Ausgabe 1

    EDITORIAL

    Freiheit

    Von der sozialen Befriedung

    Kritik der idealen Gesellschaft

    Unruhenachrichten

        Sabotage und Konfrontation bei Protesten gegen das PJZ

        Gefängnisausbruch

        Rechnungsbegleichung?

  Ausgabe 2

    Die Welt verändern

      Über die Kritik an der Gesellschaft…

      …und ihre Mängel

      Vom Angriff…

      …zur sozialen Revolution

    Demokratische Selbstunterdrückung

    PJZ Niemals!

      Das PJZ im Kontext von Militarisierung und Aufwertung

      Gegen die Einsperrung, gegen eure Sicherheit

      Von der verstreuten Revolte zum Aufstand

      Sabotieren wir die Verantwortlichen!

        Einige kleine Aktionen, die sich im letzten Jahr um das PJZ ereigneten:

    Unruhenachrichten

        Ägypten: Einmal die Freiheit gekostet…

  Ausgabe 3

    Ein verbaler Angriff gegen das Bestehende

      I

      II

      III

      IV

      V

    Wir wollen das Abenteuer nicht die Sicherheit

    Sitzen wir alle im selben Boot?

      Der Konflikt in der demokratischen Gesellschaft

      Die Rolle der Politik

      Der Dialog

    Unruhenachrichten

        Psychisch krank?

        Cobra in Flammen

        Trauer und Wut

        Eine solidarische Revolte

  Ausgabe 4

    Gesellschaft oder Gefängnis

    Ägypten in Revolte

      Politische Revolution oder soziale Revolution?

      Und hier?

      Solidarität

    Vom Gefängnis Namens Gesellschaft, den Bullen und ihren feuchten Träumen

      Die Angst vor dem Pöbel

      Gefangene dieser Gesellschaft

      Ein feuchter Traum der Bullen

    Unruhenachrichten

        Die Jugend von Heute

        Eine zu begrüssende Haltung

        Wenn die Angst das Lager wechselt

  Ausgabe 5

    “Nein” sagen bringt nichts, greifen wir an!

    Ich

    Wieso Krawall?

    Unruhenachrichte

        Hin und Zurück

        Die Gunst der Stunde

  Ausgabe 6

    Auf niemandes Seite

    Ein fernes Land

    Über die Frage der Organisation

      Delegation und Repräsentation

      Selstorganisation

      Direkte Aktion

  Ausgabe 7

    Mein Irrealismus

    Der Ausbruch ist notwendig

    Wir sind keine Sklaven

    Operation Asche

    Demokratie (Teil 1)

      Wir scheissen auf die Demokratie!

      Das Volk herrscht…

      …und die Bürger

    Unruhenachrichten

        Kollaboration heisst Verantwortung tragen

        Erster Mai

        Von Melilla nach Zürich

        „Tanz dich Frei“

        Mit dem Essen spielt man nicht

        7 Tage Revolte

  Ausgabe 8

    Die revolutionäre Frage 

    Der Brand von Uster

    Demokratie (Teil 2)

      Perfektionierung des Bestehenden

      Das Kompromisseln

      Bruch

  Ausgabe 9

    Für die Umwälzung der Welt

      Bloss ein Wunschtraum?

      Die Revolte

      Der soziale Konflikt

      Eine andere Auffassung von Stärke

      Selbstverwaltung

      Aufstand

    Die Wirrungen in Ägypten

    Unruhenachrichten

        Die Adern des Systems

        Ein amüsanter Abend

        „Glencore“

  Ausgabe 10

    Mut

    An die Arbeiter von EBERHARD

    Experiment

    Aufstand

    Durchsage an die Passagiere

    Unruhenachrichten

        Die naiven PJZ Gegner…

        Geld oder Leben

  Ausgabe 11

    1:12

    Eigentum

    Gefangene der Geschichte

    Mörder!!!

    Unruhenachrichten

        Standortfucktor

        1000 Gründe

        Sabotage

        Selbstverwalten?

  Ausgabe 12

    Editorial

    Der falsche Streitpunkt der Gewalt

    Wem gehört die Stadt?

    Zum Kampf gegen den Bau des PJZ

    Trotz allem Mensch sein!

    Kommentare

    Unruhenachrichten

        «Wir sprechen nicht mit Bullenschweinen!»

        Spielerisch Zerstören

        Sabotage von PJZ-Beteiligten

        Im Alleingang

        Psychiatrische Verwahrung gegen Rebellen

  Ausgabe 13

    Nieder mit der Politik

      I

      II

      III

      IV

    “Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit”

      Was sagt uns das?

      Was tun?

    Zwei verschiedene Lebenshaltungen

      Die realistische Kurzsichtigkeit

      Eine andere Beziehung zur Welt

      Der Bezug zur Organisation

    Ein Toter mehr in den Knästen von Zürich

    Unruhenachrichten

        Wenn die Schweizer Wählerschafe protestieren

        Das Asylregime sabotieren

  Ausgabe 14

    Ein Hoch auf die Meinung

    Bullingerplatz polizeilich belagert 

    Für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes (1 Teil)

      Der soziale Konflikt

      Die „Grosse Revolution“

      Die Industrialisierung und die Arbeiterbewegung

    Unruhenachrichten

        Justiz

        Migration

Ausgabe 1

EDITORIAL

« Hundertmal zurückgeschlagen unternehmen wir zum hundert und einten Male den Angriff. Wahrlich! das sind schlechte Propheten, die den Tod des Anarchismus verkündigen! Er kann nicht sterben, solange Ausbeutung und Knechtschaft bestehen. » Dies sind die Worte, mit denen eine anarchistische Zeitung vor mehr als 100 Jahren in Zürich ihre Publikation begann, und dies sind auch die Worte, mit denen wir unseren Aufruhr beginnen wollen. Die Zeiten haben sich verändert, und mit ihnen auch die Formen der Knechtschaft, doch unsere kompromisslose Vorstellung von Freiheit ist dieselbe geblieben. Eine Freiheit, die mit jeglicher Form von Herrschaft unversöhnlich ist, sei sie diktatorisch oder demokratisch, roh oder subtil, materiell oder geistig. Und es ist dieses Verlangen nach Freiheit, nicht als ein fernes Ideal, sondern im Hier und Jetzt, das uns ewig auf dem Weg der Rebellion vorantreiben wird…

Freiheit

Wir sind für die Freiheit, wie es viele, wenn nicht praktisch alle sind. Aber dann, wenn unsere Gesellschaft doch behauptet, auf dem Prinzip der Freiheit zu basieren, wieso befinden wir uns in Konflikt mit ihr und werden wir es immer sein?

Dieser Konflikt, der übrigens schon seit immer und in unterschiedlichen Formen existierte, geht aus einer radikal verschiedenen Auffassung der Bedeutung von Freiheit hervor; ein Wort, das schon immer für Verwirrung gesorgt hat, da es im Verlauf der Geschichte und je nach sozialem Kontext und je nach den Personen, die es gebrauchten, unterschiedliche Bedeutungen annahm.

Wenn wir einen Blick auf die Vergangenheit werfen, können wir sehen, wie die Freiheit in der Antike, in den griechischen und römischen Gesellschaften, für einen Teil der Bevölkerung dem Konzept des Bürgers (der Polis oder der Republik) entsprach. Ein Mensch, der als frei betrachtet wurde, war ein Mensch, der sich am politischen Leben der Gesellschaft beteiligte; indem er beispielsweise in der griechischen Polis, welche die Inspirationsquelle unserer modernen Demokratie ist, an den Versammlungen teilnahm, die nach einem System von direkter Demokratie funktionierten, um über das Schicksal seiner Stadt zu entscheiden. Der freie Mensch brauchte daher, um existieren zu können, sein Gegenteil: den Sklaven, ein Individuum, das, da es nicht als ein menschliches Wesen betrachtet wurde, nicht über sein eigenes Leben entscheiden konnte, und das die Bürger durch seine Arbeit von der notwendigen Zeit befreite, um „Politik zu machen“. Für einen anderen Teil der Gesellschaft, jenen der Sklaven, nahm die Freiheit hingegen eine andere Bedeutung an. Diese bestand nicht darin, Bürger zu werden, sondern bestand in der Negierung der eigenen Bedingung als Sklave, eine Negierung, die auch die Negierung der Bedingung des Bürgers implizierte; sie bestand darin, die Fähigkeit wiederzuerlangen, über das eigene Leben entscheiden zu können. Diese beiden einander entgegenstehenden Auffassungen von Freiheit liegen den Sklavenaufständen zugrunde, die besonders die römische Epoche gekennzeichnet haben, in der für die Sklaven der einzige Weg, ihre eigene Bedingung zu negieren, in der Flucht oder in der offenen Rebellion gegen die Gesellschaft bestand, indem sie die Waffen aufnahmen.

Heutzutage, auch wenn sich sicherlich vieles verändert hat, stehen wir vor demselben Dilemma: auf der einen Seite wird die Bedeutung von Freiheit innerhalb unserer Gesellschaft definiert als begrenzte Möglichkeiten, die von der Gesellschaft selbst durch allgemeine Gesetze oder eine gemeinsame Moral garantiert werden. Möglichkeiten, die, wie man leicht erkennen kann, von unserer Stellung innerhalb der Gesellschaft (wirtschaftliche Lage, „Prestige“,…) abhängen, und die sich folglich sowohl mit der Verfügbarkeit von Geld, wie mit unserem sozialen Status vermehren: wer reicher ist, hat mehr mögliche (materielle, kulturelle und vergnügungsbezogene) Auswahl vor sich, als derjenige, der nichts besitzt, und zum Überleben und zur Abwesenheit einer wirklichen Wahl verurteilt wird. Wer sein Elend nicht akzeptiert und sich gegen diesen Zustand auflehnt, wird isoliert und weggesperrt. Die „Freiheit“ einiger bedeutet also die Abwesenheit von Freiheit und die Ausbeutung der anderen.

Auf der anderen Seite hingegen haben wir die Freiheit, von der wir Anarchisten sprechen, die etwas ganz anderes ist. Es handelt sich nicht um eine Vergrösserung der möglichen Auswahl, sondern im Gegenteil, um den Ausdruck aller Möglichkeiten, verschiedener Möglichkeiten, die sich durch die anderen Menschen eröffnen können. Es handelt sich also um ein absolutes, und nicht um ein quantifizierbares Konzept, um eine Totalität, oder in einfachen Worten: man ist entweder frei, oder man ist es nicht. Man kann nicht mehr oder weniger frei sein, ebenso, wie eine längere Kette für einen Sklaven nicht bedeuten kann, weniger Sklave zu sein. Unsere Freiheit ist also etwas, das nicht innerhalb von verallgemeinerbaren Gesetzen und Regeln eingegrenzt werden kann, sondern etwas, das aus der freien Übereinkunft zwischen Individuen entsteht.

Wie leicht zu erkennen ist, kann eine solche Freiheit nicht existieren, ohne die Welt, in der wir täglich leben, infrage zu stellen und mit ihr zusammenzuprallen. Dies ist eine Feststellung, die schon vor mehr als 2000 Jahren Spartakus und seine Abenteuergefährten machten, als sie sich gegen die römische Republik auflehnten. Eine Lektion der Vergangenheit, die uns vielleicht auch heute noch etwas lernen kann…


Ein Abenteurgefährte von Spartakus

Von der sozialen Befriedung

Seien wir doch zufrieden. Wieso uns unnötige Anstrengungen machen? Wieso uns mit der Welt auseinandersetzen, in der wir leben? Wieso die Sicherheit der Alltagsroutine aufgeben, und für die Freiheit kämpfen, obwohl sie uns nur Ungewisses, nur Unbekanntes zu bieten hat, obwohl wir doch nicht einmal wissen, wie diese Freiheit aussehen soll?

Diese Dinge, die gehören doch der Vergangenheit an. Das sind Anstrengungen, die heute nicht mehr in Mode sind. Wenn der Kampf für die Freiheit einst Menschen mit Leidenschaft erfüllte, so existiert er heute vor allem noch als Karikatur seiner selbst, in Filmen und in Büchern – oder als verstarrte Ideologie. Und Ausserdem, heute sind wir doch frei. Heute, hier in der Schweiz, haben wir doch alle die Möglichkeit, unsere eigene kleine Welt so einzurichten, wie es uns passt. Selbst jene, denen diese Welt widerstrebt, haben die Möglichkeit, ihre kleine alternative Alltagsrealität, ihr „Mileu“, ihre „Szene“ einzurichten, worin sich all das vergessen und verdrängen lässt, was einem doch eigentlich so widerstrebt. Geht man der Konfrontation aus dem Weg, eckt man auch nicht an. Dies scheint die Devise der meisten Leute zu sein. Doch eben hier liegt der Kern des Problems: die Freiheit lässt sich nur ertasten, wenn wir die Konfrontation suchen, wenn wir willentlich an den Grenzen rütteln, die uns aufgezwungen werden. Denn wer sich nicht bewegt, spührt auch seine Ketten nicht.

Die soziale Befriedung, der relative materielle Wohlstand und die demokratische Ideologie lassen uns vergessen, dass wir in Wirklichkeit, heute genauso wie früher, hier genauso wie anderswo, täglich der Möglichkeit beraubt sind, frei über unser Leben zu entscheiden. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die in Wirklichkeit mit Gefängnissen, Polizisten und Autoritäten aller Art dafür sorgt, uns in Zaum zu halten, damit wir nach Regeln funktionieren und einer Wirtschaft dienen, die zugunsten der Reichen und der Machthabenden errichtet wurden. Mit Brot und Spielen liessen wir uns zufriedenstellen, so sehr, dass es scheint, wir hätten die Fähigkeit verloren, uns überhaupt noch vorzustellen, geschweige denn zu ertasten, was jenseits des Bestehenden möglich sein könnte, was Freiheit sein könnte. Und so haben wir aufgehört, diese alltägliche Freiheitsberaubung als solche zu empfinden.

Nun, wie uns auch die Geschichte der Menschheit lehrt, ist es leider selten so, dass das Verlangen nach Freiheit von selbst soweit anwächst, bis es die Unterdrückung in ihren verschiedenen Gesichtern erkennt und gegen sie in Aufstand tritt, sondern meistens so, dass die Unterdrückung soweit anwächst, bis der Aufstand zur Notwendigkeit wird. Heute können wir in vielen Ländern sehen, wie die Situation der ärmeren Schichten zunehmends untragbarer wird, wie sich bedeutende soziale Konflikte abzuzeichnen beginnen und die Befriedung langsam aber sicher bröcklig wird. In Griechenland folgen Revolten auf Revolten, in England explodieren die sonst so ruhigen Städte plötzlich vor Wut, in ganz Spanien gehen die Unzufriedenen massenhaft auf die Strassen, während die vergangenen Aufstände auf der anderen Seite des Mittelmeeres die Rebellen auf dieser Seite ermutigten. Der rasche Abbau der „sozialen Einrichtungen“, mit denen sich die Regierungen während der letzten Jahrzehnte den sozialen Frieden erkauften, lässt die Wohlfahrtsillusionen dahinschmelzen und führt vielen wieder deutlich vor Augen, worauf diese Gesellschaftsordnung nach wie vor basiert: auf der bedingungslosen Ausbeutung der meisten zum Profit von wenigen. Die Konfrontation mit den Grenzen, die sich immer mehr verengen, macht vielen Leuten wieder deutlich, was ihre Rolle in diesem Herrschaftssystem ist; inwiefern sie noch immer blosse Sklaven der Wirtschaft jener sind, die von ihr profitieren (früher nannte man sie Bourgeoisie); inwiefern jedes Stückchen Freiheit, das sie zu besitzen glaubten, nur eine Gefälligkeit der Bosse und der Regierenden war, die zugestanden wurde, solange es ihre Privilegien nicht in Gefahr brachte. Nun aber, da ihre Wirtschaft krank zu sein scheint, werden die Zügel angezogen und diejenigen, die sowieso schon unten durchgehen, sollen für sie den Gürtel noch enger schnallen.

Wie oben erwähnt, scheint es auch diesmal die Verschlechterung der Bedingungen, das Anwachsen der Unterdrückung zu sein, welche das Konfliktpotenzial ansteigen lassen. Aber sind die Bedingungen nicht sowieso schon schlecht genug, um immer und überall in Aufstand zu treten? Würde es nicht sowieso schon genügen, dass wir, auch hier in der Schweiz, in einer Welt leben, in der uns jeder falsche Schritt in eine Knastzelle bringen kann, in der uns ein fehlender Fetzen Papier gefesselt in ein Ausschaffungsflugzeug führen kann, in der uns eine unbeugsame Haltung Knüppelschläge der Polizei einkassieren lässt, in der wir unsere Lebenskraft einem Boss verkaufen sollen, um selbst gerade so über die Runden zu kommen, während seine Taschen sich füllen? Leben wir nicht sowieso schon in Städten, in Wohnblöcken, die uns ersticken? Ist die Revolte nicht sowieso, hier und jetzt, eine Lebensnotwendigkeit, eine Grundvoraussetzung, um sich in dieser entfremdeten Welt wieder selber zu spüren?

Wir denken nicht, dass der Kampf für die Freiheit ausschliesslich von der Verschlechterung der Überlebensbedingungen ausgehen kann, sondern dass er von unserer Idee von Freiheit ausgehen muss, die dem Funktionieren an sich dieser Welt entgegensteht. Erst wenn wir es schaffen, aus dem oben beschriebenen „Gesetz“ der Geschichte auszubrechen, und unsere Revolte nicht mehr auf eine blosse Notwendigkeit, sondern auf eine Idee, auf eine Vorstellung von dem stützten, was jenseits der gegebenen Grenzen möglich wäre, können wir der Freiheit wirklich näher kommen. Denn die Bedürfnisse das Bauches, die wirtschaftlichen Nöte, können durchaus auch anders angegangen werden. Es gibt immer solche, die ein alternatives Herrschaftssystem zu bieten haben. Es gibt auch den autoritären Kommunismus und den Staatssozialismus. Die Freiheit aber stösst sich an jeder Form von Autorität. Freiheit bedeutet für uns Anarchie, also die Abwesenheit von jeglicher Form von Herrschaft.

Darum ist es unsinnig, darüber zu debattieren, ob es hier in der Schweiz weniger Gründe gibt, um zu revoltieren, als in den Ländern um uns herum. Wenn Freiheit nur eine Welt bedeuten kann, in der alle frei sind, eine Welt also, in der wir ohne Gefängnisse, Autoritäten, Beamte und Gesetze auskommen, in der wir Geld und Wirtschaft beseitigen, damit Solidarität und gegenseitige Hilfe sich entwickeln können, dann ist es leicht, zu erkennen, inwiefern wir auch hier in der Schweiz alles andere als frei sind. Wenn die Herrschaftsstrukturen, die diese Freiheit verunmöglichen, in konfliktreicheren wie in befriedeteren Ländern dieselben sind, dann muss die Unterdrückung, in ihren Strukturen und Menschen, auch hier in der Schweiz in Angriff genommen werden.

