Ausdruck „Nationalisierung“ wenden die Bolschewiki selbst an. Dieser Ausdruck ist aber nicht ganz korrekt. Denn ebenso wie es Nationalstaaten und Nationalitäten gibt, so gibt es auch hier einen Unterschied. In dem großen Rußland gibt es nicht nur eine Nation, sondern sehr viele. Die Bodenreichtümer und Industrien, die von vielen Nationen bearbeitet werden, werden unter die Oberhoheit eines Staates, der Sowjetregierung gestellt. Aus diesem Grunde ist auch von dieser Seite betrachtet der Ausdruck Verstaatlichung der exakteste.

Eine Frage, die uns hier mehr interessiert, ist, ob sämtliche Betriebe, Fabriken, Werkstätten, Gruben, Verkehrsmittel, Geschäftshäuser usw. von der Verstaatlichung erfaßt wurden. Nach den Erfahrungen, die ich persönlich gemacht habe, sowie nach den Statistiken der Sowjetregierung ist dies bisher nur teilweise gelungen. So waren nach der Statistik, die Miljutin, ein Mitglied des Präsidiums des obersten Volkswirtschaftsrates gibt, bis zum 1. Februar 1920 folgende Zahl der Betriebe verstaatlicht: In der Steinindustrie 437 Betriebe mit 106 109 Arbeitern. Dagegen standen 561 Betriebe mit 1206 Arbeitern nicht verstaatlichte Betriebe. Im Bergbau und Hüttenwesen ist die Verstaatlichung fast restlos durchgeführt worden. Es gibt da nur 6 kleine Betriebe, in denen nicht mehr als 480 Arbeiter arbeiten. Dagegen stehen 81 Betriebe mit zusammen 39 880 Arbeitern.

In der Metallverarbeitung und Maschinenindustrie ist dagegen die Zahl der Betriebe, die sich auch heute noch im Privatbesitz befinden, besonders groß. Es sind im ganzen 601 Betriebe mit 29 417 Arbeitern. Dabei kann diese Statistik noch nicht auf Vollständigkeit Anspruch machen. Ich kenne z.B. eine Gießerei in Moskau, die einem Privatbesitzer Pirwitz gehört, die ich nicht in der Statistik verzeichnet finde. Und doch arbeiten dort 106 Arbeiter und Angestellte. Gegen diese Privatbetriebe stehen 553 verstaatlichte, die 156 146 Arbeiter beschäftigen.

In der Nahrungsmittelindustrie gibt es 838 Betriebe mit 3532 Arbeitern, die noch im Privatbesitz sind. Dagegen sind 1799 Betriebe mit 151 699 Arbeitern verstaatlicht. In den Betrieben der Verarbeitung der Vieherzeugnisse sind über ein Drittel der Arbeiter, die in dieser Industrie arbeiten, noch im Privatdienst. Es sind dies 10 711 Arbeiter, die in 2226 Betrieben arbeiten, während 32 979 Arbeiter in 195 verstaatlichten Betrieben arbeiten. In der Textilindustrie, die vor dem Kriege zu den am höchstentwickeltsten Industrien Rußlands gehörte, sind jetzt 232 Betriebe mit 36 664 Arbeitern noch in Privathänden, während 615 Betriebe mit 337 348 Arbeitern verstaatlicht sind. Hierher gehört auch die Konfektionsbranche.

Nach derselben Statistik gibt es in ganz Rußland 985 413 Arbeiter, die in 4237 Staatsbetrieben arbeiten und 84 853 Arbeiter, die in 4609 Privatbetrieben arbeiten.

Aus dieser Statistik kann man entnehmen, daß die größeren Betriebe meist verstaatlicht wurden, während die kleineren noch in Privatbesitz sind. Diese Statistik trifft aber nur für die Industrie oder die Produktion zu, sagt dagegen nichts aus über die Geschäftshäuser. Diese wurden fast restlos geschlossen. Noch heute kann man in Moskau und Petrograd geschlossene und versiegelte Laden sehen, in deren Schaufenster alles so liegt, wie es vor der Beschlagnahme war. Dabei ist die Beschlagnahme so schlecht organisiert worden, daß man heute noch nicht weiß, was man alles beschlagnahmt hat. Oft sind Kleidungsstücke als Kurzwaren verbucht oder Küchengeräte als Möbel. Weit schlimmer aber ist, daß bei dem dringendsten Bedarf die Bevölkerung nichts bekommen kann. So bat mich ein Genosse in Petrograd, ihm aus Deutschland einen Gummisauger für die Milchflasche seines kleinen Töchterchens zu senden. Er sagte: Wir haben in unsern beschlagnahmten Läden diese Artikel, aber es ist unmöglich, etwas zu bekommen. Dies machen auch die Menschewiki den Bolschewiki zum Vorwurf, daß sie die sogenannte Nationalisierung ohne gründliche Vorbereitungen vorgenommen haben. Sie sagen, daß die Läden geschlossen wurden, ohne daß man vorher andre Organe geschaffen hat, die die Versorgung der Bevölkerung hätte übernehmen können. Sie, die Menschewiki, wollten es überlegter, d. h. nach und nach vornehmen. Sie sind nicht so radikal, sondern gemäßigter.

Eine kleine Ausnahme machte man bei Grünkram- und Delikatessengeschäften. Letztere gibt es seltener. Erstere aber findet man in jedem Häuserblock. Hierfür muß man also am wenigsten Ersatz gefunden haben.

Die Vertrustung.

Die Monopolisierung und Verstaatlichung der Industrie hob die Konkurrenz, die innerhalb der kleinkapitalistischen Industrie herrscht, auf. Die Industrie wurde konzentriert und zentralisiert. Es entstanden große Staatstrusts. Gegenüber dem privatkapitalistischen Wirtschaftsleben, wo die Produktion zugunsten des Profites einzelner Personen oder Gesellschaften sich in ganz sinnlosen und ungeregelten Bahnen bewegt, ist die Produktion in den Händen einer einzigen Organisation, wenn sie auch kapitalistisch wäre, als ein Fortschritt zu begrüßen, weil sie dann rationeller betrieben werden kann; ihr Vorzug ist aber umso größer, wenn das Motiv der Produktion nicht der Profit, sondern der Bedarf der Nation ist. Hierbei muß aber Bedacht genommen werden, daß die Freiheit der Individuen, der Produzenten nicht verlorengeht; denn in demselben Maße, wie die Freiheit beschnitten wird, wird der Fortschritt beeinträchtigt. Ja, es kann sogar so weit kommen, daß durch ungleiche Entschädigung der Leistungen der Produzenten bei einer völlig durchgeführten Verstaatlichung und Vertrustung der gesamten Nationalindustrie selbst unter Zugrundelegung der Bedarfswirtschaft die Lage breiter Schichten der Arbeiter nicht besser ist als beim Privatkapitalismus. Anders ausgedrückt: der angewandte Staatssozialismus drückt bei Einführung des Prämiensystems, wie es in Rußland ist, die Arbeiter in dieselbe mißliche Lage wie der Kapitalismus. Man kann dies System nun Staatskapitalismus nennen, kann es auch historisch als eine höhere Stufe nachzuweisen suchen; für den Arbeiter, der in der Fabrik arbeitet, muß die soziale Revolution eine Verbesserung seiner Lage bringen, denn das Ziel der sozialen Revolution ist ja eben die Befreiung der Arbeiterklasse.

Die Arbeiter, die durch die Revolution ihre Befreiung herausschlagen wollten, fühlten auch instinktiv, daß sie daran gehen müssen, die Produktion zu übernehmen und nach ihren eigenen Prinzipien zu verwalten. Sie wählten auch Betriebsräte zur Verwaltung der Betriebe. Die Betriebe selbständig verwaltet durch die Arbeiter, die in den Betrieben arbeiteten, so stellten sich die russischen Arbeiter zuerst die Sozialisierung der Industrie oder die Durchführung der sozialen Revolution vor.

Die kommunistische Partei Rußlands sah diese Tendenz der Arbeiter jedoch nur als die erste, unterste Form an. Am 5. Dezember 1917 wurde der Oberste Wirtschaftsrat gegründet. Die Leitung der Fabriken wurde dann immer mehr den Händen der Arbeiter entwunden. Der Oberste Volkswirtschaftsrat übernahm diese Aufgabe. Dieser Oberste Volkswirtschaftsrat sollte eigentlich nichts anders sein als die Zusammenfassung aller einzelnen Betriebe von unten nach oben, unter Beibehaltung der von den Arbeitern selbständig verwalteten Betriebe. Es kam aber anders. Der Oberste Volkswirtschaftsrat ist eine Einrichtung, die von oben nach unten die Industrie des ganzen Landes verwaltet.

Dieser Rat besteht aus 11 Personen. Der Präsident heißt Rykoff. Er ist vom Allrussischen Exekutivkomitee bestimmt. Die übrigen Mitglieder werden teilweise vom Zentralrat der Gewerkschaften vorgeschlagen und vom Rate der Volkskommissare bestimmt. Dieser Rat der Volkskommissare kann die Beschlüsse des Volkswirtschaftsrats jederzeit aufheben, so daß der Rat der Volkskommissare eine politische Institution, die hauptsächlich aus Kommunisten besteht, das letzte Wort hat. Miljutin, ein Mitglied des Obersten Volkswirtschaftsrats, erwähnte in einem Interview, daß alle wichtigen Fragen dem Rat der Volkskommissare vorgelegt werden müssen. Auch sei die Tendenz vorhanden, daß man nach Beendigung aller Kriege den Rat noch mehr zentralisieren wird und nicht dezentralisieren, weil die gesamte Wirtschaft vom Staate erfaßt werden soll.

Der Oberste Wirtschaftsrat hat für jede Industrie eine besondere Abteilung. Es gibt deren 50. Jede dieser Abteilungen leitet einen besonderen Industriezweig. Miljutin gab ihre Tätigkeit wie folgt an: sie führen die Produktionspläne durch, verteilen die Rohmaterialien, führen die Rechnung über das, was produziert wird, und finanzieren die Unternehmungen. Außerdem bestimmen oder entsetzen sie die Verwaltung in den Betrieben. Die Leitung einer solchen Industrieabteilung besteht aus 1 oder 3 bis 5 Personen, die unter Hinzuziehung der Gewerkschaften vom Obersten Volkswirtschaftsrat bestimmt werden.

Es würde zuweit führen, die einzelnen Funktionen noch näher bis in die Gouvernements- oder Kreisverwaltungen hinein zu verfolgen. Sie sind alle nach demselben Prinzip aufgebaut. Und es genügt für uns, das Prinzip zu kennen. Das Prinzip ist aber von oben nach unten konsequent durchgeführt, wie man hieraus ersehen kann. Die Organisation von unten nach oben existiert nicht in der Industrie, und deshalb ist auch von Selbstverwaltung keine Rede. Die Arbeiter haben keinen direkten Einfluß, ja in der Praxis oft gar keinen, auch keinen indirekten auf die Verwaltung der Industrie, der Werkstatt oder Fabrik, in der sie arbeiten.

Die Entlohnung der Arbeiter geschieht durch das Finanzdepartement des Obersten Volkswirtschaftsrats. Auch die Warenpreise werden vom Obersten Volkswirtschaftsrate festgesetzt und danach zum Gesetz erhoben.

Der Beamtenstab des Obersten Volkswirtschaftsrats ist in Moskau, dem Zentrum für ganz Rußland, 20000 Personen. Außerdem gibt es nach Angaben Miljutins 35 lokale Räte, und jeder hat 2000 Beamte. Dies gäbe im ganzen 90 000 Beamte. Nach den vorhin angeführten Ziffern gibt es in den verstaatlichten Betrieben 985 414, also rund gegen 1 Million Arbeiter. Es kommen also auf ungefähr 10 Arbeiter 1 Beamter.

Dieser Apparat arbeitet nach seiner gegenwärtigen Zusammensetzung und Gestalt mehr schwerfällig als elastisch. Er ist unbrauchbar in vielen Hinsichten. Und darüber braucht man sich nicht zu verwundern. Denn ein politischer Körper, der in letzter Instanz von dem Allrussischen Exekutivkomitee abhängig ist, kann wirtschaftlich nicht so funktionieren, wie rein wirtschaftliche Organisationen der Hand- und Kopfarbeiter, die in gerader Linie miteinander und nebeneinander arbeiten.

Dies hat man auch in Rußland zu fühlen bekommen, so daß man, wenn es sich um Arbeiten handelt, die eine besonders schnelle und prompte Erledigung erfordern, sich an private Unternehmungen wandte. Indem ich darauf hinweise, konstatiere ich nur Tatsachen, womit keineswegs die Unentbehrlichkeit oder Vorzüge des Kapitalismus bewiesen wird. Dies beweist eben nur, daß diese Art Staatssozialismus, der unter so mißlichen Verhältnissen in Rußland begonnen wurde, nicht lebensfähig ist, es kann dagegen andre sozialistische Wirtschaftsformen geben, die um so rationeller sind. Daß aber in Rußland die wenigen Privatunternehmungen leistungsfähiger sind, ist auf den Umstand zurückzuführen, daß die Privatunternehmungen ihre Arbeiter besser bezahlen als die Staatsunternehmungen. In der bereits genannten Eisengießerei in Moskau von Pirnitz stehen sich die Arbeiter viel besser als in den Sowjetfabriken. Eine kommerzielle und technische Angestellte, ein Fräulein Wegener, bekommt z. B. freie Station, den gewöhnlichen Pajok (Lebensmittelration) wie alle Moskauer, freie Wohnung und 15 000 Rbl. Sie steht sich nach ihren eigenen Angaben bedeutend besser als in Sowjetdiensten, wo sie früher arbeitete, und arbeitet mit viel größerem Interesse. Den Arbeitern geht es ebenso.

Ein anderer Fall mag noch einiges zur Illustration des besagten beitragen. Als die Versorgung mit Brennmaterial im vergangenen Jahre nicht vonstatten gehen wollte, gab man einem Beamten freie Hände. Er engagierte Privatpersonen und Arbeiter, die unter besseren Bedingungen die dazu nötigen Eisenbahnwaggons bedeutend schneller fertigstellten, wodurch dann der Transport viel rascher vonstatten ging. Es ließen sich noch viel mehr ähnliche Beispiele anführen. Die Bolschewisten selbst klagen ständig über die Schwerfälligkeit ihrer Apparate, und insbesondere auf den letzten Parteikonferenzen, sowie auch Sowjetkongressen vermehren sich die Klagen.

Angesichts der traurigen Lage, in der sich die Industrie befindet, ist die Unzufriedenheit der regierenden Bolschewiki verständlich, und wenn sie den Ideen des Syndikalismus so große Zugeständnisse machen, indem der Präsident des Obersten Volkswirtschaftsrates, Rykow die Anschauung vertritt — und dies findet man nicht bei ihm allein, sondern bei den meisten maßgebenden Kreisen — daß in Zukunft die Gewerkschaften selbst das wirtschaftliche Leben zu leiten haben werden, dann muß man dies zum großen Teil auf den Bankrott zurückführen, den ihre eigenen Theorien des Staatssozialismus erlitten haben, wie er am offenbarsten bei der Organisierung der Industrie zutage tritt. Denn noch im Jahre 1918, als die Bolschewiki das erste Jahr an der Macht waren, schrieb Mnogin, der Kommissar der Textilindustrie des Obersten Volkswirtschaftsrats, in Nr. 40 der „Iswestija“, daß die Russische Sowjetrepublik überhaupt keine Gewerkschaften benötige, sondern nur kleine Fabrikkomitees, die die Order der Regierung auszuführen haben. Heute, nachdem man gesehen, daß durch das „Regieren" die Industrie auf keinen grünen Zweig kommen kann, hat man endlich den Weg zu den Gewerkschaften gefunden. So erfreulich dies ist, so bedauerlich ist es auf der andern Seite, daß durch die Staatstendenzen der bolschewistischen Staatssozialisten erst der verderbenbringende Weg der Verstaatlichung beschritten wurde, den man in der Praxis immer noch befolgt. Wenn die Industrie nicht noch weiterem Verfall entgegensehen soll, dann müssen die Bolschewiki die jetzt anerkannte Theorie baldigst Wirklichkeit werden lassen, die Produktion den gewerkschaftlichen Produktionsorganisationen der Arbeiter überlassen unter vollständiger Selbstverwaltung der Fabriken durch die in den Fabriken Arbeitenden und nicht durch vom Obersten Volkswirtschaftsrat eingesetzten Alleinleitern.

Gar nicht auf seine Rechnung kommt, wer mit der Forderung des Kommunismus an die Verhältnisse in Rußland herantritt. Aber auch wer nur an die vorläufige Hebung des Wirtschaftslebens denkt, wird, wie wir gesehen haben, nicht viel Freudiges in Rußland sehen. Die gegenwärtigen Machthaber führen nun als Grund hiervon immer und immer wieder die Länge des Krieges, des Weltkrieges und des Bürgerkrieges, als Ursache hierzu an. Ganz zweifellos ist dies einer der Hauptgründe. Aber da dies so oft und in immer neuen Weisen von Seiten der Bolschewiki gesungen wird, ist eine Wiederholung nur langweilig. Denn es ist ebenso zweifellos, daß auch andre prinzipielle, taktische und organisatorische Faktoren hierbei eine Rolle spielten.

Einer dieser Faktoren ist das von den Bolschewiki so grenzenlos verherrlichte Prinzip des Zentralismus. Dieses Prinzip, das von Radek, Trotzky, kurzum von allen Führern der Bolschewiki, die die Politik in Rußland bestimmen, als die reifste Frucht am Baume der sozialistischen Entwicklung angepriesen wird, ist nichtsdestoweniger gerade im wirtschaftlichen Leben von geradezu verheerenden Wirkungen gewesen, und es ist noch bis auf den heutigen Tag. Daher müssen alle Hochgesänge der Bolschewiki auf den Zentralismus gerade durch die Tatsache des wirtschaftlichen Verfalls in jammervollen Jeremiaden ausklingen. Und die glänzendste Dialektik Radeks oder Trotzkys kann ihren Charakter der hohlen Demagogie nicht verbergen. Ich kann mir diese Worte „hohlen Demagogie" hier nicht ersparen, wenn man liest, in wie schmutziger, echt Marx-Engelscher Manier Radek Bertrand Russel angreift in seinem reizenden Ergüsse: „Die sentimentale Reise Mr. Bertrand Russels nach Rußland". Darin kann man in der Tat nichts anderes finden, als reine Demagogie. Radek bringt gegen Russels ernste Schilderungen nichts sachliches vor, sondern schreibt nur um „Russels Pantoffel beim warmen Ofen" usw. Damit kann er wohl seinen russischen Anbetern imponieren, nicht aber denkenden Menschen und auch nicht Europas Arbeiterklasse. Dieser Hinweis auf die Taktik der bolschewistischen Theoretiker wurde hier deshalb gemacht, um zu zeigen, wie ihre Argumente zu bewerten sind.

Man braucht auf das Prinzip des Zentralismus nicht theoretisch einzugehen. Es genügt, wenn man in diesem Zusammenhange zeigt, wie unter Zugrundelegung dieses Zentralismus als Organisationsprinzip das wirtschaftliche Leben nicht gefördert, daß die freie Entfaltung der Einzelinitiative vollständig unterdrückt wurde, und das wirtschaftliche Leben dadurch unsagbar gelitten hat.

Wir haben bereits bei der Behandlung der Landwirtschaftsfrage an der Hand von Beispielen gesehen, daß durch die von der kommunistischen Partei durchgeführte Politik und die dadurch erzeugte Lage die Anbaufläche des Landes sich verringert hat. Auf dem 8. Allrussischen Sowjetkongresse hat man auch interessante Belege hierfür erbracht. In der Industrie ist es nicht viel besser. Es gibt in Rußland gegen 1191 Metallwerke; davon sind nur 300 in Gang. Es werden nur 20 Proz. des Roheisens der Friedensproduktion verarbeitet. Die Lebensmittelindustrie ist auch ganz bedeutend gesunken. In einer Dampfmühle in Samara wurden vor dem Kriege täglich 18 000 Pud Mehl gemahlen, jetzt nur 5000 bis 6000 Pud. Im ganzen Samaragouvernement wurden vor dem Kriege 60 Millionen Pud Getreide geliefert, jetzt nur 20 Millionen Pud. Diese Zahlen zeigen, man mag nun die Ursache hierzu suchen, wo man will, eine außerordentliche Verminderung der Produktion.

Die Kustarbetriebe und Artels.

Außer den verstaatlichten Betrieben, die von dem Obersten Volkswirtschaftsrat geleitet werden, dessen Aufbau und Funktionen wir sahen, gibt es noch eine andre Art gesellschaftlicher Produktion. Dies sind die Arbeitsgemeinschaften der russischen Bauern und selbständigen Heimarbeiter, die man Artels nennt. Der Kustar ist ein Hausindustrieller, ein armer Bauer oder ein kleiner Handwerker. Diese kleinen Leute schließen sich zu Arbeitsgemeinschaften zusammen, verkaufen ihre Produkte gemeinsam, liefern ihre Fertigprodukte an ihre Vereinigungen ab. Diese Vereinigung oder Artel übernimmt den Verkauf der Produkte und versieht den Handwerker gleichzeitig mit neuem Rohmaterial und Arbeitswerkzeug.

Da diese Vereinigung keineswegs als kapitalistische Genossenschaft angesehen werden kann, sondern lediglich als ein Zusammenschluß freiwillig Schaffender, so hätte die Sowjetregierung diese Arbeitsgemeinschaften nicht zerstören können. Es gibt in Moskau noch eine Zentrale dieser Arteis. Peter Kropotkin steht diesen Arbeitsgemeinschaften ebenfalls sehr freundlich gegenüber und schrieb in ihrer Zeitung gerade zu der Zeit, als ich in Rußland war, einige Artikel und Briefe für ihren Kongreß. Diese Arbeitsgemeinschaften sind keine Ausbeuterorganisationen, wohl aber hatten sie während der Zeit des Zarismus unter dem Drucke des Großkapitalismus zu leiden wie der Fabrikarbeiter, jetzt aber sind sie von dem Zwange der Sowjetregierung ebenfalls betroffen. So wurde in Moskau die Zentrale der gesamten Arteis aufgelöst und war, als ich sie besuchte, gerade bei der Liquidationsarbeit.

Es besteht aber noch die Zusammfassung mehrerer Arteis. Der Moskauer Genossenschaft sind 98 Werkstätten angeschlossen. Der Anschluß an das Artel erfolgt familienweise. So sind im ganzen gegen 9000 Familien den Arteis angeschlossen. Darunter befinden sich 24 000 produktive Arbeiter. Davon gibt es 700 bis 800 größere Werkstätten. Alle Handwerke sind in diesen Arteis vertreten. Es werden Lederwaren, Sättel, Stiefel, Möbel, Kämme, Bürsten, Spielwaren, Schmucksachen, Textilwaren, Metallwaren, Papiermachéwaren, Wagen, Schlitten, Reisekörbe, Schulutensilien, Bücher und ähnliche Waren hergestellt. Gegenwärtig liefert auch die Sowjetregierung, allerdings in beschränktem Umfange, den Arteis Rohmaterialien. Die Genossenschaft besorgt zum Beispiel das Holz für die Tischler und verteilt es dann an die einzelnen Werkstätten. Die Bezahlung an die einzelnen Werkstätten ist verschieden. Einige lassen ihre Fertigprodukte von der Genossenschaft verkaufen, andre lassen sich einen Lohn auszahlen und überlassen den Verkauf der Waren ganz der Genossenschaft. Dies letztere ist so in einigen größeren Werkstätten. Die Mitglieder derselben bekommen einen Tagelohn von 100 bis 1000 Rubel. Bei der Entlohnung wird aber darauf Rücksicht genommen, ob das Mitglied besitzend ist oder ganz arm. So werden beispielsweise die Besitzer einer kleinen Landwirtschaft etwas weniger bezahlt als die, die garnichts haben. Damit will man die Vermögensverhältnisse überbrücken. In dem Gouvernement Moskau gibt es viele Bauern, die Mitglied dieser Artelgenossenschaft sind.

Das erste Artel in Moskau entstand vor 20 Jahren. In anderen Gouvernements bestehen diese Artels schon seit 1890. Bis jetzt gibt es in den Gouvernements Moskau, Jaroslaw, Nischni-Nowgorod, Wladimir, Thula, Kostroma solche Artels. Die Sowjetregierung versuchte diese Arteis zu verstaatlichen. Die Handwerker und Bauern, die daran beteiligt waren, waren jedoch gegen diese Verstaatlichung, sie waren dagegen, daß die Zentralstelle ihrer Genossenschaft ein Organ des Staates wurde, und da die meisten Mitglieder dieser Artels die ärmsten Bauern sind, so wendet die Regierung keine Gewalt an, um die Verstaatlichung mit Zwang durchzuführen.

Die Arbeit der in den Artelgenossenschaften zusammengefaßten Handwerker beträgt 50 Eisenbahnwagen Waren monatlich, die einen Wert von 250 Millionen Rubel haben.

Die Genossenschaft der Heimindustriellen, der Artel der „Kustarnije" in Rußland, ist ein Stück sozialistisches Leben. Es ist die in Freiheit geeinte Gemeinschaft der Arbeitenden, Bünde der Arbeit. Freilich ist es keine Großindustrie und hat als Kleinhandwerk etwas spießbürgerliches an sich. Aber wir dürfen unter Sozialismus keineswegs nur die technisch bis zur höchsten Stufe entwickelte Großindustrie verstehen. Sozialistisches Leben ist nicht an die Formen der Großindustrie gebunden, und es ist grundverkehrt, die Menschen im Namen des Sozialismus zu den Wirtschaftsformen zwingen zu wollen, die man am besten für das Gedeihen des Staates ansieht. Sozialismus bedeutet unter den jetzigen Formen technischer Entwicklung unter Ausschaltung der Lohnknechtschaft, die wirtschaftliche Gleichheit, den Ausgleich der Interessen durchzuführen. Die Entwicklung der Produktionsweise zu rationelleren Formen kann dann immerhin vonstatten gehen, nur darf man sie nicht auf Kosten der Freiheit der Arbeiter forcieren wollen, denn das tun schließlich auch die Kapitalisten. Das sozialistische Leben ist ein Nebeneinander von freiwilligen Bünden der Arbeit. Ein solcher Bund ist der russische Artel; oder wenn er es noch nicht ideal ist, so ist es doch ein Anfang der Arbeitenden, der Armen, die für ihr Leben arbeiten.

Die Konsumtion.

Es gehört zu einem Gemeinplatz der Nationalökonomie, daß die Quantität der Waren, die verbraucht wird, abhängig ist von der Quantität der produzierten Waren. In Uebereinstimmung damit haben die ökonomischen Lehren hauptsächlich eines Marx den Hauptwert auf die Eroberung der Produktion durch die Arbeiter gelehrt. Wenn die Produzenten durch ihre Organisationen im Besitze der Produkte sind, dann haben sie es auch in der Hand, die Produkte gerecht zu verteilen, vorausgesetzt, es sind gerechtliebende Organisationen, d. h. sozialistische.

Es gibt aber noch einen anderen Weg zur Anbahnung des Sozialismus. Die Arbeiterklasse kann freilich als ganzes nicht mehr als die Menge Produkte erhalten, die ihr von der Klasse, die Herr der Produktion ist, überlassen werden. Indem die Kapitalisten die Kaufkraft der Arbeiter durch hohe Preise und niedrige Löhne schwächen, vermindern sie ihre Konsumtionsmöglichkeit. Wenn nun die Arbeiter sich als Konsumenten organisieren und Mittel und Wege finden, die Preise niedrig zu halten, dann sind sie auch in der Lage, ihre Konsumtion zu erhöhen. Außerdem bringt die Organisierung der Arbeiter als Konsumenten noch einen zweiten Vorteil. Wenn auch die Mengen der Produkte, die die Arbeiterklasse als ganzes verzehrt, abhängig ist von den Monopolisten der Produktion und ihrer Mittel, so können doch die Arbeiter durch Konsumorganisationen eine gerechte Verteilung der Produkte unter einander erzielen. Und auch dies ist ein Stück Sozialismus.

Die Arbeiter haben sich in der Tat nach beiden Seiten hin organisiert, als Produzenten und Konsumenten. Sie haben Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften. Dies trifft auch voll und ganz für Rußland zu.

Aber nicht nur die Arbeiter und armen Bauern haben die Notwendigkeit erkannt, den Konsum im Interesse Aller zu organisieren; auch der Staat war durch das Gebot der Stunde dazu gezwungen. Als durch den Krieg die Lebensmittel immer knapper wurden, konnte der Staat, der die Nation in den Krieg führte, nicht mehr dulden, daß die notwendigsten Lebensmittel Spekulationsobjekt blieben. Die Folge davon wäre eine noch größere Hungersnot, als sie schon ohnedies war, und dies hätte auf seine Verteidigung einen schlechten Einfluß gehabt! Aus diesem Grunde begann die Zwangswirtschaft. Die Regierungen aller kapitalistischen Staaten, die sich in einer solchen Lage befanden, wandten dies Mittel an. Auch die russische Sowjetregierung sah sich zu solchen Maßregeln gezwungen. Da sie aber, um die Zwangswirtschaft konsequent durchführen zu können, einen großen Apparat hätte haben müssen, den sie nicht imstande war, so schnell aus dem Boden zu stampfen, so benutzte sie zu diesem Zwecke die bereits vorhandenen Konsumgenossenschaften. Die Konsumgenossenschaften wurden verstaatlicht.

In Rußland sind die Verhältnisse in vielen Punkten ganz anders als in Westeuropa. So ist zum Beispiel auch die Konsumgenossenschaftsbewegung in Rußland stärker und höher entwickelt gewesen als die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung. Dies hat seinen Grund darin, daß die Konsumgenossenschaften in erster Linie Organisationen der Konsumenten waren. Die Bauern hatten keinen Bedarf an Produktionsorganisationen, wohl aber an Konsumtionsorganisationen. Und da über 80 Prozent der Bevölkerung in Rußland Bauern sind, so waren auch höchst übereinstimmend damit 80 Proz. der Mitglieder der Konsumgenossenschaften Bauern.

Keine Partei und keine Gewerkschaft war in Rußland vor dem Kriege so mächtig wie die Konsumgenossenschaften. Die sibirischen Buttererzeuger vereinigten sich, um ihre Butter gemeinsam nach Rußland und auch nach dem Auslande zu verkaufen. Da hatten wir schon eine große Konsumgenossenschaft der Bauern, die dann, als sie größer wurde, sich auch mit der Versorgung der Bauern mit anderen Erzeugnissen beschäftigte. Dies war eine Zusammenschließung der oben genannten Artels. Diese sibirischen Genossenschaften hatten im Jahre 1907 einen Umsatz von 957 000 Pud Butter, im Werte von 160 Millionen Rubel. (1 Pud gleich 34 Pfund.)

Alle diese Konsumgenossenschaften oder Verteilungsarteis waren zusammengeschlossen zu einer Zentrale, die unter dem Namen Centrosojus bekannt ist. Der Centrosojus gehörten im Jahre 1914 13 500 angeschlossene Verteilungsarteis an, mit einer Mitgliederschaft von 1 500 000 und einem Umsatz von 300 Millionen Rubel.

Als der Krieg ausbrach, entwickelten sich die Konsumvereine in Rußland wie in keinem andern Lande. Es fallen hauptsächlich zwei Umstände ins Auge, die das mächtige Anwachsen der Centrosojus veranlaßten. Erstens hat sich die Regierung des Zaren nicht sehr um die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung gekümmert, so daß die Arbeiter und Bauern sich selbst helfen mußten — und seit dieser Zeit haben sich auch die Arbeiter der Industrien mehr dieser Bewegung angeschlossen, während sie früher mehr die Bauern umfaßte — zweitens begannen die Preise der Lebensmittel derart zu steigen, daß die arbeitende Bevölkerung der Städte sich massenweise den Genossenschaften anschloß, um auf billigere Weise die nötigen Lebensmittel herbeischaffen zu können. So stieg die Zahl der einzelnen Konsumgenossenschaften auf 20 000 im Jahre 1917, auf 25 000 im Jahre 1918 und auf 50 000 im Jahre 1919. Gleichzeitig stieg die Mitgliederzahl auf 7 Millionen im Jahre 1917, auf 10 Millionen 1918 und auf 15 Millionen 1919. Im Jahre 1919 betrug das Umsatzkapital nicht weniger als 15 Milliarden.

Der Charakter dieser Konsumgenossenschaften war politisch mehr oder weniger neutral. Als sie aber immer mächtiger wurden, zeigte sich ihr Einfluß natürlich auch in der Politik. Es gab seit dem Wachsen der Bewegung eine Zweiteilung: eine Landwirtschaftliche Genossenschaft der Bauern und eine Verteilungsgenossenschaft der Arbeiterbevölkerung der Städte. Nach dem Ausbruch der Revolution traten einige Führer von beiden Arten der Genossenschaften in die provisorische Regierung ein. Damit hatten sie aber ihre politische Neutralität aufgegeben. Da die Wirtschaft die Politik beeinflußt, so waren die Genossenschaften durch ihre wirtschaftliche Macht auch zu einem politisch wichtigen Faktor geworden, mit dem die Regierung rechnen mußte.

Im Verlaufe der Entwicklung entstanden unter den Centrosojus auch Produktionsgenossenschaften, die das erzeugten, was die Bauern nicht liefern konnten. Die Genossenschaften verteilen nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleider, Stoffe, Seide und andere Artikel.

Nach Ausbruch der Oktoberrevolution entwickelten sich auch die Konsumgenossenschaften, wie aus den oben angeführten Zahlen hervorgeht, bedeutend rapider als vorher. Einer der tätigsten Männer war hier Tugon Baranowsky, ein Freund Peter Kropotkins. Alle diese neu entstandenen Arbeiterkonsumvereine hatten nur ein kurzes Leben: Durch das Dekret der Sowjetregierung vom 28. März 1918 wurden die Konsumvereine verstaatlicht, alle von den Arbeitern selbst gegründeten Konsumvereine wurden ihrer Selbständigkeit beraubt und unter die Staatsorgane eingereiht.

Der stellvertretende Präsident des Exekutivkomitees der jetzigen verstaatlichten „Centrosojus“, P. L. Woikoff, erzählte in einem Interview, das wir den 22. Juni 1920 mit ihm hatten, daß die Bolschewiki nach Ausbruch der Oktoberrevolution die bestehenden Genossenschaften benutzen wollten als Organe des neuen Staates zur Verteilung der Lebensmittel. Es ergab aber Schwierigkeiten, denn die Genossenschaften setzten sich, vertreten durch ihre bisherigen Leiter, der Verstaatlichung zur Wehr. Die Regierung, die aber die Genossenschaften in neue Kanäle leiten wollte, entfernte die Personen, die ihr im Wege standen und setzte ein neues Exekutivkomitee ein, das aus Männern bestand, die die Absichten der Regierung ausführten. Dieses neue Exekutivkomitee besteht aus 9 Mitgliedern, die alle zur kommunistischen Partei (Bolschewiki) gehören.

Nach der Ansicht der früheren nun abgesetzten Spitzen der Centrosojus waren die Genossenschaften Vereinigungen freier Mitbürger, die Tendenzen der Verstaatlichung aber waren gegen den Charakter der Organisationen. Die Regierung wollte die Genossenschaften „demokratisieren“, wie sie es nannte. Dazu sollte die gesamte Bevölkerung in die Genossenschaften eintreten. Die Regierung gab ein Dekret heraus, nach dem jeder Staatsbürger Mitglied der Genossenschaft sein mußte. Nach dem Dekrete vom 18. März wurden auf Staatswegen die alten Komitees der Genossenschaften gezwungen, eine Versammlung einzuberufen; auf diesen Versammlungen wurde ein neues Komitee gewählt. An den Wahlen zu diesen Komitees konnte die gesamte Bevölkerung teilnehmen, ob sie Mitglied der bisherigen Genossenschaften war oder nicht: jeder hatte Wahlrecht. Dies nannte man die Demokratisierung. Dies Komitee, das sich an allen Orten und in jeder Kommune befindet, wählt einen Vertreter in ein Distriktskomitee und dies Distriktskomitee wählt die Mitglieder des Exekutivkomitees der Centrosojus.

Dies ist aber bisher nur theoretisch so; in der Praxis wurde, wie bereits mitgeteilt, nach den Angaben, die der stellvertretende Präsident machte, das Exekutivkomitee nicht gewählt, sondern von der Regierung bestimmt, wobei nur Mitglieder der Kommunistischen Partei herbeigezogen wurden.

Ein Vertreter dieser Centrosojus ist Krassin. Er ist aber nicht nur Vertreter der Centrosojus, sondern, da die Centrosojus Staatsorgane sind, offizieller Vertreter der Sowjetregierung. Als solcher wurde er auch von der englischen Regierung behandelt. Krass in vertritt die Handelsinteressen der Sowjetregierung, und die Sowjetregierung bedient sich in Ermangelung eines anderen Apparates der Centrosojus. Durch die Centrosojus wird die Sowjetregierung den Import und Export mit dem Ausland bewerkstelligen.

Wenn die Centrosojus nach dem Auslande hin offizielle Organe der Regierung sind, so sind sie dies doch nicht fürs Inland. Das offizielle Regierungsorgan ist das Nahrungsmittelkommissariat. Da dies sich aber als unfähig erwies, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln durchzuführen, so bedient sich die Sowjetregierung der Konsumgenossenschaften.

Die Funktionen einer solchen Konsumgenossenschaft sind jedem organisierten westeuropäischen Arbeiter bekannt. In Rußland waren sie ähnlich wie in Europa. Die kleinen Genossenschaften sammelten Geld für den Einkauf von Waren. Wenn sie nicht genügend Geld einbekamen, so erhielten sie das nötige Geld von einer größeren der Centrosojus angeschlossenen Genossenschaft geliehen. Die eingekauften Waren verteilten sie dann unter ihre Mitglieder. In den Bauerngenossenschaften ist die Produktion meist individuell, wie in den hier in dem Kapitel-Abschnitt, der dem Lande gewidmet ist, angedeutet. Die Genossenschaften umfassen bei den Bauern nur den Konsum, nicht die Produktion. Die Bauern müssen alles, was sie nicht für eigenen Bedarf brauchen, an die Regierung abliefern. Das Organ der Regierung für diese Zwecke sind das Nahrungsmittelkommissariat und die Genossenschaften. Während also die Regierung zwei Wege hat Waren zu erlangen, haben die Bauern nur einen, nämlich durch die Genossenschaften.

Der Zweck der Regierung mit der Verstaatlichung der Konsumgenossenschaften war ein zweifacher: 1. wollte man die Genossenschaften als „kapitalistische Unternehmungen“, die ihre eigenen Privatbanken hatten, aufheben; dies geschah dadurch, indem man die größeren Produktionsunternehmungen der Genossenschaften beschlagnahmte; 2. wollte man den Privathandel abschaffen. Die Versorgung der Bevölkerung sollte ausschließlich durch die Organe des Staates bewerkstelligt werden. Die für uns wichtigste Frage ist: Hat sich die Verstaatlichung bewährt, sind die Konsumgenossenschaften durch die Verstaatlichung leistungsfähiger geworden und empfiehlt sich also eine Nachahmung dieser Taktik?

Hierauf gibt ein Blick auf den Sucherewkamarkt in Moskau, auf den Fischmarkt in Charkow und auf die ähnlichen Märkte in allen Städten Rußlands die erste Antwort, nämlich, daß es der Regierung nicht gelungen ist, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung durch ihre Maßnahmen durchzuführen. Aber auch wenn es in einer Stadt, wie z. B. in Petrograd nur einen sehr kleinen Markt gibt, so sagt dies nur, daß die Bevölkerung sich die nötigen Lebensmittel auf andere, mehr versteckte Weise beschafft. Heute sind die Konsumgenossenschaften lange nicht so leistungsfähig wie vor der Verstaatlichung. Warum? Die Genossenschaften sind heute nicht mehr Vereinigungen der Bauernartels, in die die Bauern ihre Produkte zum Verkaufe abgeben, die Regierung hat vielmehr die Aufgabe der Abgabe der landwirtschaftlichen Produkte durch die Bauern übernommen. Auf welche Weise dies geschieht, haben wir bereits gesehen. Die Bauern werden gezwungen, das Getreide zu 100 Rubel das Pud abzugeben. Wenn nun auch die Organe, durch die die Regierung dies besorgen läßt, teils Abteilungen des Nahrungsmittelkommissariats, teils Abteilungen der Centrosojus genannt werden, so kommt dies doch auf eins heraus, denn wenn die Bauern sich weigern zu diesen Preisen abzugeben, werden sie durch das Militär dazu gezwungen. In jedem Falle requirieren die Soldaten das Getreide. Die Genossenschaften erhalten also ihre Produkte durch die Regierung und können nicht mehr verteilen, als sie durch die Regierung bekommen. Da dies aber aus genannten Ursachen nicht ausreicht, so sind die Genossenschaften heute viel weniger leistungsfähiger als vor der Verstaatlichung. Die Genossenschaften sind heute keine freien Einrichtungen mehr, sondern nach den Worten des stellvertretenden Präsidenten ist die Bevölkerung gezwungen, Mitglied zu sein. Es ist aber klar, daß eine gezwungene Organisation nicht so arbeiten kann, wie eine freie. Die Genossenschaften sind heute weniger als früher imstande, die Bevölkerung mit den nötigen Lebensmitteln zu versehen, und daher sucht jeder für sich auf Privatwegen das Fehlende zu ergänzen.

Es wurden von der Regierung im Verein mit den Gewerkschaften in den Fabriken Abteilungen der Genossenschaften eingesetzt, und diese Komitees besorgen die Verteilung der Produkte. So bekommen die Arbeiter durch dies Komitee ihr Pfund Brot direkt in der Fabrik. Noch häufiger ist das Fabrikkomitee, das in den Fabriken gewählt wird, gerade für diese Aufgaben da. Ich muß aber hier bemerken, daß in allen Fabriken, die ich besucht habe und dies waren in Rußland und in der Ukraine gegen 20, die Arbeiter sich darüber beklagten, daß sie nicht genügend Lebensmittelration bekamen. In einer Schokoladenfabrik weinten die Mädchen und klagten, sie hätten schon drei Tage kein Brot bekommen. In einer Textilfabrik bekamen die Frauen bei unserm Besuche gerade Brot. Sie begannen zu schimpfen und sagten, daß sie nicht das volle Gewicht bekamen. Der Führer, der uns die Fabrik zeigte, wollte ihr beweisen, daß sie sich irre, er ging zur Wage, wog es nach, und in der Tat fehlten 25 Gramm zum Pfunde. Die Soldaten dagegen bekommen viel reichlichere Rationen. Auf einem Wolgadampfer zeigten die Matrosen freudestrahlend das viele Brot und den Zucker, den sie bekamen.

Man kann nun als die Ursache der ungenügenden Belieferung der Arbeiter durch die Genossenschaften den Mangel an Lebensmitteln anführen; dann aber müßte dieser Mangel auch herrschen, wenn die Arbeiter selbst auf andere Weise sich Lebensmittel besorgen; der Mangel müßte herrschen auf dem Markte, kurzum überall. Dem ist aber nicht so. Während die Arbeiter durch die Organe der Regierung nicht genügend erhalten können, weil angeblich nicht mehr da ist, kann man auf dem Markte alles kaufen. Außerdem organisieren die Arbeiter kleine Zirkel in den Fabriken, legen Geld zusammen und senden einen oder mehrere Kollegen aufs Land, der bei den Bauern Lebensmittel einkauft. Diese Lebensmittel werden dann unter alle daran Beteiligten verteilt. So haben die Arbeiter sich aufs neue freiwillige kleine Kooperationen oder wenn man will Konsumgenossenschaften, die allerdings nur ganz provisorischen Charakter tragen, geschaffen, nachdem die verstaatlichten Konsumgenossenschaften nicht mehr in der Lage waren, ihren Bedarf zu decken.