Die Frage, inwiefern man diese Unterdrückung empfindet, inwiefern es einem die Anstrengung wert ist, sich selbst zu befreien, ist eine Sache. Nur ist es meistens so, dass dies Hand in Hand geht mit den Verleumdungen, dem Geschrei, den Anklagen, den Empörungen gegenüber den Rebellionen, die sich immer wieder auf verschiedenste Weisen ausdrücken, manchmal schwieriger zu entziffern, manchmal klar wie die Barrikaden. Denn wer den Konflikt umgeht und seinen Frieden bewahren will, sieht sich durch die Revolten der anderen gestört. Die soziale Befriedung bringt die Menschen somit dazu, sich willentlich oder unbewusst auf die Seite der Normalität, der bestehenden Ordnung, und somit auf die Seite der Unterdrückung zu stellen, die sie für den grössten Teil der Menschen bedeutet. Im Namen der eigenen Fügsamkeit und Unterwerfung spricht man den anderen das Recht ab, unfügsam und ununterworfen zu sein. Während man selbst den Geschmack für Freiheit verloren hat, verlangt man von allen, die ihn noch zu schätzen und zu kosten wissen, dieses fade Leben zu akzeptieren.

Aber es gibt Menschen, die bewusst oder spontan, eine Unbeugsamkeit, eine Empfindung der eigenen Würde entwickeln, die mit dieser Welt unvereinbar ist; Menschen, die ihr Verlangen nach Freiheit nicht in dem Rahmen einsperren können, den uns die Institutionen und Autoritäten vorschreiben; die nicht akzeptieren werden, ihren Horizont auf den Boden vor den eigenen Füssen zu beschränken, weil man uns zwingen will, mit gebeugtem Kopf durchs Leben zu gehen. Und unter diesen Menschen, die die soziale Befriedung gewaltsam zurückweisen, können Komplizenschaften entstehen, in einem freien Zusammenspiel von Revolten.


Ein Aufrührer

Kritik der idealen Gesellschaft

Wenn sich die Frage der Revolution stellt, wird meist sogleich die Frage nach dem „nach der Revolution“ gestellt. Natürlich stellen sich viele, die über die herrschenden Zustände hinaus wollen, die Zukunft jenseits des Staates, die Möglichkeiten, die sich dann auftäten, auf die eine oder andere Weise vor. Diese Vorstellungen können eine Motivation zum Kämpfen sein. Aber es gibt eine Art und Weise, dieses Thema zu behandeln, die wir mit Kritik betrachten. Es ist dies das Aufstellen von künftigen Gesellschaftskonzepten und Organisationsprinzipien. Und wir sprechen gar nicht erst von den Fantasien der Eroberung der Macht, um dann – obwohl sich dieser angeblich auflösen soll – einen neuen Staat zu errichten; kämen diese Pläne irgendwann zur Anwendung, wären ihre Anhänger offensichtlich unsere Feinde. Doch auch unter Revolutionären, die der Autorität zumindest nicht huldigen wollen, scheint das Bedürfnis gross zu sein, dieser Gesellschaft eine andere entgegenzusetzen. Diese entgegengesetzte Gesellschaft soll die volle Freiheit garantieren (oft sogar mittels von Rechten, worauf ich hier nicht näher eingehe). Sie wird dann in ellenlangen Abhandlungen dafür gepriesen, keinen Menschen auszuschliessen und die volle Freiheit (und dazu sogar noch Friede, Freude und Eierkuchen) zu ermöglichen, und beantwortet die Frage „Wie soll denn eine freie Gesellschaft aussehen?“ mit einer Leichtigkeit, die stutzig macht. Das alles wirkt dann, je nach Beispiel, mehr oder weniger überzeugend, und sollte, zumindest in den Hoffnungen ihrer Autoren, jeden vernünftigen Menschen überzeugen. Und es hat viele überzeugt, sie sind auf die Barrikaden gegangen und haben ihr Leben dafür gelebt. Dass dies für ein Paradies getan wurde, das als solches natürlich nie erreicht werden kann, ist ein Vorwurf, der den Gesellschaftsmodellen gerechtfertigterweise gemacht wird. Doch die Problematik mit ihnen geht weit darüber hinaus. Denn wenn wir uns darauf einlassen, zu beweisen, dass „die Anarchie funktioniert“, ist das ein Anbiedern an den Horizont derjenigen, die sich das Leben nur als Funktionalität vorstellen können.

Es ist einleuchtend: mittels der Gesellschaftsmodelle soll der negierenden Kritik des Anarchismus etwas Positives zur Seite gestellt werden, soviel ist klar. Dies meist als Antwort auf die Abweisung der anarchistischen Kritik durch die Aussage: „Stimmt ja alles, aber was wäre denn die bessere Lösung?“. Und, anstatt zu antworten, die Anarchie eben, die Negation der Herrschaft, wird versucht, diese Negation mit wunderschönen positiven Bildern auszuschmücken; was dazu führt, dass die Utopie immer mehr dem Bestehenden gleicht, denn es ist einzig die Perspektive der Verwaltung einer Gesellschaft, die zum Ausdruck kommt, und mittels derer das Ganze den Bürgern schmackhaft gemacht werden soll. Das Leben, das immer jeder Systematik entflieht, kann in dieser Perspektive gar nicht vorkommen, es wird in jeder „funktionierenden Gesellschaft“ ein Störfaktor bleiben. Doch die Anhänger der „idealen Gesellschaft“ beharren auf der Behauptung, dass die Gesellschaft X allen die Freiheit ermöglicht (was übrigens schon heute alle Gesellschaften von sich behaupten), untermauert mit ein paar klugen Erkenntnissen, die das ganze beweisen sollen.

Um ein Rezept für eine utopische Gesellschaft zu entwerfen, braucht es irgendein positives Menschenbild, das als Garant dafür dient, dass, wenn einmal die Bedürfnisse des konstruierten Menschens gestillt werden, er zugänglich, sozial und friedlich wie ein Lamm sein wird, und dass dieses Lamm dies aus freiem Willen ist. Und deshalb werden Konzepte entworfen, die alle umfassen sollen, alle wären darin frei und Konflikte werden „unnötig“ sein. Konzepte, die nicht als experimenteller Versuch, sondern als Lösung präsentiert werden. Denn, so wird behauptet, wenn einmal alle in diesem Modell leben würden, gäbe es keinen Grund für „böse Taten“ mehr.

Und so folgt dem Wunsch nach einer perfekten Gesellschaft das Verlangen danach, die Einzelnen zu bändigen, nicht das Risiko einzugehen, das der Kontrollverlust birgt: Dass die Einzelnen unsoziale Entscheidungen treffen könnten, dass die Einzelnen nicht das tun, was die (jeweilige) Gesellschaft will. Um dies zu verhindern, soll natürlich keine rohe Herrschergewalt – die von ihrer oberflächlichen Herrschaftskritik noch erkannt wird – angewendet werden, nein, die Mittel werden die unscheinbaren Zwänge der Pädagogik, der Erziehung und der Moral sein. Diese Domestizierung wird versprochen, um genau die Feinde der Anarchie zu überzeugen: „Die Anarchie ist nicht der Alptraum, den ihr habt, sie ist doch der Zustand, den jeder gute Mensch wollen muss“, wird gestottert. Doch die Bürger verstehen meist schon: Diese Wunschträume sind naiv; und so finden sie die Utopien schön und gut, als konsumierbare Ware, die ihr Desinteresse an der Welt nur auf‘s Neue bestätigen, und sehen ein: solche Konzeptionen kratzen sie nicht, denn sie ändern nichts am Leben…

Der Bändigung der Einzelnen als Utopie folgt meist die Bändigung der Einzelnen in der Praxis. Der Kampf wird dann für die zukünftige Gesellschaft geführt, und nicht mehr aus dem alltäglichen Leben heraus; ist nicht mehr ein Kampf für das eigene Leben nach eigenem Geschmack, sondern die Unterwerfung dieser beiden einem höheren Ideal, zu dem es dann nur noch strategische Wege gibt. Und daraus ergibt sich dann die Disziplin und andere Schweinereien. Und jede Revolte, jede Gewalttat wider die heutigen Zustände, muss dann über den Umweg des Kampfs für das Ideal legitimiert werden. Vielleicht rührt es daher, dass so viele nur die Freiheit für die politischen Gefangenen fordern, für diejenigen, die für das edle politische Ideal einsitzen.

Für den Kampf gegen den Staat und die Gesellschaft brauchen wir wohl keine Legitimation. Wenn wir diese Ordnung angreifen, wieso nicht sagen: weil wir dies nun mal wollen. Weil wir erkannt haben, wer unsere Feinde sind. Und nicht aufgrund der höheren Legitimation durch das Ideal, die Zukunft, was auch immer. Wenn wir den Kampf gegen Herrschaft trotzdem mit grösster Anstrengung führen, uns sogar Pläne vorstellen, wie wir das Ende dieser Ordnung herbeiführen können, wie wir Beziehungen erschaffen können, die nicht auf der Unterdrückung basieren, uns fragen, wie wir das erreichen können; dann weil wir das einfache Bedürfnis danach haben. Auch die Gesellschaftskonzepte entstehen aus diesem Bedürfnis, aber sie entstehen auch aus einem zweiten Bedürfnis, nämlich, die Fragen des Lebens für alle – und ein für alle mal – zu lösen. Und so wollen sie uns von der Verantwortung, die die Freiheit nun mal mit sich bringt, erlösen. Sie fassen das gefährliche Spiel des Lebens in Konzepte, die die wunderschönsten, unterschiedlichsten chaotischen Experimente ausschliessen.

Denn dies sind die Alpträume des Bürgers: dass ihm in seine kleine heile Welt hineingepfuscht werden könnte, die die Sphäre seiner Privatheit bildet. Dass es sein könnte, dass die Bedürfnisse, die er hat und die er für die Bedürfnisse „des Menschen“ hält, nur die Bedürfnisse seiner Anpassung, die Bedürfnisse nach Mittelmass und Kontrolle sind. Entgegen der Auffassung der Gesellschaftskonzeptoren können wir nur von unseren eigenen Bedürfnissen reden, und denken wir, dass die einzige Ermöglichung der Freiheit das Erlernen der Freiheit ist. Die Bedürfnisse „des Menschen“ interessieren uns vielleicht dann, wenn wir uns in ihnen wiederfinden, aber es wird immer eine ganz andere Freiheit sein, die wir nur in einem Experiment des Bruchs mit allen Werten der Herrschaft erproben können. Falls wir irgendeinmal zum Genuss der Möglichkeit kommen, dieses Experiment in solchen sozialen Ausmassen zu erproben, wie es die Welt noch nicht gesehen hat (und das ist unsere Absicht), wird das wichtigste, um die Freiheit zu höheren Formen zu bringen, nicht ein Konzept für Güterverteilung, den perfekten Entscheidungsfindungsprozess und schon gar nicht ein Regelwerk sein, sondern die Fähigkeit der Freiheit (und ihrer Verteidigung), die Fähigkeit zum Umgang miteinander, und die volle Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, und nicht auf eine zukünftige Projektion. Die Frage ist also nicht, was die endgültige Lösung ist, sondern, wie wir (inter)agieren, welche Wege wir gehen und was wir aus den Möglichkeiten machen. Erst diese Herangehensweise ermöglicht eine soziale Verbreitung der anarchistischen Ideen, und nicht eine bloss vergrösserte Anhängerschaft von irgendwelchen Zukunftsträumen.

Denn der ganze Diskurs der Ausarbeitung eines Lösungsmodells ist auf die ein oder andere Art das Aufgeben der Verantwortung. Denn, eine „Gesellschaftsordnung“ kann funktionieren, und ihr Funktionieren hängt nicht von mir ab. Eine „Gesellschaftsordnung“ gibt mir Freiheit, ich habe dann also keinen Grund mehr, mir die Freiheit zu nehmen, denn schliesslich ist in einer „anarchistischen Gesellschaft“ jeder frei… Dies ist die Logik, die sich einschleicht, sobald behauptet wird, dass die Anarchie erreicht sei, vollendet sei.

Auf dass wir diesen Zustand nie erreichen! Den Zustand, in dem die Freiheit bloss das passive Funktionieren ist, das keine Veränderung kennt. Den Widerspruchslosen Zustand. Den Zustand überhaupt… Denn wenn es irgendwann einen Zustand geben soll, den die Leute, den Ich als Endzustand, als Perfektion begreifen soll, so wäre das das Ende des sich immer verändernden und frei entwickelnden Lebens. Es wäre „die beste aller Welten“, wie sie sich uns heute schon präsentiert.

Es ist nicht so, dass ich mir keine perfekte Gesellschaft denken kann; ich will es nicht. Weil jeder Zustand, der mich als passives will – als blosses Mitglied – meine Aktivität ausschliesst. Und wenn einmal einer daher kommt und sagt: „das, was wir euch anbieten, ist die Freiheit“, so sagen wir: Die Freiheit kann nicht gegeben werden, sie ist das, was wir uns nehmen, und erhebt sich meilenweit über jedes platte Modell.

Unruhenachrichten

Sabotage und Konfrontation bei Protesten gegen das PJZ

Ein Haufen von etwa 150 Personen versammelt sich am Samstagabend dem 27. Oktober auf dem Vorplatz des alten Güterbahnhofs in Zürich, dort, wo bald ein neues Mahnmal der Einsperrung und Kontrolle über das Quartier thronen soll: das neue Polizei und Justizzentrum (PJZ). Der Protest, der sich allgemein gegen die erdrückende Stadtentwicklung richtete, sieht sich sogleich mit der Polizei konfrontiert, die mit Gummischrott-, Tränengas- und Wasserwerfereinsatz den Zugang zum Langstrassenquartier versperren will. Aus einem Protest wird somit rasch eine aktive Konfrontation, in deren Verlauf Barrikaden errichtet, Baumaschinen beschädigt und die selbsternannten Hüter mit Steinen beworfen werden, während einige ihrer Autos Schäden davontragen. Ausserdem wird eine der Mitbeteiligten am Bau des neuen Bestrafungskomplexes sabotiert: die SBB, die das besagte Güterbahnhofareal für das PJZ verkauft hat, und die im Übrigen auch bei Gefangenentransporten und Ausschaffungen stets gerne behilflicht ist, findet am nächsten Morgen mehr als 10 ihrer vor Ort parkierten Autos mit plattgestochenen Reifen vor. Rund um den alten Güterbahnhof wurden einige Sprayereien hinterlassen, wie « JZ niemals – Sabotage, direkte Aktion  und « achen wir unsere Leben Bullenfrei .

Wie in einem Flugblatt gesagt wurde, dass an diesem Abend unter den Protestierenden verteilt wurde, denken auch wir, « ass „Nein“ sagen alleine nichts bringt, wenn es nicht auch mit einer aktiven und direkten Intervention verbunden ist. […] Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, sollten wir diese Intervention nicht an irgendwelche Politiker delegieren, indem wir uns selbst auf die Rolle beschränken, „Druck auszuüben“. Dann müssen wir diese Intervention in unsere eigenen Hände nehmen. Genauso, wie wir unser ganzes Leben und die Welt, die man uns entrissen hat, wieder in unsere eigenen Hände nehmen wollen.  Und zwar durch « ie Verweigerung, die Sabotage und den direkten Angriff gegen die Interessen, die dafür verantwortlich sind. 

Gefängnisausbruch

Ein Gefängnisausbruch, wohl eine der deutlichsten Gesten, die das menschliche Drängen nach Freiheit ausdrückt; wer, der dieses Drängen selbst in sich spürt, könnte sich nicht daran erfreuen, wenn er von einer solchen Geste hört? Wir jedenfalls haben uns in der Geste der sechs Häftlinge wiedererkannt, die Ende Oktober den Mut hatten, den Ausbruch aus der Haftanstalt in Orbe (VD) zu wagen. Mit improvisierten Werkzeugen öffneten sie die Schlösser ihrer Zellen, bevor sie durch den Gang ein Büro erreichten, wo sie durch ein eingeschlagenes Fenster in den Hof gelangten. Trotz des ausgelösten Alarms und der Intervention der Polizei mit 23 Patrouillen und einem Armeehelikopter, gelang es zwei von ihnen, an der frischen Luft zu bleiben. Ob sich diese Ausbrecher vielleicht von ihren Vorgängern ermutigen liessen, die bereits ein paar Monate zuvor die Flucht aus demselben Gefängnis wagten? Ob sie ihrerseits, mit ihrer Geste, in anderen, innerhalb sowie ausserhalb der Gefängnismauern, das Drängen nach Freiheit ermutigten konnten?

Rechnungsbegleichung?

Vergangenen Monat wird in der Innerschweiz einem Auto ein Hinterhalt gestellt; das Auto nähert sich, das Feuer wird eröffnet, der Fahrer wird erschossen. Nein, hier handelt es sich nicht um eine Rechnungsbegleichung unter Mafiosi, sondern um die Rechnungsbegleichung der Gesellschaft gegenüber einer Person, die es wagte, sich über das heilige Eigentum hinwegzusetzen; eine Person, die nicht akzeptieren wollte, dass einige im Übermass besitzen, während man selbst zum knappen Überleben verurteilt ist. Bei dem Fahrer handelte es sich angeblich um einen Autodieb, zudem noch mit migrantischem Hintergrund. Zwei Indizien, die diesen Mord einwandfrei rechtfertigen, wie aus der Presse hervorgeht, die sich einzig um die „psychologische Schädigung“ der polizeilichen Mörder erbarmt. Die Menschlichkeit und Geschichte des „Autodiebes“ steht gar nicht erst zur Frage. Wer die Regeln des tristen Spiels verletzt, das uns aufgezwungen wird, verliert seine Menschlichkeit, und wird als solcher auch gerichtet…

Ausgabe 2

Die Welt verändern

Wir wollen uns nicht mit dem blossen Überleben zufrieden geben, in einer Welt, die unseren Bedürfnissen und Wünschen nicht entspricht. Was wir wollen, ist eine Freiheit ohne Kompromisse und ohne Vermittlung, eine Freiheit, die wir in einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung basiert, nicht finden können, einer Gesellschaft wie diejenige, in der wir leben. Eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Individuen, ihre freie Übereinkunft und der freie Ausdruck ihrer Verlangen nicht möglich ist.