Ebenso wenig wie die gesamte Produktion vom Staate erfaßt wurde, war es möglich, die Konsumtion in die Staatsorganisation zu zwängen. Das wirtschaftliche Leben ist nicht in Zwangsformen des Staates zu ziehen; oder wenn man es versucht, dann zeigt sich immer wieder die Unmöglichkeit. Der Zentralismus ist während der Kriegsperioden immer am größten, dies gilt auch für Rußland. Während es also während des Krieges nicht möglich war, das gesamte Wirtschaftsleben in die zentralistische Schablone des Staates zu zwängen, dann wird es nach dem Kriege, da es notwendig sein wird, die straffen Zügel etwas nachzulassen, wenn man nicht eine Katastrophe heraufbeschwören will, noch viel weniger möglich sein, alles durch den zentralistischen Apparat des Staates zu erfassen. Die Gesellschaft und das sozialwirtschaftliche Leben ist nicht eine Maschine, noch ein Apparat. Das letztere scheint es aber für die Bolschewiki zu sein — zu ihrem täglichen Sprachschatz gehört das Wort Apparat — denn die einzelnen Teile eines Apparates oder einer Maschine sind tote Wesen. Die einzelnen Teile aber, aus denen sich die menschliche Gesellschaft zusammensetzt, sind willensbegabte Wesen. Der Fehler, den die bolschewistischen Theorien alle haben, und den auch alle überzeugten Bolschewiki stets machen, ist, daß sie damit nicht genügend rechnen. Und das ist auch der Grund, weshalb all ihr Organisieren und „Apparate schaffen“ bisher so mangelhaft ist, wie sie selbst zugestehen, weil sie natürlich kein anderes Wort für die Organisationen, die aus ihrer autokratischen Weltanschauung geboren werden, anwenden wollen. Es wird also in der Zukunft noch viel weniger als in der dreijährigen Vergangenheit, die die Bolschewiki haben, möglich sein, alles „apparatmäßig“ im Sinne der Bolschewiki mittels der Staatsorgane zu erfassen. Abgesehen davon, daß die Bolschewiki den Einzelmenschen zu einem willenlosen Werkzeug in der Hand eines toten Apparates herabwürdigen, können sie niemals das erreichen, was sie erstreben.

Wir haben bereits gesehen, daß außerhalb der staatlichen Wirtschaftsorganisationen für Produktion und Konsumtion die Arbeiter sich selbst helfen und daß ein groß Teil des wirtschaftlichen Lebens des Landes sich außerhalb der Grenzen des Staates abspielt.

Ein besonderes Kapitel aber ist die Schieberei in Rußland. Um sich ein ungefähres Bild davon zu machen, genügt es, wenn man sich an die Angaben der Bolschewiki selbst hält. So schreibt z.B. die Zeitung „Kommunistische Arbeit" in Moskau in der zweiten Hälfte des Juni 1920 über die Waren, die in den verschiedenen Rayons Moskaus aufgefunden wurden, und die man als Schieberware feststellen konnte, d.h. als solche, die nirgends eingetragen war, die also von „verantwortlichen Sowjetbeamten“ beiseite geschoben werden. Man fand da 1546 unkontrollierte Lager Schieberware im Rogoschewski-Simenowski-Rayon. Darunter befanden sich 59 149 Pud Nickel, 30 135 Pud Aluminium, 25 071 Pud Zinn, 237 076 Pud Zink, 18 323 Pud Bleiplatten, 921 857 Pud Messing, 535 979 Pud Stahl, zahllose Mengen Draht, 18 000 zweihändige Sägen, 20 610 Aexte, 32 330 Paar Stiefel, 5 Millionen Archinen Lämmerwollen, 110 566 Archinen Leinwand, 20 426 Pud Kaffee und Tee, und viele andere Sachen, die wohl die Zeitung alle bringt, die aber hier aufzuzählen sich erübrigt, da dies schon genügt, um zu zeigen, daß durch das zentralistische System die größten Schiebungen möglich sind. Zu erwähnen ist noch, daß man in einem anderen Rayon unter anderen Waren eine halbe Million Paar Strümpfe und 47 Waggon landwirtschaftliche Maschinen fand. Dies wäre natürlich unmöglich, wenn ein dezentralistisches, d.h. föderalistisches System durchgeführt wäre, und die Arbeiter in jedem Rayon oder die Arbeiter, die damit arbeiten, die Kontrolle über die Waren hätten. So wie es jetzt ist bei dem zentralistischen System, braucht eben nur eine Zentrale zu wissen, wohin die Waren gehören, und alle anderen Unterabteilungen haben die Order der Zentrale zu befolgen. Dadurch ist natürlich nichts leichter, als daß Schiebereien sich einschleichen, denn wenn es nur einen Schieber an der Zentralstelle gibt, dann können Waren im Werte von Millionen verschoben werden, weil die Arbeiter, die damit arbeiten, eben nur die Pferde sind, die an dem Wagen der Zentrale ziehen.

Ein anderes Beispiel gibt Sinowjew selbst an, wie wunderbar der „Apparat" der zentralistischen Wirtschaftsorganisation funktioniert. Auf der letzten Konferenz der kommunistischen Partei Rußlands, die im Oktober 1920 in Moskau gehalten wurde, sprach Sinowjew über die Mängel und Krankheiten in der Partei und den von der Partei geschaffenen Organisationen. So führte er an, daß „an der Murmanküste bekanntlich ein reicher Fischfang besteht, besonders in den letzten Wochen war dort Hochsaison. Die Genossen erzählen, dort gibt es soviel Fische, daß es genügt, einen Stock mit Haken dreimal ins Wasser zu tauchen, um einen Fisch zu fangen. Dabei erhalten die Murmaneisenbahner und Arbeiter nicht ein Pfund frische Fische und sind gezwungen, bestenfalls sich von getrockneten Fischen zu nähren. Woher kommt das? Daher, daß wir eine Fischzentrale („Glawryba") haben, die sagt: zuerst muß man den Fisch fangen, ihn einregistrieren, ihm Salz auf den Schwanz streuen und dann erst bekommen ihn die Arbeiter. Versuchen aber die Arbeiter mit der Fischzentrale in Verbindung zu treten, so ist diese fern vom Schuß." Ein weiteres Beispiel Sinowjews: „Ich will einen anderen Fall erzählen. In Ussolje waren ungeheure Salzvorräte aufgespeichert. Die Bauern baten um die Erlaubnis, sich auf eigenen Fuhrwerken unter Aufsicht von Verpflegungsämtern bestimmte Salzmengen holen zu dürfen. Der Kanzleischimmel begann seinen Trott, unterdessen trat der Fluß aus seinen Ufern und leckte das ganze Salz auf. Was soll der Bauer dazu sagen? 50 Werst von Baku entfernt sitzen Arbeiter und Bauern ohne Petroleum. In Baku, also bei der eigentlichen Petroleumquelle! Das kommt infolge der Mängel unserer Organisation."

Soweit Sinowjew. Ich habe selbst in Rußland von den verschiedensten Personen zahlreiche derartige Fälle gehört, aber wenn ich mich auf Peter Kropotkin oder Emma Goldmann, Spiridonowa oder andere ausgesprochene Antizentralisten, die ein großes Material zusammengetragen haben, berufe, so könnte es immerhin den Anschein erwecken, als seien diese Berichte gefärbt. Dies kann doch aber, wenn es aus dem Munde des Erzzentralisten selbst kommt, von niemandem so aufgefaßt werden. So wie den Bauern bei Ussolje, so ging es ungezählten anderen Bauern mit Holz, so ging es auch den Petrograder Arbeitern, und so wird es immer gehen und gehen müssen, solange das System des Zentralismus in allen wirtschaftlichen Organisationen herrscht. Es sind nicht nur einige Mängel, wie Sinowjew es bezeichnet, sondern es ist das Prinzip des Zentralismus, auf das die Schuld fällt. Ich kann dies noch durch eine persönliche Erfahrung beleuchten: Eine Freundin in Moskau ersuchte mich, ihr einige antiquarische Bücher zu besorgen. Ich sah in einer Sowjetbuchhandlung, nachdem ich lange gesucht habe, zufällig die Bücher, ging hinein und wollte sie kaufen. Da kam ich aber schön an. Ja, freilich konnte ich die Bücher kaufen, mußte aber zuerst vom „Centropitschatsch“ der Bücherzentrale eine Erlaubnis haben. Ich ließ mir die Adresse geben und ging hin. Dies war am andern Ende Moskaus. Hingekommen — man muß überall zu Fuß laufen, denn die Bevölkerung kann nicht im Auto fahren wie einige ausländische Delegierte — war es schon geschlossen. Nächsten Tag ging ich wieder hin, da sagte man mir aber, daß dies nicht mehr hier sei, sondern an einer andern Stelle. Wieder ging ich dorthin, wo man mich hinsandte. Ich kam zuerst zu einer Frau, die an einem Pult saß. Sie hieß mich einen Zettel ausfüllen und schickte mich in die Nebenkanzlei. Dort wurde ein neuer Schein mit den Büchern, die ich haben wollte, ausgefüllt und mit diesem Schein wurde ich wieder in ein anderes Zimmer geschickt. Dort wurde dies registriert und ich mit dem Bestellschein in das zweite Zimmer zurückgeschickt. Jetzt wurde der Schein unterschrieben und dann erst konnte ich nach dem Buchladen gehen und mir die drei antiquarischen Bücher holen. Als ich im Laden ein deutsches Buch sah, das ich gern für mich kaufen wollte, wurde ich angewiesen, erst wieder einen Bestellschein von der Zentrale zu holen. Jetzt hatte ich aber genug und ließ das Buch liegen. Ein paar antiquarische Bücher zu kaufen, dazu braucht man also zwei Tage. Kein Wunder, wenn das Leben stockt, und die Unzufriedenheit darüber Platz greift. Dies sind aber nicht nur einige Mängel in der Organisation, sondern das ganze System ist verkehrt.

Daß durch ein solches System der Gevatter des Zentralismus der Bureaukratismus üppig ins Kraut schießt, ist ohne weiteres klar. So gibt es in Moskau doppelt so viel Bureaukraten als Arbeiter. Nach einem Rostawandanschlage — man findet diese in Rußland häufig an Häusern angeschlagen — wurden folgende Bevölkerungszahlen für 1919-1920 angegeben:

400000 Kinder unter 16 Jahren,

250000 Hausfrauen,

105 000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter,

233 000 Sowjetangestellte und Beamte,

312000 Bourgeoisieelemente,

1 300 000 Einwohner in Moskau.

Da alle Arbeiter in Rußland obligatorisch in den Gewerkschaften sind, so gibt es in Moskau also nicht mehr Arbeiter als die hier angeführten. Es gibt also nur 105000 Arbeiter und 233000 Sowjetangestellte. Aber auch die übrigen 312 000 parasitischen Elemente „arbeiten" mit den Sowjetbehörden zusammen, d.h. machen irgendwelche Schiebergeschäfte. Natürlich kann dadurch nicht viel produktive Arbeit geleistet werden, und natürlich muß dies zurückwirken auf die Ernährungs- und Versorgungsfrage des Landes.

Das Leben der Arbeiter in den Städten.

Die Arbeiter können von den Lebensmitteln, die sie erhalten, nicht leben; sie werden daher gezwungen, zur Selbsthilfe zu greifen und zu „schieben". Dies soll nicht etwa gesagt werden, um irgend etwas schwarz anzumalen, sondern soll nur die Lage beleuchten, die aus dem Komplex der verschiedensten Umstände entstand. Straßenbahnen verkehren in Petrograd sehr spärlich, in Moskau noch spärlicher, und Ende Oktober wurde der Straßenbahnverkehr gänzlich eingestellt. Die Arbeiter müssen also oft über eine Stunde zur Arbeit oder in die Sowjetkanzlei (wenn es Sowjetangestellte sind) zu Fuß laufen. Zu Mittag bleiben sie natürlich in der Fabrik oder im Büro. Sie bekommen in den Sowjetkanzleien und in den meisten Fabriken das Mittagessen auf dem Arbeitsplatze. Es besteht fast ausschließlich aus Suppe und Kascha (Grütze). In Moskau ist dies Essen durchgehend sehr schlecht, in Charkow dagegen in einigen Plätzen verhältnismäßig vorzüglich. Für einen Arbeiter muß man aber außerdem das Essen auch quantitativ als ungenügend betrachten. Außerdem bekommen sie noch andere Lebensmittel, den sogenannten „Pajok". Auch dieser ist ungenügend. Wenn es aber im Büro im Herbste Aepfel oder Holz gibt, dann muß es jeder selbst nach Hause tragen und es auf dem Rücken eine Stunde lang schleppen. Wenn er dann nach Hause kommt, dann ist er natürlich nicht imstande, etwas zu tun. Und doch entbehrt er im Hause auch alle Bequemlichkeit, so daß, da er alles selbst machen muß, seine ganze Tätigkeit sich in so viel Kleinigkeiten erschöpft, daß er in der Tat nicht viel Produktives leisten kann.

Die Leistungen der Arbeiter in den Fabriken sind, wie man es aus der Lebenshaltung leicht entnehmen kann, minimal. Dies wird aber häufig von der Regierung als Sabotage angesehen, und die kommunistische Zelle in der Fabrik, die darüber zu wachen hat, denunziert die Arbeiter oft wegen Sabotage. Dafür werden sie dann bestraft.

Die Rationen, die die Arbeiter in einer Fabrik für Lokomotivreparaturen, die ich besichtigte, bekommen sollen, sind per Monat: 25 Pfund (1 russisches Pfund gleich 400 Gramm) Mehl, 1 Pfund Oel, 8 Pfund Fische, 5 Pfund Grütze, 1½ Pfund Tabak, 2 Pfund Zucker, ¼ Pfund Kaffee, ½ Pfund Salz. Die Arbeiter erhalten aber diese Rationen nicht regelmäßig; als ich die Fabrik besuchte, war gerade Sitzung des Fabrikkomitees, das sich beschwerte, daß die Arbeiter vergangenen Monat kein Oel, und nicht genügend Mehl bekamen.

Wenn die Arbeiter nicht genügend bekommen, dann versuchen sie auf privatem Wege sich mehr zu beschaffen. Die Bäcker nehmen in ihren langen Taschen Teig nach Hause mit; ihre Frauen backen daraus kleine Kuchen und verkaufen sie dann auf dem Markte. Die Brotausträger stehlen die fertig gebackenen Brote; ich sprach mit einem Brotausträger, der mir ganz offen sagte, wenn er dies nicht tun würde, dann könnte er überhaupt nicht existieren. Und so machen es die Arbeiter, die in anderen Industriezweigen arbeiten. Man versucht eben, auf erlaubten und unerlaubten Wegen sich durchzuschlagen.

Vielleicht wird mancher die Frage aufwerfen, warum die Arbeiter sich nicht das, was ihnen fehlt, dazu kaufen. Dies ist nun deshalb nicht vollauf möglich, weil sie die Preise, die im freien Handel gefordert werden, einfach nicht bezahlen können. Die Arbeiter bekommen 3000 bis 10 000 Rubel per Monat. Das Essen in der Fabrik ist nicht teuer, es kostet nur gegen 20 Rubel, desgleichen sind die Preise für das, was sie auf ihre Rationen bekommen, sehr billig, wie überhaupt die Preise für das, was man von der Regierung bekommt, sehr billig sind, so daß, wenn die Arbeiter genügend von dieser Seite bekämen, sie mit ihrem Gelde sehr gut auskommen würden, ja, dann könnten sie sich viel Geld sparen. Aber sie bekommen gerade deshalb einen so hohen Lohn, weil die Rationen nicht ausreichen. Aber wenn sie für ein Pfund Brot auf dem Markte 500 bis 900 Rubel bezahlen müssen und für ein Pfund Butter 5 000 bis 6 000 Rubel, dann müßten sie 100 000 Rubel im Monat verdienen, wenn sie auskommen sollten.

Von den genannten 312 000 bürgerlichen Elementen, die nach der Rostastatistik in Moskau sich befinden, gibt es auch sehr viel traurige Elemente, die alles andere, nur nicht den Namen Bourgeois verdienen. Im Sommer konnten die Besucher des 2. Kongresses der Dritten Internationale des Nachts in Moskau Männer und Frauen auf den Straßen liegend, schlafen sehen. Wenn man die Leute fragte, warum sie denn auf der Straße schliefen, dann antworteten sie, daß sie morgen früh die ersten sein wollen, wenn das Büro geöffnet wird, das die Erlaubnis zur Eisenbahnfahrt erteilt. Diese Leute gingen dann zur Bahn und fuhren in die umliegenden Dörfer, um dort Milch und wenn möglich andere Sachen zu kaufen, die sie dann in Moskau auf dem Markte verkauften. Auf den Bahnhöfen kann man dann Hunderte von zerlumpten Gestalten sehen, die um einen Krug von 2 bis 5 Litern Milch mehrere Meilen weit gefahren sind, um dann die Milch mit kleinem Gewinne und stets in der Gefahr, arrestiert zu werden, umzusetzen. Die Versorgung ist so schlecht organisiert, daß Tausende je einige Liter Milch aus den Dörfern holen, anstatt daß Einige tausende Liter Milch besorgen, wie es beispielsweise in Berlin durch Bolle geschieht. Trotz des übergroßen Zentralismus hat man dies nicht zustande gebracht. Abgesehen von dieser im höchsten Grade unrationellen Versorgung ist auch hierin nicht die Bohne von sozialistischem Geiste zu sehen. Die Bolschewiki haben noch nicht einmal die kommunale Milchversorgung, wie sie hier in Berlin für Kinder und Kranke durchgeführt ist, zustande gebracht, und dann wellen sie vom Kommunismus reden und nennen sich auch Kommunisten!

Auch die Lohnpolitik kann man nicht kommunistisch bezeichnen. Es gibt hier zweierlei Maßstab: 1. das Land, die Nation, der Staat, vielleicht auch noch die „Klasse"; 2. die Arbeiter, das Individuum. Der erste ist der Ausgangspunkt der Staatssozialisten, Sozialdemokraten, Bolschewiki, „Kommunisten"; der zweite der Ausgangspunkt der Antistaatssozialisten, der Anarchisten. Wenn man an das Wohl des Landes, des Staates — sei es auch des proletarischen — oder auch der Klasse denkt, dann wird man alles tun, um diese zu verteidigen. Dies taten die Bolschewiki. Als die Revolution ausbrach, mußten sie in diesem Sinne die Revolution verteidigen. Sie mußten die Industrie des Landes um jeden Preis aufrechterhalten, auch um den des Verzichtes auf die Grundforderungen des Sozialismus: nämlich des Einheitslohnes. Es gibt gegenwärtig in Rußland 35 Lohnstufen oder Lohnklassen. Die akademisch gebildeten Kräfte, die Ingenieure, Techniker, Organisatoren usw. sind in den höchsten, die gelernten Arbeiter in den mittleren und die ungelernten in den niedrigsten Lohnklassen. Außerdem wird auch Rücksicht genommen, ob die Arbeiter in für den Krieg, gegen die Konterrevolution wichtigen Betrieben arbeiten. Man hat sogar im Sommer 1920 bei den Eisenbahnern die Tarife in Vorschlag gebracht, die im Jahre 1912 zur Zeit des Zarismus vorgelegt, damals aber abgelehnt wurden. Man ist also in der Tat gezwungen, zu sagen, daß man in Rußland in bezug auf eine soziale Lohnpolitik auf den Hund gekommen ist, Lenin mag noch so schöne Phrasen oder noch so gewichtige Gründe hierfür anführen.

Zu dieser Lohnpolitik, die wir soeben als antisozialistisch erkannt haben, wurden die Bolschewiki durch einen wichtigen Umstand der Verhältnisse getrieben. Die Arbeiter waren nicht in der Lage, die Produktion zu übernehmen. Sie waren nicht darauf vorbereitet, sie hatten sich nicht für den Zweck der Uebernahme der Produktion organisiert. Dies war in Rußland allerdings nicht möglich.. Die Revolution kommt nicht, wenn die Arbeiter oder wenn eine Gruppe von Revolutionären fertig mit ihren revolutionären Vorbereitungen sind, und die Arbeiter technisch so weit ausgebildet sind, um die Produktion reibungslos von den kapitalistischen, technischen und organisatorischen Leitern übernehmen zu können, sondern die Revolution kommt, ehe die Arbeiter sich dazu vorzubereiten in der Lage waren. So war es in Rußland. Wenn dann noch obendrein eine politische Partei die Macht ergreift, dann kann natürlich nichts Sozialistisches dabei herauskommen. Man braucht sich also nicht darüber zu wundern, daß die Bolschewiki keine sozialistischere Lohnpolitik durchführten, sondern im Gegenteil, wenn sie eine solche durchgeführt hätten, dann hätte man Grund, sich zu wundern.

Die Bolschewiki waren also gezwungen gewesen, die Bourgeoisie, die vor der Revolution die Industrie geleitet hat, sofern sie nach Ausbruch der Oktoberrevolution nicht ins Ausland ging, weiter zur Leitung entweder durch physischen Zwang oder durch außerordentlich hohe Bezahlung beizubehalten; das letztere Mittel wies sich als das bessere, man setzte mit der kapitalistischen Lohnpolitik fort, erklärte aber und tut dies immer noch, daß man es darauf abgesehen hat, die Arbeiter immer mehr auszubilden, um die Bourgeoisie immer mehr überflüssig zu machen und durch Arbeiter zu ersetzen.

Wenn man nun in Rußland so ein Pech damit hatte, daß die Revolution die Arbeiter nicht vorbereitet und nicht in der Lage traf, die Produktion aus den Händen der Kapitalisten zu übernehmen, dann muß man doch daraus eine Lehre ziehen. Denn das Schlimme dabei ist, daß die Arbeiter, die natürlich nicht Nationalökonomen sind, und nicht alle diesen Zusammenhang verstehen, den jeweiligen revolutionären Parteien oder Organisationen die Schuld hiervon in die Schuhe schieben, die sich gerade an der Herrschaft befinden. Dies sind nun jetzt die Bolschewiki, wenn es aber die Syndikalisten oder Anarchisten oder irgend eine andere revolutionäre Regierung wäre, dann wäre es genau dieselbe Leier, auf der sie zu spielen gezwungen wären, und die Arbeiter würden sie ebenso wie sie jetzt die Bolschewiki als Herrscher betrachten.

Diese Lehre haben nun die Syndikalisten schon lange gezogen, indem sie die Arbeiter dazu vorbereiten, sich selbst persönlich und ihre Organisationen so vorzubereiten und auszubilden, daß eine ausbrechende Revolution, die aus verschiedenen ökonomischen, psychologischen und politischen Ursachen ausbricht, die Arbeiter vorbereitet findet. Merkwürdigerweise aber werden die Syndikalisten, die dies lehren, eben von denselben Bolschewiki und Parteikommunisten als „Reformisten" verschrieen und „angeklagt". So werden die Dinge auf den Kopf gestellt. Anstatt daß die Bolschewiki den Syndikalisten zurufen sollen: „Jawohl ihr habt doch recht, wenn die Revolution und der ganze Sozialismus bei den Arbeitermassen nicht in Mißkredit geraten soll, dann müssen wir diesen Weg beschreiten, sagen sie zu den Syndikalisten, daß, wenn die Revolution ausbricht, dann kommen sie entweder ins Gefängnis oder an die Wand. In Rußland ist man allerdings so vorgegangen und hat viele Anarcho-Svndikalisten ins Gefängnis gesteckt.

Da man sich dieser Lehre, die von den Syndikalisten einerseits und theoretisch auch von Eugen Dühring, andererseits in seinem Buche „Soziale Rettung" schon vor vielen Jahren gelehrt wurde, denn doch nicht gänzlich verschließen kann, so schmuggelt man sie „als neue Idee" in die Leitsätze der III. Internationale ein, indem man den Gewerkschaften eine „große Rolle" in der Eroberung der politischen Macht und bei dem wirtschaftlichen Aufbau des Kommunismus zuschreibt. Die Hauptrolle soll aber selbstverständlich eine politische kommunistische Partei spielen.

Trotz aller dieser Verdunkelungen und Verschleierungen kann es doch nicht gelingen, die Tatsache zu verdecken, daß die soziale Revolution um so erfolgreicher sein wird, d.h. die soziale Gleichheit um so eher verwirklicht werden wird, je besser die Arbeiter sich darauf vorbereitet haben. Wer ein Anhänger der sozialen Revolution sein will und sein Hauptaugenmerk nicht darauf, sondern auf die Eroberung der politischen Macht richtet, der beweist eben, daß er im Innersten seines Herzens mehr Putschist, Anhänger der Gewaltphrase ist, als wahrhafter Sozialist. Dies sind aber die Bolschewiki in Rußland und die politisch-kommunistischen Parteien in allen Ländern. Die Hauptaufgabe eines wahrhaften Sozialisten oder auch — wenn man so will Kommunisten — liegt eben nur in der Vorbereitung seiner selbst, der Arbeiter und Bauern zur sozialen Gleichheit auf wirtschaftlichem, geistigem und moralischem Gebiete; er muß Syndikalist sein.

Aber noch ein anderer Umstand muß zu den hier angeführten hinzugefügt werden, der zur Entwicklung der 35 Lohnstufen oder dazu beitrug, daß die Bourgeoisie besser bezahlt wird als die Arbeiter. Dies war die Anwendung des Satzes: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" als Taktik. Als Theorie ist dieser Satz ein Gemeinplatz sozialistischer oder, wenn man ironisch sein will, biblischer Propaganda. Es ist richtig und gerecht: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dies darf aber nicht bedeuten, wer bisher nicht gearbeitet hat. soll von nun an nichts mehr zu essen bekommen! Die soziale Revolution ist ein Akt sozialer Gerechtigkeit, durch den soziale Ungerechtigkeiten aufgehoben werden, und nicht umgekehrt, oder gar fortgeführt werden. Die soziale Revolution muß jedem zu essen geben, ganz gleich was er bisher getan, oder wenn er auch gar nichts getan hat. Dieser Weg ist aber nicht nur vom Standpunkt der Gerechtigkeit, sondern auch von dem der revolutionären Taktik zu empfehlen. Es hat sich nämlich in Rußland gerächt, daß man der Bourgeoisie nichts oder weniger zu essen gab. Später, als man sie zur Organisierung des technischen und industriellen Lebens brauchte, waren sie noch grimmigere Feinde der Arbeiterklasse als vorher geworden, eben durch jene Taktik.

Auch hieraus haben wir eine Lehre zu ziehen: Nicht die negativen Tendenzen zu unterstützen, nicht den brutalen Racheinstinkten freien Lauf bei uns oder bei anderen zu gewähren, sondern sie zu bekämpfen und im Gegenteil alles daran zu setzen, um den Geburtsakt der sozialen Revolution zu einem Geburtsakt des Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit zu gestalten. Profan ausgedrückt: Jedem Brot geben, das muß die erste Pflicht der sozialen Revolution sein.

Arbeiterversicherung.

Wenn früher in vorrevolutionären Zeiten Sozialisten, Syndikalisten oder Anarchisten sich ihre Idealgesellschaft verwirklicht dachten oder sich ausmalten, dann dachten sie natürlich nie an so etwas wie Arbeiterversicherung oder Arbeitergesetzgebung. Dies hatte für den deutschen Anarcho-Sozialisten oder Syndikalisten bestimmt immer einen Beigeschmack von Bismarckscher Politik. Soziale Gesetzgebung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall der Arbeiter erachtete man nur im kapitalistischen Staate für notwendig, während die Grundlage der sozialistischen Gesellschaft schon das Prinzip der gegenseitigen Hilfe ist, so daß man an soziale Gesetzgebung im bisherigen, kapitalistischen Sinne nicht denken konnte.

Daß man in Rußland doch dazu gegriffen hat, beweist eben aufs neue, daß wir es nicht mit dem zu tun haben, was wir unter sozialer Revolution verstehen, sondern mit einer politischen Revolution, die allerdings tief in das soziale Leben Rußlands eingegriffen hat: Das Privateigentum ist zum größten Teil aufgehoben, und die Revolution kann sich, wenn auch noch andere Länder in die Revolution verwickelt werden, zu einer sozialen, im weitergehenden Sinne entwickeln.

Daß man in Rußland in den maßgebenden revolutionären bolschewistischen Kreisen zunächst daran dachte, die Fortschritte in Rußland einzuführen, die schon lange im übrigen Europa verwirklicht waren, kann man ihnen nicht übel anrechnen. Die Bolschewiki führten also die soziale Gesetzgebung, die Kerenski mit sehr schwachen Zügen begonnen hatte, in viel größerem Maße fort. Freilich kann man sich nicht des Gedankens erwehren, daß auch Kerenski dasselbe getan hätte, wenn er länger an der Macht geblieben wäre. Es spricht also aus dieser Politik der sozialen Gesetzgebung ein gewisser Reformismus heraus. Denn bisher hatte die soziale Gesetzgebung immer noch die Bedeutung von einem Ausbauen und Verbessern des Baues der kapitalistischen Gesellschaft. Allerdings kann man wegen dieses einen Punktes kein Urteil fällen, wenn man nicht das ganze Werk der Bolschewiki und der russischen Revolution betrachtet. Eine solche allgemeine Betrachtung aber zeigt uns, daß die russische Revolution zur Hälfte politisch und zur Hälfte sozial ist und in ihrer späteren Entwicklung sogar teilweise zur Reaktion neigte. Dies sind alles Kurven der Entwicklung, diese Entwicklung selbst aber kann man noch nicht als abgeschlossen betrachten.

Im Zarenreiche war die Arbeiterversicherung sehr schwach entwickelt. Bis zum Jahre 1917, also auch noch in der kurzen Kerenskiperiode waren in ganz Rußland 1 457 503 Arbeiter versichert. Im Jahre 1919 wuchs die Zahl auf 3 009 510 und im Jahre 1920 nach den Angaben des Kommissars der Arbeit auf 6 000 000, die alle der Versicherung unterliegen. Dies ist aber bei einer Bevölkerung von 120 Millionen immer noch äußerst minimal. Außerdem muß man die gesamte Versicherung bei der jetzigen Situation immer noch mehr auf dem Papier stehend, als in die Wirklichkeit durchgeführt betrachten.

Die Institution, die die Versicherung durchgeführt hat, ist das Kommissariat der Arbeit. An der Spitze steht der Volkskommissar der Arbeit: Schmidt. Dieses Kommissariat hat aber nicht nur für die erwerbslosen Arbeiter zu sorgen, sondern auch für die werktätigen, d.h. den Arbeitern die Arbeit zuzuteilen. Das Kommissariat hat 5 Unterdepartements. Die erste Abteilung umfaßt die Verteilung der Arbeiter und der Arbeit, die zweite den Arbeiterschutz, die dritte das Tarifwesen, die vierte die Arbeitsstatistik, die fünfte ein Arbeitsmuseum. Das Arbeitskommissariat hat in jeder Stadt Sektionen. Werden an irgend einem Platze Arbeiter gebraucht, dann werden sie von der Zentrale in Moskau oder von einer Provinzialabteilung versandt. Dieses Institut leitet auch die Verhandlungen und Arrangements mit den Ausländern, die nach Rußland einwandern wollen. Die Arbeiter müssen zu den Bedingungen arbeiten, die von dem Kommissariat aufgestellt werden. Da der Kommissar der Arbeit von den Gewerkschaften eingesetzt ist, so sind die Bedingungen im Einklang mit dem Exekutivkomitee der Gewerkschaften und die Tarife, Statistiken usw. von dem Kommissariat in Gemeinschaft mit den Gewerkschaften ausgearbeitet. Wenn irgend eine Arbeit in Angriff genommen werden soll, z.B. ein Neubau, dann wendet sich das Kommissariat für Bauzwecke an den Obersten Volkswirtschaftsrat um Material, und an das Arbeitskommissariat wegen Arbeiter. So wie also der Oberste Volkswirtschaftsrat für das Material zu sorgen hat, so hat das Arbeitskommissariat für die Arbeiter zu sorgen.

Diese Arbeiterfürsorge erstreckt sich auf Mutterschutz, Kinderschutz und Kindererziehung, Invaliden- und Krankenversicherung. Nach Angaben des Arbeitskommissars Schmidt beträgt die Grundunterstützung für alle Bedürftigen 1200 Rubel monatlich. Dies ist der Minimallohn für die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Frauen, deren Männer in der Roten Armee sind usw. Von den in Arbeit stehenden Arbeitern — und das sind so gut wie alle von den Gewerkschaften erfaßten Arbeiter — bekommen etwa nur ein Sechstel diesen Minimallohn; fünf Sechstel erhalten Zuschüsse aller Art, durch Ueberstunden, durch Akkordarbeit, durch Prämien, so daß der Arbeiter im Durchschnitt auf 4000 bis 5000 Rubel per Monat kommt. Der Lohn wird teils in Natura, teils in Geld ausbezahlt. Arbeiter unter 16 Jahren dürfen nur 6 Stunden arbeiten.

Soweit der Kommissar Schmidt. Ich habe aber in den Fabriken gefunden, das viele qualifizierte Arbeiter viel mehr verdienen als die hier angegebenen Summen, sie kommen auf 10 000 bis 15 000 Rubel per Monat. Auch sprach ich in den Fabriken mit 16jährigen Jugendlichen, die schon seit vier Jahren täglich 8 Stunden an der Drehbank arbeiteten, sodaß die Jugendfürsorge, die jetzt auf dem Papiere steht, noch nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Es mag sein, daß das Dekret der Arbeiterversicherung teilweise durchgeführt ist, daß es nicht gänzlich duchgeführt ist, zeigten meine Erfahrungen.

Das Finanzwesen.

Bereits an anderer Stelle dieses Buches wurde die Frage erörtert, ob wir es in Rußland mit Staatskapitalismus oder Staatssozialismus zu tun haben. Das Finanzproblem zeigt uns diese Frage in neuer Beleuchtung.

Als die Novemberrevolution 1917 ausbrach und siegreich verlief, wurden alle Großgrundbesitzer enteignet. Die Banken wurden nationalisiert. Die Kleinen Depositen wurden den Besitzern zurückgegeben, die großen Vermögen aber wurden enteignet. Der Zinsfuß wurde aufgehoben, das Privatkapital in Nationalkapital umgewandelt. Alle Hypotheken wurden annulliert. Die Regierung verwandte viel darauf, um alle Hypotheken einzuziehen, bekam aber nur für 4 Millionen Rubel Hypotheken ein.

Das wichtigste Moment der Revolution auf finanziellem Gebiete ist die Entwertung des Geldes. Der Staat druckt ohne Rücksicht auf seinen Goldbestand Papierscheine, die als Geld ausgegeben werden. Dieses Papiergeld sind keine Staatsschuldscheine und keine Kreditscheine, sondern nichts anderes als Papiere. Der Staat macht keine Anleihe und hat also auch keine Gläubiger, wie die kapitalistischen Staaten. Der Kapitalismus, d.h. das zinstragende Kapital ist abgeschafft. Das von den Bolschewiki herausgegebene Geld repräsentiert keine Staatsschulden und soll auch nicht vom Staate eingedeckt werden. Die Sicherheiten sind dagegen die Reichtümer des Landes, der Grund und Boden, der zum Staatseigentum geworden ist, die Waldungen, die Gruben und Oelquellen, die Fabriken und Maschinen; all dies sind die Bürgschaften des Staates. Wir haben auch gesehen, daß die Bolschewiki bei ihren Handelsverträgen mit anderen Staaten mit den Naturreichtümern bezahlen, die sie, da sie selbst keine Möglichkeit zur Ausbeutung haben, in Form von Konzessionen den kapitalistischen Staaten zur Ausbeutung als Zahlungsform überlassen. Damit übereinstimmend steht auch auf dem bolschewistischen Papiergelde nicht das übliche „Darlehnskassenschein" oder „Reichsbanknote" oder daß die Bank den Betrag dafür auf Wunsch auszahlt, sondern in 6 Sprachen die Worte: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!"

Dies ist ziemlich wörtlich die Wiedergabe eines Interviews mit dem Finanzminister Krestinsky. Hieraus ist also ersichtlich, daß man das Geld nicht hat abschaffen können, wie es viele sozialistische Theorien lehren, daß aber der Zinsfuß abgeschafft wurde, somit auch das arbeitslose Einkommen, das dem Reichen aus dem Besitz von Aktien und Wertpapieren erwuchs. Damit ist aber nur eine Form und zwar die am meisten parasitäre Form des arbeitslosen Einkommens abgeschafft. Durch die Beibehaltung der Papiernoten war es immer noch möglich, die Noten selbst sowie die Waren zum Handelsobjekt zu machen. In der Tat gibt es in Sowjetrußland eine Menge Valutaspekulanten. Man kauft deutsches, schwedisches, finnisches, esthnisches und russisches Geld und verkauft es dann wieder mit gutem Gewinn. Selbstverständlich wird die Spekulation streng bestraft, aber es ist eine alte Binsenwahrheit, daß Strafe vor Verbrechen oder vor Torheit nicht schützt. Es ist also die andere Form parasitären Einkommens, der Handel, noch nicht beseitigt, eben weil das Geld weiter existiert.

Drittens ist durch Beibehaltung des Geldes der Wertmesser der Arbeit immer noch Geld, und gerade dies ist der Grund, weshalb das Geld eine selbständige Größe und Bedeutung hat.

Der Umstand, daß nicht irgend ein Privatmann für eine Note bei der Bank Geld oder andre Wertsachen einziehen kann, sondern daß der Staat selbst an Stelle der Einzelnen, der Privatkapitalisten getreten ist, ist allerdings von weitgehender Bedeutung. Der Privatmann hat nicht mehr das Recht, irgendwelche materiellen Werte auf Grund Ererbung usw. zu fordern, diese Werte gehören der Gesamtheit, der Kollektive, dem Staate. So ist freilich das Finanzsystem kollektivistisch oder staatlich im Gegensatz zu den kapitalistischen Staaten, wo es private Wirtschaft gibt.

Wir haben also gesehen, daß es in Rußland kein privates, sondern ein staatliches Finanzsystem gibt. Die Beantwortung der Frage, ob wir von Staatskapitalismus oder von Staatssozialismus in diesem Zusammenhange sprechen können, hängt ab von der Definition des Wortes Kapitalismus. Wenn wir unter Kapital zinstragende Werte, Geldsummen oder ähnliches verstehen, dann kann man allerdings nur von Staatssozialismus des russischen Sowjetregimes sprechen. Wenn wir aber unter Kapital die Summe der Werte des Landes, der Maschinen, der Produktionsmittel, der Gruben usw. verstehen, kurzum die Summe der aufgespeicherten Werte nicht des Einzelnen, sondern der gesamten Kollektivität, dann würde man mit dem Worte Staatskapitalismus ebenfalls das richtige treffen. Die Sozialisten haben jedoch unter Kapital und Kapitalismus, abgesehen von allen mehr oder weniger wissenschaftlichen oder spitzfindigen Erklärungen, die Macht verstanden, durch die die Arbeiter ausgebeutet werden auf Grund des Privateigentums und des damit verknüpften Lohnsystems. Daß aber das Lohnsystem nicht nur unter dem Privateigentum besteht, sondern auch unter dem Kollektiv- oder Staatseigentum, das beweisen uns die Städtekommunen und die Staatseisenbahnen und verstaatlichten Postanstalten usw., sowie alle verstaatlichten Unternehmungen in den kapitalistischen Staaten einerseits und die Sowjetrepublik andrerseits. Für die Arbeiter aber, die bei den Kommuneverwaltungen, den Staatseisenbahnen und Postanstalten angestellt sind, hat ihr Arbeitgeber, wenn es auch der Staat ist, doch dieselbe Bedeutung wie der Privatkapitalist Krupp oder Thyssen oder Stinnes. Solange sie Lohnsklaven sind, fühlen sie die herrschende Macht des Kapitalismus und des Staates über sich. Ebensowenig wie es den bei einem Staatsunternehmen beschäftigten Arbeitern einfallen würde, sich als Mitglied eines staatssozialistischen Systems zu betrachten, ist dies natürlich auch für Sowjetrußland der Fall. Wir müssen von hier aus das Wort Staatskapitalismus als richtiger anerkennen. Damit sollen die faktischen Verhältnisse keineswegs niedriger gehängt, sondern nur eine richtige Begriffsbestimmung gefunden werden, die die Verhältnisse mit einem einzigen Worte zusammenfassend kennzeichnen. Und dies Wort ist Staatskapitalismus.

Wichtiger als diese rein formale Begriffsbestimmung ist das Wesen des Finanzsystems. Als eine Folge der Revolution, der Verstaatlichung des Privateigentums und der Annullierung der Staatsschulden der früheren Regierungen kam der unerhörte Sturz des russischen Rubels. Dies ist keine neue Escheinung. In der französischen Revolution 1789—1793 hatten die Assignaten einen noch geringeren Wert als der jetzige Sowjetrubel. Man kann in Moskau für eine deutsche Mark bei Spekulanten 100 Sowjetrubel bekommen, für eine schwedische Krone 500—600 Rubel; für einen Zarenrubel (Papier) rechnet man gewöhnlich das Zehnfache eines Sowjetrubels. Zarenrubel oder auch Kerenskirubel sollen nicht ausgegeben werden; aber trotz des Verbotes findet man sie doch im Handel.

Die Teuerung der Lebensmittel, die mit dem Sturz des Rubels Platz griff, ist bei weitem nicht im Einklang mit dem Sinken des Geldes, so daß die Lebensmittel, wie bereits angeführt, z.B. ein Pfund Brot für 500 Rubel, heute viel unerschwinglicher sind als früher für 5 Kopeken. Der Rubel ist ebenso wie die Assignaten natürlich nicht durch die Absicht der Politiker, sondern durch die revolutionäre Situation so gesunken. Wenn nun die Bolschewiki erklären, daß die Entwertung des Geldes vorzüglich geeignet sei, den Geist des Kapitalismus aus dem Denken der Menschen zu verbannen, so wollen sie nur aus der Not eine Tugend machen. Bei einseitiger Betrachtung kann man allerdings auf den Gedanken verfallen, daß dem so sei. Ein Arzt, der mich behandelte, erzählte mir, daß er heute mit 30 000 Rubeln Gehalt nicht so viel hat wie früher mit 300 Rubeln, und daß ihm an dem Gelde garnichts liege, daß es ihm viel lieber sei, wenn er sein Gehalt in Natura, Kleidern und was er sonst noch zum Leben braucht, bekommt, weil er ja mit den 30 000 Rubeln doch nicht auskommen kann. Subjektiv gesprochen wird das Streben nach Geld allerdings eingedämmt, wenn auch nicht ganz ertötet.

Da aber die Arbeiter nicht genügend Lebensmittel und sonstige Gebrauchsartikel erhalten, so sind sie doch gezwungen, immer wieder mit Geld zu wirtschaften: Der Unterschied zwischen jetzt und früher ist dann nur der, daß, wie man früher bestrebt war, einen Rubel Lohn zu bekommen, so will man heute 1000 haben. Man rechnet mit größeren Summen. Der Geist des Kapitalismus besteht darin, daß jeder nur an sich selbst denkt, und sich dabei um das Wohl und Wehe der Mitmenschen nicht kümmert. Ich muß allerdings gestehen, daß ich von dem Verschwinden dieses Geistes und von dem Platzgreifen seines Gegenteiles, dem Geist der gegenseitigen Hilfe und des Sozialismus in Rußland nicht viel mehr bemerkt habe, wie in Westeuropa. Im Gegenteil, man muß konstatieren, daß die Menschen im allgemeinen in Rußland viel gieriger sind als beispielsweise in Schweden. Dies müssen wir aber auf den langen Krieg, der die Menschen demoralisiert, sowie auf das wirtschaftliche Elend zurückführen. Armut bringt Verbrechen und Laster, Reichtum aber gleicht dies aus.

Die Entwertung des Geldes und vor allem auch in Gemeinschaft hiermit der Mangel an Waren hat doch das eine mit sich gebracht, daß die Arbeiter und noch mehr die Bauern am liebsten Produkte gegen Produkte tauschen; denn sie wissen, wenn sie auch Geld haben, so können sie doch das, was sie brauchen, nicht bekommen, weil es dies eben nicht im Lande gibt. Daher kommt es, daß sie ein Huhn gegen ein Glas Salz eintauschen und ähnliches mehr. Diesen direkten Tausch von Waren müssen wir aber, wie bereits erwähnt, nicht sowohl der Entwertung des Geldes, sondern dem Mangel an Produkten zuschreiben.

In letzter Zeit geht die Politik der Sowjetregierung immer mehr dahin, den Lohn in Geld durch den Lohn in Natura zu ersetzen. Dies käme einer Abschaffung des Geldes gleich, wenn es restlos durchgeführt werden würde. Vorläufig ist es aber noch nicht so weit. Es ist möglich, daß man noch dahin kommt, insbesondere dann, wenn auch in anderen Ländern eine ähnliche Bewegung einsetzt. Wenn aber der Kapitalismus in West- und Mitteleuropa am Leben bleibt, dann ist diese Hoffnung sehr gering. Denn gerade die Konzessionspolitik, die Rußland jetzt verfolgt, wird das Geldsystem in Sowjetrußland wieder neu beleben. Der ausländische Kapitalismus, der englische und amerikanische, der stärker ist, als der russische war, wird an die Stelle des letzteren treten. Uebrig bleibt dann von allen Resultaten nur die Arbeitergesetzgebung über Versicherungen und die Arbeiterfürsorge.

Die Sowjets (Räte).

Die Idee der Räte ist nicht neu. Sie taucht immer da auf, wo die Menschen, die arbeitenden Massen selbst unmittelbar daran gehen, ihr Leben ganz selbständig unter Ausschaltung von unnötigen Zwischenpersonen zu organisieren. Die Zeiten, in welchen die Arbeiter am meisten in eine solche Lage kommen, sind die der Auflösung der alten Autoritäten, der Revolution. In der großen französischen Revolution haben sich die Pariser in ihren Sektionen die Organe gewählt, die man heutzutage Räte oder Sowjets nennen würde.

Aber abgesehen davon, daß die Räteidee in Revolutionszeiten immer auftauchte, standen in der sozialistischen Bewegung die antiautoritären Sozialisten, Anarchisten und Syndikalisten der Räteidee am nächsten. Daß dies wirklich so ist, könnte nur einem Unwissenden einfallen, zu leugnen. Dies geht aus der antiautoritären Weltanschauung genannter Lehren hervor. Die Anarchisten haben stets die Formel verkündet: Bauer, dir gehört das Land, Fabrikarbeiter, dir die Fabrik, Grubenarbeiter, dir die Grube. Die Syndikalisten stellten als ihr Ziel auf nicht die Eroberung der politischen Macht, — dazu braucht man keine Räte — sondern die Eroberung der wirtschaftlichen Macht, des Landes, der Fabriken, der Gruben, der Verkehrsmittel usw. durch die Arbeiter, die dort beschäftigt sind. Um aber dies durchzuführen, müssen die Arbeiter und Bauern all diese Betriebe verwalten. Dies können aber natürlich nicht alle auf einmal tun, sie müssen zu diesem Zweck Vertrauensleute in den Fabriken, auf dem Gutshofe, in der Grube und so weiter wählen. Da haben wir aber schon die Räteidee: die Arbeiter in den Fabriken wählen Fabrikräte, auf dem Lande Bauernräte, zur Ordnung der Angelegenheiten in der Gemeinde Gemeinderäte. So sehen wir in der Tat, daß die sozialistische Arbeiterbewegung, die von jeher auf die parlamentarische Vertretung Verzicht leistete und zur Verwirklichung des Sozialismus und kommunistischen Anarchismus den direkten Weg durch die Arbeiter selbst einschlug, die berufenste, ja, man kann getrost sagen, die einzige Trägerin der Räteidee war. Wenn in den jetzigen revolutionären Zeiten auch andere als die Anarchisten und Syndikalisten für den direkten Weg, die direkte Aktion sind, z.B. Bolschewiki und Kommunisten, dann können sie natürlich, in demselben Maße als sie an dem direkten Wege festhalten, ebenfalls als Repräsentanten der Räteidee auftreten. Es ist aber notwendig, daß man den „Novembersozialisten" die zum größten Teil vor dem Kriege und während des Krieges Sozialpatrioten waren, und sich jetzt als die „alleinigen Vertreter des Rätesystems" aufspielen, diese Priorität der Anarchisten und Syndikalisten vorhält, um ihre Einbildung ein wenig einzudämmen. Es haben wirklich die spanischen Anarchisten schon vor Jahrzehnten die Räteidee propagiert, sodaß man auch auf faktische Beispiele hinweisen kann.

Es hat sich also gezeigt, daß die Räteidee nicht ein neu erfundenes Patent der russischen Bolschewiki ist, sondern daß die Räteidee in der russischen Revolution auftauchte und von allen Revolutionären, nicht nur von den Bolschewiki, sondern auch von den Linken Sozialisten-Revolutionären, von den Anarchisten, von den Syndikalisten, von den Maximalisten vertreten wurde. Als die Oktoberrevolution ausbrach und die Arbeiter ihre Räte (auf russisch Sowjets) wählten, da wurden im Kronstädter Sowjet 105 Maximalisten, 95 Bolschewiki, 76 Sozialrevolutionäre, 12 Anarchisten gewählt. Die letzteren hatten aber nach Angaben des Führers der Maximalisten einen großen Einfluß. Dies war in den meisten Städten so, daß die Arbeiter und Bauern Räte wählten, und die Bolschewiki waren keineswegs immer in der Majorität.

Ursprünglich also war die Rätebildung ganz spontan. Später wurde aus dieser plötzlichen Bewegung ein System geschaffen, das dann in der Verfassung verankert wurde. Nun bedeutete in Deutschland die Verankerung des Rätesystems in der Verfassung die Vernichtung der freien Räte. In Deutschland wurde aber die bürgerliche Verfassung mit Parlament und Reichstag beibehalten. In Rußland haben die revolutionären Arbeiter — nicht die Bolschewiki allein, sondern alle revolutionären Arbeiter — die Kraft gehabt, die Konstituierende Versammlung, bei uns Nationalversammlung genannt, aufzulösen und das Rätesystem nicht nur als eine Zutat in den Korb der bürgerlichen parlamentarischen Verfassung gelegt, sondern es als die alleinige Grundlage zum Aufbau des gesamten neuen Staatswesens gemacht. Die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Räterepublik ist, wie schon der Name sagt, eine ausschließliche Räteverfassung. Die Beschlüsse zur Räteverfassung wurden am 10. Juli 1918 von einer gesamtrussischen Rätetagung gefaßt.

Die russische Räteverfassung ist so aufgebaut, daß in den Städten die Arbeiter nach ihren Fabriken oder Büros oder Werkstätten einen städtischen Sowjet wählen. Der Moskauer Sowjet hat 400 Mitglieder, der Vorsitzende ist Kamenieff. Auf dem Lande werden Gouvernementssowjets gewählt. Diese Gouvernementssowjets treten alle halben Jahre zu einem Kongreß zusammen. Im Samaragouvernement sind 3½ Millionen Wähler, die durch 300 Delegierte auf dem Kongreß vertreten werden. „Der Gesamtrussische Rätekongreß besteht aus den Vertretern der städtischen Räte, die auf je 25 000 Wähler einen Abgeordneten entsenden, und aus denen der Gouvernements, Rätetagungen, die auf je 125 000 Einwohner einen Abgeordneten entsenden". So heißt es im dritten Teil der Verfassung der russischen Republik, Artikel 25. Dieser Allrussische Rätekongreß wird vom Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee mindestens zweimal im Jahre einberufen. Das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee wird vom Allrussischen Rätekongreß gewählt und besteht aus höchstens 200 Mitgliedern. Dieses Exekutivkomitee ist die höchste Behörde außer dem Kongreß. Es bildet den Rat der Volkskommissare, die den Ministern in den kapitalistischen Staaten zu vergleichen sind. Es gibt 18 verschiedene Volkskommissariate.

Ueber die Funktionen der einzelnen Kommissariate habe ich bereits hier berichtet. Wer sich aber noch eingehender darüber orientieren will, der findet dies in der Flut bolschewistischer Propagandaliteratur, die in ganz Europa in allen Sprachen zu haben ist.

Wichtiger erscheint mir, hier darauf hinzuweisen, was ich in Rußland über die Funktionen der jetzigen Sowjets erfahren habe, was man aber in der erwähnten Bolschewikiliteratur nicht erfährt. Da ist zunächst auf den Umstand aufmerksam zu machen, daß die Räte durch die sogenannte Räteverfassung in ihrer Unabhängigkeit und Freiheit viel eingebüßt haben. Die Räte wurden mit dem Staate vermischt. Die Räte sind eine revolutionäre Institution, der Staat aber ist und bleibt, trotz der schönsten Deklamationen der Bolschewiki von dem proletarischen Staate, eine reaktionäre Institution. Es kann daher nicht überraschend sein, daß das ursprüngliche Rätesystem ebenfalls in demselben Maße wie es mit dem Staate vermischt, auch reaktionär wurde. Das wird schon aus den Wahlen erkenntlich. Die Bolschewiki mögen noch so hoch beteuern, daß die Arbeiter hauptsächlich sie wählen, und der Verlauf der Revolution zeige, daß die Arbeiter sich immer mehr den Bolschewiki zuwenden, was aus den Wahlen ersichtlich sei, da die Majorität in allen Sowjets aus Bolschewiki besteht. Dies ändert doch nichts an der Tatsache, daß die Bolschewiki deshalb überall in der Majorität sind, weil sie sich die Majorität selbst machen.

Ohne mich auch nur einen Augenblick durch das Zetergeschrei der Bolschewiki, die jeden, der dies behauptet, zu einem Konterrevolutionär stempelt, einschüchtern zu lassen, muß ich nur einige Beispiele anführen. Die Arbeiter in einer Moskauer Munitionsfabrik, deren Namen ich vergaß, wählten als ihren Vertreter in den Moskauer Sowjet den Anarchisten Gordin. Dies war in den ersten Monaten des Jahres 1920. Gordins Wahl wurde von den Bolschewiki nicht anerkannt und für diese Fabrik neue Wahlen ausgeschrieben. Er wurde wieder gewählt. Da seine Wähler, sowie er selbst, auf der Wahl bestanden, wurde er arrestiert und war zwei Monate im Gefängnis als „Demagoge". Diese Bezeichnungen hat man schnell bei der Hand. Die Arbeiter dieser Fabrik aber hatten keinen andern Rat gewählt und blieben während dieser Legislaturperiode ohne Vertretung im Moskauer Sowjet. Außer diesem gibt es viele, viele Fälle der Ungültigkeitserklärung der Wahlen durch die herrschende Partei. Da dies aber so alltäglich ist, regen sich die Leute garnicht mehr darüber auf. Als mir Gordin seinen Fall im Beisein vieler Zeugen erzählte, lachte er darüber, als ich die Sache unerhört fand. In Samara gibt es eine Munitionsfabrik, die beim Ausbruch der Revolution 23 000 Arbeiter beschäftigte. All diese wählten ihre Räte in den Samaraer Sowjet. Als ich die Fabrik am 31. Mai 1920 besuchte, arbeiteten nur 1 600 Arbeiter dort. Ein Jahr vorher aber hatten die Bolschewiki das Exekutivkomitee der Arbeiter- und Bauernräte des Gouvernements Samara auseinandergetrieben, weil sie nicht die Majorität drin hatten. Die anderen Parteien aber wollten in diesem Augenblicke nichts unternehmen, weil gerade die reichen Bauern einen konterrevolutionären Versuch unternahmen, und so ging die Auseinandertreibung des Exekutivkomitees des Sowjets glatt von statten. In demselben Jahre aber arbeiteten in der Munitionsfabrik nur etwas über 1000 Arbeiter, weil gerade die Tschechoslowaken Kasan eingenommen hatten und in der Nähe Samaras waren. Die Bolschewiki aber ließen den städtischen Sowjet, der gewählt wurde, als 23 000 Arbeiter in der Fabrik arbeiteten, weil sie da eine Majorität hatten, nicht umwählen; durch diese Ungesetzlichkeit hielten sie das ganze Gouvernement in Schach; und doch war es eine Repräsentation, die gar nicht den Tatsachen entsprach.

Aber auch abgesehen von all diesen Fällen, die sich mit den hier angeführten bei weitem nicht erschöpfen, haben die Bolschewiki es durch andere Mittel in der Hand, sich eine Majorität im Sowjet zu sichern. Die Bolschewiki sind die herrschende Staatspartei; das Papier ist verstaatlicht, die Druckereien, die Häuser, kurzum alles gehört dem Staate und ist dadurch in den Händen der Partei der Bolschewiki. Dadurch ist nur diese Partei in der Lage, Wahlagitation zu machen, was Wunder, wenn sie dadurch die meisten Stimmen und die meisten Sitze bekommt. Und doch kommt es trotz alledem vor, daß die Menschewiki oder die Linken Sozialrevolutionäre bedeutende Stimmenzahlen erhalten.

Aus all diesem geht hervor, daß in der russischen Räterepublik die Räte nur in sehr geringem Maße der Ausdruck des freien Willens der Arbeiter und Bauern sind. Ein eigentümliches Licht auf die Regierungsräte in Rußland wirft auch eine Resolution der russisch-ukrainischen Anarchisten des „Nabat", die auf ihrem letzten Kongreß, gehalten in Charkow vom 3. bis 8. September, angenommen' wurde. Es heißt da unter anderem über das Verhältnis zur Sowjetmacht:

„Wir haben im Anfang der Sowjetmacht ein großes Vertrauen entgegengebracht. Nachdem aber die aus der Revolution geborene Sowjetmacht in der Zeit von drei Jahren zu einer mächtigen Staatsmaschine geworden, hat sie die Revolution erwürgt. Sie entwickelte sich zu einer Diktatur des Proletariats über die Bourgeoisie, ersetzte die Bourgeoisie durch die Diktatur einer Partei und einer geringen Masse des Proletariats über das gesamte Proletariat, über das gesamte arbeitende Volk, indem diese Diktatur den Willen der breiten arbeitenden Massen erdrosselt; dadurch ging die Revolution der schöpferischen Kräfte verlustig, durch die allein es möglich war, die verschiedenen Aufgaben der Revolution zu lösen. Die Sowjetmacht ist daher für die Arbeiter aller Länder eine Lehre und eine Warnung. Die Konferenz schlägt den Genossen vor, die Verwaltungen und Räte, die der Regierung unterstellt sind, zu boykottieren, dafür aber alle Kräfte der Propaganda den unteren Schichten der Arbeiter zu widmen. Wir müssen dort mit illegalen Gruppen anfangen und alle revolutionären Kräfte um uns sammeln."

Außerdem heißt es in dem Situationsbericht über Rußland :

„Zur selben Zeit, wo die Weltimperialisten sich krampfhaft an jede Möglichkeit klammern, Sowjetrußland als Herd und Ansteckung der Revolution zu erdrosseln, geht in Rußland selbst eine traurige Zersetzung der Revolution vor sich. Statt einer einheitlichen Arbeitermasse, die in Rußland in den Oktobertagen 1917 für die Eroberung des Brotes kämpfte, haben wir jetzt eine Teilung der Arbeitermassen in Herren und Knechte, in Regierende und Regierte, in Herrscher und Untertanen. Die Partei der sogenannten Kommunisten, die eine unumschränkte Macht besitzt, bildet die zentralistische Sowjetregierung mit all den Zentralkomitees, den Stadt-, Bezirk- und Gouvernementkomitees usw. Das Recht der Arbeiter und Bauern, sich freie Räte wählen zu dürfen, ist zur Fiktion geworden. Von dem Gemeinderat bis zum Allrussischen Kongreß der Sowjets, von dem Kongreß der Gewerkschaften bis zu den sogenannten freien parteilosen Bauernkonferenzen gibt es nichts Freies, sondern alles ist durch die Partei unterschoben. Man hat ein gigantisches System der Spionage errichtet. Unter der Vorspiegelung eines Kampfes mit der Konterrevolution hat die kommunistische Partei durch ihre „Partkom" (Parteikomitees, die überall gebildet werden) ihre Hand schwer auf die arbeitende Bevölkerung gelegt. Die Presse ist erdrosselt, es gibt keinen freien Meinungsaustausch, weder auf der Straße, noch im Hause, noch in den Versammlungen, noch bei der Arbeit. Auf der Straße spioniert die „Tscheka" (außerordentliche Kommission) im Hause das „Domkom", (Hauskomitee der kommunistischen Partei, wenn in einem Hause ein Parteikommunist wohnt) bei der Arbeit in der Fabrik das „Fabkom" (Fabrikkomitee der kommunistischen Partei). Weit, weit ab von den unteren Schichten der Arbeiter hat sich im „Sownarkom" (Rat der Volkskommissare) eine starke Regierung gebildet, die sich auf eine starke Armee stützt. Die Regierung hat sich in einen Körper verwandelt, dessen Interessen denen der Revolution entgegengesetzt sind."

Diese Darlegungen bieten, wo sie die Situation schildern, äußerst wertvolles Material über den gegenwärtigen Charakter der Sowjets.

Wir müssen also aus all diesem den Schluß ziehen, daß die Räte und die Räteregierung nicht eine und dieselbe Sache sind, sondern zwei verschiedene Sachen, von welchen die erstere der Ausdruck des revolutionären Volkes, die zweite die festgefrorenen Formen einer zur Macht gekommenen Clique ist. Als freiheitsliebender Revolutionär kann man wohl die ersteren akzeptieren, muß aber die letztere höchst kritisch betrachten. Es ist daher, in Anbetracht des Umstandes, daß die Bolschewiki und Kommunisten immer nur die eine Seite der Sowjetmacht hervorheben, auch einmal am Platze, für die Syndikalisten die andre Seite hervorzukehren, damit die Arbeiter in den schicksalschweren Stunden, die hier in Deutschland noch vor uns stehen, daraus eine Lehre ziehen können und mit Argusaugen ihre eigene Freiheit und ihre gewählten Räte bewachen. Wenn die revolutionären Arbeiter Deutschlands zu den Räten und dem Rätesystem Ja sagen, so würde es dennoch bedeuten, den Bock zum Gärtner zu machen, wenn sie in einer Räteregierung den Weg zur Verwirklichung ihrer wirtschaftlichen und politischen Freiheit sehen würden. Hier ist, wohlgemerkt nur von den revolutionären und fortschrittlichen Arbeitern und Angestellten die Rede, nicht aber von der Bourgeoisie. Fabrikräte zur Leitung der Fabriken, Bauern- und Landarbeiterräte zur Leitung der landwirtschaftlichen Betriebe, Gemeinderäte zum Ordnen der Angelegenheiten in der Gemeinde, schließlich Föderationen der Gewerke und Gewerkschaften, sowie Industrieverbände, dann aber auch Föderationen der Gemeinderäte oder Arbeiterbörsen, das sind die Organisationen der Revolution, die aber niemals in einem Staate münden dürfen, denn nur unter Abwesenheit des Staates ist die Freiheit gewährleistet, trotz aller gut oder schlecht gemeinten Versicherungen der Bolschewiki von der Notwendigkeit der Staats- und Proletariatsdiktatur.

Die Rote Armee.

Die Kommunistische Partei Rußlands hatte in der Roten Armee eine mächtige Waffe zur Erhaltung ihrer Macht. Und dies ist noch so bis auf den heutigen Tag. Daß die Schaffung einer solchen Armee aus den Trümmern der zaristischen Armee nach dem alles zerstörenden Weltkriege eine hervorragende Leistung war, soll hier nicht verkannt werden. Ob nun diese Armee einer Armee des preußischen oder französischen Militarismus standhalten könne, soll eine offene Frage bleiben.

Was uns hier viel wichtiger erscheint, ist der Charakter der Roten Armee. Die Rote Armee ist eine Armee wie jede andere. Sie kann nur bestehen und Erfolg haben bei Einhaltung der striktesten Kriegs- und Militärmoral: Disziplin, Gehorsam. Daß aber gerade diese Eigenschaften der Entwicklung des Menschen zum Sozialisten und Kommunisten besonderlich dienlich sind, kann niemand — wenn er ehrlich sein will — auch nur im entferntesten behaupten. Zur Aufrechterhaltung und zur Leistungsfähigkeit der Armee sind diese Sklaveneigenschaften von unschätzbarem Werte, da sie integrierender Bestandteil einer Armee sind. Es läßt sich deshalb, ohne viel Umschweife zu gebrauchen, der Satz aufstellen, daß der Militarismus der Todfeind der Freiheit des Einzelnen und somit auch der größte Feind der sozialistischen Entwicklung ist. Es gilt nicht nur der Satz: Solange wir eine Armee haben, wird es Kriege geben, sondern auch der Satz: Solange es eine Armee gibt, kann die sozialistische Entwicklung nicht gedeihen.

Von diesen idealistischen Erwägungen aus muß der wahrhafte Sozialist und Freiheitskämpfer auch Antimilitarist sein; von historischen Erwägungen aus aber wird man dazu eine andere Stellung einnehmen und die Rote Armee für notwendig halten. Wenn Trotzki vom historischen Standpunkt als Marxist die Notwendigkeit der Roten Armee durch „Beweise" und Argumente darzulegen sucht, so ist es dem Vertreter des entgegengesetzten Standpunktes, wenn er nur die Fähigkeiten und das Geschick hierzu hat, selbstverständlich leicht, ebenso viel oder unter Umständen noch mehr Beweise für seinen Standpunkt anzuführen. All dies wäre aber eine theoretische, spekulative Diskussion, wie denn auch Trotzkis Buch „Antikautsky" diesen theoretischen spekulativen Charakter nicht verkennen läßt.

Statt all dieser Diskussionen möchte ich hier darauf hinweisen, daß in Rußland selbst nicht alle Revolutionäre auf dem Standpunkt Trotzkis stehen. Bei der Frage der Verteidigung der Revolution nehmen die Bolschewiki den Standpunkt ein, daß ohne die Rote Armee die Revolution von der Konterrevolution niedergeschlagen worden wäre, daß deshalb die Rote Armee als Retter der Revolution und einer der ersten revolutionären Faktoren sei. Wäre die Rote Armee nicht, dann würde heute irgendein reaktionärer General oder ein neuer Zar in Rußland herrschen, das ist kurz gesagt der Standpunkt der Bolschewiki.

Die Maximalisten, die Syndikalisten zu einem großen Teil, die Anarchisten und ein Teil der Linken Sozialisten-Revolutionäre nehmen einen entgegengesetzten Standpunkt ein. Sie stellen dieser Behauptung die andere entgegen, nämlich, daß es nicht die Rote Armee gewesen sei, die die Revolution gerettet und die Konterrevolution niedergeschlagen hat, sondern die revolutionären Arbeiter und Bauern haben auch ohne die Rote Armee dieses Verteidigungswerk der Revolution getan.

Als Beispiele führen sie an: Als der General Korniloff gegen Petrograd marschierte, war es nicht die Rote Armee, von der er besiegt wurde; damals gab es noch gar keine Rote Armee. Es waren andere Teile derselben Zarenarmee, die auch er mit sich hatte, die gegen ihn kämpften und sich als stärker erwiesen. Für die Arbeiter und Bauern, die in der alten Zarenarmee aber gegen Korniloff kämpften, war Korniloff ein Konterrevolutionär, der sie zur Fortführung des Krieges zwingen wollte. Es galt daher, Korniloff zu bekämpfen, wenn Frieden kommen sollte. Dies spricht aber nicht für die Rote Armee, die damals noch nicht bestand, dies spricht für den Freiheitsdrang des Volkes.

Nach der Ansicht der genannten Strömungen machen die Bolschewiki den bewußten Fehler, daß sie die Rote Armee der bewaffneten Erhebung des Volkes gleichsetzen.

Des weiteren weisen die Anarchisten und ihnen verwandten Strömungen darauf hin, daß nicht die Rote Armee die Deutschen und Oesterreicher aus der Ukraine herausgetrieben hat, sondern die Bauern selbst, die Partisanen, die Aufrührer, die Insurgenten. In kleinen Partisanengruppen, im Guerillakrieg verjagten sie die Deutschen oder setzten ihnen unausgesetzt soviel zu, daß diese schließlich gezwungen waren, sich aus dem Lande zurückzuziehen.

Auch Denikin wurde nicht in erster Linie durch die Rote Armee, sondern von den Bauern selbst besiegt, die seine Herrschaft nicht dulden wollten und sich hauptsächlich unter ihrem Ataman Batko Machno gegen Denikin empörten. Wenn die Bauern für Denikin gewesen wären und nicht gegen ihn, dann wäre es der Roten Armee nimmer gelungen, Denikin zu besiegen. Dabei muß aber nicht vergessen werden, daß die Bauern keineswegs selbst die Rote Armee gründeten. Die Bauern gehen nur gezwungen in die Rote Armee, da die Zwangswehrpflicht für die Rote Armee noch weiter besteht, wie früher für die Zarenamee. Die Bauern organisierten vielmehr ihre eigenen Armeen, deren stärkste die von Machno war, um gegen die Reaktion zu kämpfen. Und so wie mit Denikin ging es auch mit Kaledin, Petljura und andren.

In bezug auf die Ukraine geben die Bolschewiki dies mehr oder weniger auch zu, weil sich nun einmal Tatsachen nicht leugnen lassen. Sie berufen sich aber darauf, daß Koltschak und die Tschecho-Slowaken von der Roten Armee besiegt worden sind. Hier erzählte mir nun der Kommandant der späteren Roten Armee gegen die Tschechoslowaken, ein Anarchist namens Gebenjeff, auch Alexa genannt, den Hergang der Sache. Als im Mai 1918 die Tschechoslowaken aus Sibirien vorzurücken begannen, bewaffneten sich die Arbeiter, Anarchisten, Linke Sozialisten-Revolutionäre, Bolschewiki, alle einig gegen die Tschechoslowaken. Sie wählten Gebenjeff zu ihrem Kommandanten, und dies war der Stoßtrupp der Roten gegen die Weißen. Nun nennen die Bolschewiki dies die „Rote Armee." Es muß aber darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese noch keineswegs die Eigenschaften hatte, die die Rote Armee kennzeichnen, nämlich Zwangsmobilisierung, einheitliches zentralistisches Kommando unter Trotzki, Subordination und blinde Disziplin. All dies war bei den bewaffneten Arbeitern und Bauern nicht vorhanden. Sie waren freiwillig zusammengekommen, um gegen die Reaktionäre zu kämpfen; und das ist der gravierendste Unterschied zwischen ihnen und der Roten Armee. Freilich habe ich später von den Bolschewisten diese Soldaten der Revolution als „Rote Armee" bezeichnen hören. Wenn man dies tut, dann kann man natürlich alles als Rote Armee bezeichnen, was nur im entferntesten den Charakter des Aufruhrs mit Waffen trägt. Dies würde aber bedeuten, die Begriffe aufs gröbste zu vermischen.

Im Kampfe gegen Koltschak war es nicht die Rote Armee, die das Verdienst seiner Vernichtung hat. Und hier muß ich mich den revolutionären Gruppen, die gegen die Rote Armee auftreten, anschließen, weil die Tatsachen, die mir von hohen Sowjetbeamten erzählt wurden, dafür sprechen. Der Bruder des verstorbenen Präsidenten der Russischen Räterepublik, Swerdlow, der nach Trotzki der zweite Mann im Kommissariat fürs gesamte Verkehrswesen ist, erzählte mir auf einer Reise auf der Wolga, die wir gemeinsam machten, daß, schon ehe die Rote Armee anrückte, die Bauern und Arbeiter überall gegen Koltschak Aufruhr machten und seine Armee in vielen Fällen besiegten. Die Rote Armee zog den 26. Dezember 1919 in Tomsk ein. Aber schon lange vorher hatten die Bauern sich gegen Koltschaks Herrschaft empört; ihnen schlossen sich viele Soldaten Koltschaks an, und die Stadt war lange, ehe die Rote Armee einrückte, im Besitze der Aufständischen. Schon so frühe wie im Sommer 1918 formierten die Bauern Partisanenbanden gegen die Tschechoslowaken und gegen Koltschak. Dies war in den Provinzen Atscheisk, Jenisseisk und im Alteigouvernement.

Die Ursache der großen Bauern- und Arbeiteierhebungen gegen Koltschak war Koltschaks reaktionäres Auftreten. Swerdlow, der die technische Seite der Expedition des Verkehrswesens der Roten Armee gegen Koltschak leitete, erzählte, daß unter den Truppen Koltschaks furchtbare Epidemien herrschten. Ueber 80 Prozent seiner Truppen waren an Typhus erkrankt. Die Epidemie griff auf das Volk über. Bei Nowo-Nikolajewsk fand man 10000 Leichen. Zwischen Omsk und Nikolajewsk fand man 15 000 Gräber mit Kreuzen. Alle waren Opfer des Typhus. Koltschak selbst lebte mitten in diesen Schrecknissen unbekümmert um das, was um ihn her vorging. Er hatte einen Sonderzug mit Musik und Weibern und lebte ein Schlemmerleben.

Seine Generale erschossen die revolutionären Arbeiter in den Fabriken, wo sie ihrer habhaft werden konnten. In Tomsk wurden alle Fabrikkomitees verhaftet. Jeder, von dem man annahm, er sei Bolschewik oder Revolutionär andrer Farbe, wurde einer spanischen Tortur unterzogen, zuletzt erschossen. Im Jahre 1919 sandte Koltschak einen Eisenbahnzug mit Leichen von Asien nach Europa.

Angesichts eines solchen Vorgehens ist es verständlich, daß die Bauern und Arbeiter sich gegen Koltschak erhoben und ihn bekämpften. Es waren also in erster Linie die sich gegen die Schreckensherrschaft empörenden Bauern und Arbeiter, die Koltschak vernichteten und nicht die Rote Armee. Alles, was nach den Berichten Swerdlows die Rote Armee zu tun hatte, war, die Bauern und Arbeiter, die mit revoltierenden Elementen der Koltschakarmee die Koltschakoffiziere schon besiegt hatten, abzulösen. Auch hier waren die föderalistisch zusammengekommenen Bauern- und Arbeiterbanden, die die größte Arbeit leisteten in der Bekämpfung der Reaktion und nicht die zentralistisch zusammengesetzte und. auf Zwangsmobilisation beruhende Rote Armee.

Auch die Befreiung Petrograds von den Armeen Judenitsch' ist mehr das Verdienst der Petrograder Arbeiter, die sich in der Stunde der Gefahr alle vereint gegen die bedrohende Armee wandten. Zum Kommandanten Petrograds wurde Bill Chartow, ein Russe-Amerikaner, ein I.W.W.-Mann und Anarchist, gewählt. In der Stunde der höchsten Gefahr haben die Arbeiter Judenitsch, der schon in den Straßen der Vorstädte von Petrograd stand, in die Flucht geschlagen.

An Hand all dieser Beispiele wenden sich alle revolutionären sozialistischen Strömungen in Rußland, die Gegner des Zentralismus sind und im Zentralismus ein reaktionäres Element sehen, gegen die Idee der Roten Armee. Sie erklären, daß die Rote Armee nicht ein revolutionärer, sondern ein konterrevolutionärer Faktor ist, weil dadurch mit dem System des Zentralismus der Untertanengehorsam und die Unfreiheit wieder aufs neue in die Reihen der Revolutionäre eingeführt wurde und die Freiheit erstickte. Sie sind aber durchaus nicht Gegner der bewaffneten Erhebung des Volkes; sie weisen darauf hin, daß sie stets in den ersten Reihen der revolutionären Kämpfer gestanden haben und heute noch stehen, und wenn die Bolschewiki die bewaffnete Erhebung des revolutionären Volkes der Roten Armee mit Zwangsmobilisation gleichsetzen, so erklären sie dies als eine bewußte Fälschung.

Die Niederlage, die die Rote Armee durch die Polen erlitt, gab zu ernsten Auseinandersetzungen in der kommunistischen Partei selbst über die Armee Anlaß. Bei Beginn des Krieges gegen Polen kam ich gerade nach Moskau, als die erste große Heerschau, eine Parade auf dem Theatralnaja-Platz stattfand. Am nächsten Tage, den 6. Mai 1920, erklärte mir Radek, wie groß die Bedeutung der Aufnahme des General Brussilow in die Rote Armee sei. Wenn Lord George dies lesen werde, sagte mir Radek, dann werde er sich, und mit ihm alle englischen Regierungspolitiker, sagen, die Bolschewiki können doch nicht so schlimm sein, wenn ein Mann wie Brussilow mit ihnen zusammen arbeitet. Ich war gleich vom Anfang an von der Aufnahme der alten reaktionären Generale und Offiziere in die Rote Armee nicht erbaut und sagte dies auch Radek. Ihm aber war es nur um die Effekthascherei zu tun. Man nahm also alle alten Offiziere in die Rote Armee auf. Damit kam der alte zaristische Geist, der Geist der schwärzesten Reaktion in die proletarische Armee, die für die Befreiung der Unterdrückten kämpfen sollte. Die Folgen dieser Politik zeigten sich bald. Die proletarische Einheit und Führung glitt immer mehr in die Hände der bürgerlichen und feudalen Elemente der alten Zarenoffiziere. Frühere Gutsbesitzer und Bürgerliche haben verantwortungsvolle Posten in der Roten Armee und nutzen dies aus, um ihren Einfluß geltend zu machen. Die Armee wurde dadurch mehr und mehr ein Instrument in den Händen dieser Elemente. Die Soldaten der Roten Armee haben schon lange aufgehört, Selbstverantwortlichkeit für die Siege und Niederlagen der Gesamtarmee zu fühlen, wie das der Fall ist beim Wegfall der Zwangsmobilisierung. Sie sind ein blindes, willenloses Werkzeug in den Händen der sie kommandierenden Generäle; sie erkennen den Kampf, den sie kämpfen, nicht mehr als ihren Kampf an. Die Kommunisten der Roten Armee sind die einzigen Freiwilligen, die noch mit Enthusiasmus kämpfen. Dem Uebel, daß die Rote Armee sich gezwungen sah, so viele alte Offiziere in ihre Reihen aufzunehmen, wollen die Bolschewiki dadurch abhelfen, daß sie Offiziersschulen für kommunistische Arbeiter, unter gewissen Bedingungen auch für Nichtkommunisten, dies kommt aber seltener vor, einrichten, in denen junge Kommunisten zu Offizieren ausgebildet werden. Unter diesen habe ich wahre Begeisterung gefunden; eine Begeisterung für den Roten Krieg und für den Sieg der Roten Armee, die der unserer früheren Kadettenschulen gleichkommt. Allerdings gibt es auch unter den alten Offizieren Umlerner, die zu ehrlichen, begeisterten Revolutionären wurden. Zu diesen gehört General Nikolajew, der in Jamburg von Judenitsch am Galgen erhängt wurde, weil er als bedeutender Führer mit großer Hingebung der Roten Armee diente. Im großen ganzen aber bestätigen diese Ausnahmen die Regel.

Selbst die Bolschewiki sehen jetzt die unhaltbare Situation in der Roten Armee ein und brachten dies auf ihrer Parteikonferenz in Moskau im Oktober 1920 zum Ausdruck. Sinowjew sagte da: „Genosse Trotzki erzählte uns nach seiner Rückkehr von der Front, daß er dort Hunderte von Genossen gesehen hat, die an den Fronten sich alles versagen, sich nicht sattessen, von der knappen Ration allein leben, wie Trotzki sagt, Haut und Knochen sind, und dabei unerhört schwer arbeiten, und somit die Ehre unserer Partei an der Front retten. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß daneben unter dem Militär eine andre Schicht zu finden ist. Eben eine ganze Schicht. Egal wie zahlreich diese Schicht ist, sie ist vorhanden. Die Leute fassen ihre Rechte und Pflichten anders auf; das sind Elemente, die der Partei ihren Kredit rauben, den sie sich durch schwere Opfer und durch schwere Arbeit der Zehntausende unserer ersten und mittleren Parteimitglieder erworben hat. Gewisse Kommunisten, die zur Front mobilisiert sind, arbeiten und leben dort so, daß sie mit Recht Klagen hervorrufen."

Nun könnte ich auch viele andere Beispiele anführen, die mir Leute, Kommunisten und Nichtkommunisten, die von der polnischen Front kamen, erzählten, aber ich lasse viel lieber nur den Genossen Sinowjew sprechen, weil er am allermindesten in den Verdacht kommen kann, schwärzer aufzutragen, als es ist. Jedenfalls haben die Verhältnisse die Niederlage an der Front gegen die Polen mitverschuldet. Hiermit sollen die ehrlichen Absichten der Kommunisten keineswegs bestritten werden, es soll vielmehr nur dargetan werden, daß die Rote Armee an und für sich kein sozialistischer Körper ist, wie Trotzki fälschlich sie bezeichnet, sondern daß es eine Armee wie jede andre Armee ist und auch nicht anders sein kann, denn sie kann den Charakter des Militarismus nicht verleugnen.

Alles dies erkennt auch die Bevölkerung an der Roten Armee. Nach außen zur Bekämpfung der kapitalistischen Reaktion mag diese Armee noch revolutionäre Wirkung haben, innerhalb des Landes aber kann sie dies nicht haben, und wie uns die Beispiele zeigen, hat sie dies auch nicht. Wie ich im Poltawagouvernement erfahren habe, wurde die Rote Armee, nachdem die Polen aus Poltawa und Kiew vertrieben waren, im ersten Augenblick freudig begrüßt. Diese Freude dauerte aber nicht lange. Die Bauern waren von den Polen aufs äußerste unterdrückt; sie empörten sich gegen die Polen, und als die Rote Armee kam, wurde sie als Befreier empfangen. Als aber der Krieg länger dauerte, war die Sowjetregierung gezwungen, von den Bauern das Korn zu nehmen, um die Armee versorgen zu können. Die Ukraine, die sie jetzt wieder in den Händen hatte und vor allem das Poltawagouvernement, das zu den reichsten Getreideländern der Erde gehört, war für die erschöpfte Regierung natürlich höchst willkommen und sie forderte von den Bauern das Getreide ab. Darum sind die Bauern jetzt gegen die Sowjetregierung ebenso eingenommen, wie früher gegen die Polen.

Dies ist allerdings eine Begleiterscheinung des Krieges; denn auch die Partisanenbanden sind gezwungen, wenn sie in eine Gegend verschlagen werden, die ihnen fremd ist, und die Bauern ihnen nicht das geben, was sie brauchen, es den Bauern abzunehmen. Freilich kommt dies bei den Partisanen seltener vor, denn sie sind nicht militaristische Idealisten, sie wollen nicht den Weltimperialismus bekämpfen wie die Rote Armee und begnügen sich damit, die Eindringlinge in ihr eignes Gebiet zu vertreiben. Aus diesem Grunde sind sie dort, wo sie kämpfen, niemals stockfremd und auch nicht gezwungen, ihren Bedarf mit Gewalt von den Bauern abzunehmen. Die Bauern, die zum großen Teil selbst dabei beteiligt sind, geben es meist freiwillig. So verhält es sich mit Machno.

Außer der Roten Armee gibt es aber noch andre militärische Verteidigungsorganisationen der russischen Arbeiter. In Moskau und Petrograd sind die Arbeiter durch ihre Zugehörigkeit zu den Gewerkschaften — und diese ist obligatorisch — auch obligatorisch zu Militärübungen verpflichtet Sie stellen eine Miliz dar, nach Bezirken organisiert und nach Fabriken geordnet. Da gibt es alle Arbeiterkategorien und Handwerker, auch Frauen und Mädchen, die in den Fabriken arbeiten. Diese Organisationen erweisen sich als sehr leistungsfähig, und diese waren es auch, die Judenitsch aus Petrograd vertrieben. Dies sind aber auch keine Organisationen, die nach dem Muster der alten Staatsarmeen geformt sind. Und wenn man an die Verwirklichung der Abschaffung des Staates gehen will, dann muß man vor allem die Organisationen, welche noch immer eine Stütze, ja die allergrößte Stütze des Staates gewesen sind, nämlich die zentralistische Armee abschaffen und auch schon jetzt und in der sogenannten Uebergangszeit durch die nach Distrikten oder Industrien geformten Arbeiterverteidigungsorganisationen ersetzen. Von den beiden von den Kommunisten organisierten Verteidigungsinstrumenten, der Roten Armee und den gewerkschaftlich organisierten Verteidigungsorganisationen sind die letzteren vorzuziehen, weil in ihnen das Staatsprinzip schon durch ein andres ersetzt ist. Es ist das fortschrittlichere, das auch der Abschaffung des Militarismus näher kommt. Die Arbeiter in den Fabriken sind keine Berufssoldaten und kein stehendes Heer, das „Arbeit" haben muß, um bestehen zu können. Nichtsdestoweniger ist es noch eine Miliz, die auch noch verschwinden muß, wenn der Sozialismus oder Kommunismus Wirklichkeit werden soll. Nur unter Abhandensein jeglichen Militarismus ist die Freiheit für den Einzelnen und für die gesamte Gesellschaft möglich.

Die Erziehung.

Das revolutionäre Volk hat auf dem Gebiete der Erziehung bisher noch nicht viel leisten können. Die wirtschaftliche und politische Lage ist viel zu dringend und wichtig gewesen, als daß die Arbeiter und Bauern viel Zeit gefunden hätten, der Erziehungsfrage besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich ist die Erziehung auch eine Sache, die nicht durch den Zusammenbruch eines alten Staates und durch die Errichtung eines neuen viel gefördert werden kann. Da muß langsame Kleinarbeit, emsige, liebevolle Hingabe das schaffen, was nicht durch die Sturmglocken der Revolution in das Volk gelangen kann. Nichtsdestoweniger haben einzelne und auch die Regierung der Bolschewiki alles getan, was in ihren Kräften stand, um das zerstörte Schulwesen wieder auf ganz neuer Grundlage aufzurichten.

An der Spitze des Kommissariats für Schulaufklärung steht der Kommissar Lunatscharsky, ein geistvoller, toleranter Mann. Nach einem Interview mit seinem nächsten Helfer und Gesprächen mit ihm selbst war während des Krieges der Apparat des gesamten Schulwesens zerstört worden. Während der Kerenskiperiode wurden wohl einige Projekte aufgeworfen, zu deren Ausführung man aber nicht mehr gekommen ist. Als die Bolschewiki an die Macht kamen, fanden sie, daß das alte System gänzlich unbrauchbar war. Es stellten sich aber äußerste Schwierigkeiten in den Weg. Viele alte Lehrer sabotierten sie. So gingen in Odessa 70 Professoren mit Denikin, im Ural 67 mit Koltschak, weil sie politische Gegner der Bolschewiki waren. Die Koltschakarmee tat alles, um die Aufklärung des Volkes zu hemmen; sie zerstörte die Schulen, verbrannte die Lehrbücher, vertrieb die Lehrer.