Aus eben diesen Gründen drängt uns unsere unaufschiebbare Suche nach Freiheit die Frage nach der Veränderung der Welt, die uns umgibt, auf.

Über die Kritik an der Gesellschaft…

Die Gesellschaft, in der wir Leben, setzt sich hauptsächlich aus institutionalisierten Beziehungen zwischen Individuen und zwischen Gruppen von Individuen zusammen, das heisst, Beziehungen, welche von einem Set von Normen reguliert werden, welche für alle Individuen gelten sollen. Diese Beziehungen werden von Personen, Strukturen und Traditionen aufrechterhalten und reproduziert. Einige Beispiele für solche institutionalisierte Beziehungen sind: die Familie (die Institutionalisierung einer Liebesbeziehung zwischen zwei Individuen und der Verhältnisse mit ihrer Verwandtschaft), die Arbeit (die Institutionalisierung der menschlichen Aktivität, in welcher ein Teil der Gesellschaft ausgebeutet wird, damit er den Reichtum für einige wenige Individuen produziert), die Geschlechterrollen (die Institutionalisierung des Mann-Frau Verhältnisses durch die Erschaffung der Rollen), die Hierarchie (die Institutionalisierung des Entscheidungsprozesses zum Vorteil einer Minderheit), das Privateigentum (die Institutionalisierung des Besitzverhältnisses zum Vorteil einer besitzenden Minderheit), die Autorität…

Diese Beziehungen definieren unsere Position und unsere Rolle im Innern der Gesellschaft. Was wir Anarchisten an der Gesellschaft kritisieren, ist genau diese Institutionalisierung der Beziehungen, die die Grundlage dafür schafft, dass ein Teil der Gesellschaft durch eine Minderheit ausgebeutet wird, und die die Individuen daran hindert, sich selbst frei zu definieren, die eigene Beziehung zu Anderen ausgehend von einer Grundlage der Gleichheit zu definieren und, schlussendlich, über das eigene Leben zu entscheiden.

…und ihre Mängel

Diese institutionalisierten Beziehungen sind nicht die einfache, von selbst entstehende Konsequenz aus den Beziehungen zwischen Individuen, die in jeder Gesellschaft existieren, sondern die Konsequenz einer Gesellschaft, die auf dem Prinzip der Autorität basiert und dazu neigt, die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern zu vereinheitlichen und zu normalisieren, um sie besser kontrollieren zu können und ihr eigenes Funktionieren und Fortbestehen zu sichern.

Aus diesem Grund gibt es in dieser Gesellschaft Institutionen, die dazu dienen, die Reproduktion dieser institutionalisierten sozialen Beziehungen zu garantieren. Schule, Polizei, Arbeit… Institutionen, die fern davon, abstrakt zu sein, aus realen Strukturen und Personen bestehen.

Um die Gesellschaft zu verändern, kann die Kritik der institutionalisierten Beziehungen ein erster Schritt sein, aber nicht genügen. Bloss zu sagen, was falsch ist, hat noch nie etwas verändert. Zu versuchen, die Beziehungen mit Anderen auf einer individuellen Ebene zu ändern, ist sicher eine Möglichkeit, aber für uns ist auch diese Möglichkeit zu beschränkt. Im Grunde ist das, was wir verändern wollen, die Gesellschaft, und auch wenn wir verändern können, was direkt um uns herum ist, werden diese Veränderungen – solange eine gesellschaftliche Struktur existiert, die die bestehenden Beziehungen reproduziert und aufrechterhält – nicht fähig sein, über diese Gesellschaft hinauszugehen.

Vom Angriff…

Die Rolle der Institutionen in der Aufrechterhaltung und Fortbestehen der bestehenden Beziehungen bringt uns zur Frage des Angriffs auf die Strukturen. Wenn wir diese Gesellschaft verändern wollen, wird das Angreifen und Zerstören der Strukturen zur Notwendigkeit, um etwas Neuem und Anderem Platz zu machen. Es ist kein Zufall, dass in allen Revolutionen und Aufständen etwas vom ersten, das angegriffen wird, die Strukturen sind (Regierungsgebäude, Bullenposten, Militäranlagen, Kirchen, Gefängnisse, Schulen, Fabriken…). Das Angreifen dieser Strukturen hat auch einen direkten Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Individuen.

Der Angriff auf eine Struktur der Macht, also eine Unterbrechung des normalen Funktionierens der Gesschaft, kann zu einem Ausgangspunkt für die Subversion der sozialen Beziehungen, für die Veränderung der Gesellschaft werden.

…zur sozialen Revolution

Eine Revolution ist ein Moment, in dem der Angriff auf die Strukturen der alten Gesellschaft verallgemeinert wird, was eine Situation der gewaltsamen Umwälzung der Gesellschaft, ihrer Regeln und der Beziehungen zwischen den Individuen kreiert, und die konkrete Veränderung dieser Beziehungen ermöglicht, frei von den alten Strukturen. In solchen Momenten des Chaos wird es wichtig, neue Beziehungen zu erschaffen, auf eine Art und Weise, dass die alten Strukturen sich nicht wiederaufbauen können.

Demokratische Selbstunterdrückung

Viele, die unzufrieden sind, denken, sie könnten durch mehr Mitbestimmung an dieser Gesellschaft irgendetwas Relevantes verändern. Dies ist auch das erste, was uns angeboten wird, falls unsere Unzufriedenheit bemerkt wird: Mehr Mitbestimmung. Beklag dich nicht, denn unsere Gesellschaft ist ja demokratisch. Du kannst eine Petition machen, wählen, in den Stadtrat gehen oder einen Verein gründen. Du kannst dieses oder jenes, Hauptsache du kommst nicht auf schlechte Ideen. Das ist ihre Pseudo-Selbstbestimmung.

Alle Entscheidungen, die uns zu machen erlaubt sind, messen sich daran, inwiefern sie mit dem Getriebe der Gesellschaft kompatibel sind. Die demokratische Mitbestimmung reduziert sich auf das Um-Erlaubnis-Bitten beim Volk; das immer über den Einzelnen steht. In der Demokratie sollen wir schlussendlich Entscheidungen ÜBER uns selbst treffen. Wir sollen uns selber unterdrücken und genau das ist auch das demokratische daran.

So verschwimmen die Fronten immer mehr. Es wird immer unklarer, wer Herr und wer Sklave ist, denn das Volk besorgt sich seine Unterdrückung selbst. Immer öfter‘s sind wir beides auf einmal, Unterdrückte und unsere eigenen Unterdrücker, das Unten und das Oben vermischt sich, und keiner kommt mehr draus.

Wenn wir dieses schizophrene Spiel nicht mehr länger mitmachen wollen, sollten wir endlich zur Klarheit gelangen, zur Klarheit, dass diese Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf unserer Unterdrückung basiert und uns deshalb feindlich ist. Sie ist esentiell mit der Verwirklichung des Staates verknüpft (und beschäftigt) und ihr Funktionieren setzt die Unterdrückung der Einzigartigkeit eines jeden Individuums voraus. In der heutigen Gesellschaft und ihrer Welt sind wir noch genauso versklavt, wie schon seit Jahrtausenden, auch wenn auf weniger offensichtliche Weise und auch wenn diese Sklaverei sich selbst gerade den Namen der Freiheit gibt.

Doch was ist das für eine Freiheit, die uns bloss erlaubt, unsere eigene Unterdrückung zu organisieren? Die uns dazu einlädt, uns anzustrengen, uns einzubringen, in den Institutionen, die doch genau das Problem sind.

Denn für uns bedeutet Freiheit nicht Mitbestimmung an dieser ganzen Scheisse, sondern Selbstbestimmung, nicht mitzubestimmen, wer gerade wen unterdrückt und wie, sondern keine Herrschaft mehr zu akzeptieren. Sie bedeutetet nicht Demokratie sondern Anarchie. Sie bedeutetet, von jeglicher Teilhabe am grossen, sadistischen Spiel des Unterdrückens zu desertieren und jenseits der Regeln dieser Gesellschaft zu leben; gegen sie. Versuchen, Beziehungen zu kreieren, Beziehungen die konträr zu den bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen sind, die die Herrschaft verunmöglichen und unsere Freiheit ins Unendliche erweitern.

Diese Freiheit im Kampf zu erproben, ist der Anfang vom Ende des Staates, dieser Gesellschaft, ja, dieser ganzen Zivilisation. Der Anfang vom Ende von Allem, was auf unserer Unterwerfung basiert…

PJZ Niemals!

Alle wissen es mittlerweile. Zumindest alle, die sehrwohl wissen, was dies bedeutet, für sie und die Umgebung, in der sie leben: der Bau eines neuen Polizei und Justizzentrums (PJZ) in Zürich wurde nun endgültig entschieden. Ein massives Monument der Kontrolle und Bestrafung, das in Zukunft anstelle des alten Güterbahnhofs über Aussersihl thronen soll. Ein riesiger Komplex aus Glas und Beton, der unter anderem 300 Gefängnisplätze, etwa 30 Kommissariate, eine Polizeischule und verschiedene Strafverfolgungsbehörden in sich zusammenfassen soll. Der Zweck ist offensichtlich: die Effizienz der Polizeiarbeit zu erhöhen. In einer Gegend, die heute schon quasi militarisiert ist, sollen die Patrouillen der Polizei, die Überwachung unserer Bewegungen, die Kontrollen und Erniedrigungen auf der Strasse und die Kapazitäten zur Inhaftierung weiter erhöht werden…

Wenn wir mit dieser Zeitung den Kampf gegen die Unterdrückung vorantreiben wollen, sprechen wir nicht von etwas abstraktem, etwas ungreifbarem, sondern von konkreten Strukturen und Personen, die diese Unterdrückung alltäglich reproduzieren. Das PJZ ist eine solche Struktur, eine, die in ihrer Funktion nicht offensichtlicher sein könnte, eine Struktur, die auf bedeutende Weise unsere alltägliche Realität verändern wird. Selbstverständlich, als Anarchisten wollen wir jegliche Form von Unterdrückung, die Autorität und den Staat in ihrer Gesamtheit zerstören, aber wo soll dieser Kampf beginnen, wenn nicht gegen die konkreten Realisierungen in unserem alltäglichen Leben? Und wenn wir, als Anarchisten, unsere eigenen Gründe haben, dieses Projekt eines neuen Polizei- und Justizzentrums zu bekämpfen, nämlich eine Kritik an Gefängnissen, Gesetzen und Autoritäten an sich, so sind wir überzeugt, dass es auch andere gibt, denen das PJZ nicht passt, denen die Polizei und die Justiz nicht passen, und die sich diesem Projekt aus ihren eigenen Gründen entgegenstellen wollen. Und dies ist auch der Grund für diesen Artikel. Nicht, um uns zu beklagen und unsere blosse Ablehnung zu verkünden, sondern um die Möglichkeit zu bekräftigen, uns auf der Grundlage von Selbstorganisation und Revolte, in einem gemeinsamen Kampf gegen das PJZ zu begegnen, zu inspirieren und zu ermutigen; die Möglichkeit, dieses Projekt des Staates tatsächlich anzugreifen und zu verhindern; die Möglichkeit, unsere Leben in die eigenen Hände zu nehmen, und uns mit unseren eigenen Händen, ohne die heuchlerischen Politiker und Verhandlungen, gegen das zu wehren, was uns unterdrückt.

Das PJZ im Kontext von Militarisierung und Aufwertung

Um die Bedeutung und Konsequenzen des neuen Polizei- und Justizzentrums zu verstehen, ist es wichtig, den Kontext zu verstehen, in den es sich einschreibt. Der Bau des PJZ ist kein isoliertes Projekt, sondern Teil eines Prozesses, der schon seit langem in Gange ist, und der dabei ist, diese ganze Stadt und insbesondere das Langstrassenquartier umzuwandeln und nach den Vorstellungen der Reichen und Regierenden zu gestalten. Dieser Prozess hat sich besonders seit den 90er Jahren immer mehr verstärkt. Damals wurde mit dem Argument, die offene Drogenszene zu bekämpfen, die für schlechte Schlagzeilen sorgte, jene Lösung vorgeschlagen, die diese Gesellschaft immer vorschlägt, wenn es darum geht, Probleme zu bekämpfen, die sie selbst hervorgerufen hat: mehr Kontrolle, mehr Repression! So wurden beispielsweise die Fuss- und Autopatrouillen der Polizei vermehrt, Bullenhandlanger wie die SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) eingeführt und ein provisorisches Kontainergefängnis auf der Kasernenwiese errichtet, das bis heute weiter genutzt wird (allgemein berüchtigt dafür, bereits dutzende Häftlinge in den Selbstmord getrieben zu haben). Projekte wie „Langstrasse PLUS“ sollten in diesem Quartier, in dem sich schon immer die ärmeren und rebellischeren Bevölkerungsschichten konzentrierten, und das schon immer ein Dorn im Auge der Stadtverwaltung war, für eine „Verbesserung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ sorgen und diesem zentral gelegenen Quartier allmählich einen saubereren, gewinnbringenderen, störungsfreieren und kontrollierteren Charakter geben. Während die Polizei dafür sorgt, dass die störenden und rebellischen Personen von den Strassen vertrieben werden, werden mit Neubauten, Sanierungen und steigenden Mieten die Ärmeren immer mehr aus ihren Wohnungen vertrieben, um den Reicheren Platz zu machen. „Militarisierung“ und „Aufwertung“ gehen also schon immer Hand in Hand.

Der Bau des PJZ muss in diesem Kontext gesehen werden. Es wird nicht nur eine noch grössere Polizeipräsenz in unserem Alltag, mehr Kontrolle und Überwachung, mehr Gefängnisplätze und somit häufigere Haftstrafen mit sich bringen, sondern auch eine weitere „Säuberung“ und „Aufwertung“ des Quartiers. Unzählige Personen werden nach und nach von ihrem Wohnort vertrieben werden. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass zeitgleich mit dem PJZ auch Projekte wie die Europaallee errichtet werden, die mit ihren Luxusgeschäftern und -Bars, Lofts und Büros eine reichere und gewinnbringendere Bevölkerungsschicht in dieses Quartier einführen soll.

Für jene, die von diesen Prozessen betroffen sind und sein werden, gibt es also mehr als genug Gründe, sich mit allen Kräften dem Bau des PJZ entgegenzustellen.

Gegen die Einsperrung, gegen eure Sicherheit

Wir kämpfen für eine Welt, in der jedes Individuum seine vollständige Freiheit geniessen kann, und haben somit eine grundsätzliche Kritik an allen Formen der Einsperrung und der Autorität. Einen Menschen einzusperren, ihn im höchsten Masse seiner Freiheit zu berauben, empfinden wir als die grösste Gewalttat, die einem Menschen angetan werden kann.

Der Bau des PJZ, gemeinsam mit den diversen anderen Gefängnissen und Ausschaffungszentren, die zurzeit in verschiedenen Kantonen geplant sind, soll die Kapazität zum Einsperren in der Schweiz erhöhen. In einem Moment, in dem die bestehenden Gefängnisse überfüllt sind, und wir mit einer steigenden Verarmung und Präkarisierung unserer Leben konfrontiert sind, fürchten die Regierenden, dass mehr Menschen den Mut fassen könnten, ihr Elend nicht mehr einfach zu akzeptieren, und sich Wege des Überlebens ausserhalb der Gesetzlichkeit zu suchen.

So wird die Notwendigkeit des PJZ auch hauptsächlich mit dem üblichen Gerede über den Bedarf an mehr Sicherheit gerechtfertigt. Aber, um aus einem Plakat gegen das PJZ zu zitieren, das seit fast einem Jahr auf den Mauern von Zürich verbreitet wurde, „um wessen Sicherheit geht es hier? Wer hat schliesslich Interesse daran, Menschen wegzusperren, die dem reibungslosen Funktionieren dieser Gesellschaft schaden? Bestimmt jene, die von der Wirtschaft profitieren, und nicht jene, deren Arbeitskraft von ihr ausgenutzt wird. Bestimmt die Reichen und Regierenden und nicht die Armen und Regierten! Im Grunde geht es hier um die Sicherheit unserer Unterdrücker, die ganz Recht haben, sich vor den Diebstählen jener zu fürchten, die sie in die Armut trieben, sich vor der Wut jener zu fürchten, die von ihnen täglich ausgebeutet und erniedrigt werden, sich vor den Revolten jener zu fürchten, deren Freiheit sie rauben und die sich heute von den Aufständen in Griechenland und Nordafrika ermutigen lassen. Und um diese Sicherheit, um die Sicherheit unserer Unterdrücker, scheren wir uns einen Dreck!“

Von der verstreuten Revolte zum Aufstand

Wenn wir den Bau des PJZ wirklich verhindern wollen, sollten wir die Illusionen der Politik endgültig verlassen, die uns nur in die staatliche Verwaltung der Unzufriedenheiten und Konflikte verwickeln, und die stets darauf abzielen, diesen Konflikt in Bürokratie und sinnlosen Verhandlungen zu ersticken. Wieso sollten wir von den Autoritäten, vom Staat und seinen Politikern etwas fordern, während sie doch jene sind, die solche Projekte gegen uns realisieren? Wir brauchen weder Petitionen, noch Parteien, und auch keine repräsentativen Organisationen. Wir wollen auf unserer eigenen Kraft als Individuen, auf der Selbstorganisation und auf unserer Fähigkeit zur Rebellion aufbauen.

Wenn wir also direkt und selbstorganisiert gegen den Bau des PJZ intervenieren wollen, dann müssen wir verstehen, wer dafür Verantwortlich ist und wo diese Verantwortlichkeiten angegriffen werden können. Das Projekt des PJZ realisiert sich nicht nur dort, wo bald dessen Baustelle sein wird (der alte Güterbahnhof soll im Frühling 2013 abgrissen werden, um 2014 mit dem Bau zu beginnen), sondern wird auch mithilfe von diversen Personen und Institutionen realisiert, die sich für das PJZ einsetzen, sich an ihm beteiligen und von ihm profitieren. Von den Politikern, die seinen Weg bereitet haben, über die SBB, die das Gelände dafür verkaufte (genauso übrigens wie jenes der Europaallee), und die sowieso bei vielen dreckigen Geschäften kollaboriert (Gefangenentransporte, Ausschaffungen, Denunziation von Sans-Papiers an die Polizei durch Kontrolleure, etc.), bis hin zu den Architekten (Theo Hotz AG) und den Unternehmen, die sich um den Abriss des alten Güterbahnhofs und den Bau des PJZ kümmern werden. Sie alle entscheiden sich, ihren eigenen Profit aus der Unterdrückung unserer Leben zu schöpfen. Sie alle sind, trotz dem demokratischen Schleier der Verantwortungslosigkeit und trotz dem heuchlerischen „Ich tue nur meinen Job“, Unterdrücker und Ausbeuter! Und eben gegen solche richtet sich unsere Revolte. Wenn wir die Realisierung des PJZ verhindern wollen, müssen wir diesen Schleier der Verantwortungslosigkeit herunterreissen, und aufzeigen, dass diese Handlanger, die alle einen Namen, ein Gesicht und eine Adresse haben, angreifbar sind. Was wir also vorschlagen, ist nichts anderes, als das, was schon seit jeher die Waffe der Unterdrückten ist: die Verbreitung der Sabotage und der direkten Aktion.