Die Kindergärten waren während der Periode des Zarismus in Privathänden. Als die Bolschewiki zur Macht kamen, verstaatlichten sie diese. Eine Mutter wird 3 Monate vor der Niederkunft vom Staate unterstützt. Das Kind kann in eine Kinderbewahrungsanstalt bis zum dritten Jahre gesandt werden. Vom dritten bis zum siebzehnten Jahre unterstehen die Kinder dem Kommissariat der Erziehung und bekommen von der Schule aus Verpflegung.

Man hat zur Zeit gegen 3620 Erziehungsheime nach Fröbelschem Muster für Kinder von 3-6 oder 7 Jahren. In diese Erziehungsanstalten werden hauptsächlich Kriegswaisen aufgenommen, wenn dann noch Platz ist, Proletarierkinder und erst zu allerletzt die Kinder der Bourgeoisie. In Moskau gibt es gegen 180 solcher Institute. In ganz Rußland sind bisher 204 917 Kinder in diese Institute aufgenommen worden.

Es gibt aber in den 43 Gouvernements, die hier in Betracht kommen, 7 Millionen schulpflichtige Kinder, so daß bisher nur herzlich wenig von der Schule erfaßt worden sind. An Lehrern gibt es 11 234. Es gibt darunter natürlich allerhand Lehrer. In neu errichteten Seminars werden die Lehrer ausgebildet. Junge Leute von 17 Jahren aufwärts werden in der Zeit von 6 Wochen bis zu drei Jahren ausgebildet.

Für besonders schwierige Kinder hat man besondere Kinderheime eingerichtet. Die Kinder werden auf ihre Anlagen untersucht, auch wird zu erforschen gesucht, ob das Kind verbrecherisch veranlagt geboren ist. Falls es schlechte Anlagen zeigt, kommt es in ein psychisches Untersuchungsamt. Auch gibt es noch Kinder in den Gefängnissen. Man versucht aber nach Möglichkeit, sie aus den Gefängnissen zu entfernen. Man rechnet Personen bis zum Alter von 17 jähren zu Kindern.

In den Volksschulen hatte zu Zarenzeiten ein Lehrer 40 Schüler zu unterrichten, jetzt ist man bestrebt, die Zahl auf 25 zu reduzieren, ist aber noch nicht weiter als bis höchstens auf 32 gekommen. Die Schulzeit war früher 2-4 Jahre, jetzt will man sie auf 4-9 Jahre erhöhen.

Vom 8. bis 12. Jahre sollen die Kinder in eine Mittelschule gehen, wo ihnen der Elementarunterricht beigebracht wird. Ueber die neue Lehrmethode wurde uns berichtet, daß man in den zaristischen Schulen niemals die Verbindung zwischen Geographie und Mathematik einerseits und Geschichte andrerseits gelehrt hat. Jetzt will man den Kindern einen solchen Unterricht geben, daß sie einen Gesamtüberblick über die ökonomische Struktur der Gesellschaft bekommen im Sinne des Marxismus. Man ist bestrebt, Anschauungsunterricht im großen Stile einzuführen. An der Hand von technischen Apparaten, z. B. Eines Feuerzeuges, soll den Kindern Mathematik, Chemie und Physik beigebracht werden.

In den 43 Gouvernements Sowjetrußlands gibt es gegen 3600 Volkselementarschulen mit 29 000 Lehrern und 470 000 Schülern. Es gibt aber im ganzen 6 801000 Kinder in schulpflichtigem Alter, so daß der größte Teil der Kinder nicht zur Schule geht. Dies hat in verschiedenen Ursachen seinen Grund. 1. Gibt es nicht genügend Schulen, 2. nicht genügend Lehrutensilien und 3. schicken viele Eltern ihre Kinder absichtlich nicht zur Schule, weil viele Schulen demoralisiert sind. Viele Kinder spekulieren und werden dann in Erziehungsanstalten gebracht.

Für Kinder, die sich technisch ausbilden wollen, ist der Unterricht von 12 bis 17 Jahren ein mehr gewerblicher. Wer begabt ist und sich weiter ausbilden will, kann in die Universität gehen. Sämtlicher Unterricht ist kostenlos. Die Studenten erhalten außerdem Lebensmittelration samt Logis und eine kleine Unterstützung in Geld vom Staate.

Außer diesen Schulen gibt es noch gewerbliche Fortbildungsschulen, die teils vom Kommissariat für Aufklärung, teils von den Gewerkschaften organisiert werden. Auch gibt es Kunstgewerbeschulen und einen Proletkult, wo junge Arbeiter ganz hervorragendes geleistet haben. Viele Privatvillen und Paläste wurden zu Kinderheimen eingerichtet. Auch auf dem Lande habe ich viele Gutshöfe besucht, wo jetzt Kinderheime sind. Die Kinder fühlen sich darin ganz glücklich. Nur ein Mangel ist bei all diesem zu bemerken, es gibt fast gar kein Material. Keine Bücher, keine Bleistifte, kein Schreibpapier. Der Krieg und die Blockade tragen hieran die Schuld. Ueberall, wohin man kommt, hört man das Klagelied über die Blockade. Bolschewiki und Menschewiki, Revolutionäre und Reaktionäre, alle klagen über die Blockade und wünschen sie aufgehoben. Mag sein, daß es außerhalb Rußlands russische Konterrevolutionäre gibt, die eine Fortsetzung der Blockade zur Bekämpfung der Bolschewiki wünschen; in Rußland selbst sind alle gegen die Blockade und sehnen mit größter Ungeduld ihre Aufhebung herbei.

Die Erziehung des Menschen zu einer freien Persönlichkeit ist eine der wichtigsten Aufgaben für die neue Gesellschaft. Der heranwachsende Mensch muß ausgerüstet werden mit den Errungenschaften der Wissenschaft, Technik, damit er die neue Gesellschaft frei aufbauen kann. Er muß aber auch ausgestattet sein mit den positiven Eigenschaften der sozialistischen Weltanschauung, es muß ihm gelehrt werden, daß das menschliche und sozialistische Ideal zu einem Stück praktischen Leben werden muß, und er das an seiner eigenen Person zu verwirklichen hat. Die Erziehung ist nicht nur ein Problem für die Jungen, sondern auch für die Alten.

Nach den Theorien der Bolschewiki soll die Diktatur die Periode sein, die die arbeitenden Menschen zum Sozialismus oder Kommunismus führen wird. Dies soll dadurch geschehen, daß die Bedingungen des wirtschaftlichen und politischen Lebens, unter denen die Menschen leben und die zweifellos auf das Denken und Handeln der Menschen einen großen — die Marxisten behaupten einen absoluten — Einfluß ausüben, andere Formen annehmen, wodurch dann auch die Menschen in ihren Handlungen und Willensäußerungen eine Veränderung erfahren werden, eine Veränderung zum besseren.

Der wesentlichste Unterschied zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung liegt darin, daß in dieser Reichtum und Armut, Herrschaft und Knechtschaft aufgehoben sind. In der Praxis bedeutet die Aufhebung des Reichtums und der Armut, daß nicht einige Menschen sehr gut, während andere sehr schlecht leben. Wir müssen aber sagen, daß in Rußland noch immer große Unterschiede in der Lebensweise der Menschen bestehen, und daß die Beherrschung der Menschen keineswegs aufgehoben ist. Nach allem zu urteilen kann man nicht behaupten, daß in Rußland die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen so wie sie in den letzten drei Jahren waren, einen besonders günstigen oder gar hervorragenden Einfluß auf die Erziehung der Menschen zum Sozialismus und Kommunismus ausübten. Es hat sich gezeigt, daß eine revolutionäre Regierung oder ein proletarisch-kommunistischer oder den Kommunismus erstrebender Staat nicht die neuen wirtschaftlichen und politischen Lebensformen der Freiheit und Gerechtigkeit schaffen kann, wenn die Menschen nicht daran gehen, es selbst zu tun, in jeder Gemeinde, in jeder Werkstatt; daß das Eingreifen des Staates, es mag noch so gut gemeint sein, immer als aufgedrängtes Diktat von außen erscheinen muß, wodurch die Menschen nicht ihrem Ideal näherkommen; daß jeder einzelne sich selbst dazu technisch und kulturell vorbereiten muß und daß diese sozialistische Erziehung nicht erst später, nach dem Sturz des kapitalistischen Staates, sondern schon jetzt und heute möglich ist, so wie die sozialistische Propaganda mehr oder weniger immer möglich war, entweder offen oder versteckt.

Diese Lehre — dies ist mein sehnlichster Wunsch — möge jeder, der dies Buch gelesen, daraus ziehen. Wenn wir die Welt vom Kapitalismus und Klassenherrschaft und Staat erlösen wollen, dann müssen wir daran denken, daß diese Welterlösung zum großen Teil auch Selbsterlösung ist im Sinne der Rückertschen Worte:

Zum Guten, Wahren, will vom Mangelhaften, Bösen

Die Welt erlöst sein; und du sollst sie mit erlösen!

Vom Bösen mache dich, vom Mangelhaften frei,

Zur Güte und Schöne, so der Welten trägst du bei.

Die Revolution in der Ukraine.

Ende 1919 setzten sich die Bolschewiki zum dritten Male in der Ukraine fest. Die Ukraine wurde wieder als Sowjetrepublik erklärt und, da die Ukrainer viel auf ihre Selbständigkeit hielten, als selbständige Sowjetrepublik der Sowjetrepublik in Zentralrußland angegliedert.

Ursprünglich wollte die Sowjetrepublik in Zentralrußland die Ländereien der Ukraine ihren Gebieten einordnen. Dies erwies sich aber infolge des starken Strebens nach Selbständigkeit unmöglich. Der Gegensatz zwischen Nord- und Südrußland oder der Ukraine ist alten Datums. Die Ukraine umfaßt ganz Südrußland. Die Ukraine hat ihre eigene Kultur, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sprache, ihre eigene nationale Entwicklung. Die russischen Zaren waren von jeher bestrebt, die Ukraine, die, so reich an Naturschätzen, das fruchtbarste Land Europas ist, unter ihre Botmäßigkeit zu stellen. Es gelang ihnen auch. Aber stets war die ukrainische Bevölkerung aufrührerisch gegen die Beherrschungstendenzen Großrußlands. Die Beherrschung durch Großrußland hatte den Haß und das Mißtrauen der ukrainischen Bauern den Großrussen gegenüber zur Folge. Es war daher natürlich, daß nach dem Ausbruch der Revolution dieser alte Antagonismus nicht verschwand, sondern die Bevölkerung sich auch der zentralrussischen Räte- oder Sowjetrepublik ablehnend gegenüber verhielt und ihre Selbständigkeit forderte: eine freie, vom übrigen Rußland unabhängige Republik. Diese Forderung mußten die Bolschewiki erfüllen, wenn sie nicht in andauerndem Krieg mit den Ukrainern leben wollten.

Aber auch die neue Sowjetrepublik war nicht aus den Reihen der Ukrainer selbst hervorgegangen, auch jetzt ist sie noch ein Fremdkörper für die Bauern und das ist einer der vielen Gründe, weshalb die Ukraine immer noch das Schmerzenskind der russischen zentralen Sowjetrepublik ist und noch lange bleiben wird.

Der Präsident der ukrainischen Sowjetrepublik ist kein Ukrainer und ist auch nicht von den Ukrainern gewählt. Er ist ein Rumäne, und er wurde von Lenin auf diesen Platz gestellt. Sein Name ist Rakowsky.

* * *

Die infolge des Krieges und der Revolution entstandene Situation in der Ukraine ist so verwickelt und wird in den nächsten Jahren auch noch so verwickelt sein, daß es notwendig ist, die Geschichte der Entwicklung seit Ausbruch des Krieges zu kennen, um die revolutionäre Situation verstehen zu lernen.

Der Krieg des russischen Zarismus war nicht die Sache des ukrainischen Bauern. Dieser war gegen den Krieg nicht nur, weil er seine Söhne in diesen Krieg senden, sondern auch deshalb, weil er die Lebensmittel für das Heer herbeischaffen mußte. Die Unzufriedenheit der Bauern nahm mit der Dauer des Krieges zu, und als die Revolution in Zentralrußland ausbrach, stand auch die Ukraine bald in Flammen. Da aber die Ukrainer gegen die neue Kerenskyregierung waren, gewannen die Bolschewisten bald die Oberhand, und Ende 1917 waren die Bolschewisten in der Ukraine an der Herrschaft. Es war aber noch ein anderer Grund, weshalb die Bolschewisten bei den ukrainischen Bauern ein offenes Ohr fanden. Dies war der Frieden zu Brest-Litowsk. Die Bauern wollten Frieden haben um jeden Preis. Die Bolschewisten, die diesen Frieden schlossen, wurden von den ukrainischen Bauern vor allen anderen Parteien vorgezogen.

Durch diesen Frieden bekamen aber die Deutschen und Oesterreicher in der Ukraine freies Spiel. Sie begannen ihre imperialistische Politik. Deutschland insbesondere, das durch die Blockade der Entente in eine furchtbare Lebensmittelkrise geraten war, sah in der Ukraine ihren Retter in der Not. Die Ukraine war das Land, das in Milch und Honig floß. In der Ukraine befanden sich doch die größten Zuckerfabriken und die größten Getreidefelder Europas. Diese Vorräte mußte der deutsche Militarismus seinen Heeren zuführen, die auf den Schlachtfeldern des Westens kämpften.

General Eichhorn wurde nach der Ukraine gesandt, und seine Heere besetzten Anfang 1918 das Land. Um aber vor dem Volke die Fremdherrschaft zu verbergen, setzte man Skoropadski als Hetmann über das Land ein. Der deutsche Militarismus begann in Funktion zu treten. Man wollte das Land vor dem „Bolschewismus und dem Verfall" retten. Durch den Einmarsch der deutschen und österreichischen Heere wurden die Bolschewisten aus der Ukraine verdrängt.

Eichhorn bekam von der obersten Heeresleitung den Befehl, Getreide, Zucker usw. nach Deutschland zu liefern. Die Bauern gaben anfänglich gegen Bezahlung auch viel her, da sie aber später für das Geld nichts kaufen konnten, infolge Mangels an Industrieprodukten, die Deutschen aber durch ihre Kriegsindustrie Wichtigeres zu tun hatten, als die Ukraine mit Waren zu versehen, so wollten die Bauern schließlich nichts abgeben. Es begann die Requisitionspolitik. Die Bauern weigerten sich noch immer. Man drohte ihnen mit Gewalt und wandte schließlich auch Gewalt an.

Hier begannen die Aufstände der Bauern gegen die fremden Okkupationsheere. Obzwar all dies offiziell unter dem Namen Skoropadski vor sich ging, war es doch klar, daß die Deutschen die Urheber waren. Skoropadskis Macht in der Ukraine stützte sich auf die deutschen Bajonette und Maschinengewehre. Es waren nicht ukrainische, sondern in der überwiegenden Mehrzahl deutsche und österreichische Soldaten, die die Bauern unterdrückten. Diese Soldaten waren es, die das Todesurteil an den Bauern vollstreckten, die sich gegen die Verordnungen des Kriegszustandes vergingen. Das Standrecht war über die ganze Ukraine verhängt, und das Erschießen und Erhängen gehörte zur Tagesordnung. Der Reisende, der heute die Ukraine besucht, hat Gelegenheit, Photographien zu sehen, wo die Bauern zu Hunderten an den Galgen hängen, vor welchen österreichische Offiziere und ukrainische oder russische Priester stehen.

Das Wüten der zentraleuropäischen Soldateska erreichte im Sommer 1918 seinen Höhepunkt. Aber damit auch die Erbitterung, ja die Verzweiflung der Bauern. Im ganzen wurden während der Herrschaft Eichhorn-Skoropadski gegen 80 000 Arbeiter und Bauern getötet.

Jetzt begannen die Bauern sich überall gegen ihre Peiniger zu erheben. Die Partei der linken Sozialrevolutionäre blieb ihren alten terroristischen Traditionen treu und eines ihrer Mitglieder tötete den General Eichhorn. Eichhorn war ein gutmütiger alter Herr, den man wohl als Person bemitleiden konnte, den aber als obersten Repräsentanten des verruchtesten Schreckensystems die gerechte Strafe traf. So wie es viel moralischer gewesen wäre zu Anfang des Weltkrieges einige hundert europäische Fürsten- und Diplomatenhäupter zu töten, wenn es dadurch möglich gewesen wäre, den Weltkrieg und damit millionenfaches Morden zu verhindern, so war es auch hier moralisch vollständig einwandfrei, Eichhorn in die ewigen Jagdgründe zu senden.

In der Tat war der Tod Eichhorns für die Bauern das Signal. Die durch den Krieg verrohten westeuropäischen Soldaten hatten das Morden im großen Stile gelernt, und die natürlich rohen Bauern, ohne den Schmelz der europäischen Kultur, setzten dies Handwerk in noch barbarischeren Formen fort. Sie begannen sich zu bewaffnen. Ueberall entstanden Banden und kleine Trupps, die, anfänglich primitiv mit Heugabeln und Dreschflegeln bewaffnet, Aufruhr machten und die Soldaten töteten, wo sie ihrer habhaft werden konnten.

Man wird leicht begreifen, daß die Moral dadurch furchtbar gelitten hat. Ein Menschenleben hatte überhaupt keinen Wert mehr. Man verhandelte nicht mehr mit seinem Feinde, man schlug ihn einfach tot. Es gelang schließlich auch den Bauern, sich moderne Schußwaffen anzuschaffen. Aber vorerst in äußerst kleinen Mengen. Ein revolutionärer Anarchist, der diese ganze Entwicklungsphase miterlebte, berichtet über die furchtbare Situation und über den verzweifelten Mut der Bauern:

„Die Bolschewisten hier in Moskau klagen über den unkommunistischen Geist der ukrainischen Bauern. Sie schließen diesen unkommunistischen Geist aus der Tatsache, daß die Bauern gegen die Sowjetrepublik revoltieren. Man nennt die Bauern Kulaken. Kulaken nennt man in Rußland die reicheren Bauern, die gegen die Abschaffung des Privateigentums sind, die sich gegen die Einführung des Kommunismus sträuben. Man sagt, die Bauern rotten sich zu Banden zusammen, bekämpfen und töten die Kommunisten. Die Leute, die so reden, haben nicht die leiseste Ahnung von den Ereignissen, die sich in der Ukraine abspielten, und auf die die gegenwärtige Situation zurückzuführen ist. Als die Bauern unter der Führung von Sozialrevolutionären, Anarchisten, Maximalisten, Bolschewisten usw. gegen die Unterdrückung Skoropadskis, der Deutschen und Oesterreicher, Kaledins usw. kämpften, da waren sie äußerst unzulänglich mit Waffen versehen. So war ich zum Beispiel bei einem Aufstande, wo fünfhundert Bauern nur 200 Gewehre hatten. Für jedes Gewehr waren 2 Patronen da. Der Feind war über tausend Mann stark. Die fünfhundert Bauern standen in einem Trupp, die zweihundert mit Gewehren bewaffneten in den vordersten Reihen. Der an Zahl weit überlegene Feind war aufs reichste mit den modernsten Waffen versehen. Er hatte Maschinengewehre und wir nichts. Alle wußten, daß die vordersten zuerst fallen werden, und daß dann die anderen drankommen werden. Und doch verließ keiner seinen Platz. Im Gegenteil, jeder wartete darauf, bis sein Vordermann gefallen war, damit er dann sein Gewehr nehmen könne."

Ein solch blinder Mut konnte nur aus der äußersten Verzweiflung geschöpft werden und aus dem tödlichen Haß, der durch die drakonischen Maßregeln der rücksichtslosesten Reaktion in den Herzen der Bauern heraufbeschworen wurde.

„Wer all dies miterlebt, wer die Niederschlachtung der Bauern und ihre desperaten Kämpfe gesehen hat, nur der kann die Seelenverfassung des ukrainischen Bauern verstehen, und der wird es auch begreiflich finden, daß die Bauern jetzt die Bolschewisten ebenfalls bekämpfen und die bolschewistischen Theorien, die für die Bauern fremd sind, verwerfen. Der wird aber auch niemals die Taktik der zentralrussischen Bolschewisten den ukrainischen Bauern gegenüber anerkennen können, die von absoluter Verständnislosigkeit des Lebens der Bauern zeugt; eine Verständnislosigkeit, die alle Bestrebungen der Bauern als konterrevolutionäre Erhebungen der Kulaken, die ihr Privateigentum verteidigen wollen, brandmarkt."

So schloß der Berichterstatter, ein Russe, der vor dem Kriege fünf Jahre in Amerika lebte, seine Erzählung. Der Name dieses Mannes ist Baron. Er ist gegenwärtig eines der tätigsten Mitglieder der anarchistischen Föderation der Ukraine, die sich „Nabat" nennt.

Diese Berichte setzen uns einigermaßen in die Lage, die Psyche des ukrainischen Bauern zu verstehen. Menschen, die eine Zeit in dieser Atmosphäre gelebt haben, fühlen sich wie in eine andre Welt versetzt, wenn sie in humanistischen Zeitungen spaltenlange Artikel über die Theorie der Gewalt und über die Anwendung der Gewalt lesen, wo die Gewalt als Problem behandelt wird. Für die Völker in Osteuropa, insbesondere in der Ukraine, ist die Gewalt gar kein Problem, sondern eine Tatsache, eine Selbstverständlichkeit, ein Lebensprinzip. Es mag zugegeben werden, daß sich dies erst im Laufe des Krieges und der Revolution dazu entwickelt hat, die Gewalt hätte aber niemals so eminente Verbreitung gefunden, wenn sie dem Leben der Menschen wesensfremd gewesen wäre. Nicht nur im Welt- oder Bürgerkriege, nicht nur in den Klassenkämpfen, nicht nur in der Periode der sozialen Revolution, sondern auch im gewöhnlichen Alltagsleben werden Feindschaften, ja sogar Meinungsdifferenzen bei primitiven Menschen am häufigsten durch das Faustrecht ausgetragen,. Wie kann man sich da wundern, daß unter solchen Verhältnissen, wie in der Ukraine, die Gewalt zum alleinherrschenden Prinzip, zum entscheidenden Moment geworden ist, das an die Stelle jedes Rechtes, jedes Vergleichs- und Verhandlungsweges getreten ist.

Aber nicht nur für die parteilosen Bauern, sondern auch für die politischen Parteien und Organisationen ist die Gewalt das wichtigste Mittel in ihrem Kampfe geworden. So stehen die Anarchisten und Maximalsten in der Ukraine täglich und stündlich vor der Alternative, entweder die Gewalt anzuwenden oder zu unterliegen in dem Kampfe gegen die konterrevolutionären Generäle, sowie gegen die Bolschewiki. Und man ging sogar so weit, daß man in anarchistischen Kreisen davon sprach, den Kampf gegen die Bolschewisten terroristisch zu führen, wenn die Verfolgungen nicht aufhören.

Machno.

In dieser Zeit, als die Bauern sich in allen Teilen der Ukraine gegen Skoropadski, gegen die Deutschen und Oesterreicher erhoben, zeichnete sich ein Mann unter allen Aufrührern aus. Dieser Mann wurde später teils berühmt, teils berüchtigt und ist auch heute noch eine harte Nuß für die Bolschewisten, an dem sie sich die Zähne immer und immer wieder stumpfbeißen. Dieser Mann ist Machno.

Der Grund, weshalb der Name Machno in der Ukraine eine solche Bedeutung bekam, liegt weniger in der hervorragenden Persönlichkeit Machnos, als in dem Geiste der ukrainischen Bauern, der in Machno personifiziert und symbolisiert wird.

Platon Machno ist in dem Dorfe Gulaipole im Gouvernement Alexandrows geboren. Er kam schon als junger Mensch in die sozialistische Bewegung. Er war Mitherausgeber an der Zeitung „Buro Wjestnik". Noch nicht 20 Jahre alt, erschoß er einen „Pristow", d.h. ein Mitglied der russischen zaristischen Geheimpolizei. Er wurde zum Tode verurteilt, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt und nach Sibirien verbannt. Die Revolution 1917 befreite ihn. Er war über zehn Jahre in der Verbannung. Durch die Leiden und Strapazen des Gefängnislebens wurde er schwindsüchtig. Er ist ein kleiner Mann, im höchsten Grade leidend und oft von Blutstürzen geplagt, die ihm beim Gehen oder beim Sprechen überwältigen. In seinen Lebensgewohnheiten und seiner Abstammung nach ist er ein Bauer. Er nennt sich Anarchist, ist aber mehr ukrainischer Bauer als theoretischer Anarchist. Und das ist es auch, was ihn mit den Bauern verbindet und ihn bei den Bauern so populär und beliebt gemacht hat.

Hat Machno mit den Bauern das ukrainische Bauerntum gemeinsam, so sie mit ihm den Anarchismus. Die ukrainische Bauernschaft ist mit dem Machnoschen Anarchismus durch die stärksten Fäden verknüpft. Ja, Machno ist eigentlich nichts anderes als der theoretische Ausdruck dieses Bauernanarchismus. Der Anarchismus der ukrainischen Bauern ist freilich nicht auf die Theorien eines Godwin, Proudhon oder Kropotkin zurückzuführen, sondern die Sache verhält sich so, daß gewisse Bestandteile der anarchistischen Theorien in den Tendenzen und Manifestationen der ukrainischen Bauern zum Ausdruck kommen.

Die anarchistischen Theorien enthalten negative und positive Bestandteile. Die negativen Bestandteile sind die Negierung des Staates, der Antimilitarismus, der Dezentraiismus. Die positiven Bestandteile sind die Verbindung der selbständigen freien Kommunen zu föderativen Einheiten, der Föderalismus, die Respektierung der freien Persönlichkeit bei den notwendigen Zusammenschlüssen auf dem wirtschaftlichen und politischen Gebiet.

Die Bestrebungen der ukrainischen Bauern decken sich mit den negativen Bestandteilen des Anarchismus. Die Bauern wollen keine Regierung anerkennen. Theoretisch ausgedrückt könnten wir sagen, sie verneinen den Staat. Sie bekämpfen die Funktionen des Staates: wollen nicht Soldaten werden, hassen und verabscheuen die Beamtenschaft und Bürokratie, wollen keine Steuern zahlen, kurzum, sie verhalten sich allen Funktionen des Staates ablehnend gegenüber. Auch sind sie Antimilitaristen dem Militarismus des Staates gegenüber, verteidigen aber ihre eigene Freiheit mit allen Mitteln. Wenn auch die negativen Bestandteile des Anarchismus in der ukrainischen Bauernbewegung am stärksten hervortreten, so ist diese Bewegung doch nicht nur negativ als Bewegung. Die Bauern sind wohl nicht theoretische, sondern mehr Gefühlsanarchisten. Auch haben sie bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt, daß sie imstande sind, ihre Angelegenheiten im Einklang mit ihren Freiheitstendenzen zu ordnen und sogar im Sinne des Kommunismus.

Fragen wir uns nun, woher diese verhältnismäßig starken anarchistischen Tendenzen unter der ukrainischen Bauernschaft kommen, so haben außer dem natürlichen Freiheitsbedürfnis auch hier die Verhältnisse der letzten Revolutions- und Kriegsjahre einen starken Einfluß ausgeübt. Wer wird es nicht verständlich finden, daß ein Volk alle Regierungen haßt, wenn es innerhalb sechs Jahren dreizehn verschiedene Regierungen gehabt hat, wie dies in einigen Gouvernements, wie Kiew, Poltawa, Berdiansk der Fall war. Diese Regierungen aber waren alle Kriegsregierungen und mußten sich dementsprechend von ihrer schlechtesten Seite zeigen. Sie requirierten von den Bauern das Getreide, die Pferde, kurz, die Bauern waren für die Regierungen nur Mittel zur Kriegsführung.

In bezug auf die Theorien des Anarchismus hat die revolutionäre Bewegung der Bauern nur Teile vom Anarchismus in sich. Aber diese Bewegung ist auch nicht identisch mit der anarchistischen Bewegung in der Ukraine. Obzwar die Bolschewisten die ganze Bauernbewegung, die unter Machno ihnen so viel Schwierigkeiten bereitet, bald als anarchistische, bald als gemeine Bandenbewegung bezeichnet, so identifizieren sich die Anarchisten keineswegs mit der Machnoschen Bauernbewegung. Und doch geht ein großer Teil der Anarchisten der Ukraine in die Bauernbewegung der Machnoschen, um dort für ihre Ideen zu wirken. Und weil sie aus den oben angeführten Gründen, aus dem verwandten Charakter dieser Bewegung mit ihren Ideen ein gutes Feld fanden und innerhalb dieser Kreise die größten Erfolge hatten, so wurde die ganze Machnobewegung von Außenstehenden als anarchistische Bewegung bezeichnet.

Als Machno aus der Gefangenschaft in Sibirien kam, blieb er zunächst in Moskau. Da die Gerüchte von den Bauernniedermetzelungen nach Moskau drangen, ging er nach der Ukraine, und zwar nach seiner Heimat Guali-Pole.

Die folgende Schilderung der Entwicklung der Machnobewegung stammt von Machnos intimsten Freunden, seinen Adjutanten und Kameraden, aber auch von Bolschewisten, die früher als Soldaten unter Machno kämpften, später aber in die Rote Armee eintraten und gegen Machno kämpften.

Machno organisierte die Bauern gegen die Deutschen und gegen die Skoropadski-Warta. Es waren zuerst in Gulai-Pole — das Dorf hat gegen 30 000 Einwohner — nur sieben Mann. Darunter Machno, Tschubenko, Gribelenko. Sie hatten einige Gewehre und nahmen in den ersten Tagen achtzig Skoropadskisoldaten gefangen. Sie eroberten Gewehre dazu, sammelten Geld zu einem Kampfesfonds und kauften für die ersten dreitausend Rubel ein Maschinengewehr, einige Bomben und einen Revolver.

Machno ist ein vorzüglicher feuriger Redner und verstand, die Bauern zum Kampfe zu begeistern. Durch seine Erfolge wurde er bald im ganzen Gouvernement und später in der ganzen Ukraine bekannt und unter den Bauern berühmt. Von allen Seiten strömten die Bauern ihm zu und wollten unter seiner Fahne, unter der „schwarzen Fahne des Anarchismus", kämpfen. Seine Kräfte wurden von Tag zu Tag stärker, und gegen Ende des Jahres 1918 hatte er eine Armee von 50 000, nach anderen Berichten 70 000 Mann.

Allen anderen Generälen und Abenteurern standen die Bauern skeptisch gegenüber. Nicht so Machno. Die Bauern liebten Machno und für ihn gaben sie freiwillig alles her, was die Deutschen und Skoropadski, sowie alle übrigen konterrevolutionären Generäle nicht bekommen konnten. So konnte Machno im Dezember 1918 dreißig Waggon Lebensmittel nach Moskau senden. Die Moskauer Zeitung der Bolschewisten „Iswestija" schrieb damals sehr lobend über Machno. Machnos Armee hielt eine Front von über 300 Kilometer.

Die Deutschen und Oesterreicher, sowie Storopadski wurden so durch die Bauern, hauptsächlich unter Machno, aus der Ukraine vertrieben. Es war also nicht die Rote Armee, die erst später entstand, sondern die Bauern selbst, die die Ukraine reinigten. Dies ist eine geschichtliche Feststellung von großer Bedeutung. Sie zeigt uns, daß wohlorganisierte, große moderne Armeen von Bauern und Bauerngenerälen, die gar keine militärische Ausbildung haben, besiegt wurden. Es wiederholte sich hier, was wir schon oft in der Geschichte sahen: die französischen Bauern schlugen nach der Revolution die Invasion der Preußen und Oesterreicher zurück; die mexikanischen Bauern (Peonen) kämpften unter dem ebenfalls anarchistischen Bauerngeneral Zapata im Guerillakrieg erfolgreich gegen die wohlorganisierten Heere des absolutistischen Präsidenten Diaz. Wir haben in Rußland noch mehr Beispiele für diese Erscheinung. Diese Erfahrungen der Geschichte aus der französischen, mexikanischen und jetzt auch russischen und ukrainischen Revolution dichten sich für uns zu einer Lehre zusammen, die uns für die Zukunft von großem Nutzen sein kann.

Durch die Vertreibung der Deutschen und Oesterreicher sowie Skoropadskis aus der Ukraine, war die Konterrevolution noch nicht erledigt. Nur für den Augenblick. Frankreich und England, sowie Rumänien, das dadurch direkt die Gefahr der Revolution auf dem Halse hatte, paßte die Sache nicht, daß in der Ukraine die Bauern, die Anarchisten und Bolschewisten herrschten. Das Ziel der Entente war und ist bis auf den heutigen Tag, Sowjetrußland und Sowjetukraine niederzuringen. Man provozierte und unterstützte die Konterrevolution. Man finanzierte die alten Zarengenerale Petljura, Kaledin, Grigorjew, Denikin, Wrangel und ermutigte sie zu reaktionären Vorstößen. Als Deutschland besiegt war, übernahmen Deutschlands Besieger die Rolle der Wachhunde der Reaktion, die früher Deutschland in Europa spielte. Deutschland erwürgte mit eiserner Faust die Revolution in Finnland durch General Goltz. Die Entente versuchte dasselbe in der Ukraine durch die alten Zarenoffiziere durchzuführen.

Aus Podolien und von der ostgalizischen Grenze kam Petljura, aus der Gegend des Dons kam Kaledin, später nahm Denikin von dem Donbecken Besitz. Außerdem scharte ein früherer Zarengeneral Grigorjew unzufriedene Bauern um sich, und es gelang auch ihm, unter dem Vorwand, er bringe den Bauern Freiheit, größere Mengen an sich zu ziehen.

Die Bolschewiki in Moskau sahen die Gefahr, die ihnen von der Ukraine her drohte. Es war klar, daß die Konterrevolution, die so mannigfach dort unten ihr Haupt erhob, sich nicht mit der Ukraine begnügen werde, sondern sich weiter auf Zentralrußland erstrecken würde. In der Tat kam Denikin später weit über die Ukraine hinaus. Er nahm Orel ein und stand vor Tula, dem letzten strategisch bedeutenden Punkt vor Moskau. Zwar war es das Bestreben der Sowjetregierung, in Zentralrußland alle anderen Mächte zu stürzen und eine einige Sowjetmacht der kommunistischen Partei zu etablieren. Dieser Politik stand die Bewegung der Bauern unter Machno im Wege. Man war wirtschaftlich von der Ukraine abhängig. Zentral- und Nordrußland brauchte das Getreide und den Zucker der Ukraine. Zentral- und Nordrußland ist industriell höher entwickelt als die Ukraine, war aber durch den Krieg und die Revolution so verarmt, daß man nicht imstande war, in bloß wirtschaftlicher Tauschgemeinschaft mit einer selbständigen Ukraine zu treten, man mußte sich politisch mit der Ukraine verschmelzen. Außerdem durfte man auch Machno nicht zu stark werden lassen, denn ebenso wie Denikin konnte die Machnobewegung auf Zentralrußland übergreifen, und diesem mußte man vorbeugen.

Die Stellung der Bolschewisten zu der Lage in der Ukraine war also sehr schwankend. Die Reaktion mußte geschlagen werden. Dies konnte man aber nicht tun ohne die ukrainischen Bauern und Arbeiter. Diese standen den Bolschewisten aber mißtrauisch gegenüber, obzwar sie mit ihnen in der Niederringung der Reaktion einig gingen. Die Bolschewisten brauchten die Bauern, suchten aber ihrer separatistischen Freiheitsbewegung Herr zu werden. Denikin konnte man offen mit der Roten Armee bekämpfen. Er war Reaktionär, und die Bauern und Arbeiter waren gegen ihn. Die Rote Armee war aber nicht stark genug, um Denikin niederzuschlagen. Dazu bedurfte man der Bauern und Machno. Anfänglich, Ende 1918 und Anfang 1919, war aber die reaktionäre Welle der Zarengenerale noch nicht so gefahrvoll und nicht so mächtig. Die Macht der Bauern war stärker. Man konnte sie aber nicht offen bekämpfen, ohne es ganz mit ihnen zu verderben, denn man brauchte sie erstens zur Herbeischaffung von Lebensmitteln und zweitens zur Hilfe der Roten Armee gegen die Konterrevolution.

Die Bauernarmee von 50 000 bis 70 000 Mann mußte in der Ukraine bleiben und möglichst in Untätigkeit gehalten werden. Dies konnte ziemlich schmerzlos durchgeführt werden. Der Mangel an Waffen und Munition, der schon im Anfang der Erhebungen so tragische Wirkungen zeitigte, machte sich auch jetzt wieder bemerkbar. Dies war auch eine der größten Schwächen der Bauernarmee. Dies wußten die Bolschewiki. Machno ersuchte die Sowjetregierung um Waffen und Munition. Er wandte sich an Debenko, den Oberstkommandanten der Roten Krimarmee. Debenko verzögerte die Munitionssendungen und gab ihm erst im Februar 1919 einen einzigen Waggon Patronen.

Machno berief zur Besprechung der Lage eine Konferenz der Bauern ein, die vom 14. bis 17. Februar in Machnos Geburtsort Gulai-Pole tagte. Dies war eine Konferenz der revoltierenden Bauern. Man nennt sie in der Ukraine Powstanzy. Powstanzy sind Partisaner, aufständige Bauern, die in bewaffneten Gruppen kämpfen. Die Anarchisten, linken Sozialrevolutionäre und Maximalisten verurteilten in einer Resolution das Verhalten der Bolschewisten. Die Bauern hatten aber noch Zutrauen zu den Bolschewisten und forderten die Streichung der gegen die Bolschewisten gerichteten Stellen der Resolution. Die Lage besserte sich aber nicht. Die Munitionslieferungen wurden kleiner und kleiner. Die Machnosche Heeresleitung berief eine zweite Konferenz in Gulai-Pole Ende März ein. Diese Konferenz wurde von den Bolschewisten aufgelöst.

Die Bolschewisten sandten jetzt den Anarchisten Roschtschin-Großmann, Professor der Philologie und Philosophie an der Moskauer Universität, zu Machno, um Machno zu bewegen, in die Rote Armee mit seiner gesamten Armee einzutreten. Machno sollte Oberbefehlshaber der Armee bleiben, aber dem Oberkommando der Roten Armee Trotzky unterstehen. Machno, der durch das Verhalten der Bolschewisten erbittert war, verweigerte dies mit der Begründung: Er wolle nicht unter denen arbeiten, die die Macht erobern wollten. An diesem seinen Entschluß konnte auch nichts ändern, daß die Bolschewisten einen Waggon Papier an Machno sandten.

Von da an begann der offene Krieg zwischen den Bolschewisten und den Machnoschen. Daß es zu einem offenen Bruch zwischen diesen beiden Mächten kommen mußte, lag im Wesen dieser beiden Armeen begründet. Es waren zwei feindliche Prinzipien, die sich hier gegenüber standen. Das Prinzip eines Heeres, das durch Zwangsmobilisierung gebildet wurde und selbstverständlich auf zentralistischem Boden stand; auf der andern Seite freiwillig zusammengelaufene Bauern, Partisanenbanden, die nur für den Augenblick durch die Stunde der Gefahr und durch die gemeinsamen Leiden zusammengehalten wurden. Bei den ersteren war eiserne Disziplin Selbstverständlichkeit, bei den letzteren gezwungene Disziplin Geschmacksache. Machno, als der Anführer aufständischer Bauern, konnte sich niemals dem Oberkommando einer obersten Heeresleitung unterordnen. Auch wenn er es persönlich gewollt hätte, dann hätte es doch das Wesen der Armee, über die er kommandierte, nicht zugelassen. Dies zu fordern zeugt von vollständiger Unkenntnis dieser Wesensunterschiede zwischen beiden Körperschaften. Die Rote Armee ist Militarismus, die Machnosche Armee sind aufständische Bauern, Militanten, keine Militärs. Es ist daher absolut falsch und ungerecht, Machno als einen Banditen und Verräter zu bezeichnen, wie die Bolschewisten es taten. Nur die Verteidiger des römischen Rechts können aufständische Bauern als Banditen bezeichnen, die Bolschewisten aber, die selbst Revolutionäre sind, haben dazu kein Recht.

Aber nicht nur prinzipiell, sondern auch taktisch konnte die Machnosche Bauernarmee nicht mit der Roten Armee zusammenarbeiten, wenigstens nicht auf die Dauer. Die Armee Machnos, die aus revoltierenden Bauern besteht, ist keine Armee im militaristischen Sinne des Wortes. Wenn die Feldarbeiten beginnen, dann gehen die Bauern zu ihren Feldarbeiten, beginnt die Ernte, dann gehen sie ernten. Die Armee Machnos ist also alles eher als stabil, ihre Stärke je nach den Umständen und nach der Zeit äußerst verschieden. Und auch die Kriegführung dieser Armee ist von der in den Kasernen gedrillten Roten Armee grundverschieden. Die aufständischen Bauern führten hauptsächlich einen Guerillakrieg. Wie erfolgreich der Guerillakrieg auch sein mag, so kann er doch niemals die Taktik einer zentralistisch organisierten militaristischen Landesarmee sein. Er ist und bleibt die Taktik von Aufständischen in einer Revolution, nicht mehr und nicht weniger.

Trotzdem also die Rote Armee Trotzkys und die Bauernarmee Machnos ihrem Wesen nach vollständig fremd gegenüber standen, so kämpften sie doch auf einer gemeinsamen Plattform und im Augenblick für ein gemeinsames Ziel. Es war daher verständlich, daß Trotzky sich diese bedeutenden Kräfte der Bauern zunutze machen wollte. Die Unmöglichkeit, ohne Machno mit Denikin fertig zu werden, machte Trotzky aber blind gegen die unüberbrückbare Kluft, die zwischen ihm und Machno bestand.

Gewiß befand sich Trotzky in einer äußerst schwierigen Situation. Die Rote Armee stand im Norden, Denikin im Süden und Machno befand sich mit seiner Armee in der Mitte zwischen beiden. Trotzky mußte Machno zwingen, sein Oberkommando anzuerkennen, um einheitliche Operationen leiten zu können, die der damals nicht allzu starken Roten Armee den Sieg hätte bringen können. Dies konnte nur mit Hilfe Machnos geschehen. Machno konnte aber aus obenangeführten Ursachen prinzipieller Natur die Suprematie Trotzkys unmöglich anerkennen. Dabei befand sich Machno selbst in einer sehr kritischen Lage, zwischen zwei Feuern. Munition hatte er nicht. Trotzky wollte ihm nur dann Munition geben, wenn er sämtliche Bedingungen der Roten Armee gänzlich erfüllte. Dies war Machno unmöglich. Da kam Trotzky auf die Idee, Machno zu vernichten.

Machno brauchte 5 Millionen Patronen. Er hatte damals gegen 50 000 Mann. Nach Riefkin, dem Führer der Maximalisten, sogar 70 000. Man sandte ihm nur eine halbe Million; und anstatt 5000 Karabiner nur 300. Man zog die Verhandlungen in die Länge und verlor dadurch drei bis vier Tage. Inzwischen rückte Denikin immer weiter vor. Machno hatte keine Munition und mußte sich unter ungeheuren Verlusten immer weiter zurückziehen. Durch den Druck war auch die Rote Armee gezwungen, zurückzugehen. Das Kriegskomitee Machnos wollte eine Konferenz der Bauern einberufen, damit sie zur Situation Stellung nehmen sollten. Schon die zweite Konferenz in Gulai-Pole wurde von den Bolschewisten aufgelöst. Nun darf man sich nicht vorstellen, daß dies einheitliche, abgeschlossene Fronten waren, sondern eine Front lief in die andere. So kam es, daß ein Teil der berittenen Boten, die den Bauern in den Dörfern die Konferenz bekannt geber sollten, auf dem Gebiete, auf dem die Rote Armee Fuß gefaßt hatte, aufgegriffen und verhaftet wurde. Die Konferenz wurde so vereitelt und sieben dieser Boten als Mitglieder des revolutionären Kriegskomitees Machnos in Charkow erschossen.

Trotzky war in Charkow und sprach am 29. April 1.919 in einer Versammlung gegen Machno. Er bezeichnete Machno als einen Banditen und Räuber, und sagte, daß es besser sei, wenn dir Weißen die Ukraine besetzten, als wenn sie in der Hand Machnos ist. Denn wenn die Weißen dort sind, dann werden die Bauern die Bolschewisten zurückrufen. Bleibt aber Machno an der Macht, dann behalten die Mittelbauern Oberhand.

Auf Grund dieser Theorien beschloß man die Front bei Josufka zu öffnen. An dieser Stelle stand nämlich die Rote Armee direkt Denikin gegenüber. Die Folge davon war, daß Denikins Armeen Machno im Rücken anfielen. Machno, ohne Munition, von der Front und im Rücken angegriffen, mußte sich zurückziehen, wurde gänzlich geschlagen und verlor den größten Teil seiner Armee. Mit einigen tausend Mann gelang es ihm zu fliehen. Er zog sich nach Südwesten an den Dnjepr zurück.

Hierdurch war aber auch die Rote Armee gezwungen, zurückzugehen, und Denikin rückte immer weiter vor. Er nahm Charkow, drang nach Zentralrußland ein, nahm Kursk und Orel, kam sogar bis vor Tula.

Die Bolschewisten sagten, Machno habe Verrat geübt, und sie erklärten ihn vogelfrei. Er wurde außerhalb des Gesetzes gestellt. Sein Bruder wurde in einem Krankenhause entdeckt, man hielt ihn für Machno selbst und tötete ihn. Machno, der des Verrates gegen die Rote Armee beziehtet wurde, sollte also zugunsten Denikins gehandelt haben. (!)

Dies waren die schwersten Tage nicht so sehr für Machno als für die Rote Armee.

Machno begann sich wieder zu sammeln und erregte im Rücken Denikins Aufstand. Er entlastete die Rote Armee. Die Bauern strömten ihm wieder zu. Gulai-Pole, die Gouvernementsstädte Jekaterinoslaw, Mariopole und Poltawa fielen in Machnos Hände. Dies war im Spätsommer und Herbst 1919. Machno wurde eine Gefahr für Denikin. Denikins Hauptarmeen befanden sich schon in Rußland, seine Arrieregarde noch in der Ukraine. Machno schnitt die Arrieregarde von der Hauptarmee ab und unterband so Denikins Zufuhr von Munition und Lebensmitteln durch den Süden. Denikin war gezwungen, sich zurückzuziehen, und die Rote Armee kam in Offensive. Die meisten Kenner und Beteiligten an diesen Kämpfen waren der festen Ueberzeugung, daß damals Denikin nach Moskau gekommen wäre, wenn nicht Machno dies vereitelt hätte.

Durch diesen entscheidenden Eingriff in die kritische Situation fand Machno bei den Bolschewisten wieder Gnade. Die Acht, die über seinem Haupte schwebte, wurde aufgehoben, man bezeichnete ihn nicht mehr als „Konterrevolutionär".

Während die Rote Armee von Denikins siegreichem Heere zurückgedrückt wurde, stand in der Ukraine ein neuer reaktionärer Zarengeneral auf: Grigorjew. Er kämpfte gegen die Bolschewisten und versprach den Bauern Freiheit und das Sowjetsystem, und es gelang ihm, einen größeren Anhang zu finden.

Machno wollte wissen, wessen Geistes Kind Grigorjew war. Er begann Verhandlungen mit ihm. Bei einer dieser Verhandlungen tötete er ihn, nachdem er erfahren hatte, daß Grigorjew ein Reaktionär war. Auch dies wurde ihm von den Bolschewisten als Verdienst angerechnet.

Jekaterinoslaw fiel zwischen dem 30. Oktober und dem 1. November 1919 aus Denikins in Machnos Hände. Als dann Denikins Hauptarmee infolge Machnos Eingreifen zurückgehen mußte, kam sie von Zentralrußland in die Ukraine herunter. Nun ging es Denikin wie früher Machno; er hatte keine Munition. Machno hielt Jekaterinoslaw einen Monat. Während dieses ganzen Monats standen Teile der Denikinschen Armee nur 10 Werst von Jekaterinoslaw auf der anderen Seite des Dnjepr. Machno konnte nicht herüber, Denikin konnte aber auch nicht die Stadt einnehmen. Er beschoß aber die Stadt. Beide, Machno und Denikin, bombardierten die Brücke des Dnjepr, um zu verhindern, daß der andere hinüber kommen konnte. Im Dezember kam die Nordarmee Denikins, von der Roten Armee zurückgedrängt, auf Jekaterinoslaw von der anderen, der Nordseite her angerückt. Machno war gezwungen, zurückzugehen und zog sich auf Alexandrowsk zurück. Inzwischen ging Denikin immer weiter zurück, die Rote Armee folgte ihm auf dem Fuße. Den 10. bis 11. Januar 1920 kam die Rote Armee auch nach Alexandrowsk. Trotzky verlangte nun auch die Entwaffnung der Bauern unter Machno. Diese verweigerten dies. Es kam wieder zu Streitigkeiten, und Machno wurde wieder außerhalb des Gesetzes gestellt. Ein Teil seiner Leute wurde entwaffnet. Er selbst zog sich mit dem Rest seiner Streitkräfte in der Nacht zurück und floh. Von da ab wurden seine Kräfte schwächer. Zur Zeit der Feldarbeit hatte er im Frühling und im Sommer 1920 nicht mehr als einige tausend Mann. Die Bolschewisten wurden mächtiger in der Ukraine und verfolgten ihn. Er zog sich in die Wälder zurück und hielt sich zwischen Poltawa, Berdiansk und Alexandrowsk auf.

Die Entente, insbesondere Frankreich, sah sich in ihren Hoffnungen, die sie in das Denikinunternehmen setzte, betrogen. Sie gab aber ihre Hoffnungen, die Ukraine zum Ausgangspunkt ihres Kampfes gegen die Bolschewisten zu machen, noch nicht auf. Sie sah sich nach anderen Handlangern um und fand einen solchen in dem Baron Wrangel, dem „Weißen Baron", wie er in der Ukraine und in Rußland genannt wird.

Durch die Unterstützung Frankreichs wurde Wrangel stärker. Insbesondere, als der Krieg zwischen Rußland und Polen ausbrach, war Rußland gezwungen, seine ganzen Kräfte gegen Polen zu konzentrieren und konnte sich nicht viel mit der Ukraine beschäftigen. Die Niederlage der Roten Armee an der polnischen Front schwächte die Position der Bolschewisten ebenfalls in der Ukraine. Ende September war die Gefahr der vorrückenden polnischen Armee so groß, daß die Bolschewisten Kiew wieder evakuierten. Wrangel bedrohte das Donbecken. Die Ukraine war einem Siedekessel nicht unähnlich. Ueberall scharrten sich die Bauern zusammen und bildeten Banden. Diese kämpften gegen die Polen, gegen die Bolschewisten und auch gegen Wrangel. Auch Machno wurde wieder stärker. Als einige Monate vorher die Bolschewisten die Westukraine von den Polen befreiten, die Kiew eingenommen hatten und bis ins Poltawagouvernement vordrangen, sahen die Bauern die Bolschewisten als ihre Befreier an. Sie kamen auch in der ersten Zeit ganz gut mit der Sowjetregierung aus. Als diese aber später durch den anhaltenden Krieg gezwungen war, für die Rote Armee, die gegen die Polen kämpfte, Lebensmittel zu requirieren, war es mit der Harmonie zu Ende. Die Bauern begannen die Bolschewiki ebenso zu bekämpfen, wie früher die Polen. Sie wurden unzufrieden, rebellierten und selbstverständlich war wieder Machno ihr Mann.

Machno operierte wieder gegen Wrangel. Die Bolschewisten aber schrieben, er arbeite mit Wrangel zusammen. Richtig war, daß die Bauern sich gegen beide, sowohl Wrangel als auch die Bolschewisten wandten. Die Bolschewisten bekämpften Wrangel und Machno. Hatten aber gegen keinen Erfolg. Die Bauern, und auch die unter der Fahne Machnos, bekämpften alle fremden Truppen, die sich auf ihr Gebiet begaben. Ganz gleich, ob es die Polen, Wrangel oder die Bolschewisten waren. Gelang es ihnen, den Feind zu vertreiben, so waren sie befriedigt. Sie waren nicht genügend Strategen, um ihre Erfolge auszunützen. Sie verfolgten nicht den geschlagenen Feind. Sie waren zufrieden, wenn er ihr Gebiet verlassen hatte. Die Bauern sind in dieser Hinsicht keine Imperialisten, die andre Gebiete erobern wollen, aber auch keine Idealisten, die für höhere Zwecke oder eines Ideales wegen die Konterrevolution verfolgen. Sie sind im Innersten wohl konservativ und wollen nicht belästigt und gestört werden von außen. Geschieht dies aber, dann erheben sie sich und machen Aufstand, erschlagen ihre Unterdrücker und kehren zu ihrer Feldarbeit zurück. Das ist alles.

Um diese Zeit sandte Machno an den Präsidenten der Sowjetrepublik in der Ukraine eine Note, worin er die Gouvernements Jekaterinoslaw und Cherson für sich und die seinen beanspruchte, damit die Bauern sich so organisieren konnten, wie sie wollten. Außerdem forderte er die Freilassung seiner Freunde aus dem Gefängnis. Auf diese Note antwortete Rakowsky gar nicht. Die Bolschewisten aber verbreiteten die Nachricht: Machno arbeite mit Wrangel zusammen.

Ende September 1920 wurden Machnos Kräfte zusehends stärker. In dieser Zeit war die Lage der Bolschewisten an der polnischen Front am kritischsten. Machno gelang es, einige glückliche Operationen gegen Wrangel zu führen. Er setzte sich in den Besitz von Gulai-Pole, seiner Vaterstadt, und nahm bald auch Mariopole und Alexandrowsk ein. Die Sowjetregierung, die noch vor kurzem in ihren Zeitungen schrieb, daß Machno mit Wrangel zusammenarbeite, war gezwungen, zu berichten, daß Machno „jetzt" wieder gegen Wrangel operiere. Machno sandte der Sowjetregierung wieder eine Note, worin er nochmals die Freiheit Wollins und seiner übrigen anarchistischen Freunde forderte. Da Machno diesmal Macht hinter seinen Worten hatte, waren die Bolschewiki gezwungen, nachzugeben. Freitag, den 1. Oktober, wurden Machnos Freunde, der theoretische Anarchist W. M. Eichenbaum, (Wollin), Machnos Adjutanten Tschubenko und Gribelenko aus dem Gefängnisse entlassen, die bis dahin als Geiseln für Machno im Gefängnis behalten wurden. Die beiden ersten waren im Butirkygefängnis in Moskau, der letztere im Gefängnis von Charkow. Gleichzeitig wurde Machno, der seit dem 13. Januar 1920 wieder außerhalb des Gesetzes stand, begnadigt. Den 2. oder 3. Oktober aber erschien in der Moskauer „Iswestija" ein Bericht, daß die Rote Armee gegen Wrangel Fortschritte mache. Aus Mariupole und Alexandrowsk sei Wrangel vertrieben worden. Weiter unten stand, daß Machno sich mit der Roten Armee wieder vereinigt habe. Die Eingeweihten mußten über die lächerliche und absolut unnötige Entstellung der Wahrheit lachen. Die Wahrheit war, wie aus der „Iswestija" selbst hervorgeht, daß Machno Wrangel schlug. Freilich, als Machnow, dessen Forderungen die Sowjetregierung jetzt erfüllte, sich bereit erklärte, mit der Roten Armee zusammen gegen Wrangel zu kämpfen, konnte man allerdings Machno als einen Teil der operierenden-Roten Armee erklären, und so tat man es auch durch die Erklärung, die „Rote Armee" hätte Mariupole, Gulai-Pole und Alexandrowsk eingenommen.

Mitte November 1920 war Wrangel fast gänzlich geschlagen. Es war vorauszusehen, daß die Rote Armee, die durch den Frieden mit den Polen in Riga freigeworden war, sich auf Wrangel stürzen und ihn erdrücken werde. Den Anfang zu Wrangels Ende hat aber Machno gelegt.

Angesichts dieser Sachlage war es von besonderer Geschmacklosigkeit, daß die bolschewistischen Zeitungen, die als revolutionäre Kommunisten doch nicht andere Revolutionäre hätten bekämpfen sollen, dies dennoch taten. Wie unrecht sie aber hatten, sahen sie einige Zeit später selbst ein. So schreibt eine ihrer Zeitungen, die in Moskau herauskommt („Russian Press Review", in englischer Ausgabe vom 29. Oktober 1920), in einem Artikel unter der Ueberschrift „Machno und Wrangel" wie folgt:

„Das Kriegskommissariat hat folgende Berichtigung veröffentlicht: Die französische Presse hat, wie es bekannt sein dürfte, viel über die Vereinigung von Machno und Wrangel geschrieben. Die Sowjetpresse hat seinerzeit ebenfalls Dokumente publiziert, die gezeigt haben, daß eine formale Alliance zwischen Wrangel und Machno bestand. Es hat sich aber nunmehr herausgestellt, daß diese Informationen nicht richtig waren. Unzweifelhaft hat Machno de facto Wrangel, ebenso wie die polnische Armee unterstützt, indem er die Rote Armee bekämpfte. Eine formale Alliance hat aber zwischen ihnen nicht bestanden. Alle Dokumente, die über eine formale Alliance zwischen Machno und Wrangel publiziert wurden, waren von Wrangel gefälscht. Ein Banditenhäuptling von der Krim, der sich Häuptling Voldin nannte, war unter dem Kommando Alachno, empfing aber Direktiven von Wrangels Stab. In Wirklichkeit war zwischen beiden keine Verbindung. Die ganze Fälschung war von Wrangel unterschoben worden, um die französischen und anderen Imperialisten zu täuschen.

Vor einigen Wochen versuchte Wrangel in der Tat mit den Machnoschen Kräften in Verbindung zu treten und sandte zwei Delegierte nach dem Hauptquartier Machnos, um Verhandlungen anzuknüpfen. Die Machnoschen zeigten, daß sie nichts mit Wrangel zu tun hatten, daß sie gerade dadurch, daß Wrangel mit ihnen in Verbindung treten wollte, ihren Irrtum, gegen die Sowjetarmee zu kämpfen, einsehend, sich mit der Sowjet-Südarmee vereinigten und vereint gegen Wrangel kämpften. Bald danach schlugen sie dem Kommandanten der Roten Südarmee vor, gemeinsame Aktionen gegen Wrangel zu unternehmen. Dieser Vorschlag wurde unter bestimmten Bedingungen angenommen. Gegenwärtig führt Machno seine Kriegsoperationen unter direkter Aufsicht, samt Ordres des Kommandanten der Südarmee, Genossen Frunze, aus."

Dies Dokument zeigt zur Genüge, daß alle Nachrichten, die davon sprachen, Machno kämpfe mit Wrangel, falsch waren. Die Bolschewiki entschuldigten sich damit, daß sie erst später erfuhren, daß diese Dokumente gefälscht waren. Erstens ist es recht merkwürdig, daß sie daß nicht schon früher eingesehen hatten, da sie doch sonst der kapitalistischen Presse nicht viel Glauben schenken, ja im Gegenteil, stets die Lügenhaftigkeit dieser Presse hervorheben. Zweitens sollte man doch wohl meinen können, daß die Bolschewiki sich die Nachrichten über das, was in ihrem eigenen Lande vorgeht, nicht erst aus dem Auslande, aus Frankreich holen. Also weil die französischen Zeitungen schrieben, — die Franzosen wußten also besser, was in Rußland vorging! — deshalb nahm die bolschewistische Presse es als wahr hin. Da die Bolschewiki doch sonst nicht so naive Leute sind, so hat man allen Anlaß, zu behaupten, daß nicht nur ungenügende Einsicht, sondern schlechte Absicht ihren Zeitungen und ihrem Oberkommando die Feder in die Hand drückten, als sie von der Zusammenarbeit Machnos und Wrangels brachen.

Was nun die andere Behauptung, die auch jetzt noch in diesem Artikel sich findet, betrifft, daß nämlich die Machnoschen de facto, d.h. also indirekt Wrangel unterstützt haben, indem sie gegen die Rote Armee kämpften, so liegt auch hier wieder eine bewußte Verdrehung der Tatsachen, eine bewußte Lüge vor, denn es waren die Bauern unter Machno nicht, die gegen die Revolution kämpften. Es waren diese Bauern, die die Revolution machten. Erst als dann die zentralistische Rote Armee den Bauern die Freiheit nehmen wollte, erhoben sich die Bauern auch gegen diese neue Herrschaft. Es war also nicht Machno, der gegen die Rote Armee kämpfte, es war die Rote Armee, die die Bauern unter Machno, die Rebellen waren, niederschlagen wollte. Als dann die Bauern sich wehrten, als sie dann dagegen ankämpften, hatte es für Uneingeweihte natürlich den Anschein, als ob die Bauern unter Machno gegen die Rote Armee kämpften.

Obzwar wir heute noch in den Kämpfen mitten drin stehen und deshalb die abgeklärte, gesetzte leidenschaftslose Objektivität noch nicht vorhanden ist, so wird doch einmal der Geschichtsschreiber der Revolution in der Ukraine diese Kämpfe der Bauern und der Roten Armee unter folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen können: Die Rote Armee kämpfte gegen den kapitalistischen Weltimperialismus der Entente und gegen alle von diesem Imperialismus vorgeschickten russischen Zarengenerale, sowie die kleineren, von der Entente wirtschaftlich und politisch abhängigen Staaten, wie Polen, Rumänien usw. Die ukrainischen Bauern aber kämpften gegen alle und auch gegen den Roten Imperialismus der russischen Sowjetrepublik. Das Wort Imperialismus hat in dem Zusammenhang mit Rot natürlich nur symbolische Bedeutung.

Weiter steht in diesem Artikel, daß die Machnoschen sich mit der Roten Armee vereinigt haben. Das bedeutet nur, daß die Bauern die Rote Armee der Wrangelschen vorziehen, daß sie aber auch die Rote Armee nicht als den Retter der Freiheit ansehen, sondern auch gegen die Rote Armee kämpfen, wenn diese ihre Freiheit beschneiden will. Solange die Sowjetregierung der Bolschewisten sie nicht belästigt, haben sie nichts an ihr auszusetzen. Fordert diese aber ihre Unterwerfung, dann kämpfen sie dagegen.

Es ist jedoch ziemlich sicher, daß die Bolschewisten, die jetzt mit Machno zusammen arbeiteten, ihn bei der nächsten ersten besten Gelegenheit wieder bekämpfen und diesmal vielleicht doch vernichten werden. Mit Machnos Person haben sie aber nicht den rebellischen Geist der Bauern getötet. Es könnte jedoch immerhin eintreffen, daß gleichzeitig mit dem Tode Machnos eine allgemeine Ermüdung der Bauern, ein Nachlassen der revolutionären Spannkraft eintritt, und die Bauernbewegung ihren Abschluß findet. Chronologisch könnten spätere Geschichtsschreiber der Revolution dies in einen Zusammenhang bringen, einen kausalen Zusammenhang hätte aber Machnos Person und Ausscheiden mit der revolutionären Bewegung der Bauern nicht.

Es herrschen in Rußland starke Meinungsdifferenzen über den Charakter der Machnobewegung. Die Russen und die russischen Revolutionäre selbst lassen sich bei der Beurteilung dieser Bewegung nicht von den Tatsachen leiten. Das Urteil über diese Bewegung ist fast durchweg durch die vorgefaßten theoretischen Meinungen und Anschauungen getrübt. So verurteilen die Bolschewisten die Machnobewegung ebenso wie die Konterrevolutionäre. Beide sehen in den Bauern, die sich um Machno scharen, sowie in ihm selbst nur Banden, Banditen, die bekämpft, ja vertilgt werden müssen, weil sie jeder Regierung hinderlich sind. Die Menschewiki, sowie die rechten Sozialrevolutionäre, ja sogar ein Teil der linken, verurteilen wohl die niedrige Taktik der bolschewistischen Sowjetregierung gegenüber Machno, wenden sich aber auch gegen Machno, weil sie für eine einheitliche, zentralistische Staatsarmee und gegen die Powstanzy sind. Die Maximalisten, die linken Sozialrevolutionäre, der größte Teil der Syndikalisten und die Anarchisten verteidigen die Machnobewegung, weil sie selbst keine Parteiherrschaft wünschen und den Zentralismus bekämpfen. So erfährt man meist, wenn von Machno die Rede ist, weniger die Wahrheit über Machno, als die Wahrheit über den Standpunkt der Diskutierenden. Eine objektive Meinung über diese Bewegung kann man also nur dann gewinnen, wenn man, wie der Schreiber dieser Schilderungen, die Meinungen aller darüber hört, selbst aber zu keiner dieser russischen Parteien gehört.

Abstrahiert man nun von allen Parteirichtungen und hält man sich an den objektiven Tatbestand, so bleiben folgende geschichtliche Tatsachen bestehen: Die Machnobewegung in der Ukraine ist ursprünglich eine Bewegung der Bauern gegen feindliche Invasion. Die aufständischen Bauern begnügten sich jedoch nicht damit, die Deutschen und Oesterreicher zu bekämpfen, sondern richteten in der Folge ihren Kampf gegen jede Regierung. Da im Verlaufe der Ereignisse alle Regierungen durch den Krieg von außen in die Ukraine kamen, so empfinden die Bauern, die in einigen Gouvernements dreizehn Regierungen hatten, eine jede als eine Herrschaft, die über sie von außen kommt. Ihr Kampf ist ein Kampf um eigene Selbständigkeit. Ob sie in der Lage sind, ihre Angelegenheiten nach freiheitlichen Prinzipien selbst zu ordnen, ist eine Frage von größter historischer Bedeutung. Diese Frage kann aber nicht durch die verschiedenen Regierungen, die in der Ukraine Fuß fassen wollten und wollen, beantwortet, noch gelöst, noch entschieden werden. Es ist ausschließlich die Sache der Bauern selbst.

Die Stellung der russischen Sowjetregierung der Ukraine und den aufrührerischen Bauern gegenüber ist durch den Charakter der Sowjetregierung überhaupt bedingt. Obzwar die bolschewistische Partei eine revolutionäre Partei ist, so ist sie doch Verweser des russischen Staates. Daß sie diesen Staat proletarischen Staat nennt, ändert nichts daran, daß sie alles vom Interesse dieses Staates aus beurteilen und im Interesse dieses Staates handeln muß. Die Erhaltung dieses Staates erfordert die zentrale Erfassung aller territorialen Gebiete und die Unterordnung aller Gruppen, Verbände und Organisationen unter die Zentralinstanz, die in Rußland der Rat der Volkskommissare, in bürgerlichen Demokratien das Parlament ist. Die russische Sowjetregierung mußte also auf die Unterordnung der Machnoschen Bauernbewegung bestehen, wenn sie nicht das Prinzip ihres Wesens preisgeben wollte.

Da die Hauptsache die Erhaltung dieses Prinzips ist, so ist die Anwendung der Mittel zu diesem Zweck von nebensächlicher Natur. Ich stelle es der Ueberzeugung jedes einzelnen anheim, die Taktik der Bolschewiki Machno gegenüber gutzuheißen oder zu verwerfen. Die Verteidiger der Staatsidee können im Prinzip kein Mittel verwerfen, daß der Aufrechterhaltung des Staates dient. Sie mögen die spezielle Taktik der Bolschewisten verwerfen, wenn sie nicht antistaatliche Gegner der Bolschewisten sind, dann verwerfen sie diese Taktik eben nur, weil es die Bolschewisten sind. Sie haben es aber stets bewiesen, daß sie genau so handeln, wenn sie an der Macht sind. Insbesondere haben die Verteidiger der bürgerlichen Weltordnung, die die Völker der Erde in das furchtbare Jammertal des Krieges gestürzt haben, kein Recht, den Stab über die Bolschewiki zu brechen. Denn sie haben bewiesen, wohin ihre Weltordnung führt: in das größte Elend, das jemals über die Menschen gekommen ist.

So ist ein Mittel, das gegen unseren Geschmack geht, das aber ständig von den Verteidigern des Staates angewandt wird, nicht nur von den hierfür sprichwörtlich bekannten Diplomaten, sondern auch von allen Politikern, die Lüge. Es ist selbstverständlich, daß ebenso wenig wie die kapitalistischen Staaten, die Bolschewisten ohne dieses Mittel auskommen können. So schrieben z.B. die bolschewistischen Zeitungen, daß Gabrilenko, die rechte Hand Machnos, der von den Bolschewisten gefangen genommen wurde und in Charkow im Gefängnis saß, sowie Tschubenko, Machnos Adjutant, samt andren Machnoschen, sagten, Machno sei ein Bandit und sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dies tat man in der Absicht, um Machno bei der Bevölkerung zu mißkreditieren. Als dann, im Oktober 1920, Gribelenko aus dem Gefängnis entlassen wurde, und er dies las und zu hören bekam, war er furchtbar empört und forderte die Bolschewiki in Charkow auf, ihn lieber zu töten, denn wenn er zu Machno kommt, dann werden die Machnoschen dies mit ihm tun, da sie ihn als Verräter betrachten.

Ein zweites Beispiel. Als die bolschewistischen Zeitungen im Juli 1920 in der Ukraine schrieben, Machno kämpfe gegen die Bolschewisten und arbeite mit Wrangel zusammen, gingen Charkower Anarchisten, Josef, der Emigrant, und Makrousow zu Rakowsky, dem Präsidenten der Republik und sagten, daß sie dies für eine Unrichtigkeit hielten. Sie ersuchten die Regierung um Erlaubnis, eine anarchistische Delegation zu Machno senden zu dürfen, um den Fall zu untersuchen. Rakowsky versprach es ihnen. Makrousow war Brigadekommandant bei der Roten Armee, und bei der Vertreibung der Polen aus Kiew war es seine Division, die die Polen vertrieb. Als aber Makrousow, den die Regierung seiner militärischen Leistungen wegen, obzwar er Anarchist war, respektieren mußte, weg war, wurden gegen zwanzig Anarchisten von der Charkower außerordentlichen Kommission verhaftet, weil man annahm, daß die Anarchisten, die zu Machno gehen wollten, Verbindung mit ihm hätten. Sie wurden konspirativer Verschwörung beschuldigt. Die meisten mußte man aber wegen Mangels an Beweisen entlassen; den bedeutendsten unter ihnen aber, Josef, den Emigranten, behielt man im Gefängnis. Er erklärte den Hungerstreik und nach acht Tagen Hungerstreiks wurde er entlassen

Wenn es so gewesen wäre, wie die Bolschewisten schrieben, so hatten sie doch keinen Grund gehabt, diese Menschen zu verhaften. Dies beweist vielmehr, daß sie fürchteten, der Lüge überführt zu werden.

Trotz all dieser Mittel, die die Sowjetregierung im Kampfe gegen Machno anwandte, gelang es ihr doch nicht, Machno bei der Bevölkerung zu mißkreditieren. Die Bauern verehren und lieben Machno als einen der ihren, und es gibt wohl in der ganzen Ukraine keinen Mann, der so populär ist wie Machno. Die Bauern gaben ihm den Beinamen Batkno, d.h. Väterchen. Sie haben einen Sagenkranz um sein Haupt gewoben und erzählen sich unglaubliche Dinge vom Batkno. Machno ist nicht ihr Herr (Gospodin), sondern ihr Vater (Batkno). Batkno kann sich in alle Gefahren begeben, immer wieder kommt er heil, wie durch Wunder davon. Dadurch, daß Machno so oft große Armeen hatte, die immer wieder sich auflösten, dann aber immer wieder aufs neue erstanden; dadurch, daß er so oft fliehen mußte, aber immer wieder obenauf kam, sagen die Bauern, Batkno sei nicht zu besiegen. So geht eine Sage, daß Batkno im Lager und im Zelte Denikins war. Er war verkleidet und sprach mit Denikin. Plötzlich sagte er: ich bin Machno und verschwand. Machnos Taktik soll dermaßen sein, daß er, wenn er einen Ort einnimmt, ein oder mehrere Häuser räumen läßt, worin er zu wohnen vorgibt. Des Abends geht er aber verkleidet in ein anderes Dorf und schläft dort gänzlich unbekannt. Eine weitere Sage über Machno sagt: in einem Dorfe verkauft ein kleiner unscheinbarer Bauer (so ist Machnos Aussehen) in einer Schüssel Butter. Der Käufer, der die Schüssel mitbekommt, kann, wenn er nach Hause kommt, auf dem Boden der Schüssel die Worte finden: Wer diese Butter kaufte, hat Batkno-Machno gesehen.

Eine solche Sagen- und Mythengestalt ist Machno im Munde der Bauern. Es ist daher erklärlich, daß die Machnobewegung bei den Bauern größeren Anklang und Entgegenkommen findet als alle von außenher kommenden Regierungstruppen. Wenn z. B. Machno Soldaten, Pferde, Lebensmittel oder anderes Material zur Kriegsführung braucht, so geben es die Bauern größtenteils freiwillig her, was andere mit Gewalt nicht bekommen können. Es heißt dann eben, „Batkno" braucht es, und man muß es geben.

Auch erzählt man sich, daß Machno, der als Anarchist jede Zwangsmobilisierung verwirft, einst zu einer freiwilligen Mobilisation aufrief. Am Schluß dieses Aufrufes soll es geheißen haben: Wer nicht freiwillig kommt, wird erschossen. Selbstverständlich ist eine solche Bauernbewegung, wie die Machnosche, von solchen lächerlichen Widersprüchen nicht frei zu halten. Auch geschieht es, daß die Bauern, wenn sie von den Bolschewisten mobilisiert werden sollen, sagen, sie seien schon von Machno mobilisiert. Auch von rohen, brutalen und verwilderten Zügen ist die Machnobewegung nicht frei. So erzählt ein Offizier der Roten Armee, daß die Machnoschen einen Eisenbahnzug überfallen haben, in dem sich eine Wrangeldeputation befand, worunter auch einige Franzosen gewesen sein sollten. Der Führer der Delegation soll ein sehr beleibter Herr gewesen sein. Die Machnoschen Soldaten töteten im Kampfe die gesamte Delegation. Dem dicken Führer aber öffneten sie, nachdem er tot war, den Leib, so daß sein Körper dünner wurde und knöpften seinen Rock wieder zu. Als man später den Führer entdeckte, so konnte man ihn nicht erkennen, weil man einen beleibten Herrn suchte. Unter den Toten aber befanden sich nur schlanke.

Für diese Grausamkeiten ist natürlich nicht Machno verantwortlich zu machen. Die Bauern sind durch die unaufhörlichen Kriege, Revolutionen, Kämpfe, unter denen sie furchtbar zu leiden hatten, so verroht. Als z.B. die Polen ins Poltawagouvernement einzogen, betrachteten die Bauern mit gierigen Blicken die wohlgenährten Pferde der Polen, und teilten sie schon unter sich, wenn sie die Polen werden hinausgejagt haben. Es soll dabei ein Streit entstanden sein, und als ein polnischer Offizier sie fragte, worüber sie stritten, antworteten sie ihm unverblühmt: um eure Pferde. Die Logik der Bauern ist sehr einfach: Wir wollen für uns leben und nicht gestört werden. Wer zu uns kommt, um uns zu beherrschen, wird erschlagen, sein Eigentum unter uns verteilt.

Auf diesem primitiven, rohen, unkultivierten Stand die Bauern zurückgeworfen zu haben, wodurch die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung nicht nur gehemmt, sondern auch zurückversetzt wurde, ist das Werk der Entfacher des Weltkrieges. Die Schuld dieser Verrohung kommt auf sie.

Die Bedingungen, unter denen sich die Armee Machnos bereit erklärte, mit der Roten Armee gemeinsam gegen Wrangel zu kämpfen, wurden am 16. Oktober 1920 in der Form einer Konvention niedergelegt, die von dem Vertreter der Bolschewiki, dem früheren ungarischen Volkskommissar Béla Kun und von einem Vertreter der Machnoarmee unterzeichnet wurde. Sie hat folgenden Wortlaut:

Vereinbarung

über das provisorische Zusammenarbeiten in den militärischen Operationen zwischen der Ukrainischen Sowjetrepublik und der revolutionären Partisanen-Armee der Ukraine „Machnowtzi":

1. Die revolutionäre Partisanen-Armee der Machnowtzi nimmt Anteil an den Kräften der republikanischen Armee als eine Partisanenarmee, die in ihren Operationen dem Oberkommando der Roten Armee untergeordnet ist. Sie behält jedoch ihre bisherige Organisation bei, ohne die Prinzipien und die Grundlage der regulären Roten Armee anzunehmen.

2. Die revolutionäre Partisanenarmee der Machnowtzi, die sich auf dem Gebiete der Sowjets längs oder quer der Front befindet, nimmt in ihren Reihen die Teile der Roten Armee nicht auf, die zu ihr desertieren wollen.

Anmerkung: Die Teile der Roten Armee oder die isolierten Roten Soldaten, die im Rücken Wrangels mit der revolutionären Partisanenarmee zusammenkommen, sollen, wenn sie wieder mit der Roten Armee zusammentreffen, sich wieder mit ihr vereinen.

Die Partisanen-„Machnowtzi", die sich noch im Rücken Wrangels befinden, sowie auch die Bevölkerung, die in diesen Teilen des Landes in die Partisanenarmee eingetreten sind, bleiben in den Reihen der letzteren, auch wenn sie vorher durch die Rote Armee mobilisiert waren.

3. Die Aufgabe der Vereinbarung zwischen dem Kommando der Roten Armee und der revolutionären Partisanenarmee „Machnowtzi" ist, den gemeinsamen Feind, die weiße Armee, zu vernichten. Die Machnowtzi erklären sich mit der Aufforderung des Kommandos der Roten Armee einverstanden, die Feindseligkeiten der Bevölkerung gegen die Rote Armee einzustellen. Gleichzeitig veröffentlicht die Sowjetregierung die geschaffenen Vereinbarungen, um in den gestellten Aufgaben den größtmöglichsten Erfolg zu erreichen.

4. Die Familien der Soldaten der revolutionären Partisanenannee Machnowtzi, die auf dem Gebiete der Sowjetrepublik wohnen, genießen dasselbe Recht wie die Soldaten der Roten Armee und erhalten von der Ukrainischen Sowjetregierung die vereinbarten Vergünstigungen.

Vereinbarungen

über das provisorische Zusammenarbeiten in den politischen Fragen zwischen der Sowjetregierung der Ukraine und der revolutionären Partisanenarmee der Machnowtzi:

1. Die sofortige Befreiung aller Verfolgten und die Einstellung aller weiteren Verfolgungen auf dem Gebiete der Sowjetrepublik gegen alle Machnowtzi und Anarchisten, außer denen, die einen bewaffneten Kampf gegen die Sowjetregierung geführt haben.

2. Vollständige freie Agitation und Propaganda in Worten sowie durch die Presse für alle Machnowtzi und Anarchisten und ihre Ideen sowie Prinzipien unter Anwendung der militärischen Zensur in militärischen Sachen. Zur Herausgabe aller Publikationen (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen usw.) der Anarchisten und Machnowtzi, die von der Sowjetregierung als revolutionäre Organisationen anerkannt werden, stellt der Sowjetstaat alles technische Material auf Grund der allgemeinen Regeln, die für die Publikation gelten, zur Verfügung.

3. Freie Teilnahme an den Wahlen zu den Sowjets, sowie das Recht der Machnowtzi und Anarchisten, Mitglieder der Sowjets sein zu dürfen, außerdem freie Teilnahme an den Vorbereitungen des nächsten V. Sowjetkongresses der Ukraine, der im Dezember 1920 stattfinden soll, wird gewährleistet.

Angenommen von den Vertretern der beiden Parteien auf der Konferenz am 16. Oktober 1920.

Unterzeichnet von Béla Kun, Popoff.

Nachdem diese Vereinbarungen geschlossen waren, und es auf Grund der Zusammenarbeit der Roten Armee mit den Machnowtzi möglich war, die weiße Armee Wrangels zu besiegen, hat nach dem Siege der Roten Armee die Sowjetregierung diese Vereinbarungen gebrochen, indem sie einen rücksichtslosen Kampf gegen das Detachement Machno führte. Auch wurden alle Anarchisten der Ukraine wieder verhaftet.

Die Sowjetregierung hat den Anarchisten und den Machnowtzi gegenüber ein ebensolches Verhalten beobachtet, wie die deutsche Regierung bei Ausbruch des Weltkrieges mit ihrem Einmarsch in Belgien: alle Vereinbarungen sind nur ein Stück Papier. Hiermit dürfte wohl das Ende der Machnowschen gekommen sein.

Wie schnell die Sowjetregierung ihre Vereinbarung vergessen hat, zeigt ihr Verhalten den Machnoleuten gegenüber. Der bereits erwähnte Wollin und Tschubenko, die in Moskau während 9 Monaten im Gefängnis waren und auf Grund Machnos Zusammenarbeiten mit der Roten Armee Anfang Oktober freigegeben wurden und in Moskau im Hause ihres Freundes und Kameraden N. Pawlow, Bolschoi Tschernitschewski 18 wohnten, wurden wieder verhaftet. Als den 24. Oktober in diesem Hause eine Mitgliederversammlung der Anarchisten stattfand, drang die Polizei Tscheka (Außerordentliche Kommission) in das Haus ein und wollte Tschubenko verhaften; da er aber nicht anzutreffen war, wurden alle Anwesenden, — es waren gegen 50 Mann — mitgenommen, und noch heute, Januar 1921, sitzen einige von ihnen im Gefängnis. Wollin aber wurde den 1. Dezember bei einer Konferenz der Anarcho-Syndikalisten in Charkow — die Konferenz war vollständig gesetzlich und von der Tscheka zugelassen —, mit allen übrigen Teilnehmern, unter denen auch oben genannter Pawlow sich befand, verhaftet.

Die Prognose, die ich anstellte über Machnos baldige Vernichtung durch die Bolschewiki, erwies sich als richtig. Vierzehn Tage, nachdem ich das Manuskript dieses Buches fertig hatte, bevor es aber noch in Druck kam, brachte der Telegraph (eine Rostameldung) die Nachricht, daß Machnos Truppen entwaffnet werden von den Sowjettruppen. Das Rostabüro in Stockholm, das die direkteste Verbindung mit Rußland über Reval hat, brachte ein Telegramm mit dem Inhalt:

„Moskau, 7. Dezember, Dienstag (Rosta). — Der Sowjetkommandant an der Südfront hat einen rücksichtslosen Kampf gegen alle Räuberbanden unter Machno begonnen, die noch in der Ukraine operieren. Die Operationen sind sehr resultatreich verlaufen. Der größte Teil von Machnos Abteilungen sind bereits zersplittert oder entwaffnet."

Nun bringt aber die „Rote Fahne“ in Berlin eine Meldung aus Wien, die aber über Christiania kommt worin es heißt:

„In dem Kampfe mit Wrangel haben die Machnotruppen, ohne dem Kampfbefehl des Kommandos der Roten Armee zu folgen, fortgesetzt, friedliche Einwohner zu plündern, und verantwortungslos verschiedene Räuberbanden in ihre Armee aufzunehmen. Der revolutionäre Kriegsrat der Südfront hat nach der Liquidatur der Wrangelarmee den Befehl erlassen, die Machnotruppen in gewöhnlich disziplinierte Bestandteile der Roten Armee umzuwandeln. Der Befehl wurde dadurch motiviert, daß die Machnotruppen regelrechte Ausplünderungen von Städten und Dörfern unternommen hatten, wobei sie nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Munitionslager geplündert haben und Rote Soldaten überfielen, um Bewaffnung zu erbeuten. In den Dörfern haben die Machnotruppen die reichen Bauern, die die Getreideablieferung an die hungernden Gouvernements sabotiert haben, militärisch unterstützt. Nach der teilweisen Umwandlung der Machnotruppen zu einer regulären Armee wurde ihnen Befehl gegeben, sich unverzüglich nach dem Kaukasus zu begeben. Statt dem Befehl zu folgen, hat Machno am 23. November seine Feindseligkeiten gegen die Rote Armee unternommen. Der verräterische Plan Machnos ist ihm aber nicht gelungen, und gegenwärtig sind seine Hauptkräfte, dank dem rechtzeitigen energischen Eingreifen des Kommandanten der Südfront, bereits geschlagen. Die Machnosche Artillerie ist in unsere Hände gefallen. Unsere Truppen haben den Befehl der rücksichtslosen Austilgung der Machnoschen Banditen erhalten, die den friedlichen Aufbau der Sowjetukraine verräterisch stören."

Daß die Bolschewisten Machno nach Besiegung Wrangels, nachdem sie ihn als ihr Werkzeug benutzt hatten in ihrem Kampfe gegen Wrangel, vernichten werden, war klar. Es ist aber auch weiter klar, daß sie versuchen müssen, dies Werk mit dem Scheine der Gerechtigkeit zu umgeben und ihre Handlungsweise zu rechtfertigen. Es braucht einen daher nicht wunderzunehmen, daß die Bolschewistenmeldung sich wieder solcher Lügen bedient. Wenn man gelesen hat, wie sie früher ihre eigenen Lügen dementiert und als einen Irrtum und auf die Berichte der französischen, kapitalistischen Zeitungen zurückgeführt hat, dann wird man auch die jetzige Meldung richtig einzuschätzen wissen. Es ist nur recht merkwürdig, daß nie die „friedlichen Einwohner" der Ukraine selbst etwas gegen Machno haben, sondern nur immer die fremde Rote Armee. Richtig ist allerdings in dem Bericht, daß der „friedliche Aufbau der Sowjetregierung von Moskau" von den Ukrainischen Bauern, die unter Machno kämpfen, sabotiert wird, denn den wollen die Bauern nicht haben. Sie lassen sich lieber von Machno „plündern" als von den Requisitionsabteilungen der Roten Armee.

Die sozialistische Bewegung in der Ukraine.

Die sozialistische Bewegung der Ukraine hat einen mehr oder weniger anarchistischen Charakter. Dieser Charakter ist weniger auf Theorie oder Doktrinen zurückzuführen als auf den Einfluß, den die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes auf die Psyche des Bauern ausübten.

Der Marxismus, der in Rußland unter der Form des Bolschewismus und Menschewismus zum Ausdruck kam, hat in der Ukraine wenig Fuß gefaßt. Dagegen ist der russische Bauern- oder Volkssozialismus der Narodniki Sozialisten-Revolutionäre stärker vertreten. Dieser Volkssozialismus, der mit starken anarchistischen Tendenzen durchsetzt ist, hat dem marxistischen und westeuropäischen Sozialismus bis jetzt immer noch die Spitze bieten können. In der Ukraine lebt Bakunin stärker als Marx.