Und wenn, wie die Hüter dieser tristen Ordnung selber sagen, ein Grund für die Notwendigkeit des PJZ darin besteht, dass die Polizei, mit ihren momentanen Kapazitäten, nicht imstande wäre, eine „Krisensituation“ zu handhaben, dann lasst uns lieber eifrig dazu beitragen, eine solche Situation herbeizuführen: eine verbreitete und unkontrollierbare soziale Revolte, die gegen diese Struktur der Unterdrückung in Aufstand tritt.

Sabotieren wir die Verantwortlichen!

Einige kleine Aktionen, die sich im letzten Jahr um das PJZ ereigneten:

4. August 2011: Unter der Europabrücke brennen zwei Busse der SBB nieder. In einer aufgetauchten Meldung wird daran erinnert, dass „sich SBB an Ausschaffungen und Gefangenentransporten im Allgemeinen beteiligt“ und „ausserdem wahrscheinlich bald ihr Gelände beim Güterbahnhof an den Bau eines neuen Polizei und Justizzentrum (PJZ) verkaufen wird.“

11. April 2012: 6 Fahrzeuge der SBB verlieren über Nacht die Luft aus ihren Pneus. Auf den Autos wurden mit einem Stift Nachrichten hinterlassen: “Die SBB beteiligt sich am Bau des PJZ”, “Gegen Ausschaffungen und Knäste” und “PJZ Niemals”.

20. Juli 2012: Die für das PJZ zuständigen Sicherheitsplaner Amstein & Walthert in Örlikon und die zuständigen Architekten Theo Hotz AG im Seefeld werden mit Sprayereien versehen. Auf den Mauern ist zu lesen: “Bullenhandlanger! Knastbauer! Freiheitstöter!”, “A&W beteiligt sich am Bau des PJZ”, “PJZ niemals!”.

27. Oktober 2012: Bei Protesten gegen die Quartieraufwertung, die vor dem alten Güterbahnhof begannen, kommt es zu Konfrontationen mit der Polizei. Am nächsten Morgen findet die SBB etwa 10 ihrer vor dem Güterbahnhof parkierten Autos mit plattgestochenen Reifen wieder, während das Gebäude selbst mit Sprayereien gegen das PJZ versehen wurde.

Unruhenachrichten

Ägypten: Einmal die Freiheit gekostet…

Wie die jüngsten Ereignisse beweisen, geben sich die Revoltierenden in Ägypten keineswegs mit einer blossen Veränderung des Gesichts der Unterdrückung zufrieden. Einmal die Freiheit gekostet, die Möglichkeit, mit der Unterwerfung zu brechen und gegen die Autoritäten in Aufstand zu treten, machen sich viele keine Illusionen mehr über irgendeine Änderung des Regimes. Mit den Worten „Weder Verordnung, noch Verfassung, das ganze Regime soll verschwinden“ gingen in den letzten Wochen Tausende auf die Strassen und konfrontierten sich erneut mit den Ordnungskräften. Die Konfrontationen begannen in einer Strasse, die auch „Strasse der Augen der Freiheit“ genannt wird, um an die 40 Personen zu erinnern, die dort vor einem Jahr im Kampf gegen die Armee ihr Leben liessen. Die Konfrontationen dauerten mehrere Tage an, während beim Tahrir Platz die Büros von Al-Jazeera angegriffen wurden und in ganz Ägypten insgesamt 28 Büros der Moslembrüder verwüstet wurden, sie, die danach streben, die neue Regierungsmacht an sich zu reissen. In Alexandria waren es einige Anarchisten, die daran dachten, eine Leiter mitzubringen, um in die Büros im zweiten Stock zu gelangen, und während die Räume verwüstet wurden und die Dokumente aus den Fenstern flogen, kann man eine anarchistische Fahne auf dem Balkon wehen sehen.

Die Konfrontationen mit den Moslembrüdern, die sich gegenwärtig in Ägypten ereignen, überraschen uns nicht. Seit dem Fall des Diktators Mubarak hat sich das bewegte soziale Klima in Ägypten im Grunde nie beruhigt. Von Protesten und Konfrontationen gegen die Macht (die Armee oder die Moslembrüder), bis zu zahlreichen wilden Streiks der Ausgebeuteten (nicht von Gewerkschaften aufgerufen, sondern von den Arbeitern selbst entschieden, die sich selbstorganisieren), Proteste und Angriffe von Bewohnern, die von der Armee aus ihren Häusern geräumt wurden, um grosse Immobilienprojekte für Reiche zu realisieren, die Verwüstung des syrischen Konsulats in Kairo in Solidarität mit der dort laufenden Revolution, die revolutionären Sprayereien überall, Demonstrationen gegen das Patriarchat, das in der ägyptischen Gesellschaft eine sehr bedeutende Macht bleibt, etc…

Zur Zeit, da wir diese Ausgabe des Aufruhrs abschliessen, nehmen die aktuellen Ereignisse noch immer ihren Lauf. Wünschen wir also den Revoltierenden Mut und zeigen wir ihnen Solidarität, indem wir darüber nachdenken, wie wir auch hier in der Schweiz, die Weigerung, uns zu unterwerfen, und unser Verlangen nach Freiheit auf die Strasse tragen können…

Ausgabe 3

Ein verbaler Angriff gegen das Bestehende

I

Die Bedingungen sind ungünstig, um von Freiheit zu reden. Wir wurden in dieser Gesellschaft erzogen, verstümmelt, und wissen sehr wenig von einem freien Leben. Alles, was wir kennengelernt haben, sind komplett institutionalisierte Beziehungen, eine Welt von Menschen, die sich an ihren Rollen festklammern, um ja nicht das Risiko einer freien Individualität, jenseits von Moral und Autorität, einzugehen. Diese Leute, die offensichtlich in der Überzahl sind, versuchen auch uns in diese Rollen zu quetschen, diese Rollen, geschaffen nur dazu, in einer Gesellschaft zu funktionieren, deren ganzer Sinn sich im Kaufen und Verkaufen zu erschöpfen scheint. Sie versuchen, uns zu erziehen, zu guten Rädchen und Nummern, bestrafen uns, wenn wir die Normen übertreten, belohnen uns, wenn wir brav sind, wir kennen das alle. Sie erziehen uns, denn ein guter Untertan muss lernen, zu gehorchen, muss lernen, sich in diese Gesellschaft einzufügen und seine Rolle auszuführen.

Irgendwann – wenn die Erziehung abgeschlossen ist – werden wir in die „Erwachsenenwelt“ entlassen, und was sehen wir da: auch hier dasselbe Spiel, unselbstständige Untertanen, die nur gelernt haben, zu gehorchen oder ihre Komplexe in einem autoritären Sadismus auszuleben. Und über den ganzen gesellschaftlichen Institutionen – die schon an und für sich autoritär sind – wacht Vater Staat…

Nicht ihr könnt am besten für euch sorgen, nein, das kann nur die Regierung, die euch vor euch selber beschützt. Ihr seid unfähig, zusammenzuleben und braucht immer eine Mittlerinstanz, die euch alle überwacht. Dass das absurd ist, ist klar. Doch auch dieser Papi droht uns mit der Strafe, denn er ist es, der schlussendlich die Verwertung der Untertanen ermöglicht… Und seine Strafen sind viel wirksamer. Vor ihm gibt es keine Flucht. Und deshalb wagt es keiner, ihn in Frage zu stellen. Praktisch in Frage zu stellen.

II

Alle seine Gewalttaten hüllt der Staat in den Glanz seiner Gesetze, seiner ach so gerechten, übermenschlichen Gerechtigkeit, die in den Köpfen seiner verblendeten Bürger herumspuken. Seine Existenz wird die ganze Zeit mit wirren Gerüchten gerechtfertigt. „Seht doch, ohne die Regierung, ohne eine Macht, die alle zusammenhält, würden sich alle auffressen.“ Das ist das Gerücht, dass überall verbreitet wird. „Die Anarchie ist schrecklich, fürchtet euch, Untertanen! Fürchtet euch, denn, würdet ihr euch nicht fürchten, wieso solltet ihr dann noch gehorchen. Ohne uns, ja, da wärt ihr noch viel schlimmer dran…“

Um diesen Schwachsinn zu untermauern hat der Staat ein Heer von Philosophen, Oberlehrern und anderen „klugen Leuten“, die vom Leben nichts wissen, aber glauben, uns beraten zu können. Philosophen, die die Ordnung nur als das kennen, was das Chaos beherrscht, weil sie sich vor dem unkontrollierten Leben fürchten. Leute, die auch noch stolz darauf sind, den Müll, den sie in der Schule gelernt haben, in und auswendig zu können, und deren Phantasie längst verkümmert ist. Oberlehrer, die die Polizei als Freund und Helfer betrachten, weil sie beide von ein und derselben Institution angestellt sind. „Kluge Leute“, die vielleicht sogar kritisch sind, aber nur um zu sagen, dass wir trotz alledem in der besten aller Welten leben…

III

Wenn du diesen Schwachsinn nicht glaubst, und dir noch ein freies Leben vorstellen kannst, dann wirst du – betrachtest du freies Leben nicht als blossen theoretischen Wunschtraum, sondern als konkrete Möglichkeit, mit der es zu experimentieren gilt – ziemlich schnell erkennen, dass die heutigen Zustände einfach nur zerstörungswürdig sind. Und dann wirst du ziemlich schnell das wahre Gesicht des Staates – die Bullen, die Gerichte und Knäste jeglicher Sorte – kennenlernen. Denn das ist das Gesicht, das der Staat seinen Feinden zeigt. Das Gesicht, das seine Ursprünge offenlegt: die Unterwerfung der Feinde und ihre Versklavung. Diese ist seine Grundlage – die die Untertanen schnellstmöglich verdrängen, weil es ihr Untertanentum unerträglich machen würde, und die die Bürger verschleiern, weil sie davon profitieren –, das Wesen des Staates: das aufzwingen seiner Regeln und Gesetze, und zwar allen, die das „Glück“ haben, auf seinem Territorium zu leben. Heute ist das bekanntlich überall der Fall…

Da der Staat jedes freie Leben im Keim ersticken muss, schlicht und einfach weil seine Bedingungen sich nicht mit der Freiheit vertragen, wollen wir uns organisieren, um anzugreifen, organisieren – nicht mit einem Programm, ohne Fahne, ohne Repräsentation durch Namen und Statuten – im permanenten Konflikt mit der Herrschaft und mit der Absicht, irgendwann den Staat und alle Unterdrückung zu zerstören und ein freies Leben aufzubauen.

IV

Denn dass der Staat unzerstörbar ist, die Polizei nur aus Übermenschen besteht und die Überwachung auch wirklich alles sieht, möchten sie uns glauben machen. So ist es aber nicht. Schon ein paar wenige entschlossene Menschen können eine ganze Menge Schaden ausrichten, sabotieren, untergraben, kurz: an den Grundmauern dieser Gesellschaft nagen. Es ist nicht unmöglich, Brüche in der Gesellschaft zu kreieren oder aufzugreifen, Unruhe zu stiften und ein aufrührerisches Leben zu führen…

Klar, die Bedingungen sind ungünstig, um von Freiheit zu reden. Die meisten können sich Aufstände und Revolutionen gar nicht mehr vorstellen. Die Verhältnisse sind so verhockt, die Gesellschaft scheint den Staat und ihr Untertanentum geradezu zu lieben, et cetera, doch: die Frage ist nicht, wie gut die Chancen stehen, sondern was wir wollen. Wollen wir weiterhin in diesem Pseudo-Leben versumpfen, mit der Sicherheit in diesem tristen Elend zu leben und zu sterben, oder wollen wir mit aller Hartnäckigkeit es immer wieder versuchen, um wenigstens die Möglichkeit der Befreiung offen zu halten?…

V

Wir zumindest wollen es immer wieder versuchen. Pläne schmieden, die schlechtesten Absichten hegen, angreifen. Wir wissen genau, dass wir das Bestehende nicht wollen, und diejenigen, die uns sagen, „was wäre denn die bessere Lösung“, verstehen nicht, dass wir zuerst einmal die Freiheit brauchen, um über Freiheit zu reden. Dass es lächerlich ist, zuerst darüber zu reden, was denn folgen soll, während die Gegenwart uns erstickt. Die Betonwüsten und Atomkraftwerke, die Schulen, Knäste und Psychiatrien, die Arbeit und der Konsum, das massive emotionale Elend, das so viele in den Selbstmord treibt, – wir wüssten nicht, was es von all dem zu bewahren gilt. Es ist unser Gehorsam, der all dies möglich macht. Unsere Apathie, die jede freie Regung im Keim erstickt. Es sollte unser Aufbegehren sein, das dem Ganzen ein Ende setzt…

 

Wir wollen das Abenteuer nicht die Sicherheit

Das Abenteuer ist ein aussergewöhnliches Ereignis, ein gefährliches Unternehmen, das durch die Faszination des Risikos, das es mit sich bringt, verlockt: in ferne und unbekannte Orte vordringen, eine ungewohnte und unvorhergesehene Handlung vollführen, überwältigende Begegnungen machen. Im Grunde enthält die „existenzielle“ Struktur der menschlichen Erfahrung an sich schon die Dimension des Abenteuers. Wenn wir die Geschichte des Menschen betrachten, wie sie sich bildete, so können wir leicht feststellen, wie sie gerade durch die Fähigkeit des Individuums ermöglicht wurde, stets über das Bereits-Gegebene oder das Bereits-Besitzende hinaus zu gehen, in einer beständigen Öffnung gegenüber dem Anderen, dem Noch-nicht-bekannten-und-noch-nicht-ausprobierten, die schon immer die notwendige Bedingung war, damit die Geschichte nicht bloss die langweilige Wiederholung des Selben ist.

Die Sicherheit hingegen charakterisiert sich durch die Abwesenheit des Risikos.

Die Vermehrung der Polizisten und Überwachungssysteme, die von vielen Seiten gefordert wird, folgt einem einzigen Ziel: dass niemals irgendwas geschieht, um sich an eine ewige Gegenwart zu binden, bestehend aus Arbeit, Waren und Gehorsamkeit. Jeder Aufruf zur Sicherheit verurteilt also das Abenteuer und somit das Werden zum Tode. Diese Verherrlichung des Bestehenden ist nicht nur verächtlich aufgrund ihrer Feigheit, sonder auch dumm aufgrund ihrer Sinnlosigkeit: der Krieg unter Armen wird weiterhin seine Opfer fordern, auch unter dem wachsamen Auge der Überwachungskameras, während die einzigen, die von einem allgegenwärtigen Schutz profitieren, die Reichen und Mächtigen in ihren abgeschirmten Villen sind.

Der Mensch ist das einzige Tier, das so töricht ist, die Sicherheit und die Bequemlichkeit eines Zoos dem Risiko und der Freiheit des Dschungels vorzuziehen. Ist er aber dann hinter den Gittern eingesperrt, verbringt er den Rest seines Lebens damit, davon zu träumen, auszubrechen und mittels einer Myiade von Ersatzmitteln das Abenteuer zu suchen. Und so sehen wir, wie er im Chor singt, ein waghalsiges Leben zu wollen, wie er die Kinosäle füllt, wo die Rebellion gegen eine Welt projiziert wird, die auf eine Matrix reduziert ist, und gegen ein Leben, das unter Kontrolle steht und in die Fiktion getaucht ist, wie er sich in Protagonisten von Videospielen hineinversetzt, die immer bizarrer und unglaublicher werden. Was für eine Heuchelei!

Was uns betrifft, wir wollen nicht die Sicherheit. Wir bevorzugen es, das Risiko einzugehen, von einem Dieb bestohlen zu werden, anstatt die Sicherheit zu haben, unter dem Auge der Polizei an Langeweile zu sterben oder uns tagtäglich unserer Intimität beraubt zu sehen. Wir wollen das Abenteuer und wir wollen es jetzt. Es geht nicht um eine exotische Ferienreise, die gebucht werden kann, sondern um eine ganze Welt, die es umzuwälzen gilt. Denn wir halten die aufgezwungene Normalität nicht mehr aus. Denn wir halten das Sicherheits-Konzentrationslager nicht mehr aus. Denn wir halten dieses scheiss Überleben nicht mehr aus, das man als Leben ausgeben will. Denn wir wollen, dass endlich das Unbekannte in die Realität einbricht und diese umwälzt.


Der obenstehende Text ist eine Übersetzung aus der Nummer 4. der Italienischen anarchistischen Zeitung “Machete”, publiziert im Juni 2011.

Sitzen wir alle im selben Boot?

In Konflikt zu sein, macht einen Teil des Individuums aus, seiner Beziehung mit sich selbst, mit anderen Individuen und der Welt, die es umgibt.

Diese Tatsache abzustreiten, würde nicht nur bedeuten, die Möglichkeit abzustreiten, dass es zwischen verschiedenen Individuen unterschiedliche und unvereinbare Interessen geben kann, sondern auch, die Individualität selbst abzustreiten.

In einer Gesellschaft taucht der Konflikt auf, wenn sich die Interessen eines oder mehrerer Teile der Gesellschaft im Kontrast zu den Interessen des Restes der Gesellschaft befinden. Diese Interessen können sehr unterschiedlich sein und zum Beispiel von der schlichten Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen bis zur Suche nach einem komplett anderen Leben reichen.

In der Gesellschaft, in der wir leben, scheint der soziale Konflikt immer weniger präsent zu sein, oder sich zumindest, im Vergleich zu anderen Epochen, weniger klar auszudrücken. Die Abwesenheit oder geringe Sichtbarkeit dieses Konfliktes in einer Gesellschaft kann zwei Bedeutungen haben: die erste ist, dass es keine besonderen Interessensgegensätze innerhalb der Gesellschaft gibt, was also bedeuten würde, dass wir am Ende der Geschichte angekommen sind, eine perfekte Gesellschaft erreicht haben, in der alle Interessen harmonisch nebeneinander existieren.