In der Ukraine sind sämtliche sozialistischen Richtungen vertreten. Die Menschewisten, die Bolschewisten, die rechten und linken Sozialrevolutionäre, die Maximalisten, die Barbisten, die Syndikalisten und Anarchisten. Die Bolschewisten und Menschewisten sind beide Marxisten. Sie suchten daher ihren Theorien entsprechend hauptsächlich unter den städtischen Industrieproletariern Anhang und sind auch unter diesen bekannter als auf dem Lande. Alle anderen hier genannten Richtungen legten in dem Agrarlande Rußland auf die Bauernfrage einen größeren Wert, und daher erfreuen sich diese Parteien auch eines größeren Anhanges unter den Bauern als die ersteren. Außer den rechten Sozialrevolutionären, die, gleich den Menschewisten, für die Nationalversammlung waren, stehen sich die anderen Parteien und Organisationen, insbesondere in ihrem Agrarprogramm, sehr nahe. Sie alle sind für das Sowjetsystem, nicht aber für die Parteisowjets. Darin unterscheiden sie sich von den Bolschewisten, die unter Sowjets die Sowjets ihrer eigenen Partei meinen. So gibt es z. B. in Kiew und in Poltawa, sowohl in den Städten als auch im ganzen Gouvernement gar keine Sowjets, sondern nur Revolutionskomitees. Die Revolutionskomitees werden von der Bolschewistischen Partei eingesetzt, nicht von dem Volke gewählt, in Poltawa wurden niemals Sowjets zusammengerufen. Nachdem die Polen vertrieben wurden, übernahm das Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei (Bolschewisten) die Macht und organisierte alles selbst. Es wurden nicht einmal die Kommunisten zu den Sitzungen des Exekutivkomitees herbeigezogen und auch nicht zu eigenen Sitzungen einberufen. Denn diese Kommunisten waren — Arbeiter. Die Partei der Kommunisten besteht aber gegenwärtig zum größten Teil aus Nichtarbeitern. Nachdem Kiew aus den Händen der Polen in die Hände der Roten Armee überging, wurden die ersten Monate, den ganzen Sommer 1020, überhaupt keine Sowjets gewählt, sondern das Revolutionskomitee eingesetzt. Als dann im September die Wahlen stattfanden, waren von 125 Kommunisten, die im ersten Bezirk von Kiew in den Sowjet gewählt wurden, über 100 Nichtarbeiter. Es waren hauptsächlich Sowjetbeamte, Spezialisten usw.

Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Sie zeigen uns, daß die ukrainische Sowjetregierung zum Teil mit Unrecht diesen Namen führt, da in wichtigen und bedeutsamen Gouvernements gar keine Sowjets existieren. Sie zeigen uns weiter, daß die kommunistische Partei der Bolschewisten eigentlich keine absolute Sowjetpartei ist, sondern nur eine Opportunitätssowjetpartei. Dann, wenn es ihr gefällt, beruft sie Sowjets ein und die Sowjets, die ihr nicht gefallen, sendet sie nach Hause.

Die anderen Parteien und Bewegungen sind für die Sowjets, da die Idee der Sowjets durch die Revolution selbst zutage trat, und alle revolutionären Parteien natürlich dieses System zu akzeptieren hatten. Die Bauern selbst sind für die Sowjets. Obzwar der größte Teil von ihnen gar keiner Partei angehört, so sind sie doch alle für die Sowjets. Sie schreiben z. B. auf ihre Fahnen: „Hoch die Sowjets“. Die Union der Maximalisten, die für ein Maximumprogramm eintreten, die linken S.-R., Internationalisten und Barbisten, die Syndikalisten und Anarchisten sind für die Parole: Alle Macht den Sowjets. Keine Macht den Parteien.

Gegen diese Parolen ist nun die kommunistische Partei der Bolschewisten. Sie erklären, daß diese Parole konterrevolutionär sei und bekämpfen alle diese Parteien als konterrevolutionär. So wurden z.B. die Geschäftsstellen dieser Parteien, ihre Propagandabureaus und Buchhandlungen von der Sowjetregierung geschlossen. Sie setzen jetzt ihre Arbeit illegal fort.

Eine gewisse Berechtigung kann man der Ansicht der Bolschewisten, daß die Parole „Alle Macht den Sowjets, keine Macht der Partei", der Konterrevolution dient, nicht absprechen. Es hat sich in einigen Fällen gezeigt, daß durch die Wahlen zu den Sowjets die Bourgeoisie durch Wahlfälschungen, Betrug oder andere Manipulationen, ja manchmal durch reine Rückständigkeit die Mehrheit bekam, oder, wenn sie in der Minderheit war, durch Obstruktion oder Sabotage die Arbeiten der Sowjets verhindert hatte, so daß ein Tohuwabohu entstand. Auf dieses wiesen dann die Konterrevolutionäre hin und es war ihnen ein leichtes, zu zeigen, daß die Revolution nicht das brachte, was man erhoffte. Der Weg für die Konterrevolution war geebnet.

Dies waren aber immerhin nur einige Fälle, denen man eine Fülle anderer, die das Gegenteil zeigen, gegenüberstellen kann. Der Fehler, in den die Bolschewisten hier verfallen, ist, daß sie verallgemeinern und so alles nach einem Rezepte behandeln wollen. Dadurch gelangen sie selbst zur Gegenrevolution. Denn um zur einseitigen Parteiherrschaft zu gelangen, ist natürlich eine Revolution nicht notwendig. Die Revolution soll gerade die freiesten politischen Formen schaffen, und auch eine soziale Revolution hat darauf zu achten. Obzwar bei einer sozialen Revolution die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, Abschaffung des Privateigentums, gerechte Besitzverhältnisse, gleiche Konsumtionsrechte, rationelle Bedarfsproduktion die wichtigsten Momente sind, so muß eine solche Revolution auch auf dem politischen Gebiete Fortschritt bedeuten und nicht Rückschritt oder Stagnation. Die Herrschaft einer Partei aber ist nicht als eine Errungenschaft der Revolution anzusehen, denn solche Parteiherrschaften hatten wir in den vor revolutionären Epochen, haben wir in den vorrevolutionären Ländern. Und wenn man dies marxistisch auch Herrschaft der Klassen nennt, so tritt diese Herrschaft in der Politik immer als Herrschaft einer oder mehrerer Parteien auf. Und gegen diese Herrschaft wendet sich gerade die Revolution.

Wie man sieht, ist die Parole „Alle Macht den Sowjets, keine Macht der Partei" ursprünglich und praktisch eine revolutionäre Parole, und man kann sie nicht auf Grund einiger Fälle als gegenrevolutionär in Bausch und Bogen verurteilen. Denn wir können auch mit Beispielen aus der Revolution in der Ukraine aufwarten, die das gerade Gegenteil zeigen:

Als im Oktober 1919 Machno Alexandrowsk einnahm, berief er einen Kongreß der Bauern und übrigen Bevölkerung des ganzen Gouvernements Alexandrowsk ein. Der Organisator dieses Kongresses war Wollin. Wollin, der, obzwar er Anarchist war, doch unfreiwillig durch die Kriegsverhältnisse und schlechten Verkehrsmöglichkeiten im Juli 1919 bei Wosnessensk zu Machno verschlagen worden war, hatte in den Distrikten, die Machno einnahm, die einzige Möglichkeit frei zu wirken. Als Anarchist war er gegen die Parteipolitik. Aus diesem Grunde war es ihm aus oben angeführten Gründen unmöglich, unter der Herrschaft des Bolschewismus zu wirken. Er berief also für die Machnoschen diesen Kongreß ein. Machno brauchte für seine Armee die Unterstützung der Bauern. Man sandte Boten in die Dörfer, um die Bauern zu diesem Kongreß aufzufordern, Delegierte zu wählen und nach der Stadt Alexandrowsk zu senden. Die Vertreter verschiedener Parteien kamen zu Wollin und beschworen ihn, keine Dummheiten zu machen und um Gottes und der Revolution willen Parteilisten aufzustellen, damit die Bauern den Kongreß nach Parteien beschicken können. Man meinte, daß die reichen Bauern, die Kulaken, in der Majorität sein und den Kongreß beherrschen werden. Die ganze Sache würde ein großer Reinfall sein, prophezeite man. Wollin antwortete, daß das Volk genug von den Parteien gehabt habe und jetzt endlich einmal das Parteiunwesen ausschalten müsse. Der Kongreß kam ohne Parteidelegierte zustande. Die Bauern selbst wollten keine Parteien haben. Als der Kongreß eröffnet wurde, fragten sie, ob irgendwelche Parteien vertreten seien. Ja, es waren aus der Stadt Alexandrowsk sieben Menschewisten, die von den Gewerkschaften gesandt worden waren, anwesend. Die Bauern wollten nichts mit den Politikern zu tun haben. Sie wollten nicht in Verhandlungen treten, ehe die Politiker den Saal verlassen hatten. Die Menschewisten mußten abziehen, und erst dann begannen die Verhandlungen. Nach dem Bericht von einigen Anwesenden hatten diese noch nie einen solch schönen, einträchtigen Kongreß mitgemacht wie diesen. All das parteipolitische Gezänk und aller Parteihader war ausgeschaltet. Die Bauern berieten nur die praktischen Aufgaben. Es handelte sich darum, Machno zu helfen, den Krieg gegen Denikin fortzusetzen. Man beschloß, daß jeder helfen müsse. Wer vier Pferde hatte, mußte zwei abgeben, wer drei hatte, eins. Wer nur zwei Pferde hatte, brauchte keine Pferde, sondern nur Heu, Futter, sonstige Sachen zu geben. So verlief der Kongreß ohne alle Parteipolitik zur Zufriedenheit aller Beteiligten und ohne die Herrschaft der „Kulaken".

Dies Beispiel zeigt nicht nur die Haltlosigkeit der Phrase, daß parteilose Arbeiter und Bauernsowjets oder Räte „konterrevolutionär" sein müssen, es zeigt auch positiv, daß gerade parteilose Sowjets am besten in der Lage sind, die wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten der revolutionären Bevölkerung zu ordnen.

Ein weiterer Unterschied in der Taktik zwischen den Bolschewisten und den Anarchisten, der auf die theoretischen Differenzen zurückzuführen ist, zeigte sich in Jekaterinoslaw.

Als die Stadt von Machno erobert wurde, bestand der Anarchist Wollin darauf, daß alle sozialistischen Bestrebungen absolute Freiheit haben sollten, ihre Propaganda zu betreiben. Bekanntlich verwerfen die Bolschewisten diese Freiheit als „bürgerliches Vorurteil". Insbesondere geht Trotzky in seinem Antikautskybuche „Terrorismus und Kommunismus" scharf dagegen ins Feld. Bekanntlich gestatten die Bolschewisten dort, wo sie herrschen, keiner Partei eine Tageszeitung oder überhaupt nur eine Zeitung herauszugeben. Unter Machnos Regime war es laut Wollins anarchistischer Theorien allen sozialistischen Richtungen möglich, ihre Zeitungen herauszugeben, Versammlungen zu halten, kurz, ihre Ideen zu propagieren. Es erschienen in Jekaterinoslaw 7 Tageszeitungen. Zwei anarchistische, zwei kommunistische, rechte und linke Sozialrevolutionäre, menschewistische Zeitungen. Alle sozialistischen Strömungen waren vertreten. Nur die Bürgerlichen hatten kein Organ. Sie waren natürlich so eingeschüchtert dadurch, daß die Machnoschen und die Anarchisten herrschten, daß sie es nicht wagten.

Die Stärkeverhältnisse der einzelnen Parteien in der Ukraine sind gegenwärtig sehr schwer anzugeben, da alle Parteien außer der herrschenden kommunistischen Partei der Bolschewisten illegal sind. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung November 1917 erhielten die Sozialrevolutionäre 62—77 Proz. der gesamten Stimmen. Die Anarchisten und Maximalisten waren als Antiparlamentarier an den Wahlen nicht beteiligt. Die Maximalisten haben eine Union. Sie nennen sich nicht Partei, weil sie gegen die Parteien sind. Die linken Sozialrevolutionäre, Barbisten und die linken S. R. Internationalisten sind ebenfalls stark vertreten. Die Anarchisten haben in der Ukraine eine besondere, von den Anarchisten Zentralrußlands getrennte Föderation, die sich „Nabat", Alarm, nennt. Zahlenmäßig ist diese Föderation wohl nicht größer als die der Maximalisten und linken S. R. Jedoch hatten die Anarchisten deshalb einen größeren Einfluß, weil sie unter dem Protektorat ihres Väterchens (Batkno) Machno standen, der sie mehr unterstützte als alle anderen Parteien. Die Anarchisten haben sich jedoch niemals mit der Machnobewegung identifiziert, bedienten sich aber in ausgedehntestem Maße der Machnoschen Bewegung, und wollten sie für ihre Zwecke dienstbar machen.

Die Bolschewisten verhafteten im Anfang Januar 1920, nachdem Machno geflohen war, in Alexandrowsk Wollin. Sie begründeten seine Verhaftung damit, daß sie ihn den Vater der Machnobewegung nannten. Nun war dies aber unmöglich; die Machnobewegung bestand seit Sommer 1918. Wollin kam aber erst ein Jahr später, im Sommer 1919 zu Machno. Die Wahrheit ist, daß durch Wollin die ganze Bewegung einen mehr ausgeprägt anarchistischen Charakter bekam, an Tiefe und Reinheit gewann. Wollin selbst ist ein tiefer, reiner, edler Mensch, und es gelang ihm, einen starken kulturellen Einfluß auf die Machnoschen auszuüben. Dies aber war natürlich gefährlich für die Bolschewisten, denn damit wurde die Bewegung gefahrdrohender für sie.

Der Kommunismus und die Bauernschaft

Wir haben durch unsere bisherige Darlegung die Gründe erkannt, weshalb die Bauern in der Ukraine so schwer unter das gemeinsame Zepter einer einheitlichen Regierung zu bringen sind. Es sind weniger Gründe wirtschaftlicher Art, als politischer und nationaler. Freilich, wenn man die Weigerung der Bauern, einer Regierung Lebensmittel abzugeben, als wirtschaftlichen Grund anführen will, dann spielen auch noch wirtschaftliche Gründe mit. Es dürften außerdem noch Rasseneigentümlichkeiten mitwirken. Bei einem Agrarvolk in einem fruchtbaren Lande entwickelt sich infolge der relativen wirtschaftlichen Unabhängigkeit in dem Volke oder in der Rasse immer ein gewisses Selbständigkeitsgefühl, mit welchem eine zentralistische Regierung stets in Kollision geraten muß. Ein kräftiger Staat kann sich in einem solchen Lande nie entwickeln. Die „Los-von-Rom"-Tendenzen werden stets einer Regierung viel zu schaffen geben. Denken wir an die Bauernbewegung unter Zapata in Mexiko, an die ständigen anarchistischen Tendenzen in Spanien, Italien.

Die Bolschewisten behaupten, daß dies antikommunistische Tendenzen in der Bauernschaft wären. Sie weisen darauf hin, daß die ukrainischen Bauern nicht so weit verbreitete Mir-Organisationen hatten wie die russischen Bauern, daß sie nicht in demselben Maße Gemeindewald, Gemeindeweide und auch Gemeindeacker hatten und erklären, daß die Bauern für das Privateigentum und gegen die Einführung des Kommunismus wären. Sie fahren weiter fort und sagen, all die Bauern, die unter Machno kämpfen, sind Kulaken und kämpfen für das Privateigentum, gegen die Einführung des Kommunismus. Da aber recht große Massen der Bauern, ja die Mehrzahl so gesonnen sind, wenn auch, wie das nicht anders sein kann, nur der aktivste Teil unter ihnen, sich zu den Powstanzy scharen, so wäre es verkehrt, den Bauern die Ideen des Kommunismus gegen ihren Willen aufzwingen zu wollen. Dies würde alles andre nur keine Freiheit bedeuten. Und die Freiheit wollen die Bauern haben, dafür kämpfen sie seit fast einem halben Jahrzehnt. Man kann die Menschen zu allem zwingen, nur nicht zur Freiheit. Auch wenn man der Mächtigste der Erde wäre.

Es ist aber nicht an dem. Die Bauern stehen im Gegenteil der sozialen Revolution und Neugestaltung in der Ukraine wenigstens sympatisch gegenüber, sogar noch viel mehr als in Rußland, wo die große Masse der Bauern durchaus konservativ ist, nachdem sie ihr Land den Gutsbesitzern entrissen haben. Die Bauern sind dem Sozialismus keineswegs abhold, ja es zeigen sich sogar ganz ausgesprochene kommunistische Tendenzen.

Die gesamte Bauernschaft ist gegen die Pomeschtschiks (Gutsbesitzer). Sie wollen die Gutsbesitzer unter keinen Bedingungen zurück haben. Sie kämpften verzweifelt gegen alle konterrevolutionären Generale, die den Großgrundbesitz verteidigten. Sie verjagten Petljura, Kaledin, Denikin, Grigorjew, Wrangel. Und doch hatte Wrangel aus dem Schicksal seiner Vorgänger Lehren gezogen und trat, gerade um die Bauern auf seine Seite zu bekommen, mit einem Agrarprogramm zu den Bauern. Kein Gutsbesitzer sollte mehr als 200 Deßjatinen Land besitzen. (Eine Deßjatine sind 109,25 Aar.) Wrangel glaubte damit größere Sympathien zu gewinnen als Denikin und seine Vorgänger. Er glaubte, daß es ihm gelingen werde, die Bauern auf seine Seite zu ziehen, so wie die rumänische Regierung durch eine ähnliche Agrarpolitik die Bauern beruhigte und von der Revolution abzuhalten verstand. Aber während es den rumänischen Bojaren gelang, sich mit einigen Verlusten im Land zu behaupten, durchschauten die ukrainischen Bauern, die durch die langen Kämpfe einen weiteren Blick bekamen, die Absichten Wrangels, und trotzdem Wrangel einen Teil der Bauern zu betören vermochte, hatte er doch den vorgeschritteneren Teil gegen sich. Auf die Dauer hätte sich Wrangel auch ohne die Vernichtung durch die Rote Armee und Machno nicht halten können.

Die Bauern waren gegen Wrangels 200-Deßjatinenprogramm. Sie sind aber auch gegen das bolschewistische 50-Deßjatinenprogramm. Die Bolschewisten wollen es nicht mit den reicheren Bauern verderben. Sie brauchen die Bauern und können es sich nicht leisten, dieselben gegen sich zu haben. Sie haben daher eine Norm aufgestellt, daß kein Bauer mehr als 50 Deßjatinen Land haben darf. Die Bauern haben sich aber auf ihren Kongressen gegen diese Norm ausgesprochen. Es war dies besonders auf dem früher erwähnten Kongreß, der von Machno und Wollin einberufen wurde (in Alexandrowsk Oktober 1919). Sie sagten, diese Norm sei zu hoch, es sei eine Bourgeoisie-Norm. Damit erziehe man wieder Pomeschtschik.

Die marxistischen Theoretiker des Bolschewismus-Kommunismus stempeln von ihrem theoretischen Standpunkte aus die ukrainischen Bauern zu Antikommunisten und zu Verteidigern des Privateigentums; insbesondere diejenigen unter ihnen, die mit Machno kämpfen. Meine Forschungen in der Ukraine haben aber ergeben, daß es sich fast umgekehrt verhält. Die Kommunisten dekretieren größeres Privateigentum an Land als die Bauern selbst. Die Bolschewisten-Kommunisten, die sich als die alleinigen Vertreter des Kommunismus ausgeben, sind weniger kommunistisch als die Bauern, die sie als antikommunistisch bezeichnen.

Die Bauern wären jedoch noch lange keine Kommunisten, wenn sie nur für eine kleinere Norm Landes wären als die Bolschewisten-Kommunisten. Dies würde nur beweisen, daß sie kommunistischer wären als die Kommunisten-Bolschewisten. Dies ist aber nur komperativ gesprochen. Ueber den positiven Kommunismus der Bauern würde dies nicht viel aussagen.

Obzwar die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden eines der wichtigsten Bestandteile des Kommunismus ist, so gehört dazu auch noch die Regelung der Arbeitsbedingungen bei gemeinsamer Zusammenarbeit nach gleichheitlichen Prinzipien, die Organisierung des Austausches der Arbeitsprodukte unter Zugrundelegung der Gerechtigkeit als Maßstab, das Ordnen der gegenseitigen Beziehungen auf freiheitlicher Basis. All dies kann ein Staat nicht geben; auch nicht der bolschewistische. Er kann höchstens raten, dekretieren, verordnen. Beim Fehlen gesunder sozialer Instinkte und eines starken Billigkeitssinnes kann ein Volk niemals zum Sozialismus und Kommunismus kommen. Der Kommunismus kommt nicht auf Befehl. Haben nun die ukrainischen Bauern diesen Instinkt über die schrecklichen Jahre des Bürgerkrieges bewahrt? Wenn ja, dann werden sie zum Kommunismus reif sein, wenn nein, dann kann auch die Sowjetregierung nicht Beziehungen in ihre Reihen hineintragen, die nicht in ihnen leben.

Meine Reise in der Ukraine, sowie Gespräche mit den besten Kennern der Ukraine im Lande selbst, haben mir gezeigt, daß man Veranlassung hat, gute Hoffnungen zu hegen. Die Bauern sind roh, aber gutmütig, hilfreich und haben im allgemeinen einen starken Gerechtigkeitssinn. Ein Beispiel beweist allerdings nicht viel, nichtsdestoweniger kann es als Illustration benutzt werden:

Eichenbaum — Wollin wohnte einem Gespräch zwischen einem Bauern und einem Bolschewisten-Kommunisten bei. Der Bolschewist wollte ihm erklären, was Kommunismus sei. Der Bauer verstand ihn aber nicht. Die Erklärungen blieben ihm verständnislos. Dann begann der Bauer seine eigenen Ideen zu entwickeln, wie er in seinem Dorfe mit seinen Genossen alles ordnen wollte, so wie er es sich dachte. Als er fertig war mit seinen Ausführungen, sagte der Bolschewist-Kommunist zu ihm: „Du bist ja Kommunist!

Was, ich Kommunist? antwortete der Bauer erzürnt. Ich bin kein Kommunist!

Dieser Bauer zeigte, daß er wohl weiß, wie er seine Angelegenheit in seinem Dorfe zu ordnen habe, wenn man nur nicht seine eigenen kommunistischen Versuche stört durch Eingriffe von außen und durch Unterbindung seiner freien Initiative. Es lassen sich zahlreiche Beispiele anführen, wo die Bauern selbständig zur kommunistischen Wirtschaft und Beziehungsregelung kommen.

Der Besuch einer Sowjetfarm, 30 Werst von Charkow, die früher einem Gutsbesitzer gehörte, gab mir Gelegenheit, die gemeinsame Wirtschaft der Bauern auf diesem Gute zu studieren. Es waren 100 Bauern mit Frauen und Kindern, 160 Personen; keiner von ihnen war Kommunist, und doch hatten sie alles aufs schönste gerecht und gleichheitlich geordnet. Für viele Einzelwirtschaften und gemeinsame Wirtschaften trifft dasselbe zu.

Die merkwürdige Weigerung des Bauern, sich Kommunist zu nennen, ist darauf zurückzuführen, daß die Bauern den Namen „Kommunist" nur durch die Regierung hörten, die sich so bezeichnet. Nun sendet aber dieselbe Regierung ihre Soldaten ins Dorf, um Lebensmittel zu requirieren, die der Bauer nicht hergeben will. Kommunisten sind also in der Vorstellung der Bauern requirierende Soldaten oder solche, die die Soldaten senden. Und da überdies noch eine Menge Kommissare, die sich auch „Kommunisten" nennen, in Wirklichkeit aber Gauner sind — woran die Sowjetregierung natürlich schuldlos ist, wogegen sie aber sehr schwer ankämpfen kann in dem großen Lande — die Bauern schröpfen, so hat sich in der Ukraine bei den Bauern ein Wortspiel herausgebildet, wodurch sie den Kommunismus lächerlich zu machen meinen. Wem heißt nämlich auf russisch komu und uns heißt nas. Die Bauern fingieren nun die Bolschewisten-Kommunisten und fragen: Komu? (wem) Antwort Nas! (uns) also Komunas, das sind die Kommunen. Die Kommunisten sagen also: alles für uns, d.h. für sich, nichts für die andern.

Während die Kommunisten bei den Bauern nicht gut angeschrieben sind, stehen die Bolschewiki bei ihnen in hohem Ansehen. Die Bolschewiki waren es nämlich, die ihnen den Frieden brachten. Durch den Frieden in Brest-Litowsk hat Lenin seiner Partei große Popularität erworben. Und deshalb lieben die Bauern die Bolschewiki, hassen aber die Kommunisten. Sie verstehen nicht, daß es ein und dieselbe Partei ist.

Mit Hilfe einiger intelligenter Elemente unter ihnen ordnen die Bauern auch ihre größeren gemeinsamen Angelegenheiten. Sie berufen größere Kongresse ein, bilden Kooperationen usw. Freilich haben sie nicht immer in allen Sachen das rechte Verständnis und die starke Initiative. Sie glauben zum Teil noch an die Fähigkeiten der Intelligenz. So glaubten sie, daß Machno, der ein so guter Führer im Kampfe war, auch sonst ihnen sagen solle, was sie zu machen hätten. Sie fragten daher bei irgendeiner Verkehrsangelegenheit Machno, was sie tun sollten. Machno soll ihnen geantwortet haben, tut, was ihr selbst für am besten hält. Damit war den Bauern aber nicht geholfen. Sie wollten Rat haben. Und wer ihnen einen selbstlosen Rat erteilen kann, der ist natürlich bei ihnen willkommen.

Der Kommunismus bei den ukrainischen Bauern ist nicht die Sache irgendeiner Theorie, sondern ihres praktischen Lebens. Das Großgrundbesitzertum, die Pomeschtschiks zeigten ihnen die Schäden des Privateigentums an Land, die Ungerechtigkeiten, die daraus entstanden. Und diese Ungerechtigkeit nährte ihren Neid. Der Marxismus kann ewig verkünden, daß der Sozialismus keine Sache der Gerechtigkeit sei, die Bauern fühlen die Ungerechtigkeit, die in ihr Leben durch die ungleiche Verteilung des Grundbesitzes gekommen ist und wollen sie abschaffen. Die anderen sollen nicht mehr haben als wir. Dies wurde von den Feinden des Sozialismus stets als der Neid der Besitzlosen gebrandmarkt. Dieser Neid der Besitzlosen ist aber für die Bauern ein regulatives Prinzip. Es führt den Ausgleich im Bodenbesitz herbei, und dies führt die Bauern zum Kommunismus.

Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine.

Wenn vor dem Kriege das Land der Gutsbesitzer in die Hände der Bauern gelangt wäre, so hätte dies ohne Frage eine Besserstellung der Bauern bedeutet und damit die Hebung der wirtschaftlichen Lage. Nun wurde zwar auch jetzt durch diese Veränderung eine Hebung der Lage der armen Bauern herbeigeführt, d.h. eine Hebung der durch den Krieg verelendeten Lage der Bauern. Womit gesagt sein will, daß ohne diese Maßregel der Revolution die Bauern noch schlechter dastehen würden als sie sich jetzt stehen, aber nicht besser, als sie vor dem Kriege standen. Es geht den Bauern so wie es der Bevölkerung in Deutschland geht. Man klagt und wünscht sich die Zeiten vor dem Kriege zurück. Vor dem Kriege hatten die Bauern Stiefel, Kleider und Petroleum, das sie heute entbehren. Sie haben wenig Ackerbaugeräte und wenig landwirtschaftliche Maschinen. Die Industrie ist sehr schwach entwickelt, und während des Krieges gab es fast ausschließlich Kriegsindustrie. Sie bekamen sehr wenig Industrieprodukte und mußten viel Landwirtschaftsprodukte für den Krieg abgeben.

Als die Bolschewisten von der Ukraine Besitz ergriffen hatten, verboten sie den freien Handel, sodaß die Bewohner der Städte sich in großer Lebensmittelkalamität befanden. Die Absicht der Bolschewisten war eine doppelte.

Erstens wollte man verhindern, daß die Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände Handels- und Spekulationsobjekt wurden. Theoretisch ist es von dem Standpunkt des Sozialismus in der Tat so, daß durch den freien Handelsstand die erzeugten Güter nicht einfach zur Verteilung gelangen, sondern zum Profitmachen, zur persönlichen Bereicherung oder wenigstens denen zum Lebensunterhalt dienen, die sich damit beschäftigen. Anstatt sich nun der produktiven Arbeit zuzuwenden, „handeln" sie. In der Praxis ist es freilich oft gar nicht der Fall. Denn speziell der russische Markt ist der Platz, wo die Bauern ihre Heimprodukte verkaufen, die sie keineswegs durch Kauf oder andere Spekulation erworben haben. Da aber unter den gegebenen Umständen äußerst schwierig war, zu kontrollieren, wer Bauer und wer Handelsmann war, so hat diese Maßregel recht oft, insbesondere in den Kleinstädten, die Unrechten getroffen. Die sogenannten Spekulanten sind oft die Aermsten.

Zweitens wollte man damit die Bourgeoisie zur Arbeit zwingen. Denn dadurch, daß sie nichts mehr zu kaufen und also nichts mehr zu essen bekam, so dachte man, wird sie gezwungen sein zu arbeiten. Freilich hatte man sich hier verrechnet, denn die meisten fanden andere Mittel und Wege, dieser Maßnahme auszuweichen. Auf die Dauer dürfte es der Bourgeoisie freilich nicht möglich sein, sich der Arbeit zu entziehen. Die Sowjetregierung kommt nach und nach hinter die Schliche der Bourgeoisie und greift zu anderen Maßnahmen. Es werden Arbeitsbücher eingeführt, alle Einwohner registriert, den Nichtarbeitenden keine Lebensmittel verabfolgt usw., so daß sie keinen andern Ausweg finden als irgend eine Arbeit zu leisten. Dann bekommen sie wie jeder andere Lebensmittelrationen.

Man hat also nicht das erreicht, was man bezwecken wollte. Im großen Stile hat man allerdings die Bedarfswirtschft einzuführen bestrebt. Im kleinen aber floriert die sogenannte Spekulation, nämlich der Handel mit Lebensmitteln und anderen Verbrauchsgütern stärker als früher. Alle größeren Fabriken und landwirtschaftlichen Betriebe sind verstaatlicht und arbeiten für Rechnung des Staates. Die kleinen Betriebe aber — und in der Ukraine ist außer einer großen Zuckerindustrie und der Metallindustrie die Kleinwirtschaft ausschlaggebend und überall vorherrschend — sind noch alle in privaten Händen und arbeiten auch für private Rechnung, wie vor der Revolution. Das wirtschaftliche Leben spielt sich also in dieser Hinsicht noch in privatkapitalistischen Bahnen ab — wenn auch die einzelnen Unternehmungen keine Stinnes und Thyssen sind. In Kiew z.B. war zwei oder drei Monate nach der Einnahme durch die Bolschewisten alles noch so, wie in anderen kapitalistischen Ländern. Sehr viele Geschäfte waren geöffnet und nur die waren gezwungen zu schließen, die keine Ware mehr hatten. Von den Bolschewisten bekommen sie aber freilich keine Ware geliefert und so wird einer nach dem andern gezwungen, sein Geschäft aufzugeben. Dann gehen die Geschäftsinhaber in die Dienste der Sowjetregierung, in irgend ein Kommissariat oder dergleichen. Sie werden Beamte, Staatsbeamte. Von dem Gehalt, das sie nun bekommen, können sie aber nicht leben, und sie setzen fort, zu schieben, sie „spekulieren". Andere fangen gleich von vorn an, zu spekulieren, und zwar auf illegale Weise. Sie können dies nicht lassen, so wie die Katze das Mausen nicht lassen kann.

Die Bauern, die von Hause aus gegen das System des Kommerzialismus sind, weil sie von diesem nichts Gutes gehabt hatten, beschäftigen sich heute ebenfalls mit „Spekulation", wie dies in der Sprache der Bolschewiki heißt. Diese Spekulation besteht darin, daß sie ihre Produkte, anstatt an den Staat abzugeben, verkaufen und dies zu möglichst hohen Preisen. Dies tun sie freilich nicht aus Lust zur Spekulation, sondern weil sie nicht anders können. Sie würden gern dem Staate alles abgeben, wenn sie nur die Waren bekämen, die sie brauchten. Aber der Staat hat nichts und kann auch nichts geben. So sind sie gezwungen, ihre Bedarfsgegenstände im freien Handel zu kaufen. Für ein Pud Mehl (36 Pfund) bekommen sie im freien Handel gegen 21 000 Rubel, vom Staate aber bekommen sie etwa nur 100—200 Rubel. Es ist also erklärlich, daß sie ihre Ware lieber zu Spekulationspreisen verkaufen, obzwar sie dafür bestraft werden können, als daß sie sie dem Staate abgeben. Aber sogar dann noch, trotzdem sie so viel Geld im freien Handel für ihre Produkte bekommen, ist ihnen nichts daran gelegen. Sie verzichten auf das Geld. Sie wollen gar kein Geld haben und würden trotz alledem dem Staate abgeben, wenn sie nur von ihm das bekämen, was sie brauchen. Geld hat für sie keinen Wert. Sie haben so viel Geld, daß sie ihre Wände damit tapezieren und ihre Hochzeitswagen ausstaffieren. Was sie wollen, das sind Gebrauchsgegenstände. Der Reisende, der in ein Dorf kommt, kann oft nichts kaufen und wenn er noch so viel Geld hat. Er bekommt aber alles für ein Kleidungsstück, für ein Glas Salz und dergleichen.

Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß dies Spekulationsunwesen sofort behoben werden wird in dem Augenblicke, wenn die Bauern vom Staate das bekommen, was sie brauchen. Dann wird die Regierung auch von den Bauern all das freiwillig bekommen, was sie heute mit Gewalt nicht nehmen kann. Dann werden die Requisitionen und damit die Feindschaft zwischen den Bauern und der Regierung aufhören, der größte Hemmschuh zwischen den Bauern und der Sowjetregierung wäre beseitigt, und es wäre viel leichter für die letztere, sich mit den Bauern auszusöhnen. Die Bauern würden dann nicht mehr „konterrevolutionär" zu sein brauchen, und die Revolution würde sich auf dem Lande befestigen, hätte freie Bahn sich auszubauen und weiter zu entwickeln.

Dies kann aber nur dann geschehen, wenn Sowjetrußland Frieden hat; wenn die Entente endlich aufhört, dies unglückliche Land mit Krieg zu überziehen, wenn die Blockade aufgehoben wird, wenn Waren ins Land kommen. Daß die russische Revolution in der Form des Bolschewismus mit seiner Requisitionspolitik ein solches Schreckensregime werden mußte, hat seine Ursachen hauptsächlich in dem Krieg und in der Blockade. Die Urheber dieser Blockade und dieses Krieges, die Feinde der Revolution in Frankreich, England, Amerika, die Verteidiger der kapitalistischen Staaten tragen die Hauptschuld an der Versumpfung der russischen Revolution. Wenn man unter Bolschewismus die freiheitswidrige Politik der russischen Sowjetregierung vornehmlich gegen die Bauern versteht, dann bekämpft man den Bolschewismus am besten durch die Parole: Frieden mit Rußland, Aufhebung der Blockade: „Hands off Russia".

Als durch die Regierung der freie Handel unterbunden wurde, war die Regierung gezwungen, eigene Organe zu schaffen, wodurch die Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt wurde. Das ist natürlich für eine politische Partei, auch wenn sie die Regierungsmacht hat, äußerst schwierig. Ihr Charakter ist politisch und nicht wirtschaftlich, sie ist nicht dazu imstande. Das Ernährungskommissariat stand der Situation ratlos gegenüber. Es wandte sich an die Kooperation der Konsumgenossenschaften.

In Rußland und auch in der Ukraine waren diese Genossenschaften gut entwickelt. Die Regierung übernahm nun diese Genossenschaften und schuf sie zu Staatsorganen um. Die Mitgliederschaft wurde für die gesamte Bevölkerung obligatorisch. Die Bourgeoisie, die ebenfalls nominell diesen Genossenschaften angehört, hat aber keine Rechte darin. Das Proletariat allein hat das Recht, Beamte zu wählen. Nichtsdestoweniger stammen die meisten Beamten aus der Bourgeoisie, weil die Arbeiter nicht geschult, zum größten Teil Analphabeten sind.

Es ist hier von Arbeitern und der Bourgeoisie die Rede, nicht von den Bauern. Die Bauern werden größtenteils von diesen Konsumgenossenschaften nicht erfaßt. Sie haben es nicht nötig. Sie brauchen keine Lebensmittel zu erhalten, im Gegenteil, sie geben sie ab. Dies ist also fast durchweg für die Städte berechnet, die auf das Land angewiesen sind.

Die Konsumkooperationen erhalten die Lebensmittel von der Regierung. Sie verteilen dieselben dann den Arbeitern in den Städten und in den Fabriken. Die Kooperationen haben ihre Abteilungen in den Fabriken, und die Arbeiter erhalten ihr Brot in den Fabriken. Die Verteilung kann aber infolge der Knappheit an Lebensmitteln die Arbeiter nicht ausreichend versorgen. Die Arbeiter können unmöglich von ihren Rationen leben. Sie sollen ein Pfund Brot (ein russisches Pfund hat nur 400 Gramm) täglich erhalten. Es kommt aber vor, daß sie oft tagelang kein Brot bekommen. In einer Schokoladen- und Konfektfabrik in Charkow, dem Sitz der jetzigen Ukrainischen Sowjetregierung, bekamen die Arbeiter im September 1920 vier Tage lang keine Brotration. Es war dies die 22. Staatsfabrik für Schokoladen- und Konfektfabrikation.

Da die Arbeiter nicht genügend Brot in den Fabriken durch die Regierung geliefert bekommen, so sind sie gezwungen, sich Brot selbst privat zu besorgen. In Rußland ist Brot das Hauptnahrungsmittel. Die meisten Leute nähren sich fast ausschließlich von Brot und Kascha (eine Art Hirsebrei). Der Marktpreis für Brot ist aber für die Arbeiter nicht zu erschwingen. Man bedenke, daß der Lohn in dieser Schokoladenfabrik 2400 Rubel monatlich beträgt. Der Preis für ein Pfund Brot betrug aber zur selben Zeit (12. September 1920) auf dem Fischermarkte in Charkow 500 Rubel für Weißbrot und 340 Rubel für Schwarzbrot. Das Gehalt reicht also für knapp 5 Pfund Weißbrot und gut 7 Pfund Schwarzbrot per Monat.

Unwillkürlich entsteht da die Frage, wie die Arbeiter dabei leben können. Nun muß hier bemerkt werden, daß in vielen Fabriken Mittagessen für die Arbeiter verabfolgt wird. Dies Mittagessen ist freilich nicht sehr gut, im Gegenteil sehr minderwertig. Nur in einer Fabrik habe ich das Mittagessen für relativ einfach, aber vorzüglich kräftig befunden. Dies war in der vierten Regierungsfabrik für die Textilindustrie. Aber alle diese Sachen sind noch im Anfang begriffen. In dieser Fabrik arbeiten zum Beispiel 1500 Personen. Aber nur 500 können das Mittagessen verabfolgt bekommen. Es muß erst für die übrigen eingerichtet werden. Dies stößt aber auf große Schwierigkeiten. Man braucht Lokale, man braucht Lebensmittel. Für dieses Mittagessen bezahlen die Arbeiter nur 20 oder 30 Rubel.

Was machen nun aber die übrigen Arbeiter, die kein Mittagessen bekommen? Sie versuchen sich selbst zu versorgen. Wie? Von den 1500 Arbeitern, die dort beschäftigt sind, kommen 10 Proz. nicht zur Arbeit. Sie bleiben von der Arbeit fern, obzwar schwere Strafen darauf gesetzt sind. Wer drei Tage hintereinander von der Arbeit fern bleibt, ohne krank zu sein, oder ohne einen andern zwingenden Grund, wird gesetzlich ins Konzentrationslager geschickt. In der Praxis wird das nicht immer so scharf gehandhabt. Wenn es auch die Regierung tun wollte, so tun es doch die Arbeiter nicht. Die erste Instanz für die Verurteilung der Arbeiter, die der Arbeit fern bleiben, sind nämlich in vielen Plätzen die Fabrikkomitees. Und da dies selbst Arbeiter sind, wenig Kommunisten — in dieser Fabrik gibt es z.B. unter den 1500 Arbeitern einen relativ hohen Prozentsatz Kommunisten, nämlich 200, das sind 13,3 Proz.; in einer Lokomotivfabrik in derselben Stadt sind aber von 3350 Arbeitern nur 100 Kommunisten, also nur 0,29 Proz. — so verurteilen sie ihre Arbeitskameraden natürlich nicht. Freilich kommt es in neuerer Zeit vor, daß die Kommunisten in jeder Fabrik eine kommunistische Gruppe schaffen, die hauptsächlich für Spionagezwecke dort ist. Davon sind auch einige gleichzeitig in der Tscheka (außerordentlichen Kommission). Ende August wurden in der Lokomotivfabrik 172 Arbeiter arrestiert, weil sie unter dem Einfluß der Anarchisten und linken S.-R. die Lebensmittelversorgung selbst organisieren wollten und von der Arbeit fern blieben.

Die Arbeiter bleiben also von der Arbeit fern, um sich auf andere Weise das zum Leben zu besorgen, was sie sich in der Fabrik nicht erarbeiten können. Ein Teil von ihnen sind nur „Semiproletarier", d.h. Halb-Proletarier, er ist noch ein halber Bauer und hat noch ein Stückchen Land, das er bearbeitet und das ihn besser nährt. Ein anderer Teil geht auf das Land, um dort zu „hamstern". Die Arbeiter selbst organisieren sich zu diesem Zwecke. Sie senden einige aufs Land um Lebensmittel. Diese kaufen für die ganze Fabrik oder für eine Gruppe von 20 Mann, je nachdem, wieviele sich daran beteiligen, Lebensmittel ein. In der ganzen Ukraine und in ganz Rußland sind diese Art neuer Arbeiterkooperationen der Arbeiter auf ihren Arbeitsplätzen sehr verbreitet. Dies zeigt uns auch eine neue Form der Distribution und Versorgung der Fabrikarbeiter mit Lebensmitteln, die in der Arbeiterschaft spontan, durch die wirtschaftliche Lage bedingt, entstanden. Die Konsumkooperationen waren früher frei, d.h. unabhängig vom Staate. Freilich waren sie dann nicht sozialistisch, sondern, wie alles in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, kapitalistisch durchsetzt. Als sie aber verstaatlicht wurden, dann waren sie wohl staatssozialistisch, hatten aber ihre Leistungsfähigkeit verloren. Sie sind als Organe des Staates nicht selbständig, sondern gebunden, auf den Staat angewiesen, der ihnen die Lebensmittel liefern soll. Der Staat kann dies aber in nur so geringem Maße, daß diese Genossenschaften nicht imstande sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Die Herbeischaffung der Lebensmittel konnte der Staat nur durch die Requisitionspolitik, durch das Militär bewerkstelligen. Eine andere Politik konnte er der schlechten wirtschaftlichen Lage wegen nicht befolgen. Da haben wir wieder die Blockade. Wir bewegen uns also in einem Kreise herum, aus dem heraus wir nicht kommen können, solange die Blockade nicht aufgehoben ist.

Hätte andererseits der Staat die Konsumkooperation nicht verstaatlicht, die selbständigen Konsumkooperationen wären mit den Bauern besser ausgekommen. Die Verstaatlichung der Konsumkooperation war aber die notwendige Folge der Unterbindung des freien Handels zwischen Produzenten. Die Aufhebung des russischen Marktes der Bauern und Handwerker erwies sich als folgenschwerer Irrtum, der sich schwer an der Lahmlegung der Lebensmittelversorgung rächte, wodurch wiederum die Industrie und die gesamte Produktion schwer geschädigt wurde. Nach Abschaffung des Privateigentums hätte das wirtschaftliche Leben ohne weiteres Eingreifen des Staates sich in sozialistischer Richtung bewegt.

All diese Erscheinungen sind äußerst lehrreich und zeigen uns, daß es unmöglich ist, das wirtschaftliche Leben eines Landes durch politische Organisationen zu ordnen, ja daß sogar die Oberherrschaft der Politik über die Wirtschaft von schwerwiegenden zerstörenden Wirkungen sein muß. Unabhängig vom Staate schaffen sich die Arbeiter selbst eigene wirtschaftliche Organe zur Regelung des wirtschaftlichen Lebens, zur eigenen Versorgung und zur notdürftigen Deckung ihres Bedarfs. Der Staat konnte es beim besten Willen nicht durchführen. Er hat nicht das nötige Verständnis dazu. Er ist dem wirtschaftlichen Leben fremd. Dies ist die Sache des arbeitenden Volkes selbst.

Die Versorgung der Städte mit Brennmaterial und Baumaterial, hauptsächlich Holz, nehmen die Sowjets der Städte in die Hand. Der Sowjet in Charkow hat z.B. die Aufgabe, die Stadt mit Winterholz zu versorgen. Das Exekutivkomitee dieses Sowjets setzt sich mit dem Exekutivkomitee der Sowjets der Distrikte in Verbindung. Jede Kommune, jedes Dorf ist verpflichtet, eine bestimmte Menge ihrer Größe und Einwohnerschaft entsprechend zu liefern. Die Sowjets sind dafür haftbar. Im Jahre 1920 bekam die Ukraine im ganzen 6000 Sägen und 4000 Aexte. Diese wurden an die verschiedenen Kommunen verteilt, die wieder gehalten wurden, Holz zu liefern. Die Bauern wollen aber nicht gern für die Regierung Holz fällen, weil sie nicht genügend bezahlt bekommen. Auch hier muß zuzeiten das Militär einschreiten, was wieder böses Blut unter den Bauern gibt.

Die Gewerkschaften in der Ukraine sind ganz gleich organisiert und haben die gleichen Funktionen wie in Rußland, deshalb erübrigt sich hier eine besondere Behandlung. In der Ukraine sind im ganzen 1 173 000 Arbeiter in den Gewerkschaften organisiert. Diese Zahlen fallen auf 13 Gouvernements. Davon sind 280 000 Eisenbahnarbeiter, 162 000 Sowjetbeamte, 134 000 Bergarbeiter, 113 000 Metallarbeiter, 72 000 Arbeiter der Nahrungsmittelindustrie, 58 000 in der Zuckerindustrie, 58 700 Telegraph- und Postangestellte, 49 660 Landarbeiter auf Sowjetgütern, 42 125 Personal in den Krankenhäusern und Hospitälern, 38 000 Aufklärungsdienst (Lehrer, Parteiagitatoren, Journalisten), 31 500 Bekleidungsindustrie, 23 800 chemische und Glasindustrie, 22 900 Lederindustrie, 20 600 Bauindustrie, 18 800 Holzarbeiter, 18 000 Tabakindustrie, 13 000 Textilindustrie, 11 000 graphische Industrie, 3000 Papierindustrie.

Die Arbeiter sind obligatorisch in den Gewerkschaften. Sie wählen Fabrikräte. Diese Fabrikräte wählen einen Sowjet ihrer Industrie für ein ganzes Gouvernement. Dieser Gouvernementssowjet wählt ein Exekutivkomitee, das aus 9 bis 14 Mann besteht. In diesen Gouvernementssowjet sind die Vertreter des Arbeitskommissariats und des Obersten Wirtschaftsrates. Diese Kommissariate üben ihre Tätigkeit durch die Gewerkschaften aus. Oder anders ausgedrückt: Der Oberste Wirtschaftsrat organisiert durch seine Vertreter in den Gewerkschaften, deren Order unbedingt ausgeführt werden müssen, die Produktion: was und wie die Arbeiter arbeiten sollen. Das Arbeitskommissariat verfügt durch seinen Vertreter in den Gewerkschaften, dessen Order ebenfalls strikt durchgeführt werden müssen über die Arbeiter: Wo und wie lange sie arbeiten müssen. Die Arbeiter haben also in den Gewerkschaften keinen Einfluß auf die Produktion, noch auf die Arbeitsbedingungen.

Das Exekutivkomitee des Gouvernementssowjets hat 5 Departements: 1. Wirtschaftsdepartement, 2. für Tariflöhne, 3. für Erziehung, 4. für Organisation und Instruktion, 5. für allgemeine Sachen. Jedes Departement hat dann noch seine Subdepartements. Das Wirtschaftsdepartement ist in zwei Unterabteilungen geteilt: 1. für die Organisation der Industrie, 2. für die Distribution des Proviants und der Arbeitskleider. Die Arbeiter haben nicht das Recht, die Arbeiten der Departements zu kontrollieren, sondern haben nur über die Arbeit zu bestimmen, die ihnen speziell vom Departement zugewiesen wird.

Die Industrie in der Ukraine ist in drei Zweige eingeteilt: Die größte Industrie (Metallindustrie) ist unter der direkten Kontrolle des Obersten Wirtschaftsrates, die Industrien zweiter und dritter Klasse unterstehen dem provisorischen Rate des Obersten Wirtschaftsrates. Es gibt in der Ukraine 42 größere und 14 kleinere Textilfabriken. Die großen Metallfabriken des Landes, 16 an der Zahl, sind zu einem einzigen großen Trust zusammengeschlossen. Die Gruben des Donbeckens sind in 16 Distrikte eingeteilt, die dem Zentralexekutivkomitee der Gewerkschaften der ganzen Ukraine unterstehen, in derselben Weise gegliedert, wie oben beschrieben.

Die Arbeitszeit beträgt gesetzlich 8 Stunden, jedoch wurden während des Krieges in der gesamten Industrie, die mit dem Kriege zusammenhängt, Ueberstunden gemacht. Die Vergütung für die Ueberstunden besteht hauptsächlich in Naturalien. Die Arbeiter erhalten mehr Brot.

Brot und Freiheit! Danach ringen die Arbeiter und Bauern. Inwieweit sie durch die Revolution in deren Besitz gekommen sind, zeigen die hier dargelegten Forschungen; inwieweit sie. sich werden weiter dazu durchringen können, wird die Zukunft zeigen. Abhängig aber ist dies in jedem Falle von der Politik, die die Entente gegen Rußland und die Ukraine führt. So wie Rußland sich im allgemeinen weiter zum Sozialismus entwickeln kann, wenn es unbelästigt wird und unbehindert die Kräfte, die im Volke sind, sich entfalten können, so werden die Arbeiter und Bauern sich Brot und Freiheit in dem Maße erkämpfen können, wie sie von den Regierungen unbelästigt bleiben und ihre Kräfte zur freien Entwicklung gelangen können. Nicht die Sowjetregierung, sondern nur die Bauern und Arbeiter können den Sozialismus für sich schaffen. Dies zeigte uns die Entwicklungsphase der russischen und ukrainischen Revolution. Die Bolschewisten als Staatssozialisten haben uns gezeigt, daß sie den Sozialismus nicht bringen können.

Erinnerungen an Lenin

Meine erste flüchtige Begegnung mit Lenin hatte ich 1917 in Stockholm, als er mit einer Gruppe russischer Revolutionäre aus der Schweiz durch Deutschland nach Schweden gekommen war, um von hier über Finnland weiterzureisen. Näher lernte ich ihn 1920 in Moskau beim II. Kongreß der III. Internationale kennen, wo er gegen meine Ausführungen polemisierte. Ein hinreißender Redner war er nicht. Am Rednerpult war ihm Trotzkij überlegen. Was er vortrug, war jedoch durchdacht und klang logisch. Man hatte den Eindruck, daß hier einer sprach, der genau wußte, was er wollte. Seine Diktion war indes mittelmäßig.

Einige Wochen nach dem erwähnten Kongreß war ich zusammen mit dem australischen Gewerkschaftsdelegierten Paul Freeman zu Lenin in den Kreml eingeladen. Er wollte mit uns über gewisse Aspekte der Weltrevolution sprechen, die, wie wir damals glaubten, sozusagen vor der Tür stand. Doch es gab Meinungsverschiedenheiten unter uns darüber, wie die Revolution durchzuführen sei. Nach Lenins Auffassung litten wir jüngeren — ich war 28 — an „ideologischen Kinderkrankheiten". Er wußte, daß wir keine Kommunisten waren, hatte ich doch auf dem Kongreß erklärt, daß ich mich nicht zum Marxismus bekenne. Vermutlich war das der Grund für ihn, uns nun davon überzeugen zu wollen, daß ohne Eroberung der politischen Macht durch die Kommunisten und ohne Diktatur des Proletariats der Sozialismus nicht siegen könne. Die Syndikalisten, die wir vertraten, waren damals ein nicht unbedeutender Faktor auf dem linken Flügel der internationalen Arbeiterbewegung.

Lenin wies in unserem Gespräch auf die Wichtigkeit der Verstaatlichung der Produktionsmittel hin. Die von den Arbeitern übernommenen Betriebe müssen, betonte er, unter eine straffe zentrale Leitung gestellt werden. Nur dadurch könne der Sozialismus verwirklicht werden, und nur dieser Weg führe zum Sieg des Kommunismus. Er gab der Hoffnung Ausdruck, daß das, was wir in Rußland sehen und lernen, uns bei den Revolutionen in unseren Ländern von Nutzen sein werde.

Unsere Frage, ob in Rußland eine Gegenrevolution möglich sei, verneinte er. Den Zarismus habe bereits die Februarrevolution gestürzt und der Kapitalismus in Rußland sei durch die Oktoberrevolution abgeschafft worden. Auch von der Linksopposition, fügte er hinzu, drohe keine Gefahr. Den „Linkselementen" fehle die „marxistische Erkenntnis der Revolution", sie seien auch organisatorisch schwach. Die Kommunistische Partei habe die Situation im ganzen Lande unter Kontrolle, der Sieg der Kommunismus sei gesichert.

Neues haben wir von Lenin nicht erfahren. Was er uns vortrug, waren stereotype marxistische Gedankengänge, die ich seit Jahren kannte. Die Überzeugung, daß die Kommunistische Partei allein den Gang der Ereignisse kenne, bestimmen und mit Gewalt durchsetzen müsse, war schließlich seit dem Oktoberumsturz 1917 sein Leitmotiv.

Angesichts des Revolutionsterrors, den er praktizierte, könnte man Lenin als den Robespierre der russischen Revolution bezeichnen. Dieser Terror hat die Unterdrückungsmethoden des Zarismus in den Schatten gestellt. Hierzu noch ein Beleg vom 9. August 1918. An diesem Tag telegraphierte Lenin an den Stadtsowjet von Nischnij Novgorod:

„In Nischnij Novgorod bereiten die Weißen anscheinend eine offene Erhebung vor. Mobilisieren Sie alle Kräfte! Errichtung eines Tribunals und Durchführung von Massenterror! Prostituierte, die den Offizieren und Soldaten Wodka einschenken, erschießen oder deportieren. Kein Zögern! Handeln Sie rasch! Haussuchungen in Massen, Hinrichtungen, wo Waffen gefunden werden. Massendeportationen von Menschewisten und anderen."

Als Folge dieser Aufforderungen wurden laut Bulletin in der Tscheka 46 Personen in Nischnij Novgorod erschossen.

Lenin ist auch verantwortlich zu machen für die geistige Intoleranz. Auf seine Anordnung hin ließ seine Frau, die Krupskaja, Leiterin der Staatlichen Kulturkommission, die Bibliotheken säubern. Die Werke idealistischer Philosophen, die Bücher Piatons, Descartes, Kants, Schopenhauers, Machs und Nietzsches wurden aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt.

Lenin wollte die Entwicklungsphase des Kapitalismus in Rußland überspringen. Sein Sprung führte in den Staatskapitalismus.

Und wer hat Lenin zum Sieg über Kerenskij verholfen? Die Matrosen von Kronstadt, in ihrer Mehrheit keineswegs Bolschewisten, die beim Sturm auf den Winterpalast durch die Schüsse der „Aurora" den Ausschlag gaben —, die Matrosen von Kronstadt, die wenige Jahre später die große Anklage gegen jene erhoben, die die Revolution erwürgten. Ohne sie wäre er nicht zur Macht gekommen. Ohne sie stünde sein Name in den Annalen der Revolutionsgeschichte als der eines exzentrischen Parteiführers und Marxinterpreten.

Lenin ist nicht der einzige Revolutionsführer, der seine geschichtliche Bedeutung der namenlosen Masse verdankt.

Gespräch mit Augustin Souchy

Sie agitieren bei wilden Streiks, besetzen Wohnungen, stürmen Rathäuser, und einige berauben Banken. Ihr Ziel ist eine brüderliche Gesellschaft, eine idyllische Welt. Sie nennen sich Maoisten, Trotzkisten und Kommunisten. Man nennt sie Chaoten. Sie sind Anarchisten ..." Mit diesen Sätzen begann das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vor einigen Jahren einen Bericht unter der Überschrift „Anarchismus: Aufstand der Basis".

Herr Souchy, in Ihren Erinnerungen „Vorsicht: Anarchist!", die den Untertitel „Ein Leben für die Freiheit" (Luchterhand) tragen, vermitteln Sie aber ein ganz anderes Porträt des Anarchismus und des Anarchisten, als der zitierte „Spiegel'-Report. Was ist – mit wenigen Worten gesagt – der Anarchismus wirklich und was wollen die Anarchisten?

Ein Gläubiger faßt die Religion anders auf als ein Ungläubiger. Der Spiegel-Report wirft mit inhaltslosen Phrasen um sich. Ernsthaft gesprochen: Es gibt mehrere Interpretationen des Anarchismus. Wörtlich übersetzt bedeutet Anarchismus Herrschaftslosigkeit. Damit kann der Leser aber wenig anfangen. Er will natürlich wissen, wie eine herrschaftslose Gesellschaft funktionieren soll. Darüber wurden Bücher geschrieben, und hierfür gibt es auch praktische Experimente. Die bedeutendsten sind die Kollektivwirtschaften während des spanischen Bürgerkrieges und die Kibbuzim in Israel. Die populärste Definition wäre: Anarchismus ist gleichbedeutend mit freiheitlichem Sozialismus. Aber ich halte nicht viel von Substantiven, die mit dem Suffix -mus enden; sie sollen alles sagen, doch vor lauter Verallgemeinerung kommt es zu wenig Konkretem. Undogmatisch betrachtet drücken die Postulate der Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die heute noch in den französischen Münzen eingeprägt sind, das aus, was die Anarchisten wollen.

Übrigens gibt es verschiedene Strömungen im Anarchismus: die individualistische (Max Stirner) die kollektivistische (Michael Bakunin) und die kommunistische (Peter Kropotkin), wobei bemerkt werden muß, daß die Unterschiede der beiden letztgenannten gering sind. Proudhon, den man den Vater der Anarchie nennt, definierte in einem Brief aus dem Jahre 1864 seine Auffassung mit folgenden Worten:

„Die Anarchie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Regierungsform oder Verfassung, in welcher das öffentliche und private Gewissen, gebildet durch die Entwicklung von Wissenschaft und Recht, allein zur Erhaltung der Ordnung und Sicherstellung aller Freiheiten genügt, in welcher also das Autoritätsprinzip, die polizeilichen Einrichtungen, die Steuern usw. auf das einfachste beschränkt sind, in welcher vor allem die monarchistischen Formen, die Zentralisation — durch föderative Einrichtungen und kommunale Bräuche ersetzt — verschwinden."

Colin Ward, ein englischer Anarchist, schrieb vor einigen Jahren, der Anarchismus sei „eine Theorie der spontanen Ordnung". Was ist darunter zu verstehen?

Spontane Ordnung mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, ist es aber nicht. Das Wort spontan (lat. spontaneus) hat eine doppelte Bedeutung, einmal plötzlich, ohne äußeren Anlaß, zum anderen freiwillig, aus innerem Antrieb. Colin Ward meint freiwillige Ordnung, den Gegensatz zur erzwungenen Unterordnung.

Wie verhält es sich aber mit einem Kernpunkt der anarchistischen Theorie: der Abscheu vor jeglicher staatlicher, kirchlicher, rechtlicher und polizeilicher Autorität?

Der Anarchismus ist eine sozio-kulturelle Bewegung, keine politische Partei zur Eroberung der Macht. Sein Bereich ist die Kritik der Herrschaft, nicht deren Ausübung. Daß Macht korrumpiert, ist allbekannt. Nähmen die Anarchisten an der Macht teil, dann würden auch sie korrupt werden. In der Nichtbeteiligung an der praktischen Politik liegt ihre Einzigartigkeit, ihre Bedeutung für den Fortschritt. Das sagt aber nicht, daß sie sich der sozialen Verantwortung entziehen.

Nach ihrem anfänglichen Teilsieg über die Franco-Generäle nahmen die spanischen Anarcho-Syndikalisten an der Regierung teil, verzichteten aber auf die Diktatur. Darin unterschieden sie sich von den marxistischen Bolschewisten in Rußland. In Barcelona wurde der Anarchist Eroles Polizeipräsident. Doch auch auf diesem Posten wurde er nicht autoritär. Als es darum ging, die Straßen von den überhandnehmenden ambulanten Händlern freizumachen, überließ er es den anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften, die das Problem in einer einzigen Vollversammlung lösten, indem sie beschlossen, daß nur die vorher organisierten Straßenhändler ihr Metier ausüben sollten. Dieser Beschluß genügte. Tags darauf waren die Straßen frei.

In dem erwähnten „Spiegel“-Report über den Anarchismus heißt es lapidar: „Alle Anarchisten lehnen neben institutionellem Zwang auch intellektuelle Lenkung ab". In der Tat sahen die „Väter des Anarchismus" wie Proudhon und Bakunin in den Gelehrten und Intellektuellen die Tyrannen der Moderne. Das hat sich bis in den deutschen Nachkriegs-Anarchismus fortgesetzt. Worin liegt die Ursache für diesen anti-intellektuellen Affekt des Anarchismus?

Ich muß Ihnen widersprechen. Proudhon und Bakunin zum Beispiel haben sich keineswegs grundsätzlich gegen die Intellektuellen gewandt, wie man beim Studium ihrer Schriften leicht feststellen kann. In der Frühzeit der internationalen Arbeiterbewegung, als die soziale Kluft zwischen Proletariat und Bourgeoisie viel größer und der Bildungsgraben zwischen beiden tiefer war, konnte ein gewisses Mißtrauen der Unterprivilegierten gegen die Oberen berechtigt erscheinen. Doch bereits auf dem Genfer Kongreß des föderalistischen Flügels der I. Internationale, nach der Spaltung zwischen Marxisten und Bakunisten, erklärten die bakunistischen Arbeitervertreter — Vorgänger der Anarchisten — daß ein Intellektueller ein ebenso guter Revolutionär sein könne wie ein Arbeiter. Der Anarchist Proudhon, Sohn eines Handwerkers, und der Anarchist Bakunin, Aristokratensprößling, waren beide Intellektuelle. Während meiner fast siebzigjährigen Militantenzeit in der internationalen anarchistischen Bewegung bin ich nie auf Mißtrauen anarchistischer Arbeiter gegen Intellektuelle gestoßen. In Deutschland genossen Gustav Landauer und Erich Mühsam, beide anarchistische Theoretiker und Intellektuelle, unter den anarchistischen Arbeitern größtes Vertrauen — und nicht nur unter diesen.

Haben sich grundsätzliche Zielvorstellungen und Strategien des Anarchismus seit seinen Anfängen im vorigen Jahrhundert verändert? Welche wären das?

Die anarchistischen Postulate vom vorigen Jahrhundert sind heute noch aktuell. Bakunin schrieb in den siebziger Jahren: „Die neue freie Gesellschaft muß vom Gottesglauben befreit sein und sich auf den Kult der Liebe und Achtung vor der Menschheit stützen. Grundlage der sozialen Neuordnung sollen die individuelle und kollektive Freiheit und das menschliche Gewissen sein. Die Monarchie, die sozialen Klassen und Rangstufen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien müssen abgeschafft, die allgemeine Wehrpflicht und stehende Heere aufgelöst, die Frau dem Mann auf allen Gebieten gleichgestellt werden. Die öffentlichen, gerichtlichen und zivilen Funktionäre sowie die kommunalen und regionalen Vertreter oder Räte müssen direkt gewählt werden, die wirtschaftliche Struktur muß sich von unten nach oben, von der Peripherie nach dem Zentrum organisieren. Offizielle Religionen oder Staatskirchen werden abgeschafft, die völlige Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlungen und Vereinigungen wird allen garantiert. Gemeinden sind autonom und senden Vertreter in Provinzialverwaltungen. Diese wiederum können sich zu einer Nation vereinigen, aber sie dürfen nicht zwangsweise einverleibt werden. Die freien Nationen sollten sich in einem Völkerbund zur Aufrechterhaltung und Verteidigung von Frieden und Freiheit zusammenschließen".

Und weiter: „Die politische Freiheit setzt ökonomische Gleichheit voraus. Soziale Gleichheit läßt sich aber nur erreichen, wenn vorher das Erbrecht abgeschafft wird. Das Privateigentum an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln darf nicht in Staatseigentum verwandelt, es muß Kollektiveigentum werden. An die Stelle der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung tritt eine freiwillige Kollektivwirtschaftsordnung".

Das sind die Programmpunkte Michael Bakunins. Einige davon sind heute verwirklicht, andere müssen noch erkämpft werden. Im Gegensatz zu Karl Marx fordert Bakunin nicht die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats. Proudhons Grundsätze habe ich Ihnen bereits zitiert. Die Auffassungen Kropotkins gehen in die gleiche Richtung. Wer könnte behaupten, daß diese Auffassungen heute veraltet sind?

Ein besonderes Kapitel Ihres Buches widmen Sie dem Thema „Anarchismus und Gewalt". Sie bestreiten darin, daß der Anarchismus eine Bewegung der Gewalt ist: „Die anarchistische Ideologie, im Grunde nichts anderes als der Entwurf für eine Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft, schließt begrifflich Gewalt und erst recht Terror aus, denn wo es keine Herrscher und keine Beherrschten gibt, erübrigen sich Attentate und Terror“. Das bedeutet doch aber nicht, daß bis zur Erreichung dieses Zieles kein Terror, keine Gewalt angewandt wird?

Der Grundsatz der Gewaltlosigkeit ist dem Anarchismus inhärent, er gehört zum Wesen der Herrschaftslosigkeit. Würden Sie vertrauen zu einem Menschen haben, der Ihnen sagt: „Heute bin ich ein Teufel, morgen werde ich ein Engel sein"? In der anarchistischen Gesellschaftstheorie findet man nichts von Gewalt und Terror. Als Rudolf Krämer-Badoni in seinem Buch den Satz schrieb: „Der Terror geht aus der anarchistischen Ideologie hervor", antwortete ich ihm, daß diese Behauptung ein semantischer Nonsens sei, daß Anarchismus nur bei Abwesenheit von Gewalt und Terror möglich ist. Das muß immer wieder betont werden.

Das Mißverständnis, den Anarchismus mit Gewalt und Terror zu identifizieren, stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Es gab Attentäter, die sich Anarchisten nannten, ob sie es wirklich waren und was sie unter dem Wort verstanden, ist nicht bekannt. Als im März 1881 ein russischer Nihilist ein Attentat auf den Zaren verübte und im Juli des gleichen Jahres ein internationaler Anarchistenkongreß in London sich für die „Propaganda durch die Tat" aussprach – in Südeuropa war vor einem Jahrhundert die Hälfte der Bevölkerung analphabetisch und schriftlicher Propaganda nicht zugänglich – war die Gedankenkette von Gewalt, Terror, Tat und Attentat bis zum Anarchismus geschlossen. Auch im 20. Jahrhundert gab es einige Attentate, die von Anarchisten begangen wurden. Unter den vielen Tausenden Anarchisten, die ich kennengelernt habe, gab es nur drei Attentäter: Alexander Berkman, Buenaventura Durruti und Simon Radowitzky. Sie wollten Schuldige bestrafen, die dank ihrer gehobenen Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie von der Justiz verschont blieben, obwohl sie für schändliche Verbrechen verantwortlich waren. Meine Gesinnungsfreunde waren nicht so naiv, zu glauben, daß Freiheit und soziale Gerechtigkeit mit Gewalt und Terror eingeführt werden können. Sie fühlten sich als Arm der Justiz und setzten ihr eigenes Leben für die Gerechtigkeit ein.

Sie betonen die Gehaltlosigkeit des Anarchismus. Wie ist dann aber der Satz Bakunins zu verstehen: „Jeder Staat ist verderblich, nur Bomben und Blut können eine Reinigung bewirken"?

Mir ist dieses Bakuninwort nicht im Gedächtnis, obwohl ich Bakunins Werke gründlich gelesen habe. Nehmen wir aber an, daß es authentisch ist, dann muß man es natürlich aus der politischen Situation zu Bakunins Lebzeiten heraus beurteilen. Richard Wagner, Bakunins Kampfgefährte beim Dresdner Maiaufstand von 1849, den man gewiß nicht als Gewaltprediger bezeichnen kann, schrieb in den vom Kapellmeister Rockel herausgegebenen Volksblättern seine berühmten Aufsätze über Kunst und Revolution, worin er sagt:

„Ich will zerstören die Herrschaft des einen über den andern. Ich will zerbrechen die Gewalt des Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums. Zerstören will ich die Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt".

Max Stirner, der Theoretiker des individualistischen Anarchismus, hätte nicht schärfer formulieren können. Daß die von Wagner geforderte Zerstörung nicht ohne Gewaltanwendung erreicht werden konnte, ist doch wohl klar. Dennoch wäre es falsch, Wagner als einen Gewaltapostel zu bezeichnen. Das gleiche trifft für Bakunin zu. Seine berühmt-berüchtigten Worte: „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust" bedeuten nicht Zerstörung um ihrer selbst willen, sondern Zerstörung des Alten, des Unterdrückenden, verbunden mit Aufbau des Neuen, des Befreienden. Nur so dürfen diese Worte verstanden werden. Jede andere Interpretation trifft nicht die Intentionen Bakunins.

Es gibt anarchistische Theoretiker, die bis zum äußersten die Gewaltlosigkeit vertreten haben. Einer von ihnen ist der französische Philosoph Han Ryner. In seiner Utopie Les Pacifiques führt er uns in das von Plato erwähnte sagenhafte Atlantis, dessen in einer anarchistischen Gesellschaft lebende Einwohner sich von schiffbrüchigen Gewaltmenschen widerstandslos hinmorden ließen. Ich habe das Buch ins Deutsche übersetzt; es wurde 1926 unter dem Titel Nelti in Berlin veröffentlicht.

Jedenfalls: die anarchistische Lehre ist dogmenfrei. Wer ein Volk von seinen Unterdrückern, Autokraten, Diktatoren oder sonstigen Gewalthabern mit Gewalt befreit, braucht nicht Anarchist zu sein. Gewalt war bisher das Grundprinzip aller Archien (von der Monarchie bis zur Oligarchie) und aller Kratien (von der Aristokratie und Plutokratie bis zur Demokratie). Um die Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, bedarf es der Gewalt. Nur in einer Anarchie, einer Ordnung ohne Herrschaft, ist die Gewalt überflüssig.

Nun werden deutsche Terroristen wie Baader, Meinhof, Ensslin und andere in der Presse immer wieder als „Anarchisten" bezeichnet. Waren sie Anarchisten?

Nein. Sie haben selbst mit aller Deutlichkeit in ihrer Grundsatzerklärung gesagt, daß sie Marxisten, Leninisten und/oder Maoisten sind. Daß sie trotzdem im Rundfunk, Fernsehen und auch in der Presse als Anarchisten bezeichnet werden, ist auf Ignoranz zurückzuführen. Bedauerlich, daß selbst Willy Brandt, als er noch Bundeskanzler war, im Juni 1972 bei einer Rundfunkrede die Gruppe der Baader, Meinhof und Genossen als kriminelle Anarchisten bezeichnete. Ich hatte ihn brieflich auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht. Er gab eine ausweichende Antwort. Meine diesbezügliche Korrespondenz mit ihm habe ich, wie Sie wissen, in meinen Memoiren veröffentlicht.

Es heißt bei Ihnen: „Bis auf den heutigen Tag begehen nationalrevolutionäre Terroristen, die alles andere als Anarchisten sind, Attentate, ohne daß man den Nationalismus dafür verantwortlich macht". Würden Sie sagen, daß die Zahl der von Anarchisten begangenen Gewaltakte keineswegs höher, ja vielleicht sogar weit unter jener liegt, die von anderen Gruppierungen verübt wurden oder werden?

Jawohl, das sage ich, und das kann ich auch beweisen. Politische Attentate gab und gibt es seit Jahrtausenden, die anarchistische Lehre wurde im vorigen Jahrhundert — etwa gleichzeitig mit der marxistischen — formuliert. Der athenische Tyrann Hipparch fiel 514 vor unserer Zeitrechnung einem Attentat zum Opfer. Seitdem wurden viele Unterdrücker ermordet, ohne daß die Attentäter Anarchisten waren. Während der letzten Jahrzehnte wird die Welt von politischen Terrorakten in nie gesehenem Ausmaß heimgesucht. Die Täter sind fanatische Nationalrevolutionäre, lateinamerikanische Guerilleros, Tupamaros, arabische Fedayin, kroatische Ustaschis, nationaltürkische Studenten, Black Panthers, baskische ETA-Militanten, irische Befreiungskämpfer, dazu Leninisten, Maoisten, Trotzkisten. Der millionenreiche italienische Verleger Feltrinelli, der bei einer Bombenexplosion ums Leben kam, war Maoist. Im Gegensatz dazu kann man die von den Anarchisten in einem ganzen Jahrhundert verübten Attentate an den Fingern abzählen, die nationalrevolutionären Terrorakte der letzten zehn Jahre gehen auf keine Leporelloliste.

Der Terror entspringt keiner spezifischen Ideologie. Der individuelle Terror ist eine desperate Waffe, mit der man am allerwenigsten eine freie und solidarische Gesellschaftsordnung verwirklichen kann. Der organisierte Massenterror ist besonders reprobabel. Der stalinsche Zwangskollektivierungsterror kostete ungezählten Muschiks das Leben. Und wenn man den Bogen der Geschichte weiter spannt, darf man auch den inquisitorischen Religionstenor des Mittelalters nicht vergessen, dem Hunderttausende von „Ketzern" und „Hexen" zum Opfer fielen.

Die anarchistische Ideologie kann weder mit dem individuellen noch mit dem Massenterror in Zusammenhang gebracht werden.

Sie zitieren Kant, der in seiner ,,Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", Königsberg 1798, sagt: „Anarchie (ist) Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Was bedeutet das?

Das ist eine Frage der Semantik. Kant meinte in diesem Zusammenhang mit Gewalt das, was im französischen unter dem Wort pouvoir verstanden wird, wobei er ohne Zweifel an die besonders von Montesquieu in seinem Werk l'Esprit des Lois ( Vom Geist der Gesetze) geforderte Teilung in eine legislative, eine exekutive und eine juridische Gewalt gedacht hat. Ins deutsche wurde pouvoir (lateinisch: potential) mit Gewalt, Macht, Amtsgewalt, Herrschaft, Oberherrschaft und auch Herrscher usw. übersetzt. Kant wollte mit seinem Satz ausdrücken, daß es in der Anarchie keine dieser Gewalten gebe.

Günter Bartsch, der Historiker des deutschen Nachkriegs-Anarchismus, sagt, der Anarchismus sei „Antipolitik", also die entschiedene Leugnung von politischer Realität – von „Macht". Dies käme einem Protest gegen die Realität überhaupt gleich. Ist das richtig?

Die Anarchisten waren stets bemüht, auf die polis, die öffentlichen Angelegenheiten, in der Richtung von Fortschritt, Freiheit und Frieden einzuwirken. Sie gaben Anstoß zu Bürgerinitiativen, lange ehe das Wort in Umlauf kam. Der 1. Mai, Weltfeiertag der Arbeit, ist der Initiative der Chicagoer Anarchisten (1886) zu verdanken. Dafür mußten fünf Anarchisten ihr Leben lassen (vier von ihnen waren gebürtige Deutsche). In Mexiko waren es die Anarchisten, die als erste die Parole Land und Freiheit lancierten und damit zu Urhebern der ersten Agrarreform Lateinamerikas (1917) wurden. In aller Welt standen die Anarchisten, zu denen sich später die radikalen Pazifisten gesellten, an der Spitze der antimilitaristischen und Antikriegsbewegung, die besonders von den deutschen Marxisten vernachlässigt oder gar sabotiert wurde. Der Widerstand gegen den spanischen Militärputsch im Jahre 1936 ging vor allem von den Anarcho-Syndikalisten aus. In Frankreich war es der Anarchist Louis Lecoin, der, ohne Abgeordneter zu sein, es fertig brachte, durch eine gezielte individuelle Aktion, den Hungerstreik, 1962 die Einführung des Zivildienstgesetzes für Militärdienstverweigerer zu beschleunigen. Polis? Antipolitikum? Direkte Aktion? As you want.

Herr Souchy, Sie kommen in Ihrem Buch zu folgendem Ergebnis: „Nach meinen geschichtlichen Kenntnissen und eigenen praktischen Erfahrungen kann keine Revolution alle sozialen Übel ein für allemal aus der Welt schaffen. Die große Französische Revolution, die den Feudalismus und die absolute Monarchie beseitigte, vermochte nicht das Aufkommen des ausbeuterischen Privatkapitalismus zu verhindern. Die Russische Revolution stürzte den Zarismus, doch die neuen Machthaber errichteten ein staatskapitalistisch-hierarchisches Diktatursystem und einen Polizeistaat, unter dem das Volk noch heute aller Freiheiten beraubt ist und soziale Ungleichheiten fortbestehen“.

Sie müssen zugeben, daß dieser Zweifel am historischen Erfolg praktisch aller Revolutionen aus dem Munde eines Anarchisten überrascht. Wenn nicht Revolution, was dann?

Hier liegt wohl ein Mißverständnis vor. Nach einem Hinweis auf Degenerationserscheinungen der mexikanischen Revolution, die ich aus eigener Erfahrung kennengelernt habe, fahre ich in meinem Buch fort: „Es ist Aufgabe nachfolgender Generationen, neue Mißbräuche und gesellschaftliche Übel durch ständige Volksinitiativen zu verhindern oder auch, wenn es auf friedlichem Wege nicht geht, durch neue Revolutionen zu beseitigen. So war es in der Vergangenheit, und alles deutet daraufhin, daß es in nächster Zukunft nicht anders sein wird. Immer noch bewegt sich das Pendel der Geschichte zwischen den beiden Polen: Autorität und Freiheit". Revolution und Evolution sind zwei Phasen des gleichen Prozesses. Die Revolution ist eine akzelerierte Evolution, die wiederum in eine neue Revolution ausmündet, wenn sie in ihrem Bewegungsrhythmus gehemmt wird.

Das führt mich zu der Frage nach dem Verhältnis des Anarchismus zur marxistischen Theorie des „Klassenkampfes"?

Die historisch umstrittene These, nach welcher die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Klassenkämpfe ist, hat für den Freiheitskampf und den Fortschritt der Menschheit keine Bedeutung. Das Ziel, die Eroberung der politischen Macht, führte nicht zur Emanzipation des Proletariats, sondern zur Errichtung einer neuen Herrschaftselite. Die Anarchisten unterstützen seit jeher die Kämpfe der Arbeiter für bessere Lebensbedingungen und mehr Freiheit. Dazu benötigten sie keine besondere Theorie, ihr Leitmotiv war und ist Humanismus. Proudhon, dessen Buch über das Eigentum Marx zum Sozialismus bekehrte, schlug zur Abschaffung der Klassengegensätze freie Vereinigungen bzw. Genossenschaften von Produzenten und Konsumenten in Stadt und Land und deren föderative Zusammenarbeit auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vor. Das war ein Klassenkampf besonderer Art. Seitdem hat sich die Genossenschaftsbewegung im Laufe von mehr als einem Jahrhundert zu einem beachtlichen Faktor in der Volkswirtschaft entwickelt, in dessen Bereich es keinen Klassenkampf im marxistischen Sinne gibt. Mitglieder von Produktionsgenossenschaften sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Person.

In Deutschland verfocht der 1919 in Bayern ermordete freiheitliche Sozialist Gustav Landauer ähnliche Ideen. „Der Anarchismus", sagt er, „hat keine andere Aufgabe als die: zu erreichen, daß der Kampf des Menschen gegen den Menschen, möge er welche Gestalt auch immer haben, aufhöre, auf das die Menschheit sich emporringen und im Verband des Menschengeschlechts jeder Einzelne die Position einnehmen kann, die er kraft seiner natürlichen Anlagen herauszustellen vermag".

Daß Bakunin und Kropotkin ihr ganzes Leben an der Seite der unterdrückten Klassen und Völker kämpften, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Weniger bekannt dürfte die Stellungnahme Max Nettlaus, des Historikers des Anarchismus, zu dieser Frage sein. In seiner 1897 in London veröffentlichten Schrift Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf fordert er die Arbeiter auf, sich selbst als verantwortliche Produzenten zu fühlen, die Herstellung von Mordwaffen zur Kriegsführung zu verweigern, keine minderwertigen Häuser in den Proletarierquartieren der Großstädte zu bauen, keine Waren von schlechter Qualität zu fabrizieren, Lebensmittelverfälschung und unfaire Reklame zu brandmarken. Aktionen dieser Art, an denen die Organisationen der sich als Produzenten verantwortlich fühlenden Arbeiter und die Konsumvereine teilnehmen müßten, würden dem Klassenkampf einen höheren Humanitätswert verleihen.

Schließlich dürfen auch die bereits erwähnten fünf anarchistischen Klassenkämpfer, die Märtyrer von Chicago, nicht vergessen werden, die 1886 für ihren Einsatz um den Achtstundentag ihr Leben lassen mußten. Mein Resumé: der angewandte Marxismus führte, wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, zur anonymen Vermassung — Ziel des Anarchismus ist die individuelle Freiheit, gepaart mit Verantwortlichkeit.

Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, daß Sie zu der Erkenntnis gekommen seien, „daß Verstaatlichung der Produktionsmittel die Ausbeutung nicht beseitige und eine staatlich geplante Bedarfswirtschaft die soziale Ungleichheit nicht aufhebe". Und schließlich: „Aufs Ganze gesehen wird sich auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung das Lohnsystem nicht völlig beseitigen lassen, und wenn die soziale Gerechtigkeit als Maßstab dient, ist das Lohnsystem als solches kein Übel".

Bedeutet das nicht — streng genommen — eine Absage an die Vorstellungen der klassischen anarchistischen Theoretiker?

Als Feind der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ist der Anarchismus natürlich auch Gegner der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital. Über die Frage des Arbeitswertes und Lohnes gibt es mehrere quer durch die einzelnen Richtungen gehende Theorien. Der individualistische Anarchist Benjamin Tucker sah in den Monopolen — Landmonopol, Geldmonopol, Machtmonopol usw. — die Grundursache der sozialen Übel. Proudhon schlug ein zinsloses Kreditsystem mit dazu gehöriger Tauschbank vor. Nach Meinung des kommunistischen Anarchisten Kropotkin können die Einwohner eines Dorfes auf der Grundlage kollektiven Landeigentums ihre gemeinsame Wirtschaft ohne Lohn und ohne Geld regeln. Kropotkin arbeitete aber kein Wirtschafts- oder Gesellschaftsmodell für ein ganzes Land aus. Ein solches hätte nur, wie er mir 1920 in Rußland sagte, mit staatlicher Gewalt eingeführt werden können, was im Widerspruch zur Freiheit, zum Anarchismus selbst, stünde.

Die heute noch kursierenden Gesellschaftstheorien des Sozialismus, Anarchismus, Kommunismus etc. wurden im vorigen Jahrhundert aufgestellt. Angesichts des technischen, industriellen und sozialen Fortschritts, den es seither gegeben hat, müssen diese Theorien aufs neue überprüft werden. Die Auffassung, daß Theorien einer ständigen Überprüfung bedürfen, war auch Proudhon. Als Marx ihn zur Mitarbeit an einem Korrespondenzblatt einlud, erwiderte er ihm in einem Brief vom 17. Mai 1846, er würde nur mitarbeiten, „wenn jede Ausschließlichkeit und jeder Mystizismus verbannt, wenn niemals eine Frage als erschöpft betrachtet wird, und wenn wir, nachdem unser letztes Argument vorgebracht worden ist, falls erforderlich, mit Eloquenz und Ironie von vorne anfangen. Unter dieser Bedingung bin ich bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, anderenfalls nicht". Mit dieser Bedingung war der dogmatische Marx freilich nicht einverstanden.

Zu Proudhons und Marxens Zeit konnten nur die Ideologien miteinander verglichen werden. Heute sind wir in der Lage, die erdachten Theorien mit der konkreten Wirklichkeit zu konfrontieren und die soziale Revolution auf ihren sozialistischen Wahrheitsgehalt und Inhalt zu prüfen. Gerade das ist es, mit dem ich mich seit mehr als 50 Jahren beschäftige. Aus meinem Erfahrungsschatz will ich zwei Beispiele im Zusammenhang mit der von Ihnen gestellten Frage über das Lohnsystem anführen:

1. In den während des spanischen Bürgerkrieges gegründeten Colectividades (landwirtschaftliche Kollektivwirtschaften) führte man einen einheitlichen Lohn für alle, einschließlich für den Dorfarzt, ein. Der Leitgedanke war, jeder nach seinen Bedürfnissen, das bedeutete Bezahlung nach Anzahl der Familienmitglieder. Nach Abschluß des Erntejahres erhielt jeder den gleichen Anteil vom eventuellen Überschuß. In den kollektivierten Industrie- und Handelsunternehmen wurden die hohen Direktorengehälter abgeschafft, die mittleren Ingenieurlöhne aber beibehalten, da man die qualifizierten Arbeitskräfte benötigte. Die Einkommensunterschiede waren reduziert worden. Die Betriebsangehörigen übernahmen selbst die Leitung. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war aufgehoben. Ich befand mich während des ganzen Bürgerkrieges im Lande und habe dies alles persönlich miterlebt.

2. In den israelischen Kibbuzim, die zum Teil durch Gustav Landauers anarcho-sozialistisches Ideal inspiriert waren, wurde das Lohnsystem ganz abgeschafft. Die Kibbuzstruktur entsprach Kropotkins kommunistischem Anarchismus. Zur Zeit der Ernte aber war man gezwungen, Lohnarbeiter fürs Pflücken der Zitrusfrüchte einzustellen. Es kam zu theoretischen Auseinandersetzungen unter den Kibbuzmitgliedern. „Die Einstellung von Lohnarbeitern richtet die idealistische Grundlage des Kibbuz zugrunde", sagten die alten Kibbuzniks. „Wenn wir die gewünschten Löhne zahlen und die Lohnempfänger als Kameraden behandeln, sind wir keine kapitalistischen Ausbeuter" erwiderten die Neuerer, die in der Mehrheit waren. Ich habe die Diskussionen an Ort und Stelle angehört. Als später die meisten Kibbuzim Industrieunternehmen gründeten, veränderte sich die organisatorische Struktur. Die Lohnarbeit, anfangs Ausnahme, wurde zur Regel. Eine kapitalistische Ausbeutungsgesellschaft ist der Kibbuz dennoch nicht geworden.