Die zweite Bedeutung hingegen ist, in einer befriedeten Gesellschaft zu leben, in welcher der Konflikt abgeschwächt, unsichtbar gemacht und so verwaltet wird, dass er sich nicht offen, in seiner ganzen Ausdehnung ausdrücken kann, oder auch einfach, dass er sich woanders ausdrückt.

Wir Anarchisten glauben, von der Lösung der sozialen Frage noch ziemlich weit entfernt zu sein. Im Gegenteil, wir befinden uns noch am Anfang der Geschichte der Freiheit. Darum glauben wir, dass die Bedeutung, die wir der geringen Präsenz von Konflikten in unserer Gesellschaft geben müssen, ist, dass wir in einer befriedeten Gesellschaft leben, in der die Konflikte zwar existieren, aber dazu neigen, sich unter der Oberfläche abzuspielen.

Der Konflikt in der demokratischen Gesellschaft

Zur Zeit scheint der soziale Konflikt eingeschläfert, nicht fähig, sich offen in unserer Gesellschaft auszudrücken, im Vergleich zu anderen Epochen, in denen sich der Konflikt zwischen Freiheit und Autorität gewaltsam und auf offenem Feld ausdrückte. All dies liegt daran, dass sich die demokratische Gesellschaft, auch wenn sie zugibt, viele Mängel zu haben, als die beste aller möglichen Gesellschaften verkauft, die es gibt, die beste jener also, die realistisch vorstellbar sind, kurz gesagt, die am wenigsten schlimme. Laut den Verfechtern der Demokratie bedeutet die Tatsache, diese Gesellschaft trotz ihrer Mängel zu akzeptieren, das geringere Übel zu akzeptieren; sie hingegen in Frage zu stellen oder gar anzugreifen, würde uns entweder an den Rand des gesellschaftlichen Chaos oder zu einer „unterdrückerischeren Diktatur“ führen.

Schliesslich gestehen praktisch alle ein, dass es besser ist, hier zu leben, als unter anderen diktatorischen Regimes in anderen Teilen der Welt.


„Es ist gesagt worden, dass die Demokratie die schlimmste Form der Regierung sei, mit Ausnahme all jener anderen Formen, die bisher ausprobiert wurden.“

Churchill

Die Demokratie behauptet, die Interessen eines Volkes oder einer Gemeinschaft zu vertreten – abstrakte Wesenheiten, die das gleiche sein sollen, wie die Summe aller Individuen, die ununterschieden Teil davon sind. Dies ist nichts anderes als eine Lüge, die ausgehend von der Abstrahierung vom Individuum, von seinen Interessen und seiner sozialen Situation behauptet, alle miteinander zu vereinigen, indem sie uns alle in dasselbe Boot setzt; schliesslich sind wir doch alle Menschen und Teil derselben Gemeinschaft: der Konflikt, der zwischen Reichen und Armen, Ausbeutern und Ausgebeuteten existieren müsste, wird somit zunichte gemacht oder auf eine andere Ebene verschoben, auf die Ebene der Erschaffung von „gemeinsamen Interessen“, für die es möglich ist, Übereinkünfte zu finden, anstatt jener der unterschiedlichen Interessen von Individuen oder Kategorien. Es ist unnötig, zu sagen, dass diese „gemeinsamen Interessen“ oft die Interessen derjenigen sind, die uns ausbeuten und unterdrücken, und die mehr daran zu gewinnen haben, dass die aktuelle Gesellschaft aufrechterhalten wird. Einige Beispiele gemeinsamer Interessen könnten sein: die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, welcher eine praktisch ungestörte Ausbeutung von Seiten der Bosse ermöglicht, im Austausch gegen eine Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen im Vergleich zu den Nachbarländern; die Aufrechterhaltung der demokratischen Gesellschaft, in welcher der Dialog, die Übereinkunft und der Kompromiss zwischen einander entgegengestellten Kategorien immer möglich ist; die Wirtschaft, denn wenn die Wirtschaft gut funktioniert, profitiert die ganze Gemeinschaft davon, sei es durch die Erschaffung von neuen Arbeitsplätzen, die Erhöhung der Löhne oder der Sozialhilfe vom Staat; die Sicherheit, denn eine höhere Sicherheit soll uns erlauben, unser Leben ungestört und ohne Risiken zu leben.

Die existierenden Konflikte werden also im Namen dieser „höheren gemeinsamen Interessen“ befriedet, die alle darauf abzielen, die aktuelle Gesellschaft zu reproduzieren.

Eine Gesellschaft, die behauptet, auf der Übereinkunft zwischen unterschiedlichen Interessen zu basieren, die in starkem Gegensatz zueinander stehen, kann nur eine Illusion sein, zumindest solange diese Gegensätze nicht beseitigt sind.

Die Rolle der Politik

In diesem Licht wird die Rolle der „Politik“ deutlich, bei welcher der Konflikt, anstatt von den direkt Betroffenen geklärt zu werden, an dritte Instanzen delegiert wird (Politiker, Parteien, Vereine,…), die sich darum kümmern, diesen Konflikt innerhalb des demokratischen Rahmens des Dialogs zwischen den verschiedenen Beteiligten und somit durch eine Übereinkunft zu verwalten, die fähig ist, alle, oder wenn dies nicht möglich ist, die Mehrheit der eigenen Mitglieder so gut als möglich zufriedenzustellen.

Die Konfrontation zwischen diesen politischen Kräften wird zu einer Konfrontation zwischen Repräsentationen, zu einem künstlichen Spektakel der wirklichen Konfrontation. Eine der Konsequenzen dieser simulierten Konfrontation besteht darin, das Level der wirklichen Konfrontation herabzusetzen und dafür zu sorgen, dass diese Konflikte von staatlichen oder parastaatlichen Institutionen vermittelt und filtriert werden, was den direkt Betroffenen die Kontrolle darüber entzieht.

So scheint es möglich, dass Ausgebeutete und Ausbeuter im Namen eines „Gemeingutes“ (das Volk, die Nation, die Gemeinschaft…), für das es möglich ist, eine Übereinkunft zu finden, Seite an Seite auskommen können, anstatt sich im Kampf für die Aufrechterhaltung oder für das Ende der Ausbeutung und der Unterdrückung zu befinden.

Der Dialog

Aus eben diesen Gründen weisen wir Anarchisten die Politik zurück. Wir glauben nicht, dass der Dialog zwischen den Interessen von Unterdrückten und Unterdrückern möglich ist, ebensowenig wie wir glauben, dass dieser überhaupt existieren sollte. Zwischen denjenigen, die die Freiheit wollen, und denjenigen, die sie im Namen von höheren Interessen negieren wollen, kann es nichts gemeinsames geben.

Wenn wir eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Autoritäten erreichen wollen, können wir dies nur durch den kompromisslosen Ausdruck dieser Interessensgegensätze zwischen ihren Teilen erreichen, und somit durch einen Konflikt, der sich entweder im Erreichen der Freiheit oder in der Fortführung der Ausbeutung auflösen kann. Aus diesem Grund können wir mit unseren Ausbeutern und Unterdrückern weder Dialog noch Kompromisse akzeptieren, aus diesem Grund befinden wir uns im Krieg mit ihnen, bis sie nicht mehr existieren.

Diejenigen hingegen, die behaupten, dass ein Dialog möglich sei (auch wenn sie in gutem Glauben denken, dies könnte die Sache der Freiheit voranbringen), schläfern diese Konflikte ein und tun nichts anderes, als zur Aufrechterhaltung des aktuellen Status Quo und zur Reproduktion der aktuellen Bedingungen der Ausbeutung beizutragen.  

Unruhenachrichten

Psychisch krank?

Da es gerade überall in den Zeitungen steht: Kneubühl wurde wie bekannt für psychisch krank erklärt, weil er „sich im Krieg mit Justiz und Polizei wähne“. Diese Gesellschaft macht es sich einfach: jeder, der sich nicht einfach so fügt, sondern zur Tat schreitet, und die Polizei, die in Kneubühl´s Fall gar nicht offensichtlicher als Feind hätte auftreten können, angreift, ja, sich sogar bloss verteidigt, wird für krank erklärt. Das ist praktisch. Erstens kann man die Leute dann in die Psychiatrie sperren (wo es keine Zeitbeschränkung der Strafe gibt – es ist ja eine „Heilung“), mit Drogen vollpumpen, etc. – und zweitens ihre Aussagen und Taten lächerlich machen, und mundtot… Dies ist eine gängige Praxis und wurde z.B. auch bei dem Anarchisten Marco Camenisch – den man am liebsten für ewig einsperren will – versucht…

Krank ist allerdings nur diese Gesellschaft, die kuscht und glaubt, die Regierung und die Polizei wären unsere Freunde…

Cobra in Flammen

Wer die arroganten Billetkontrolleure verachtet, die es zu ihrem Beruf machten, Leute zu kontrollieren und ihnen den Tag zu vermiesen; wer Wut im Bauch verspürt, wenn sie mal wieder gemeinsam mit den Bullen ganze Tramstationen militärisch abriegeln; wer gesehen hat, wie sie Leute, die nicht nur kein Geld für Billete, sondern auch keine Identitätspapiere haben, an die Bullen ausliefern, und somit oft zu monatelanger Gefängnishaft und Ausschaffung; oder wer sich auch schlicht über die immer teureren Billetpreise aufregt; – der hat sich vielleicht gefreut, als er am

2. Januar die Zeitung las, und kann vielleicht seine eigenen Gründe darin finden, wieso jemand vor dem Tramdepot beim Escherwyss-Platz ein Feuer gelegt haben mag, das in der Nacht 3 VBZ-Autos und ein Tram verwüstete. Wir jedenfalls trauern nicht um die „Unglücks-Cobra“ und um die anderen Fahrzeuge, die durch dieses Feuer unbrauchbar gemacht wurden…

Trauer und Wut

Am 5. Januar 2013 wurde im Zürcher Kasernegefängnis ein 20-jähriger Kurde tot in seiner Zelle aufgefunden. Er hat sich erhängt. Nur wenige Tage zuvor wurde er bei einer Kontrolle auf der Strasse verhaftet, da er keine Identitätspapiere hatte. Eine jener Kontrollen, an denen wir so oft vorbeispazieren, ohne uns gegen diesen gewaltsamen Übergriff auf unsere Leben aufzulehnen. Eine Kontrolle, die für diesen jungen Mann Konsequenzen bedeutete, die ihm grausamer schienen als der selbstgewählte Tod. Er sollte ausgeschafft werden, zurück dahin, von wo er, wahrscheinlich unter grössten Anstrengungen und Risiken, geflüchtet ist…

Ein weiterer Mensch, kaum erwachsen, zermalmt vom Räderwerk dieser erdrückenden Gesellschaft, ihren Gesetzen und Autoritäten. Ein weiterer Mensch, den das Zürcher Kasernegefängnis in den Selbstmord trieb, das in seinen Zellen schon so viele Menschen begrub. Ein paar Zeilen in den Zeitungen, einige bürokratische Unannehmlichkeiten und der „Fall“ ist wieder vergessen?…

Nein, nicht für uns! Die Nachricht über den Tod dieses jungen Mannes erfüllt uns mit Trauer und Wut! Und diese Trauer und Wut verfestigen nur unsere Entschlossenheit, mit aller Kraft dafür zu kämpfen, dieser Welt der Gefängnisse, Polizisten und Autoritäten ein Ende zu setzen!

Eine solidarische Revolte

Ein Leben zusammengepfercht in einer überwachten Barracke, die behelfsmässig als Unterkunft dient. Ein Alltag aus Warten, Langeweile, Kontrollen und Demütigungen. Der Freiheit beraubt, sich zu bewegen, wie man will, und selbstständig über das eigene Leben zu entscheiden. Eingesperrt in einer gefängnisgleichen Einrichtung, aufgrund der blossen Tatsache, keine gültigen Papiere zu besitzen. Dies ist die Realität für viele Migranten in unzähligen offenen und geschlossenen Asylzentren in der Schweiz. So auch für jene, die in dem Empfangs- und Verfahrenszentrum in Altstätten (SG) eingesperrt sind.

Am Abend des 10. Januar kamen zwei Tunesier zu spät in das Zentrum zurück, worauf sie, unter dem Vorwand, neue Schuhe zu tragen, vom internen Sicherheitspersonal einer Leibesvisitation unterzogen wurden. Eine Demütigung, die hätte ablaufen können, wie so oft: man lässt sie über sich ergehen, um grössere Probleme zu vermeiden. Doch die Verletzung der eigenen Würde erreicht bei allen irgendwann einen Punkt, an dem sie überläuft und revoltiert. Etwa ein dutzend Eingesperrte, die nicht einfach hinnehmen wollten, wie ihr Kamerade behandelt wird, solidarisierten sich mit ihm und begannen, einen Aufruhr anzuzetteln. Sie holten Stühle aus einem nahen Raum und zertrümmerten diese, während sie versuchten, die Sicherheitsscheiben zwischen der Kontrollschleuse und den Innenräumen einzuschlagen. Daraufhin zogen sie sich gemeinsam in den Schlafraum zurück, wo sie sich verbarrikadierten bis schliesslich eine Sondereinheit der Polizei intervenierte, um sie herauszuholen und zu verhaften. Die elf Beteiligten wurden in einem Schnellverfahren verurteilt.

Wir erkennen uns in ihrer Revolte wieder, wie in jeder Revolte gegen die Einsperrung, die Kontrollen und die Autoritäten. Möge die Verbreitung solcher Gesten eines Tages zur Zerstörung der Ausschaffungsknäste und der ganzen Maschinerie der Migrationsverwaltung führen – um endlich in einer Welt ohne Staaten und Grenzen zu leben, in der jeder frei ist, sich zu bewegen, wie er will.

Ausgabe 4

Gesellschaft oder Gefängnis

Eine der offensichtlichsten Charakteristiken der heutigen Gesellschaft ist unserer Ansicht nach die immer durchdringendere Präsenz der Kontrolle in jedem Bereich des sozialen Lebens. Kontrolle verstanden als die Fähigkeit einer Gesellschaft, die für unangepasst gehaltenen Verhaltensweisen ausfindig zu machen und zu bestrafen und weitere Zuwiderhandlungen zu verhindern, und somit die eigene Stabilität sicherzustellen. Was sich im Vergleich zur Vergangenheit verändert hat, ist nicht die Verhärtung der Gesetze, sondern die Fähigkeit, ihnen Respekt zu verschaffen.

Diese soziale Kontrolle wird durch unterschiedliche Faktoren ermöglicht, die von der technologischen Entwicklung über die Mentalität und die Kreierung der Identität des Bürgers bis zur Verwaltung der Städte reichen (welche eine weitere Vertiefung verdienen, die wir vielleicht in einem anderen Artikel machen werden).

Die Kontrolle in unserer Gesellschaft kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Einsammlung von Informationen bis zur rohen Repression der für unangepasst gehaltenen Verhaltensweisen, bis zur subtileren Suche nach Zustimmung. Wenn wir von Kontrolle sprechen, ist die Verantwortung also nicht in einer einzelnen Struktur zu suchen, sondern vielmehr in der gesamten Gesellschaft und in jedem ihrer Organe (Bürokratie, Polizei, Kontrolleure, Privatdetektive, Politiker und soger einfache Bürger).

Die Ausübung der Kontrolle geschieht also nicht nur durch die Anwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel, um mehr oder weniger offensichtlichen sozialen Zwängen, wie beispielsweise den Gesetzen, Respekt zu verschaffen, sondern auch durch die Prävention von Verhaltensweisen, die nicht an das gute Funktionieren der Gesellschaft angepasst sind, beispielsweise durch die Erpressung der Arbeit: Es gibt keine Gesetze, die zur Arbeit verpflichten, doch, ohne zu arbeiten, wird für viele das tägliche Überleben unmöglich.

Wer sich diesem Regime verweigert oder es schlicht nicht aushalten kann, oder wer rebelliert, wird mit weiteren Einschränkungen, mit (durch Arbeiten) zu bezahlenden Geldstrafen bestraft, oder in einigen Fällen in einem wahrhaftigen Gefängnis weggesperrt.

Unsere Welt ähnelt also immer mehr einem Gefängnis, einer kontrollierten Umgebung, in der das Leben, das uns erlaubt wird, und zu dem wir bestimmt sind, ein Leben aus Arbeit, Ablenkung und Wohnung ist, das Ganze innerhalb der Grenzen der Gesetzlichkeit, die von der Gesellschaft selbst festgelegt wurde. Wir befinden uns in einem Gefängnis, in dem die Stunden des Hofgangs in Wochenenden, Freitagen und Ferienwochen pro Jahr gezählt werden, in dem sich die Isolation in unseren Beziehungen mit anderen zeigt, die durch den enormen Gebrauch von Fernkommunikationsmitteln distanziert erlebt werden, welche nicht so sehr gebraucht werden, um geografische Distanzen zu überwinden, sondern um existenzielle Schranken zu überwinden, und in dem die Mauern und Gitterstäbe vom alltäglichen Trott geschaffen werden, der uns zur Frequentierung derselben Orte und zur Wiederholung derselben Strecken zwingt.

Um sich der Existenz der Mauern und der unsichtbaren Ketten dieses Gefängnisses bewusst zu werden, so genügt es, (freiwillig oder unfreiwillig) auf der falschen Seite ihrer Gesetze und ihrer Moral zu stehen, oder sich zu weigern, sich vor der Erpressung der Arbeit zu beugen, um sogleich ihren repressiven Apparat auszulösen.

Wenn die Arbeit, der Konsum und die Wohnung im Zentrum unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise stehen, dann können wir die Hypothese aufstellen, dass sich auch die Kontrolle hauptsächlich in eben den physischen Orten der Arbeit, des Konsums und der Wohnung konzentriert, sowie auf den Strecken zwischen diesen Orten (öffentlicher Verkehr). Es wird also einfach, einige unserer freiwilligen und unfreiwilligen „Gefängniswärter“ zu identifizieren, da sie es sein werden, die uns in diesen Bereichen unseres Lebens kontrollieren: die Chefs und die Arbeitskollegen, die unsere Produktivität in den Stunden kontrollieren, die wir aufbringen müssen, um unser Überleben zu verdienen; die Kontrolleure in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die zu dem Übel, jeden Tag arbeiten zu müssen, den Witz hinzufügen, uns bestrafen zu wollen, wenn wir uns weigern, zu bezahlen, um an die Orte unserer Ausbeutung zu gelangen; die Familie als Institution, einer der Stützpfeiler der Gesellschaft, die die Reproduzierung der sozialen Werte gewährleistet und Druck ausübt, damit wir nicht auf dem „schlechten Weg“ der Subversion landen; die Privatdetektive in den Supermärkten, die uns an einer Umverteilung der Reichtümer hindern und sicherstellen wollen, dass unser Geld in den Taschen unserer Ausbeuter landen.

Ohne die Polizei zu vergessen, den Garanten der Gesetze des Staates, der sich darum kümmert, uns in jedem anderen Bereich unseres Lebens zu kontrollieren.

All dies sind einige der „Gefängniswärter“, mit denen wir uns konfrontiert sehen, wenn wir eine wirklich freie Gesellschaft kreieren wollen, eine Gesellschaft ohne Kontrolle, in der jeder für sich selbst und für die eigenen Entscheidungen verantwortlich ist, ohne von anderen kontrolliert werden zu müssen. Und von eben diesen müssen wir uns entledigen, wenn wir das soziale Gefängnis zerstören und den Weg der Freiheit einschlagen wollen.

Ägypten in Revolte

Immer wieder massive und konfrontative Demonstrationen, Blockaden der Metrolinien, Strassen und Züge, Angriffe auf Polizeiposten, den Präsidentschaftspalast und Luxushotels, Befreiungsversuche von Gefangenen, dutzende brennende Büros der islamistischen Regierungspartei, Konfrontationen zwischen Revolutionären und Anhängern der religiösen Diktatur. Nichts scheint vorbei in Ägypten. Im Gegenteil, die Revolten begannen sich in den letzten Monaten wieder zu häufen und scheinen einen immer unkontrollierteren Charakter anzunehmen. Die Oppositionspolitiker und Bewegungsführer aller Art, die diese Revolten gerne für ihre eigenen Machtbestrebungen kanalisieren würden, scheinen immer mehr den Zugriff zu verlieren. Denn in vielen Köpfen, vor allem in den jungen, beginnen die Illusionen über Politik und Parteien zu zerfallen, während die unterdrückerische Funktion des Islamismus entlarvt und angegriffen wird. Vielen wird deutlich, dass, ob unter Mubarak, Morsi, oder irgendeinem anderen Regime, weiterhin jegliche Revolte und jeder Freiheitsschrei brutal niedergeschlagen werden wird und sich ihre alltäglichen Bedingungen von Ausbeutung und Unterdrückung nicht ändern werden. Einmal das Gefühl der Revolte gekostet, spüren sie, dass der einzige Weg, aufrecht zu leben, im ständigen Kampf für die Freiheit liegt…

Politische Revolution oder soziale Revolution?

Wenn in den Medien vom Frühling 2011 in Nordafrika sowie von den aktuellen Ereignissen in Ägypten gesprochen wird, wird oft von einer „Revolution“ und von einer „Opposition“ gesprochen. Die Journalisten, in ihrem bornierten Verständnis als staatstreue Schreiberlinge, können sich eine Revolution nur als die gewaltsame Ersetzung eines bestehenden Regimes durch ein Regime der „Opposition“ vorstellen. Sie können nicht verstehen, dass das, was die Armen und Freiheitsliebenden in Ägypten sowie überall auf der Welt immer wieder zur Revolte antreibt, eine Lebensbedingung ist, die unter egal welchem Regime bestehen bleiben wird. Denn, solange es Regierungen gibt, wird es auch den Gegensatz und den Konflikt zwischen Machthabern und Unterdrückten, Reichen und Armen, Ausbeutern und Ausgebeuteten, dem Autoritätsprinzip und der Freiheit geben. Das, was so viele zur Revolte antreibt, ist ein soziales Verhältnis, geprägt von Untersdrückungsformen aller Art, das die Gesamtheit unseres Lebens durchdringt, und dieses Verhältnis kann nicht durch irgendeine „politische Revolution“, sondern nur durch eine tiefgreifende und soziale Revolution umgewälzt werden. Diesen Unterschied möchten wir betonen. Während eine politische Revolution bloss die Führungskräfte austauscht, die dann vielleicht demokratischer, vielleicht liberaler das Leben der Menschen regieren, will eine soziale Revolution jegliche Führung beseitigen und alle Menschen dazu befähigen und antreiben, direkt zur Erschaffung von neuen Formen des Zusammenlebens beizutragen. Während die politische Revolution in den Palästen der Macht geschieht, spielt sich die soziale Revolution auf den Strassen, in den Köpfen und in den Beziehungen der Menschen ab. Es ist also nicht eine politische Veränderung, die die sozialen Verhältnisse umwälzen wird, sondern die Beseitigung der Politik, auf dass das Leben in seiner Gesamtheit wieder von allen selbst in die Hand genommen wird und auf der Grundlage der individuellen Autonomie, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, ein freies und selbstorganisiertes Leben entstehen kann – ohne Staat und ohne Regierung.

Und hier?

Wenn die Aufstände in Ägypten von der friedlichen Insel der Schweiz aus durchaus von einigen als „legitim“ betrachtet werden, dann meistens mit der Begründung, dass das Regime dort ja doch schon sehr brutal sei. Hier aber, hier leben wir ja in einer humanen und wohlhabenden Gesellschaft. Doch versucht es nur, und entzieht euch einmal dem Willen und dem Gesetz des Staates hier, verweigert seine Autorität und revoltiert gegen ihn, und ihr werdet sehen, dass auch dieser Staat nicht zögert, sich mit brutalen Mitteln durchzusetzen. Im Moment hat er seine Regierungstechnik auf die Befriedung der Bevölkerung ausgerichtet, und bislang funktioniert das auch, doch sollte es hier zu grösseren Revolten kommen, würde auch er nicht zögern, sie wenn nötig blutig niederzuschlagen. Wie er es in der Blutnacht von Genf 1932 getan hat, als bei einer antifaschistischen Kundgebung 13 Demonstranten erschossen und 60 verletzt wurden, oder bei den zahlreichen Arbeiterstreiks, die von der Schweizer Armee tödlich niedergeschlagen wurden. Dass solche tödlichen Repressionen gegen seine Untertanen meist mehr als 50 Jahre zurückliegen, liegt weniger daran, dass sich das Verhalten des Staates gegenüber Ungehorsam und Revolten verändert hat, sondern vielmehr daran, dass es ihm besser gelang, uns ruhigzustellen und die Bedingungen akzeptieren zu lassen, indem er uns mit Waren, Unterhaltung und Dienstleistungen vollstopft; daran, dass es ihm gelang, den Konflikt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Bossen und Arbeitern, Reichen und Armen in der Illusion eines sozialen Friedens einzuwiegeln, die uns vorschaukeln will, dass wir doch alle im selben Boot sitzen[1].

Doch es ist stets in Situationen der Revolte, in denen am deutlichsten hervorbricht, unter was für Verhältnissen wir eigentlich leben, in denen der Staat sein wahres Gesicht zeigt, brutal und schonungslos, das er ansonsten hinter der sanften Verwaltung des sozialen Friedens verbirgt. Dass sich auch der Schweizer Staat, wie übrigens alle europäischen Staaten um uns herum, auf solche Situationen der Revolte vorbereitet, um sich gegebenenfalls mit ausreichend Gewalt durchsetzen zu können, davon sprechen Projekte wie die neugegründeten „Aufstandsbekämpfungseinheiten“ des Militärs oder die allgemeine Aufstockung des Polizei- und Gefängnisarsenals (wie beispielsweise mit dem Bau eines neuen Polizei- und Justizzentrum in Zürich).

Solidarität

Nun, wir erkennen uns also in den aufständischen und befreienden Handlungen wieder, die sich zurzeit in Ägypten ereignen, nicht nur, weil wir den Drang nach Revolte unter den Umständen dort unten nachvollziehen können, sondern, weil wir diesen Drang auch unter den Umständen hier verspüren. Unsere Solidarität mit den Aufständischen von Ägypten besteht also darin, ihren Befreiungskampf zu teilen, da, wo wir sind, mit unseren eigenen Problemen und unseren eigenen Verlangen – für die soziale Revolution.

 

Vom Gefängnis Namens Gesellschaft, den Bullen und ihren feuchten Träumen

Die wirkliche Bedeutung der Knäste (das heisst: dieser Bauten, mit Zellen, wo Leute eingesperrt sind) enthüllt sich erst, wenn wir die Knäste nicht länger isoliert wahrnehmen, sondern sie als essenziellen Bestandteil dieser Gesellschaft sehen.

Wenn wir vom Gefängnis sprechen, dann kommen natürlich vor allem auch die Bullen in den Sinn. Die Bullen sind diejenigen, die wir auf der Strasse antreffen, die Leute festnehmen, in Knäste stecken und dort festhalten. Es sind diejenigen, die uns erwischen könnten, wenn wir mal wieder etwas verbotenes tun…

Die Angst vor dem Pöbel

Unvoreingenommen betrachtet sind die Bullen eine Gruppe von Menschen, die sich für nichts anderes organisieren, als nach Menschen zu jagen, die ihre idiotischen Gesetze nicht respektieren, um diese dann zu bestrafen und einzusperren. Das spezielle ist allerdings, dass diese Menschen dafür respektiert werden, weil sie die Gesetze vertreten, die – so wird es an allen Schulen gelehrt – uns alle vor noch viel schlimmeren Zuständen bewahren sollen. Und so, anstatt dass diese Idioten, die glauben, alle hätten nach ihren verkappten Vorstellungen zu leben, auch wie Idioten behandelt werden, müssen wir sehen, dass sich die ganze Gesellschaft längst ihren Vorstellungen unterworfen hat – die Gesellschaft denkt, wir hätten nach diesen Gesetzen zu leben, und unterstützt die Bullen, die ihnen garantieren, das alles so bleibt, wie es ist – beschissen.

Diese Menschen leben in einer und erschaffen stetig eine Welt, die nach den Regeln der Bürger-Freiheit, des heiligen Eigentums, et cetera gebaut ist. Jener Bürger-Freiheit, die eben – wie wir immer wieder betonen müssen – genau gar nichts mit individueller, unbeschränkter Freiheit zu tun hat, sondern nur eine Verstümmelung davon ist, die die Individuen auf ein Bürger-Subjekt reduziert, das sich am Hofe des Souveräns zu benehmen weiss und sich – natürlich – an die Gesetze hält. Und diese Bürger fürchten sich vor dem Pöbel, der das Eigentum nicht respektiert, und den Souverän erst recht nicht, der dieses Eigentum erst ermöglicht. Und deshalb schreien sie nach Brot und Spielen, damit der Pöbel befriedet werde, und deshalb lieben sie die Polizei in all ihren Formen, rufen nach ihr, damit sie ihre kleine heile Welt beschütze…

Nun, wir wollen uns aber nicht länger befrieden lassen, von Brot und Spielen, von Partys um den Rest der Woche zu vergessen, von Games und TV, um gar nichts mehr zu denken. Das ganze langweilt uns nicht nur, es macht uns auch noch kaputt. Die Freizeit ist bloss der Hofgang, in diesem Gefängnis, in dem wir uns verkaufen müssen, um genügend Geld zu haben, um in ihm zu verrotten. Aber wir wollen nicht arbeiten, um irgendetwas zur Existenz dieser bescheuerten Gesellschaft beizutragen. Wir nehmen uns, was wir brauchen, wir wollen uns unser Leben nicht verDIENEN, sondern nehmen. Die ganze Maschinerie, die unsere Unterdrückung aufrechterhält, betrachten wir einzig mit der Absicht, sie zu zerstören…

Gefangene dieser Gesellschaft

Nicht nur, dass die Bullen und ihre Freunde uns schon hinter Schloss und Riegel sehen wollen, bloss weil wir uns nehmen, was wir brauchen (ohne es verDIENT zu haben), ohne zu betteln (wobei man selbst für das bestraft werden kann), nein, wir wollen ihnen auch noch ihr System kaputt machen. Diese Absicht, die eigentlich ziemlich naheliegend ist, wollen sie schnellstmöglich als etwas Absurdes, Unmögliches abtun, und mit der allanwesenden Überwachung und der Drohung mit Knast ersticken. Da das Ende des Systems aber gar nicht so absurd ist, machen sie die Gesellschaft selbst immer mehr zum Gefängnis, sperren uns in sie ein. Wollen wir aus dieser Gesellschaft fliehen, sehen wir bald, dass diese ein Gefängnis ist, die Mauer ist zwar unsichtbar, aber spürbar, und wer sie überwinden will, wird eben ihre Wächter kennenlernen, die uns dann, je nach Art des Fluchtversuchs, in ein physischeres Gefängnis sperren wollen, den Knast oder die Psychiatrie, wenn sie es nicht schaffen, uns durch bloss pädagogische Massnahmen oder Pillen unschädlich zu machen. Es ist keineswegs bloss metaphorisch gemeint, dass diese Gesellschaft ein Gefängnis ist. Sie ist ein Freiluftgefängnis – auch wenn die Luft ziemlich verpestet ist –, die ganze Architektur der Städte, panoptisch übersichtlich, kontrolliert und überwacht, die Schulen, in die die Kinder gepfercht werden, die Arbeitsstätten, et cetera, beweisen Tag für Tag, dass sie das ist. Die Knäste verhalten sich zur Gesellschaft heute ungefähr so, wie die Isolationshaft zum Normalvollzug.

Die Polizei führt aus ihrer Sicht natürlich „nur“ die Exekutive über das staatliche Territorium aus, für die Regierung, die die Bevölkerung verwaltet; in ihren Augen ist es gleichgültig, ob ein Mensch im Knast sitzt, es ist nur eine administrative Frage, um einen Teil der Gesellschaftsmaschine wieder Funktionstüchtig zu machen oder ihn ganz einfach besser verwerten zu können. Um die Gesellschaft von den bösen Verbrechern zu bewahren. Um einen Teil der Gesellschaft, der ihre Grenzen übertritt, in noch kleinere Grenzen zu sperren, an die Isolation zu gewöhnen, um sie dann draussen wieder in die Zellen der Wohnblöcke zu sperren…

Der einzige Grund, diese Gesellschaft nicht als Gefängnis zu erkennen, ist der, dass sich anscheinend die wenigsten ein freies Leben vorstellen können oder wollen, ein freies Leben, in dem der Fleck der Erde, auf dem du gerade stehst, dir und allen gehört, und nicht irgendeinem Privateigentümer, dem Staat oder wem auch immer. In dem die Welt dir und allen gehört, und nicht irgendeinem (Gewalt-)Monopolisten, der dir sagt, was du wo, wann, wie machen darfst oder musst.

Ein feuchter Traum der Bullen

Nun, wenn wir diese Gesellschaft, samt Privateigentum und Staat, zerstören wollen, um frei und nicht ihre Gefangenen zu sein, wissen wir gar nicht, wo wir ansetzen sollen, um sie anzugreifen. Denn wir leben auf dem Territorium des Staates und da ist es sonnenklar, dass sich an jeder Ecke seine Institutionen (und die seiner Bürger und Helfer) finden lassen. Da wir aber eben so vieles sehen, das uns wütend macht, das wir zerstören wollen, ist es schwer, sich auf etwas spezifisches zu konzentrieren, aber trotzdem wichtig, denn irgendwo muss man ja anfangen. Deshalb die Idee, das PJZ (Polizei und Justiz-Zentrum) zu verhindern, das als Drohung über dieser Stadt schwebt, um die ohnehin komplett militarisierten „Problemviertel“ komplett zu befrieden. Das PJZ, ein „Kompetenzzentrum für die Bekämpfung der Kriminalität“, das für die Bullen, Politiker, Profiteure und Bürger, den feuchten Traum repräsentiert, endlich den Pöbel loszuwerden, die Kontrolle auf ein neues Niveau zu heben.

Die Idee, das PJZ zu verhindern, ist der Versuch, eine aufständische Dynamik gegen dieses Projekt der Macht zu enwickeln, in der sich diffuse, anonyme Aktionen gegenseitig puschen und ihren Schaden multiplizieren. Die Idee ist, sich die Struktur, die das Ganze ermöglichen soll, etwas genauer anzuschauen, um sie zu sabotieren. Es gibt viele, die für dieses Projekt verantwortlich sind, für es arbeiten, davon Profitieren. Sie alle sind angreifbar. Angreifbar, durch direkte Aktion, Sabotage und Aufruhr. Durch die Mittel, die dir gefallen. Du musst kein Held sein, um anzugreifen. Es gibt viele Wege, manche schwieriger, gefährlicher, manche weniger. Schon ein paar kaputte Pneus, Zucker im Tank oder ein Zündwürfel kann einigen Schaden anrichten. Vor allem, wenn sich immer mehr Menschen – vielleicht ermutigt durch andere Aktionen – zum Angriff entschliessen, wäre es möglich, dass das PJZ ihr feuchter Traum bleibt, und es für sie bald ein böses Erwachen gäbe, weil immer mehr Menschen nicht nur Nein sagen, sondern auch handeln, und sich gegen diesen Bullentraum erheben, um ihn unmöglich zu machen…

Unruhenachrichten

Die Jugend von Heute

Leider müssen wir immer öfter davon hören, dass junge Leute ihre besten Jahre damit verschwenden, zu beweisen, dass sie wohl schon effektiv zu erbärmlichen Verteidigern dieser Ordnung erzogen wurden. So am 31.1. diesen Jahres in Schaffhausen. Vier 12 bis 14-jährige Mädchen sahen eine Frau, die sich vor einer Kleiderboutique eine Jacke besorgte. Wie gute Bürger schon sehr jung eingetrichtert bekommen, ist es „Diebstahl“, wenn nicht bezahlt wird, und so stellten sie dieser Frau nach und riefen die Bullen. Diese kamen, verfolgten die Frau und nahmen sie fest, da sie sich „sehr unflätig und ausfällig benahm“. Jetzt wird sie vor den Richter gezerrt, weil sie sich am Vortag der Delikte „Leute belästigen“ und „kein Gewähr für Ruhe und Ordnung“ schuldig gemacht habe (wohl zwei besonders lächerliche Paragraphen). Aber zurück zu den Vier Mädchen: Solch erbärmliche Gestalten züchtet diese Gesellschaft, der Stasi würdig, die helfen, diese Gefängnis-Gesellschaft zu beschützen, dass wir uns wirklich fragen, wo den das Potenzial der Jugendlichen abgeblieben ist. Schon junge Leute werden mit der kranken Ideologie des Legalismus vergiftet, anstatt dass sich diese Leute den Fängen der Kleinfamilie und Schule, diese Brutstätten von Bürgern, entziehen, und wie normale Kinder „Scheiss machen“ und das Leben entdecken…

Eine zu begrüssende Haltung

Gleich zwei Mal in diesem Monat konnten wir hier in Zürich von einer Haltung gegenüber den Bullen hören, die wir nur begrüssen können.