Sie sprachen gerade von der Form des Kibbuz, der ja eine zionistische Schöpfung darstellt. Das führt zu der Frage: Welche Position bezieht der Anarchismus gegenüber dem Zionismus?

Zu Zeiten Theodor Herzls, des Begründers des Zionismus, verstand man unter Zionismus das Recht der Juden auf ein bzw. ihr Heimatland. Mit Gründung des Staates Israel ist dieses Ziel erreicht. Damit ist das Problem des historischen Zionismus gelöst. Die Frage, wie die jüdische Volksgemeinschaft oder der Staat Israel aufgebaut sein sollte, ist politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Natur. Hierüber hatte man bereits bei der Staatsgründung, 1948, verschiedene Meinungen. Martin Buber und Professor Magnes setzten sich für einen binationalen Staat von Juden und Palästinensern nach dem Beispiel Kanadas ein, wo die Nachkommen englischer und französischer Einwanderer friedlich miteinander leben. Ben Gurion und seine Anhänger waren für einen Judenstaat. Sie hatten die Mehrheit. Israel ist ein reiner Judenstaat geworden. Bald kam es zum Konflikt mit den ansässigen Palästinensern, der zu einem Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten führte. Das ist nicht spezifisch zionistisch. Kriege zwischen Staaten und Nationen sind nicht neu in der Völkergeschichte.

Die Fragestellung ist nicht, ob die Anarchisten pro- oder contrazionistisch eingestellt sind, sondern welche Auffassung sie über Kriege und zu Problemen von ethnischen Minderheiten in einem Nationalstaat haben. Theoretisch ist die Frage leicht zu beantworten. Man braucht nur zu sagen, daß es in einer anarchistischen Weltordnung keine Staaten, keine Unterdrückung, keine Probleme benachteiligter Minderheiten geben wird. Eine derart abstrakte Antwort würde aber niemanden zufriedenstellen. In theoretischen Lehrbüchern findet man keine konkreten Antworten auf aktuelle Fragen. Kriege in der Theorie abzulehnen ist leicht, bei einem bereits ausgebrochenem Krieg für die eine oder die andere Partei Stellung zu beziehen, ist eine andere Sache. Karl Marx entschied sich während des deutsch-französischen Krieges von 1870-1871 für Deutschland. „Die Franzosen brauchen Prügel", schrieb er seinem Freund Friedrich Engels. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges erklärten sich Peter Kropotkin und eine Anzahl westlicher Anarchisten gegen Deutschland, die damals stärkste Militärmacht. Im Zweiten Weltkrieg waren Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und Liberale Gegner der nazifaschistischen Diktatoren. Den Einmarsch der Roten Armee in Ungarn und in die Tschechoslowakei verurteilten Sozialisten und Anarchisten, Demokraten und Liberale, während die Kommunisten ihn billigten. Bei dem gegenwärtigen arabisch-israelischen Konflikt stehen die Anarchisten im allgemeinen an der Seite Israels. Krieg und Feindschaft dauern nicht ewig. Deutschland und Frankreich stritten Jahrhunderte um den Besitz von Elsaß und Lothringen. Heute sind Deutsche und Franzosen Freunde. So hoffen wir Anarchisten, daß auch Juden und Araber, Nachkommen des gleichen Stammvaters Abraham, in nächster Zukunft ihren Bruderkrieg beenden und als friedliche Nachbarn nebeneinander und miteinander leben mögen.

Ähnlich wie die Freimaurerei wurde auch der Anarchismus von der Kirche immer erbittert bekämpft. Schließen sich Anarchismus und Christentum grundsätzlich aus oder sind Modelle ihres Zusammenwirkens denkbar?

Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihre Frage unter Hinweis auf persönliche Erlebnisse beantworte. Zunächst aber eine ideologische Vorbemerkung: Mit dem Glauben an einen über den Wolken thronenden Gottvater, der seinen eigenen Sohn kreuzigen, begraben und danach, wohl aus Reue, zum Himmel aufsteigen läßt, wo er heute noch an seiner Rechten sitzen soll, mit diesem Glauben haben die Anarchisten nichts zu tun. Doch die Toleranz, Schwester der Freiheit, erlaubt Anarchisten, auch mit gläubigen Christen lauteren Charakters, die weder Ausbeuter noch Diktatoren sind, friedlich zusammenzuleben. Es gab und gibt von der Nächstenliebe ausgehende Christen, die den anarchistischen Grundsatz von Nichtherrschen und Nichtbeherrschtseinwollen anerkennen. Ich erinnere an Leo Tolstoj, den man einen christlichen Anarchisten nannte. Die ersten Christen lebten überdies in communicatio, in Gütergemeinschaft. In dem nach dem Ersten Weltkrieg in Oberhessen von Eberhard Arnold gegründeten Rhönbruderhof lebten christliche und anarchistische Antimilitaristen in harmonischer Gemeinschaft unter Verzicht auf Privateigentum an Produktionsmitteln. Als die Brüder zur Hitlerzeit Deutschland verlassen mußten, gingen sie nach England, wo sie ihr christlich-anarchistisches Gemeinschaftsleben fortsetzten. Während des Zweiten Weltkrieges gezwungen, als Deutsche England zu verlassen, fanden sie in Paraguay Asyl, wo sie drei Bruderhöfe mit je 200 Personen gründeten. Dort habe ich sie in den fünfziger Jahren besucht. Unter ihnen fand ich einen Genossen, den ich früher in der anarchistisch-antimilitaristischen Bewegung Berlins gekannt hatte. Ich blieb vierzehn Tage bei ihnen. Obwohl ich ihre metaphysischen Ansichten nicht teilte, fühlte ich mich als Bruder und wurde von ihnen auch als solcher behandelt.

Ein anderes Beispiel über die sozial-kulturelle Kompatibilität gläubiger Christen und atheistischer Anarchisten: 1976 befand ich mich auf einer Vortragsreise in Amerika. In New York, Philadelphia, Minneapolis, New Orleans und Tampa fanden meine meist von anarchistischen Gruppen veranstalteten Vorträge in Kirchen statt. In der Community Church, New York, wo ich einen Vortrag über den spanischen Bürgerkrieg hielt, hing das Bild eines spanischen Milizionärs über der Kanzel. Tags vorher, am 18. Juli 1976, hielt in der gleichen Kirche Pastor Bruce A. Southworth eine Predigt über Anarchismus und Politik in Amerika. Diese Predigt wurde sogar vom New York Times-Sender ausgestrahlt.

Mit einem Wort: es ist selbstverständlich möglich, daß Anarchisten und Christen in weltlichen Dingen friedlich zusammenwirken können.

Herr Souchy, irgendwo in Ihrem Buch steht der warnende Satz: „Die internationale Arbeiterbewegung kann aus der Russischen Revolution nur eine Lehre ziehen: wie sie nicht handeln darf, wenn sie Wohlstand und Freiheit für alle erreichen will!" Auf welchem Weg, glauben Sie, befindet sich die internationale Arbeiterbewegung heute?

In meiner aus dem Jahre 1920 stammenden Warnung ging es mir darum, aufgrund meiner Erfahrungen im revolutionären Rußland der internationalen Arbeiterbewegung zu sagen, daß eine Parteidiktatur — auch im Namen des Proletariats und mit Lenin an der Spitze — keine sozial gerechte gesellschaftliche Neuordnung einführen könne. In den verflossenen 58 Jahren hat sich meine Diagnose und Prognose als richtig erwiesen. In der Sowjetunion hat sich bis zur Gegenwart strukturell nichts geändert. Rußland ist das konservativste Land der Welt geworden. Rede-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit gibt es nicht, Nonkonformisten und Dissidenten werden verfolgt, in Gefängnisse, Konzentrationslager, Verbannungsorte und psychiatrische Anstalten geschickt. In der industriellen Entwicklung hinkt das große Land immer noch hinter dem Westen hier. Daß es im Wettrüsten zum zweiten oder gar zum ersten Land der Welt aufrückte, ist kein Ruhm, sondern eine Schande für ein sich sozialistisch nennendes Land, wo immer noch, 60 Jahre nach der Revolution, Käuferschlangen vor den Geschäften stehen und der Lebensstandard der Arbeiter der niedrigste aller Industrieländer ist. Auch Kropotkins 1920 in einem Brief an die Arbeiter des Westens ausgesprochene Hoffnung, die unter dem Zarismus unterdrückten Völkerschaften würden in einer freien Föderation autonomer Völkerschaften vereinigt werden, hat sich nicht erfüllt.

Ihre Frage nach dem heutigen Wege der internationalen Arbeiterbewegung steht in keinem direkten Zusammenhang mit der damaligen Situation. In den Jahren 1917—1920 lebten wir in einem revolutionären Klima. Wir alle, allen voran Lenin und Trotzki, glaubten, die Weltrevolution stehe vor der Tür. Wer könnte heute behaupten, daß die Industrieländer an der Schwelle einer neuen Revolution stehen? Wer sollte die Revolution machen, die Arbeiter? Sechsstundentag, sechs Wochen Jahresferien, Pensionsalter mit 60 Jahren liegen ihnen näher, dazu vielleicht noch Mitbestimmung bis zur eventuellen Selbstverwaltung, Vermögensbildung (in Deutschland), Lohnempfängerfonds (in Schweden) usw. usw. sind die Arbeiterbewegungszielsetzungen der nächsten Jahrzehnte. Wie so oft vorher hat auch das zwanzigste Jahrhundert gezeigt, daß langlebige Evolutionsperioden kurzfristige Revolutionsphasen ablösen. Das ist der alternierende Evolutions-Revolutionsablauf der Geschichte.

Als Sie 1920 in Moskau weilten, stellten Sie Lenin die Frage nach der Haltung der kommunistischen Partei zu den Anarchisten. Lenins Antwort lautete: „In der ersten Phase der Revolution sind die Anarchisten nützlich, ja von unschätzbarem Wert. Wenn sie aber in der zweiten Phase die revolutionäre Staatsmacht nicht respektieren, müssen sie als Konterrevolutionäre betrachtet werden." Würden Sie sagen, daß diese Leninsche Strategie, die sich ja keineswegs nur auf Anarchisten bezog, auch heute noch die Grundstrategie der kommunistischen Bewegung ist?

Lenins Nachfolger beschreiten den Weg ihres Meisters. Stalins Strategie war das non plus ultra der Diktatur, die sich fälschlich proletarisch nennt. Der grusinische Autokrat mordete nicht nur Tausende und aber Tausende Muschiks, die sich seiner Zwangskollektivierung widersetzen wollten, sondern auch seine eigenen Parteigenossen, die seiner Macht im Wege standen. Über der Roten Armee, die 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierte, schwebte Lenins Geist. Wer vom rechten Glauben abweicht, muß mit Gewalt bekehrt werden. (Das erinnert mich an die Religionskriege). Nicht anders machte es Fidel Castro. Im „kommunistischen" Kuba werden Zehntausende, die sich nicht fügen wollen, in Gefängnissen und Arbeitshäusern gehalten. Das schändlichste Beispiel des Leninisten Castro ist die Verurteilung von Hubert Matos zu 20 Jahren Zuchthaus. Matos, Kampfgefährte Castros aus der Sierra Maestra, wagte es, gegen die kommunistische Indoktrinierung des Militärs zu protestieren. Dafür sitzt er seit 17 Jahren immer noch hinter Gittern. Für Lenins Strategie, die von seinen Anhängern heute noch befolgt wird, gilt das geflügelte Wort: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein."

Wie beurteilen Sie unter diesem Gesichtspunkt den sogenannten „Eurokommunismus"?

Das Wort Eurokommunismus erinnert mich an die Nomenklatur socialismus asiaticus, mit der Karl Kautsky Anfang der zwanziger Jahre den Bolschewismus kennzeichnete. Damals stand die kommunistische Weltbewegung im Aufstieg, heute befindet sie sich in einem Zersetzungsprozeß. Die Divergenzen im kommunistischen Lager kann man, mutatis mutandis, mit dem Liturgiedisput in der katholischen Kirche vergleichen, mit dem Unterschied jedoch, daß der Papst gegenüber dem konservativen Bischof Lefèvre den fortschrittlicheren Standpunkt einnimmt, während im Kommunistenstreit der Kreml an alten Dogmen festhält und die Eurokommunisten einen neuen Weg beschreiten wollen.

Es handelt sich um eine theoretisch-strategische Auseinandersetzung. Die Kremlideologen gehen von der marxistischen These aus, nach welcher die Akkumulation des Kapitals in immer weniger Hände bei gleichzeitig immer größerer Verelendung der Massen zur Todeskrise des Kapitalismus führe, auf die sich die kommunistischen Parteien als Vorhut des Proletariats vorbereiten müssen, um zur gegebenen Zeit ihre Parteidiktatur errichten zu können. Dazu kommt noch der Machtanspruch Moskaus. Der Kreml fühlt sich immer noch als Generalstab im Eroberungskrieg für den Weltkommunismus. Nun hat aber die Entwicklung des 20. Jahrhunderts gezeigt, daß die marxistische Verelendungstheorie falsch ist. (Darauf hat bereits Bernstein hingewiesen). In den westeuropäischen Industrieländern und auch in Nordamerika sind Sozialrevolutionen à la russe nicht zu erwarten. Die kommunistischen Parteien müssen in dieser Situation mitwirken an Reformen der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung, um für die Gunst der Wähler erfolgreich werben zu können. Das tun sie auch. Die italienische KP verhandelte lange Zeit über einen Pakt mit den Christdemokraten, den sie historischen Kompromiß nennt. Die französische KP, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Sozialisten in einer Volksfrontregierung, war auch kürzlich um ein Wahlbündnis mit der rechts von ihr stehenden sozialistischen Partei bemüht. Die spanische KP hat offiziell die Monarchie anerkannt und ist bereit, an der Wiederherstellung der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie mitzuwirken. Ihr Führer, Santiago Carrillo, moskauhöriger Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes während des Bürgerkrieges, hat sich heute mit Moskau überworfen. Auch sein Vorgänger Jesus Hermandez, Parteivorsitzender und Minister in der republikanischen Regierung während des Bürgerkrieges, wurde abtrünnig und schrieb ein Buch: Ich war ein Minister Stalins. Doch wer die Geschichte der kommunistischen Parteien kennt, hat Grund, mißtrauisch zu sein, auch gegen Apostaten.

Übrigens sind die Eurokommunisten unter sich auch nicht einig. Näher betrachtet gibt es einen italienischen, einen französischen und einen spanischen Kommunismus. Wenn — was anzunehmen ist — das russische Volk spätestens im kommenden Jahrhundert das Joch seiner Diktatoren abschüttelt, wird es wohl auch keinen Eurokommunismus mehr geben. Und das wäre kein Verlust, da auch die eurokommunistischerr Parteien immer noch nicht expressis verbis erklärt haben, daß sie jegliche Diktatur ablehnen. Die Völker können sich den allgemeinen Wohlstand, die soziale Gerechtigkeit und jedermanns Freiheit auch ohne kommunistische Parteien erkämpfen.

Sie berichten in Ihrem Buch, wie sehr sich gerade die deutsche Sozialdemokratie in entscheidenden Situationen der Geschichte fehlverhielt. So waren die deutschen Sozialdemokraten lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges die Hauptgegner einer konsequent antimilitaristischen Strategie, wie sie beispielsweise von den französischen Sozialisten gefordert und praktiziert wurde. Überhaupt betrieben die Sozialdemokraten eine Politik ohne revolutionäre Zielsetzung; „sie trieben nicht den Gang der Entwicklung vorwärts, sondern ließen sich von den Ereignissen treiben." Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun aus dem historischen Verhalten oder Fehlverhalten der deutschen Sozialdemokratie für deren gegenwärtige politische Strategie ableiten? Könnte man sagen, daß sich die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Grundstruktur bis heute nicht verändert hat? Ist es vielleicht das Schicksal dieser Sozialdemokratie „antirevolutionär" zu sein?

Eine Revolutionspartei war die deutsche Sozialdemokratie nie. Ihr Vorsitzender zur Zeit des Zusammenbruchs des Kaiserreiches, Friedrich Ebert, nachmaliger Präsident der Weimarer Republik, haßte die Revolution „wie die Pest". Gewiß half die SPD beim Aufbau der Demokratie, aber sie war ein Koloß auf Lehmfüßen, der nicht vermochte, die Demokratie gegen den Ansturm Hitlers zu verteidigen. Formaldemokratie gibt es auch in der heutigen Bundesrepublik, freilich mit Mängeln und Übeln. Gewiß sind von den zehn Forderungen des Kommunistischen Manifestes aus dem Jahre 1848 neun verwirklicht. Dafür gibt es jedoch Sozialprobleme anderer Art, die einer Lösung harren. Jedenfalls ist die Situation zur Zeit nicht revolutionär. Es geht heute auch nicht um die Frage revolutionär oder antirevolutionär, sondern um gewaltsamen oder friedlichen Fortschritt. Daß alle sozialen Probleme auf den Barrikaden gelöst werden können, daran glauben gegenwärtig auch nicht mehr die Anarchisten.

Für die SPD müßte es sich heute darum handeln, die politische Demokratie mit der Wirtschaftsdemokratie zu ergänzen, wenn sie ihr Ziel, die soziale Demokratie, erreichen will. Das kann aber nur erreicht werden, wenn die Macht des Monopolkapitals gebrochen wird. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Nehmen wir an, die Kommunisten würden im Bonner Bundestag die Mehrheit erringen — ich weiß natürlich, daß dies zur Zeit eine abstrakte Hypothese ist — und versuchen, eine Wirtschafts- und Sozialordnung nach dem Modell der DDR einzuführen. Die Folge wäre ein politisches Virement à la Hitler bei umgekehrten Rollen mit eventuellem Einmarsch der Roten Armee. Und dann?

Die Sterilität des östlichen Staatskommunismus einerseits und die Entwicklung der Gemischt- oder Pluralwirtschaft im Westen andererseits haben gezeigt, daß eine gerechte Sozialordnung nicht durch eine einzige Gewaltrevolution erreicht werden kann, daß sie Stück für Stück, Tag für Tag in zähen Kämpfen errungen werden muß. Zur Zeit sind Arbeitslosigkeit und Inflation zwei große Übel, die innerhalb der kapitalistischen Privatwirtschaftsordnung schwer zu beseitigen sind. Seit Jahren suchen im Auftrag von Regierungen, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften Tausende von Sachverständigen nach Mitteln zur Beseitigung dieser Übel. Bisher vergeblich. Selbst über die Ursachen sind sich die „Gelehrten" nicht einig. Dennoch liegt die Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Reichweite: Verkürzung der Arbeitszeit an Stelle von Arbeiterentlassungen. Utopie? Realität, antwortet die Geschichte. Im Jahre 1900 betrug die wöchentliche Arbeitszeit 65 bis 70 Stunden, heute beträgt sie 40 Stunden. Das heißt, 25 bis 30 Stunden weniger! William Morris, der in seinem Ende des vorigen Jahrhunderts veröffentlichten Buche Kunde von nirgendwo eine tägliche Pflichtarbeit von 2 Stunden voraussah, dürfte recht behalten.

Einer blutigen Revolution bedarf es nicht, um die kapitalistische Monopolwirtschaft zu beseitigen. Entschlossenes Handeln aber ist erforderlich. Sozialdemokraten und Gewerkschaften sind zu einer solchen Aktion aufgerufen. Dazu freilich sind Tatkraft und jener Wagemut erforderlich, den Danton mit dem Wort audace! nochmals audace und immer wieder audace ausdrückte. Werden SPD und DGB diesen Wagemut aufbringen? Ich bezweifle es.

An zahlreichen Stellen Ihres Buches weisen Sie auf das enge Zusammenwirken der Anarchisten mit der Gewerkschaftsbewegung hin, wenn es darum geht, gemeinsame soziale oder politische Ziele zu erreichen. Das trifft doch aber in der Hauptsache wohl nur für die Vergangenheit zu. Wie steht es heute mit gemeinsamen Initiativen von Anarchisten und Gewerkschaften?

Die Anarchisten bemühten sich stets um den Kontakt mit den Gewerkschaften, war doch die Befreiung der Arbeiterklasse wichtigstes Anliegen der allgemeinen Menschheitsbefreiung, das Ziel des Anarchismus. Ich erinnere mich an ein Gespräch über dieses Thema mit Peter Kropotkin 1920 in Rußland. Der alte Anarchist war begeistert über den Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg und bedauerte, zu alt zu sein, um an dieser großen Bewegung noch mitwirken zu können.

Ich habe bereits in einem anderen Zusammenhang die fünf Anarchisten erwähnt, die 1887 in Chicago für ihren Einsatz im Gewerkschaftskampf der Arbeiter mit dem Leben büßen mußten. In Deutschland hatten die Anarchisten in den großen von den Sozialdemokraten dominierten Gewerkschaften wenig Einfluß, nur mit den kleinen syndikalistischen Verbänden hatten sie Kontakte. In England und den skandinavischen Ländern sind die Gewerkschaften meist kollektiv den Arbeiterparteien angeschlossen. In Frankreich stammt die gewerkschaftliche Grundsatzerklärung, die famose Charte d'Amiens von 1905, aus der anarchistischen Ideologie. Heute ist die alte CGT (Gewerkschaftsbund) in den Händen der Kommunisten. In Spanien gab es seit Anfang unseres Jahrhunderts zwei rivalisierende Gewerkschaftsbünde, die sozialistische UGT und die anarcho-syndikalistische CNT. Beide wurden von Franco aufgelöst. Heute gibt es mehrere gewerkschaftliche Landesorganisationen. Die CNT ist aufs neue erstanden und nach wie vor anarchistisch eingestellt. Ich möchte noch auf die Argentinische Arbeiterföderation FORA hinweisen, die bereits im vorigen Jahrhundert von Anarchisten gegründet wurde und jahrzehntelang der stärkste Gewerkschaftsbund des Landes war, bis er von der Diktatur Peron aufgelöst wurde. Auch heute noch gibt es nur die von Peron gegründeten Staatsgewerkschaften...

Worin besteht nun der prinzipielle Unterschied zwischen Syndikalismus und Anarchismus?

Das Wort syndicalisme bedeutet in Frankreich nur Gewerkschaftsbewegung. In Deutschland versteht man unter Syndikalismus eine besondere, mit dem Anarchismus verwandte Gewerkschaftsrichtung. Das Verhältnis zwischen beiden könnte man mit Schillers Worten fixieren: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut", wobei Anarchismus als Körper verstanden werden könnte. Anarchismus ist das Ideal, das Ideelle, der Inhalt, Syndikalismus das Konkrete, das Organisatorische, die Form. Seinen Ursprung hat der Syndikalismus im bakunistischen Flügel der I. Internationale (1866-1872). Er fand in Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und Lateinamerika besondere Verbreitung. In Deutschland wurde die Freie Arbeiter-Union (Anarcho-Syndikalisten) von Hitler aufgelöst, seitdem gibt es bei uns keine syndikalistischen Gewerkschaften mehr.

In syndikalistischer Sicht sollen die Gewerkschaften nicht nur den Kampf für die soziale Hebung der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft fuhren, sondern gleichzeitig auch die Keimzellen einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung sein. Der Anarcho-Syndikalismus ist, wenn man so will, ein dritter Weg neben der Sozialdemokratie und dem Kommunismus. Diese wollen ihr Ziel durch friedliche oder gewaltsame Eroberung der Staatsgewalt erreichen, die sozialistische Neuordnung von Staats wegen einführen. Die Syndikalisten streben danach, die Lohn- und Gehaltsempfänger durch Übernahme der Betriebe, durch Gründung von Kollektivwirtschaften und Genossenschaften aller Art eine neue,sozial gerechte Ordnung aufzubauen.

Während des spanischen Bürgerkrieges wurde die syndikalistische Doktrin zu einem großen Teil verwirklicht. Ich befand mich seinerzeit im Lande und habe dabei von Anfang bis Ende mitgemacht. Und da ich 1920 ein halbes Jahr in Rußland war, hatte ich die Möglichkeit, die spanische Sozialrevolution mit der russischen zu vergleichen. Welch ein Unterschied! In Rußland wurde alles von den Bolschewisten durch Verordnungen und Dekrete staatlich eingeführt, im republikanischen Spanien warteten die Anarcho-Syndikalisten nicht auf Befehle von oben. Auf Belegschaftsversammlungen wurde beschlossen, die Betriebe in Kollektiveigentum umzuwandeln, die hohen Direktorengehälter abzuschaffen, die Arbeitslöhne zu erhöhen, die Arbeitszeit zu verkürzen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Auf dem Lande beschlossen Landarbeiter, Pächter und zahlreiche Kleinbauern freiwillig den Grund und Boden der Dorfgemarkung gemeinsam zu bebauen, die Landprodukte gemeinsam zu verkaufen und den Erlös unter alle gleichmäßig aufzuteilen. In einigen Dörfern schaffte man das Geld im Innern der Gemeindewirtschaft ganz ab. In den Industriebetrieben machte man rasch Fortschritte und gründete sogar neue Industriezweige in Katalonien.

Ein ähnliches Sozialexperiment begann bereits vorher in Israel. Jüdische Einwanderer bauten ihre Siedlungen auf kollektivistischer Basis auf. Privateigentum an Land und Produktionsmittel gab es nicht. Man organisierte kollektive Arbeitsgruppen, alle aßen im gemeinsamen Speisesaal, jeder bewohnte sein eigenes Haus, erhielt Kleidung gratis und das gleiche Bücher- und Feriengeld. Es gab weder Reiche noch Arme, kein hoch und kein niedrig, Traktorenführer, Lehrer, Arzt und Verwalter hatten das gleiche Lebensniveau. Das Lehrwesen war vorbildlich, nicht wenige Städter schickten ihre Kinder in die Kibbuzschule. Die Kibbuzniks bekannten sich weder zum Anarchismus noch zum Syndikalismus. Es gab — und gibt — Kibbuzim von Sozialisten, Kommunisten und auch religiösen Juden. 1950 und 1960 habe ich die Gemeinschaftssiedlungen Israels — jeweils mehrere Monate — besucht, ihren organisatorischen Aufbau studiert und in spanischer Sprache ein Buch darüber veröffentlicht. Die anarchosyndikalistischen Grundsätze, die in den spanischen Colectividades oder den israelischen Kibbuzim ihren Niederschlag finden, sind keine Utopien. Im freiheitlichen Kollektivismus sind philosophischer Anarchismus und ökonomischer Syndikalismus in einer harmonischen Symbiose vereint.

Auch das jugoslawische Selbstverwaltungs-Experiment ist stark von anarchistischen Ideen inspiriert, wie sie in den Colectividas während der dreißiger Jahre in Spanien und später in den israelischen Kibbuzim verwirklicht wurden . Worauf führen Sie die schwere Krise zurück, in die das jugoslawische Selbstverwaltungs-Modell mehr und mehr geraten ist?

Die Kibbuzim wurden von jüdischen Einwanderern freiwillig gegründet. Auch die Kollektivwirtschaften während des spanischen Bürgerkrieges verdankten ihre Existenz der freien Initiative der werktätigen Bevölkerung in Stadt und Land. In beiden Fällen gab es keine Anordnung von oben, keinen Befehl, keinen Gehorsam. Das war freiheitlich, anarchistisch, ohne Herrscher noch Beherrschte. Das jugoslawische Selbstverwaltungsgesetz wurde von einer marxistischen Regierung erlassen. Das war autoritär. Wie es zur jugoslawischen Selbstverwaltungsreform kam, darüber berichtet Milovan Djilas in seinem Buch Die unvollkommene Gesellschaft. Das kommunistische System, das nach Abzug der deutschen Truppen in Nachahmung des russischen Modells eingeführt worden war, funktionierte nicht. „Das Land erstickte unter dem Unkraut der Bürokratie", schrieb Djilas. „Die Parteiführer selbst wurden von Zorn und Entsetzen erfaßt über die unausrottbare Willkür der Apparate, die sie selbst geschaffen hatten und die ihnen ihre Herrschaft erhielten. Nach dem Konflikt mit Stalin entdeckte ich bei erneuter Lektüre des Kapitals von Karl Marx, daß in der künftigen Gesellschaft die unmittelbaren Produzenten in freier Vereinigung selbst über die Produktion und die Verteilung entscheiden". Djilas erzählt weiter, daß ihm dabei der Gedanke kam, in Jugoslawien diese Idee von Marx zu verwirklichen und daß es ihm gelungen sei, auch Tito davon zu überzeugen.

Im Juni 1950 wurde das Gesetz zur Leitung der staatlichen Wirtschaftsbetriebe durch das Arbeitskollektiv verkündet. Später kamen weitere gesetzliche Ergänzungen hinzu. Nach diesem Gesetz wurde die Wirtschaftsleitung dezentralisiert. Die Wirtschaftsführer und Fabriksdirektoren wurden nicht mehr von Belgrad für das ganze Land eingesetzt, sondern von den regionalen und kommunalen Ämtern bestimmt. Die Arbeiter bzw. Belegschaftsversammlungen haben nicht das Recht, ihre eigene Leitung zu wählen. Die Steuern, die der Betrieb vom Gewinn an den Staat abzuführen hat, wurden von 49 auf 29 Prozent herabgesetzt. Bei Investitionskapitalanleihen von den gleichfalls sich selbst verwaltenden Banken mußten oft bis zu 30 Prozent Zinsen bezahlt werden. Wurden unrentable Unternehmen stillgelegt, dann verloren die Arbeiter ihre Beschäftigung; die Arbeitslosenkrise nahm bedrohliche Formen an. Zur gleichen Zeit gab es im kapitalistischen Westen Vollbeschäftigung. Die Grenzen wurden geöffnet, 800.000 arbeitslose Jugoslawen hatten 1970 im Westen Arbeit gefunden, 274.000 waren im Lande selbst als erwerbslos registriert.

Das Selbstverwaltungsgesetz gibt den Arbeitern theoretisch ein Recht auf Gewinnbeteiligung. Wie es damit in der Praxis aussieht, geht aus einer Rede Titos in Split hervor, über die in der Belgrader Tageszeitung Politika vom 7. Mai 1962 berichtet wurde. „Es gibt Fälle", sagte Marschall Tito, „in welchen das Spitzengehalt zwanzig Mal höher ist als der Grundlohn, und wo die niedrigen Lohnempfänger sich mit einer Gewinnbeteiligung von 3.000.- Dinar begnügen müssen, während die Direktoren bis zu 80.000.- Dinar erhalten".

Diese wenigen Beispiele — in einer Aufsatzreihe der historischen Zeitschrift Damals habe ich ausfuhrlicher hierüber berichtet — zeigen die Unzulänglichkeiten der jugoslawischen Selbstverwaltung. Von den drei Selbstverwaltungswirtschaften, die ich von innen her kennengelernt habe, — das israelische, das spanische und das jugoslawische — ist letzteres das dürftigste.

Zum Schluß ein kleines Erlebnis. Bei einem Besuch auf dem Staatsgut Blje bei Osijek, Ostkroatien, zeigte mir die Frau des Landwirtschaftsingenieurs ihr schönes Einfamilienhaus mit einem Volkswagen in der Garage und einem Obstgarten im Hintergrund. Sie erzählte mir, daß sie die Ferien mit ihrem Mann in einem herrlichen Badeort an der Adria verbringe. Als ich danach bei einem Rundgang durch die zum Gut gehörende Fleischkonservenfabrik eine Arbeiterin fragte, ob auch sie in den Ferien an die Adria reisen werde, sah sie mich erstaunt an und brachte schließlich gepreßt hervor, daß sich das doch nur die von oben leisten können.

Herr Souchy, wie beurteilen Sie vom anarchistischen Standpunkt die heute überall entstehenden Bürgerinitiativen?

Bürgerinitiativen propagierten bereits anfangs unseres Jahrhunderts die Anarcho-Syndikalisten unter dem Namen direkte Aktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg veranstaltete die pazifistische Jugendbewegung erst in England und danach auch in Deutschland Friedens-Ostermärsche. Später sprach man in der sozialistischen Jugend Deutschlands von außerparlamentarischen Aktionen. Heute sind Bürgerinitiativen in Umlauf gekommen. Die Namen haben sich geändert, die Initiativen selbst sind geblieben. Es geht um das Recht zur direkten Mit- und Selbstbestimmung aller sozialen Gruppen in den öffentlichen Angelegenheiten und vor allem bei Schicksalsfragen der Menschheit. Initiativen von der Basis rufen das Volksgewissen zur Wachsamkeit gegenüber den Regierenden auf, sie sind Mahnung und Warnung gegen Bürokratisierung und Korruption. Sie geben Anstöße zur Regeneration der Institutionen, erfüllen die Formaldemokratie mit freiheitlichem Geist und neuem sozialen Inhalt.

Ich habe mich 1911 zum ersten Mal an einer Volksinitiative beteiligt. Die Aktion ging vom Sozialistischen Bund in Berlin aus. Wir verbreiteten eine Broschüre mit dem Titel Abschaffung des Krieges durch Selbstbestimmung des Volkes. Geplant war ein deutscher Arbeitertag, auf welchem Aktionen gegen einen Krieg beschlossen werden sollten. Die Tagung konnte nicht stattfinden, denn bereits die Broschüre wurde polizeilich beschlagnahmt. Der Autor konnte nicht angeklagt werden, denn die Schrift war anonym erschienen. Erst 1919 wurde er der Öffentlichkeit bekannt. Es war der Anarcho-Sozialist Gustav Landauer.

Das Verhängnis nahm seinen Lauf. 1914 Weltkrieg I., den unsere Initiative vergeblich zu verhindern suchte. Danach Diktaturen, 1939 Weltkrieg II. (Diktaturen gleich welcher Art sind Vorschulen des Krieges, beider Ziel ist Ausbreitung und Festigung der Herrschaft). Greift die Volksinitiative nicht ein, dann droht ein Weltkrieg III. Nicht der Kreml, nicht das Pentagon, weder der oberste Soviet noch das weiße Haus, aber auch keine Parlamente dürfen und sollen in Zukunft das Recht haben, Kriege zu erklären. Schaubühnen von Elitegremien à la SALT können das Verhängnis nur aufschieben. Werden sie es verhindern können? Die Entscheidung über eine so schicksalschwere Frage, wie der Krieg es ist, muß der Initiative der Völker überlassen bleiben, von jedem Volke selbst getroffen werden. Eine international kontrollierte Volksabstimmung, der eine von langer Hand vorbereitete gleichfalls international kontrollierte Aufklärungskampagne voranzugehen hat, muß die alleinige Instanz sein, über den Krieg zu entscheiden.

Das ist die wichtigste Bürgerinitiative der Gegenwart, für die ich plädiere. Utopie? War nicht im Jahre 1900 die 40-Stundenwoche auch eine Utopie? Eines Tages muß begonnen werden. Die Völker müssen sich endlich über die Köpfe ihrer Führer hinweg mündig machen. Es ist Zeit, höchste Zeit!

Bürgerinitiativen zur Erhaltung des Weltfriedens gehören zum Waffenarsenal des Anarchismus.

Auf einer der ersten Seiten Ihres Buches steht der bemerkenswerte Satz, „daß die Freiheit aller nur erreicht werden kann, wenn sie sich auf das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen stützt".

Was heißt heute „Selbstbewußtsein des einzelnen"? Ist Freiheit in diesem Sinne überhaupt erreichbar, vor allem unter den Bedingungen der industriell-technologischen Welt?

Bei den Marxisten wird die Vokabel Klassenbewußtsein großgeschrieben, ist es doch die geistige Vorbereitung zur proletarischen Klassenherrschaft. Die jede Herrschaft ablehnenden Anarchisten ziehen das Wort Selbstbewußtsein vor. Ohne Selbstbewußtsein gibt es keinen Freiheitsdrang. Ein historisches Beispiel hierfür: Im alten Inkareich, dem ersten autoritären Planwirtschaftsstaat der Welt, fehlte den Indios jegliches Selbstbewußtsein. Von individuellem Eigenleben völlig entfremdet, bebauten sie mit angelernten und aufoktroierten Lobgesängen auf ihren Gott-Kaiser, dessen Felder und Ackergrund. Das Bewußtsein der persönlichen Menschenwürde war ihnen fremd. Der Geist der Rebellion existierte nicht in ihrem Bewußtseinsinhalt. Der Autoritätsglaube war zum Mystizismus erstarrt.

In Europa verlief die Entwicklung anders. Es gab und gibt Freiheitskämpfe, die in Etappen zwischen Evolution und Revolution verlaufen. Immer wieder kommt es zu Konfrontationen zwischen dem Freiheitsstreben der Menschen und den gesellschaftlichen Institutionen, dem gesetzlich Festgelegten und dem menschlich Wandelbaren. Die Freiheit wird vielfältig ausgelegt. Freiheit wofür, Freiheit wozu? Was ist sie: Ein Gefühl, eine Idee, ein Ideal, ein politisches Postulat, eine soziale Kategorie? Unbehagen und Schmerz, wenn man sie entbehrt, Freude und Glück, wenn man sie besitzt. Oft steht sie auf dem Kriegsfuß mit den von äußeren Mächten stipulierten Vorschriften. Philosophen aller Zeiten haben sie verschieden interpretiert. Thomas Hobbes, der Theoretiker des Absolutismus, für den der Mensch des Menschen Wolf war (homo homini lupus), verstand unter Freiheit Nichtvorhandensein von Hindernissen. William Godwin, der englische Theoretiker des Anarchismus zur Zeit der großen französischen Revolution, stellte die Freiheit einem unabhängigen Urteil gleich. Goethes Worte: „Im tiefsten gebunden wird man stets am freiesten sein" mögen für die persönlichen Beziehungen von zwei verwandten Seelen zutreffen, für die sozialen Verhältnisse in einer Autokratie oder Diktatur haben sie keine Geltung. Die französischen Enzyklopädisten deuteten die Freiheit in verschiedenen Varianten. Bakunin und nach ihm auch Rosa Luxemburg verstanden darunter den Respekt vor der Freiheit des anderen. Freie Handlungen von Autokraten und Diktatoren bedeuten Unterdrückung für die Beherrschten. Ausübung der eigenen Freiheit findet ihre Grenzen durch Verletzung der Freiheit des andern, eine Erkenntnis, die der Freiheitsdichter J. H. Mackay in den Vers kleidete: „Die Freiheit des andern ist Freiheit des einen, und die Freiheit küßt alle nur oder keinen".

Nach einem Vortrag über den Anarchismus im Nationalradio von Montreal, Kanada, fragte mich eine Hörerin durchs Telefon, was ich unter Freiheit verstünde. Die vereinbarte Sendezeit legte mir Zeitbeschränkung auf. Ich wies kurz darauf hin, daß es im Englischen Sprachgebrauch zwei Wörter für die Freiheit gebe, liberty und freedom. Diese ist abstrakt, jene konkret. Liberties sind die vielen kleineren und größeren Freiheiten, die man sich unwidersprochen nimmt, freedom muß errungen und verteidigt werden. Der Gegensatz zwischen dem Freiheitsstreben des Einzelnen und dem von Gesetzen Erlaubtem besteht heute wie ehedem und läßt sich nicht leicht aus der Welt schaffen. Wir kennen unsere heutigen Freiheiten. Das Ausmaß zukünftiger Freiheiten hängt von unserem Selbstbewußtsein und von den Kämpfen ab, die wir für sie auszufechten bereit sind.

Ihrer Überzeugung: „Die schlechteste Demokratie ist der besten Diktatur vorzuziehen steht der berühmt-berüchtigte Ausspruch des marxistischen Philosophen Georg Lukács entgegen: „Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus"...

Beide Sentenzen sind typisch für die Denkart ihrer Autoren. Der Marxist denkt in dogmatischen, der Anarchist in freiheitlichen Kategorien. Mehr habe ich hierzu nicht zu sagen.

Das Gespräch führte Adelbert Reif 1977.

Erstdruck des Gesprächs in: europäische ideen 39/1978

VERÖFFENTLICHUNGEN (BÜCHER UND BROSCHÜREN) von Augustin Souchy (1892)

Diktatur och Socialism (schwedisch), Stockholm 1918.

Gustav Landauer Revolutionens filosof (schwedisch), Stockholm 1919.

Chicagomärtyrerna (schwedisch), Stockholm 1919.

Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland?, Berlin 1920/21.

Sacco und Vanzetti: Zwei Opfer amerikanischer Dollarjustiz. Berlin 1927. Neudruck Frankfurt 1977.

Den bruna pesten (schwedisch), Stockholm 1933.

Erich Mühsam — Caballero de la libertad (spanisch), Barcelona 1934.

La semana tragica de Barcelona. Barcelona 1937.

Collectivisations — L'Oeuvre constructive de la Révolution Espagnole, Barcelona 1937. (Spanische Ausgabe Barcelona 1938). Zweite erweiterte Auflage Toulouse 1965. Deutsche Ausgabe 1974 (s.u.).

Entre Campesinos aragoneses (spanisch), Barcelona 1938.

Suecia el Pais del Sol de Medianoche, Mexiko 1946 (spanisch).

El Socialismo Libertario (spanisch), Havanna 1949.

Nacht über Spanien, Darmstadt 1952. Zweite Auflage 1969 unter dem Titel: Anarchosyndikalisten über Bürgerkrieg und Revolution in Spanien.

El Nuevo Israel (spanisch), Mexiko 1954. Aktualisierte Neuauflage im Verlag europ. ideen in Vorbereitung

Simon Radowitzky (spanisch), Mexiko 1956.

Testimonios sobre la Revolución cubana (spanisch), Havanna und Buenos Aires i960.

Hat der Anarchismus eine Zukunft? In: Anarchismus — Theorie, Kritik, Utopie (Anthologie, herausgegeben von Achim v. Borries und Ingeborg Brandies), Frankfurt 1970.

Stalinismus und Anarchismus in der spanischen Revolution (zusammen mit Hans Peter Duerr) Berlin 1973.

Die soziale Revolution in Spanien — Kollektivierung der Industrie und Landwirtschaft in Spanien 1936—1939 (Eingeleitet von Erich Gerlach), Berlin 1974.

Lateinamerika: Zwischen Generälen, Campesinos und Revolutionären, Frankfurt 1974.

Übersetzung des Romans »Les Pacifiques« von Han Ryner aus dem Französischen ins Deutsche (unter dem Titel »Nelti«, 1925).

Zahlreiche Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze in deutscher, französischer, englischer, schwedischer, dänischer und spanischer Sprache.

Quelle: Luchterhand

»Vorsicht: Anarchist!« Ein Leben für die Freiheit. Politische Erinnerungen. Luchterhand 1977.

Beiträge Souchys in der Zeitschrift »europäische ideen«: Nr. 5/6, 10/11, 34-36/ 39.

[1] Siehe The Guillotine at Work von P. G. Maximoff (The Chicago Section of Alexander Berkman Fond Chicago 1940) und In the Workshop of the Revolution by L. N. Steinberg (Rinehart & Comp. New York) sowie auch Gewalt und Terror in der Revolution gleichfalls von L. N. Steinberg (Ernst Rohwolt Verlag und Gilde freiheitlicher Bücherfreunde, 1931, Berlin).