Am 2. Februar weigerte sich ein Schwarzfahrer in Schlieren, den Kontrolleuren seinen Namen zu geben, als dann die Bullen kamen, fügte er sich nicht einfach kleinlaut und ergab sich seinem Schicksal (das für ihn wohl Knast bedeuten würde), sondern ergriff die Flucht. Die Bullen liessen nicht von ihm ab, sodass dieser Mann zweimal auf sie zu schiessen begann. Nach einer weiteren Flucht mit einem Fahrrad wurde er schliesslich leider verhaftet.

Ein weiterer scharfer Angriff auf die Autorität der Bullerei geschah im Kreis 4, als Morgens gegen zehn Uhr ein Bullenwagen beschossen wurde. „Täterschaft und Motiv“ seien unbekannt. Als wäre es nicht offensichtlich, dass alleine schon die permanente, erdrückende Präsenz der Polizei in diesem Quartier Motiv genug liefert, um diese Besatzer unter Beschuss zu nehmen…

Um das klar zu stellen: Es geht uns nicht darum, uns auf die Seite dieser Personen stellen, von denen wir schliesslich nicht wissen, wer sie sind und was sie für Motive hatten. Wir stellen uns aber auf die Seite ihrer Handlung, die wir gut verstehen können. Damit geht es uns nicht um eine Verherrlichung der Gewalt. Zwischen der Gewalt des Bullen, der jemanden kontrollieren will, und der Gewalt einer Person, die sich dieser Kontrolle entziehen will, ist es jedoch ziemlich offensichtlich, welcher eine unterdrückende, und welcher eine befreiende Gewalt ausübt. Und in einer Welt, die sich uns gewaltsam ihren Gesetzen und Zwängen unterordnen will, ist es nunmal unumgänglich, dass die eigene Freiheit auch gewaltsam an sich gerissen werden muss…

Wenn die Angst das Lager wechselt

Oft hört man von Fällen von „Polizeibrutalität“ sprechen, in denen irgendwelche Personen von den Bullen verprügelt und misshandelt werden, weniger oft, leider, hören wir von Fällen, in denen es die Hüter der Ordnung sind, die Opfer von dem sind, was wir „Volksbrutalität“ nennen könnten.

Zu unserem Glück gibt es noch immer Personen, die sich nicht nur weigern, sich von den uniformierten Beamten demütigen zu lassen, sondern weiter gehen und sich entscheiden, es ihnen mit derselben Währung zurückzubezahlen. Dies ist, was während des Karnevals in einer Ortschaft im Tessin geschah, als, nach einer protzigen Intervention einiger Bullen, um mit aus einer Pistole abgefeuerten Pfefferprojektilen einige Personen vom Fest zu vertreiben, in dem Moment, in sich die Bullen in der Situation befanden, die Waffe nachladen zu müssen, sich etwa zehn Personen entschieden, aus dem Platz des Karnevals herauszukommen, um sich, mit Tritten und Fäusten, bei den Bullen für die Brutalität ihrer Intervention zu beklagen. Nach einigen Minuten schafften es die Repräsentanten des Staates, bis zu ihrem Auto zu kriechen (welches ebenfalls beschädigt wurde), und sich zum nahen Spital zu begeben, um verpflegt zu werden.

Unglücklicherweise für sie, genügte die Schlägerei nicht, um die Gemüter der Anwesenden zu beruhigen, welche sich entschieden, vor dem Spital auf sie zu warten, um zu wiederholen, was sie vorhin bekräftigten. Nicht mehr gewillt, weiter zu diskutieren, haben sich die Bullen entschieden, mit eingezogenem Schwanz durch den Hinterausgang zu fliehen.

Ausgabe 5

Armut

Sehr oft haben wir die Neigung, nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was materiell ist, was in Zahlen bemessbar ist. So haben wir die Tendenz, das Elend, das in dieser Gesellschaft herrscht, allein unter dem Gesichtspunkt der materiellen Armut, oder, anders gesagt, des Mangels an Geld zu betrachten. Doch der Kapitalismus entreisst uns nicht nur die materiellen Mittel, um auf die Weise zu leben, wie wir es für gut halten. Er verpflichtet uns nicht nur, arbeiten zu gehen und uns vor den sozialen Hilfsinstitutionen niederzuknien. Er auferlegt uns nicht nur, in einer Umwelt zu überleben, die von der Industrie verseucht, von ihrer Produktion unnützer und schädlicher Gegenstände vergiftet und durch ihre grossartige Atomgerätschaft verstrahlt ist, die angesichts der Risiken und Katastrophen, die sie mit sich bringt, alle Menschen vom Staat und seinen Spezialisten abhängig macht. Nein, es ist nicht nur das.

Vielleicht noch schlimmer, als die materielle Verarmung, ist das in dieser Gesellschaft vorherrschende emotionale Elend, das von der Gesamtheit der sozialen Verhältnisse hervorgerufen wird, die dieser Welt das dreckige Gesicht geben, das sie hat. Wir machen eine Depression nach der anderen durch, wir erleben einen Selbstmord nach dem anderen, wir leben Beziehungen und Verhältnisse, die von Misstrauen, Konkurrenz, Gewalt und Heuchelei geprägt sind. Die zahlreichen unterschiedlichen Drogen lassen uns für eine kurze Zeit die unschöne und brutale Realität vergessen. Unsere Träume und Verlangen gehen nicht über den tristen Horizont des Bestehenden hinaus: das Abenteuer, das Unbekannte, die Leidenschaft… werden verbannt und wir können sie nur stellvertretend erfahren (in Filmen, Video-spielen,…). Die Betrübtheit legt uns ebenso sehr in Ketten, wie der Schatten der Gefängnisse, die Schinderei der Arbeit, die Notwendigkeit des Geldes.

Für dieses weniger „sichtbare“, intimere Elend hat diese Welt sogar eine ganze Palette von „Wunderheilern“ und „Gegenmitteln“ erfunden. Von Psychiatern bis zu Psychologen, von Drogen bis zu Antidepressivas, von „Ventil“-Momenten wie dem Samstagabend in der Disco oder dem Fussballmatch am Tag darauf, bis zum Schein von erlebtem Glück als Zuschauer hinter irgendeinem Bildschirm (interaktiv wie beim Internet oder passiv wie beim Fernseher)… Auf dem affektiven und emotionalen Elend wurde ein ganzer Markt aufgebaut. Doch hier wird, noch weniger als für die materielle Armut, kein „Gegenmittel“ jemals genügen. Die Betrübtheit kommt immer wieder zurück, sie klammert sich an den Menschen fest, sie verfolgt sie und jagt ihnen nach…

Aber es gibt auch andere Dinge. Durch die Macht gut verborgen, durch die Gewohnheit weit weggestossen, durch die soziale Ordnung stark erstickt. Es ist keine Flucht, es ist kein endgültiger Abschied von der Betrübtheit, doch es ist ein Anfang: von dem Moment an, in dem wir uns entscheiden, nicht mehr zu erdulden, sondern zu handeln; nicht mehr zu resignieren, sondern zu revoltieren; uns nicht mehr dahinzuschleppen, sondern zu leben, beginnt die Betrübtheit, dahinzuschwinden. Wenn wir uns auflehnen, machen wir nicht nur einen offensiven Schritt gegen das, was uns erstickt und uns unterdrückt, sondern, vielleicht noch viel wichtiger, erobern wir die Freude, zu leben, die Heiterkeit der Beziehungen unter komplizenhaften Aufständischen, die Offenheit und den Wagemut in dem, was wir denken, und dem, was wir tun. Das „Glück“ liegt nämlich nicht in der Anhäufung von Geld, in der Ausübung von Macht über andere, in irgendeinem Jenseits, sondern beispielsweise in der süssen Kohärenz zwischen unserem Denken und unserem Handeln. Die Betrübtheit kommt daher, dass wir uns selbst nicht wiedererkennen können, wenn wir uns im Spiegel anschauen, direkt in die Augen. Dass die Freimütigkeit unseres Wesens, unserer Gedanken, unserer Handlungen durch Misstrauen, Zurückgezogenheit und Abstand ersetzt wurde. Dass unser Leben keinen Sinn zu haben scheint, da ihn diese Welt uns niemals geben wird. Dass wir aufgehört haben, zu versuchen, die Fähigkeit zu erobern, unseren Leben selber den Wert zu geben.

Denn der ganze Reichtum unserer Leben liegt hier, vor unseren Augen. Es reicht, die Arme auszustrecken, unsere mit Überzeugung, Ideen und Freiheit bewaffneten Hände. Und durch die Anstrengung der Freiheit, durch die Revolte gegen eine sinnentleerte Existenz werden wir die Finsternis aus unseren Herzen vertreiben.


Originaltext veröffentlicht in Hors Service, Nr. 27, Brüssel.

“Nein” sagen bringt nichts, greifen wir an!

Auch wir sind gegen die Prozesse, die aus dieser Stadt einen immer unbewohnbareren Ort machen. Gegen die polizeiliche Belagerung der Quartiere, die Überwachungseinrichtungen und die gefängnisähnliche Architektur. Gegen die „Aufwertungsprojekteg, die im Dienste der Wirtschaft und der Reichen, und auf dem Rücken der Armen durchgesetzt werden. Von der Weststrasse über die Europaallee bis zum Bau des neuen PJZ. Nur denken wir, dass „Neing sagen alleine nichts bringt, wenn es nicht auch mit einer aktiven und direkten Intervention verbunden ist. Aber was verstehen wir darunter?

Machen wir uns keine Illusionen. Mit den Protesten, die „Dissens bekunden“ und „Druck ausüben“ wollen, wurde noch nie eine wirkliche Veränderung erreicht. Das, was erreicht wird, sind höchstens einige Zugeständnisse, die sich diejenigen, die sich als Bosse unserer Leben und Umwelt aufspielen, erbarmen, uns zu geben. Um uns wieder ruhig zu stellen. Diese Zugeständnisse werden nur gegeben, insofern sie mit ihren Interessen vereinbar sind, das heisst, im Grunde nichts fundamentales verändern. Ansonsten lautet ihre Antwort schlicht und einfach: Repression.

Wenn wir gegen die Prozesse intervenieren wollen, die diese Stadt, in der wir leben, immer mehr einzig nach dem Abbild des Kapitals und seiner Interessen gestalten (gewinnbringend, reibungslos, sauber, kontrolliert, funktional, tot…), dann sollten wir, wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, diese Intervention nicht an irgendwelche Politiker delegieren, indem wir uns selbst auf die Rolle beschränken, „Druck auszuüben“. Dann müssen wir diese Intervention in unsere eigenen Hände nehmen. Genauso, wie wir unser ganzes Leben und die Welt, die man uns entreissen will, wieder in unsere eigenen Hände nehmen wollen. Und wie verhindert sich der Rausschmiss einer ganzen Strassenallee? Der Abriss unseres Wohnortes? Der Bau von neuen Gebäudekomplexen wie das PJZ oder die Europaallee, die, gegen uns gerichtet, eine grössere Kontrolle oder eine gewinnbringendere Bevölkerungsschicht in die Quartiere einführen wollen? Wenn wir auf nichts als unsere eigenen Hände vertrauen wollen?

Wir denken: durch die Verweigerung, die Sabotage und den direkten Angriff gegen die Interessen, die dafür verantwortlich sind! Indem wir den Schleier der Verantwortungslosigkeit herunterreissen, und bei denjenigen intervenieren, die diese Projekte der Vertreibung, der Ausbeutung und der Einsperrung realisieren und Profit daraus schlagen. Von den Bau- und Abrissfirmen, über die Architekten, bis zu den Politikern und Verwaltern. Sie sind es, die diese Stadtentwicklungsprozesse realisieren, bei ihnen ist es, wo sie gestört und verhindert werden können.

Auch hier dürfen wir uns keine Illusionen machen. Auch diese Mittel schaffen es vielleicht nicht, die Projekte des Machtkolosses zu verhindern (auch wenn wir denken, dass, im Gegensatz zu den Mitteln der Politik, die Möglichkeit dazu viel konkreter ist), dafür aber findet eine wirkliche Veränderung statt. Diese Veränderung ist nicht ein realisiertes oder verhindertes Projekt, sondern sind die Beziehungen, die wir in einem solchen Kampf entwickeln. Die Beziehungen unter uns, durch Selbstorganisation, Solidarität und Komplizenschaft. Die Beziehungen zu uns selbst, durch die Wahrnehmung unserer Kraft als Individuen. Die Beziehungen zur Welt, durch die Ununterworfenheit und die Umwälzung der passiven Rollen, die uns aufgezwungen werden. Und diese Art von Beziehungen stehen im Gegensatz zum ganzen Funktionieren dieser Welt. Und nur in ihnen lässt sich eine Stärke entwickeln, der es schliesslich gelingen kann, die Welt, die uns aufgezwungen wird, wirklich umzustürzen. Das, was sich also wirklich verändert, wenn wir die Intervention gegen diese Projekte der Stadtentwicklung, sowie gegen alles, was uns unterdrückt, selber in die Hand nehmen, indem wir uns auf den Angriff stützen, ist, nicht mehr das Gefühl zu haben, als blosse umherschiebbare Spielsteine in einer aufgezwungenen Welt zu leben – und unsere Freiheit in der Revolte zu erproben.


Dieser Text wurde Ende Oktober 2012 bei einem Protestumzug gegen die Stadtentwicklung verteilt, der auf dem Vorplatz des künftigen PJZ begann und in Barrikaden und Konfrontationen mit den Bullen endete.

Ich

Ich habe einen Verstand, einen Charakter, der mich von meinen Mitmenschen unterscheidet, und ich habe eine Würde, die sich weder verkaufen noch beugen will. Ich habe eine Menge zu verstreuende Energien, zu entwickelnde Gedanken und zu begehende Handlungen. Ich suche nach der Erfüllung von mir selbst, nach der vollständigen Entfaltung meiner Individualität, und in dieser Entfaltung fühle ich mich glücklich. Ich suche nach dem Wohl der anderen oder verachte es, je nachdem, ob ich in ihrem Wohlstand mein Glück oder mein Unglück finde.

Ich will. Ich will materiell frei sein, um sagen und tun zu können, wonach mir ist, ohne dass mir irgendeine Autorität irgendetwas aufzwingt. Ich nehme Kritik oder Ratschläge von anderen an, nachdem ich über sie nachgedacht, sie für gut befunden und verstanden habe; den brutalen Befehl aber verachte ich und weise ich zurück.

Ich spüre in mir selbst die moralische Unmöglichkeit, zu gehorchen. Da ich ein Gehirn habe, das denkt, will ich tun, was ich für richtig halte, und nicht, was meinen Unterdrückern zugutekommt. Ich habe es nicht nötig, dass mich irgendjemand führt und mich beschützt: Man sagt mir, das Individuum könne sich nicht selbst führen, doch wenn ich meine Handlungen nicht regeln kann, dann können noch viel weniger die Regierenden die Handlungen von anderen führen.

Da ich also in der heutigen Gesellschaft nicht frei bin, kämpfe ich mit all meinen Kräften, um alle Schranken zu zerstören. Ich kämpfe nicht, weil ich auf einen weit entfernten Wohlstand hoffe, nicht nur, weil ich Glauben an die Zukunft habe. Ich lebe in der Gegenwart. Selbst wenn ich wüsste, dass ich niemals frei sein werde, würde ich genauso revoltieren, denn ich spüre den Drang, gegen jegliche Tyrannei zu revoltieren.

Ich habe keinen Glauben, ich habe keine Dogmen, ich habe keine Sorgen einer Partei oder einer Schule. Ich glaube weder an Gott, noch an das himmlische Paradies oder an das irdische, das die Gesellschaftler vor den Augen anderer wie im Traum aufblitzen lassen.

Ich suche nicht danach, mich mit meinen Mitmenschen für den Ruhm zu vereinigen, einem Verband anzugehören, und unter einem Banner Unterschlupf zu finden. Ich schliesse mich zusammen für ein bestimmtes Ziel, und wenn dieses erreicht ist, ergreife ich wieder meine Freiheit.

Ich hasse die konstituierten Formen, weil sie im Widerspruch zum Fortschritt stehen, der beständig alles verändert.

Ich will nicht wissen, es kümmert mich nicht, was die künftige Gesellschaft sein wird. Ich glaube nicht an jene, die im Namen des Volkes, der Menschheit und anderer ungreifbaren und formlosen, kollektiven Körperschaften sprechen, denn man kann das Zusammengesetzte nicht kennen, ohne die einfachen Einzelnen – jeden für jeden – zu kennen – was unmöglich ist. Darum glaube ich nicht an die Abgeordneten, an die Widerstandskomitees, an die Kongresse und alle Parlamentarismen. Nur ich alleine kann mich selbst repräsentieren.

Ich will keine Bestrafungen, ich will keine Gesetzbücher, Formalismen, Stempel und dergleichen. Die moralischen Gefühle drängen sich nicht auf, wenn sie nicht existieren, und wenn sie existieren, ist es nicht nötig, sie aufzudrängen. Ich rebelliere gegen die Mode, ich glaube nicht an die Phrasen, an das Recht, an die Moral, an die Justiz. Im Übrigen formt sie sich ein jeder für den eigenen Gebrauch und Verzehr.

Ich glaube nur an die Stärke und an den Kampf, der das Individuum vorantreibt, nicht, um die Schwachen zu zertrampeln und die Starken zu vergöttern, sondern, um sich selbst immer mehr zu erhöhen und zu verbessern. Ich glaube an das Leben, an die Energie. Heute kämpfe ich mit Gewalt, weil ich gegen mich die Gewalt habe; morgen kämpfe ich mit dem Denken, weil ich gegen mich das Denken habe.

Mein Ziel ist es, mich zu vervollkommnen; mein Mittel ist der Kampf, mein Verlangen ist die Freiheit.

Mich beschimpfen die Frommen und nennen mich hochmütig, unmoralisch, etc. Ich lache über sie: für meine Handlungen bin ich nur vor meinem Bewusstsein verantwortlich. Ich bin Atheist, ich bin Rebell, ich bin Anarchist, ich bin frei. Ich bin „Ich“.


Publiziert am 12. Februar 1910, in La Rivolta, eine anarchistische Zeitung aus Pistoia, Italien.

 

Wieso Krawall?

Einige Gedanken zum wilden Fest vom 2. März

Die Medien sind empört. Empört über ÑKrawalle“, ÑPlünderungen“ und ÑSachschäden“. Sie können nicht verstehen, was da passierte. Sie versuchen, das Ganze irgendwie in ihr Weltbild zu pressen. Einige “gewaltbereite Chaoten” hätten die “friedlichen Demonstranten” missbraucht, das Fest sabotiert, Ausschreitungen provoziert, etc. Das übliche Geschwätz.

Nun, diejenigen, die vor Ort waren, wissen, dass es diese Spaltung in „Gute“ und „Böse“ nicht gab. Alle lebten sich aus, alle auf ihre Weise, mit ihren eigenen Gründen. Und die Gründe, die dieses Fest in ein wildes Fest, in einen Krawall verwandelt haben, sind Gründe, die weit über den spezifischen Anlass hinausgehen. Es geht um das ganze Elend dieser Gesellschaft, und darum, es anzugreifen, anstatt es zu erdulden…


In der Samstagnacht vom 2. März, gegen etwa 23:30, begannen etwa zwei, drei Tausend Menschen und verschiedene Wägen mit Musik das besetzte Binz-Areal in Zürich zu verlassen, um durch die Stadt zu ziehen, anlässlich der Räumungsdrohung gegen eben dieses Binz-Areal. Die Stimmung war festlich und ausgelassen, und man spürte, wie sich das belebende Gefühl verbreitete, sich die Strassen zu nehmen, und den Raum, alles mögliche zu tun. Von Anfang an liessen sich verschiedenste Leute mit Spraydosen aus und sprühten Graffitis und Parolen auf die kargen Wände dieser Stadt, gegen die Polizei, das Eigentum, die Gefängnisse, das neue PJZ oder die Stadtentwicklung im Allgemeinen… Bei der Schmiede Wiedikon wagten es die Bullen zum ersten Mal, sich dem Umzug in den Weg zu stellen. Sofort wurden sie angegriffen, wurden Barrikaden gebaut und wurde wie wild gekämpft. Doch nicht nur sie wurden angegriffen. Auch diverse Polizei- und Justizgebäude, Banken und Unternehmen verloren ihr unschuldiges Antlitz. Zu viele, um sie hier alle aufzuzählen. Was auf jeden Fall erwähnenswert ist, sind die Plünderungen. Die ganzen Bürger, die sich um das ach so heilige Eigentum sorgen, waren schockiert. Da haben Leute einfach eine Scheibe eingeschlagen, sind hineinspaziert und haben sich genommen, was sie gerade brauchten. Was ihnen aber am meisten Angst macht, ist, dass es sich nicht einfach um gewöhnlichen Diebstahl, sondern um eine soziale Plünderung handelte, und dass diese Idee Verbreitung finden könnte. Die alte Idee, dass es “nur Schaufensterscheiben sind, die uns von dem trennen, was uns fehlt”. Dies ist es, was den Reichen und Mächtigen schlaflose Nächte besorgt. Dass die Revolte sozial wird, und eben das ist – wenn auch nur für eine kurze Zeitspanne – in dieser Nacht geschehen…


Der Umzug zog weiter durch die Kreise 3 und 4, Leute bauten immer wieder Barrikaden, konfrontierten sich mit der Polizei, griffen an, was sie stört in dieser Welt, oder genossen einfach nur das Fest. Denn das Surrealste am Ganzen war, dass die verschiedenen Musikwagen, einer davon mit Band, die ganze Zeit über, manchmal auch mitten im Tränengas, Musik spielten.

Die Polizei schien komplett überfordert. Noch lange nachdem sich der Umzug in der Binz wieder auflöste, war die Feuerwehr damit beschäftigt, Barrikaden zu löschen. Die Putzequipen arbeiteten hart in den folgenden Tagen, um der Stadt wieder ihren üblichen, sterilen Anblick zu geben. Dennoch sind viele Spuren zurückgeblieben, nicht nur an den Häuserfassaden und Schaufensterscheiben, sondern – was viel wichtiger ist – in den Köpfen, Herzen und Leben von denjenigen, die die Gunst der Stunde nutzten, um auszubrechen, zu revoltieren und anzugreifen…

Und diese Spuren können sie nicht wegputzen. Die Erinnerungen an Aufruhr und Revolte, die schöne Erfahrung, zumindest für eine kurze Zeit die Angst überwunden zu haben, um sich das Leben im Jetzt zurückzuerobern. Daran ändert auch der Müll nichts, den die Journalisten im Nachhinein in ihren Schundblättern schrieben. Sie tun so, als wäre es etwas anderes, wenn Menschen in Ägypten in Aufstand treten. Als wären die Gründe, welche dort unten die Revoltierenden den Staat und das Eigentum angreifen lassen, hier nicht dieselben. Solange es in Nordafrika passiert, finden es die Bürger legitim, weil es sie ja nicht betrifft, aber hier, da heulen sie rum, fragen sich wieso und warum, und behaupten, “dass es uns hier doch so gut geht”. Welch Heuchelei! Auch in Ägypten gibt es Bürger, die das behaupten. Klein- und Grossbürger, die die herrschende Ordnung immer genauso akzeptieren, lieben und verteidigen, wie sie gerade ist.

Wir aber, die keine Herrschaftsordnung jemals anerkennen werden, freuen uns über jede Revolte des Pöbels, über die Barrikaden, die geplünderten Läden und zerstörten Schaufensterscheiben. Doch, um das klarzustellen: es sind nicht die Trümmer, die wir suchen, sondern die Wege, die durch sie hindurchführen. Es sind die Erfahrungen der Revolte, der eigenen Kraft und Freiheit als Individuum, der Zurückweisung der Autorität, des Bruchs mit den gesetzlichen und moralischen Schranken, der Solidarität in der Weigerung, sich zu unterwerfen… Denn es sind diese Erfahrungen, die den Wunsch nach Freiheit nähren, und den Willen, dafür zu kämpfen. Und wir werden uns nicht zufrieden geben, nicht bevor wir so oft auf die Barrikaden gegangen sind, bis es überhaupt keine Autorität mehr gibt, die sich uns aufzwingen will, nicht bevor die Plünderung solche sozialen Ausmasse angenommen haben, bis sich ein jeder nehmen kann, was er braucht, um dann den ganzen Warenschnickschnack mitsamt den Läden, Banken und Büros zu verbrennen. Denn, erst wenn jegliches Eigentum aufgehoben und jegliche Autorität beseitigt ist, wird eine Welt auf der Grundlage der Freiheit möglich sein, in der alles allen gehört und jeder selbst über sein Leben bestimmen kann.

Unruhenachrichte

Hin und Zurück

Die SBB zieht uns nicht nur das Geld aus den Tasche, indem sie dem Zwang der Arbeit den Witz hinzufügt, dafür bezahlen zu müssen, um an den Ort unserer Ausbeutung zu gelangen. Sie kollaboriert auch breitwillig dabei, diejenigen, die sich nicht in dieses Ausbeutungssystem einfügen können oder wollen, ins Gefängnis oder in die Ausschaffungshaft zu transportieren, oder auch dabei, neue Strukturen der Bestrafung und Kontrolle zu schaffen, wie das neue Polizei- und Justizzentrum in Zürich, wofür sie ihr Gelände beim Güterbahnhof verkaufte.

Nun, was auch immer der Grund gewesen sein mag, wieso jemand Anfangs März unter der Europabrücke zwei Vans der SBB in Brand gesteckt hat, wir zumindest kennen genug Gründe, um uns darüber zu freuen.

Die Gunst der Stunde

Wie uns ein aufmerksamer Spaziergänger berichtete, waren am Morgen des 3. März beim Eingangsbereich des Bauamts von Zürich die Scheiben eingeschlagen. Ein Amt, das nicht nur für die Präsenz zahlreicher hässlicher und staatlicher Gebäude in dieser Stadt verantwortlich ist, die uns überschatten und uns in der Sonne stehen, sondern auch spezifisch für den anstehenden Bau des neuen Polizei- und Justizzentrums beim alten Güterbahnhof.

Ob da wohl jemand die Gunst der Stunde nutzte, um unbemerkt anzugreifen, als die Polizei in den Kreisen 3 und 4 mit den ÑBinz-Krawallen“ absorbiert, und daher überall sonst praktisch abwesend war?

Ausgabe 6

Auf niemandes Seite

Ich habe wie alle diverse Probleme in meinem Leben: Ich bin gezwungen, meine Zeit und meine Fähigkeiten zu prostituieren, indem ich arbeite, um im Austausch das Notwendige zu erhalten, das ich brauche, um in dieser Welt, die ich nicht akzeptieren kann, zu überleben. Ich kann mir nicht viel leisten, im Grunde bin ich arm, ich habe kein Auto, ich kann es mir nicht leisten, den öffentlichen Vekehr zu bezahlen, usw.

Aber ich will hier nicht von meinen Problemen ausgehen, von den Problemen, die wir im Grunde fast alle haben, ich will euch lieber von meinen Verlangen erzählen. Denn, wenn wir bloss von den materiellen Grundlagen unserer Existenz ausgehen, können wir uns im Grunde nur vorstellen, wie es möglich wäre, unter den gegenwärtigen Bedingungen besser zu leben (mehr Geld, mehr oder weniger Arbeit, Zugang zu mehr Dingen – Waren, Bildung, Transport…), und nicht nach einem komplett anderen Leben streben.

Unsere ökonomische und soziale Bedingung, wenn sie auch gewiss nicht zu ignorieren ist, führt uns oft dazu, uns in Kategorien einschliessen zu lassen. Man spricht von Arbeitern, von Klasseninteressen und oft spricht man von Bedürfnissen, von Forderungen, aber nie von Verlangen, nie von dem, was wir, als Individuen, wollen.

Durch das Absehen von den Verlangen und individuellen Bestrebungen der Menschen, die diese Kategorien zusammensetzen, wird es einfach, in das typisch politische Spiel der Repräsentation einzusteigen. Jemand kann sich Repräsentant der Interessen meiner Kategorie nennen (mehr oder weniger revolutionäre Parteien, Gewerkschaften), das aber, was von niemandem ausser von uns selbst repräsentiert werden kann, sind unsere Verlangen.

Ich persönlich will niemanden ausser mich selbst repräsentieren, so wie ich nicht will, dass mich irgendjemand repräsentiert, schlicht, weil mich niemand als Individuum repräsentieren kann, weil niemand meine Verlangen und meine Bestrebungen repräsentieren kann. Niemand kann mich repräsentieren, aber das will nicht heissen, dass ich nicht meine Bestrebungen, Ziele und Methoden mit jemandem teilen kann.

Diese Gesellschaft, die auf der Ausbeutung und auf dem Autoritätsprinzip basiert, ist für mich unerträglich. Ich will in einer Welt leben, in der diese letzteren nicht existieren, in der die Notwendigkeit nicht existiert, sich zu verkaufen, um zu überleben, in der die Entscheidungen über unsere Leben die unsrigen sind, und somit nicht die von einem Staat, von seinen Bürokraten, von einer Gemeinschaft mit ihren Regeln oder von anderen Personen. Schliesslich eine Welt, in der man entscheiden kann, frei mit anderen in Beziehung zu treten, ohne irgendwelche Regeln (ausser jenen, die von uns selbst und von den anderen Individuen, mit denen wir in Beziehung treten, gewählt wurden), ohne irgendwelche Zwänge oder moralischen Schranken.

Für dieses Ziel bin ich gewillt, von heute an zu kämpfen, mit allen Mitteln, die ich für angebracht halte, und mit jedem anderen, der meine Ziele und meine Methoden des Kampfes teilt. Ich bin aber nicht bereit, für eine Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen (wie wichtig sie auch sein mag), also für eine Lohnerhöhung, für kürzere Arbeitszeiten, für einen sozialeren Staat, usw. zu kämpfen.

Dies nicht, weil ich das Bedürfnis von jenen nicht nachvollziehen kann, die das tun, und weil ich es nicht für legitim halte (sollte es Verbesserungen geben, werde ich sie gewiss nicht zurückweisen!), sondern, weil das nichts an der Tatsache ändern würde, trotzdem ausgebeutet zu werden, vielleicht unter besseren Bedingungen, aber trotzdem noch immer ausgebeutet. Es würde sich noch immer darum handeln, einen Boss zu haben (wie „gut“ und verständnisvoll er auch sein mag), ein Leben zu haben, das von einem Staat und seinen Gesetzen, und von der ökonomischen Notwendigkeit, zum Profit von anderen arbeiten zu müssen, reguliert wird.

Meiner Meinung nach ist die Frage nicht, die eigene Bedingung in dieser Gesellschaft zu verbessern, denn schliesslich ist das, was ich will, etwas völlig anderes als eine blosse Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen, also etwas, das gegenwärtig nicht existiert und das nicht existieren kann, solange diese Gesellschaft, mit ihren sozialen Verhältnissen und ihren unterdrückerischen Strukturen, existiert. Es geht also nicht bloss darum, den Kurs der gegenwärtigen Gesellschaft etwas zu „korrigieren“, denn die Ausbeutung und die Negierung der Freiheit liegen in ihrer Grundlage selbst.

Somit wird die Frage einer radikalen Veränderung der Bedingungen und der bestehenden sozialen Verhältnisse zu einer Frage der Zerstörung – zumindest teilweise – von dieser Gesellschaft, und dies ist etwas, das im Gegensatz zur Aufrechterhaltung und Rationalisierung der Ausbeutung durch kleine Veränderungen steht.

All dies mag euch gewiss sonderbar erscheinen, denn die Frage einer radikalen oder, wenn ihr bevorzugt, revolutionären Veränderung der Gesellschaft wurde in der Vergangenheit bloss als eine Veränderung in der Verwaltung der Gesellschaft gedacht – von einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel das Eigentum einer Klasse sind (der bürgerlichen Klasse), hin zu einer Gesellschaft, in der diese Mittel von den Produzierenden selbstverwaltet werden.

Dies ist, meiner Meinung nach, heute nicht mehr möglich. Die Frage ist heutzutage viel komplexer geworden. Es geht nicht mehr einfach darum, die Produktionsmittel selbstzuverwalten, sondern auch darum, zu entscheiden, was wir aufrechterhalten wollen (wenn es etwas aufrechtzuerhalten gibt), und was wir zerstören müssen, um frei leben zu können. Sollen wir die gigantischen Industrieanlagen aufrechterhalten und selbstverwalten? Die Waffenfabriken? Die Atomkraftwerke? Usw.

Sich die Revolution als Selbstverwaltung der heutigen Gesellschaft zu denken, zeigt hier, meiner Ansicht nach, seine Grenzen auf. Grenzen, deren Ursprünge in der Fortschrittsideologie gesucht werden können, die vielen revolutionären Ideologien zugrunde liegt. Diese betrachten den technologischen Fortschritt als eine Kraft, die vom kapitalistischen Produktionssystems unabhängig ist, und somit a priori als etwas, das für die Menschheit stets positiv ist, während hingegen die technologische Entwicklung, fern davon, etwas vom ganzen Rest der Gesellschaft unabhängiges und isoliertes zu sein, schon immer sehr eng mit der Entwicklung dieser letzteren verbunden war.

Dies sind einige Gründe, die mich dazu antreiben, gegen diese Gesellschaft zu revoltieren, Gründe, weshalb ich ein paar „kosmetische“ Veränderungen an ihr als unzureichend betrachte und ich ihre Zerstörung will, um einen Raum zu kreieren, in dem sich etwas anderes wirklich entwickeln kann.

Darum kann ich, auch wenn ich mit den Kämpfen der Arbeiter, sowie mit anderen Kämpfen, wie zum Beispiel denjenigen der Frauen und der Migranten, sympathisieren kann oder nicht, nicht sagen, dass ich auf ihrer Seite stehe, falls sich ihre Forderungen auf die Aufrechterhaltung und auf die Verbesserung das gegenwärtigen Stands der Dinge beschränken.

Darum werde ich immer auf niemandes Seite stehen, aber mir sicher, nicht alleine zu sein.

Ein fernes Land

Lassen wir unsere Gedanken ins Absurde schweifen. Tausende streikende Arbeiter entscheiden sich, die Produktion einer Fabrik lahmzulegen. Sie arbeiten bereits seit Jahren dort und produzieren Schadstoffe, verschmutzen die Luft, das Wasser und das umliegende Land. Auch ihnen ergeht es nicht gut, hin und wieder stirbt jemand bei der Arbeit aus Mangel an angemessenen Mitteln und Schutzmassnahmen. Seit einigen Jahren erkranken hunderte von ihren Familienangehörigen an Krebs, und die Krankheit schaut niemandem ins Gesicht, sie macht keine Altersunterschiede. Kinder, Alte, Jugendliche. Auch viele Arbeiter sind erkrankt und haben nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben verloren. Die Liste könnte noch lange weiter gehen. Zerstörte Tierhaltungen aufgrund des ausgeströmten Dioxins, das alles vergiftet hat; verwüsteter Ackerbau, verschmutzte Gewässer, verschmutztes Grundwasser. Am Rand einer Strasse ausserhalb des Stadtrands steht ein Wegweiser, der in Richtung Fabrik zeigt. Mit etwas Abstand steht ein anderer, der zu jenem Quartier der Stadt zeigt, das ihr am nächsten liegt. Darunter befindet sich ein weiterer, der zum Friedhof zeigt. Seit etlichen Jahren begehen dutzende Arbeiter diesen Weg, jeden Tag, doch eines Tages geschieht etwas. Einer der Arbeiter von dieser Fabrik kommt an der Kreuzung vorbei, auf der sich diese Wegweiser befinden. Er ist hier schon oft vorbeigegangen, rennend, weil die Sirene des Schichtbeginns ertönte und er sich beeilen musste.

Und auch am Ende des Arbeitstages legte er diese Strasse immer mit grosser Geschwindigkeit zurück, mit grosser Lust, die Hölle, die er zwischen Hochöfen, unerträglichen Temperaturen und giftigen Dämpfen durchlebte, wenigstens für einige Stunden hinter dem Rücken zurückzulassen. Mit jedem Tag beschwerte sich seine Seele wegen dieser verfluchten Arbeit noch mehr, aber er dachte, dass er ohne sie nicht auskommen kann. Er muss den Kredit bezahlen, die Kinder ernähren, und ausserdem steht Weihnachten vor der Tür und die Einkaufszentren der Gegend sind bereits voll mit vielen Waren, die bereit stehen, gekauft zu werden. Am Sonntag gehen er und seine Familie oft dorthin und alle wirken zufrieden. Eines Tages aber, während er an der Kasse steht, schaut er um sich und beobachtet all die Leute in der Schlange mit ihren Einkaufswägen überfüllt mit Waren. Jedes Mal, wenn er den Einkauf machen ging, wechselte er kein Wort mit niemandem. Ihm kommt seine Arbeit in der Fabrik in den Sinn und wie sehr sie ihm die Lebensfreude entreisst. Er denkt an seine toten Arbeitskollegen, an seine verstorbenen Familienangehörigen zurück. Während er an all das denkt, bemerkt er, dass eine junge Frau die Schlange übersprungen hat und das Einkaufszentrum verlässt, während die Anti-Diebstahl-Apparate wie wild piepen. Aber sie ist bereis fern. Er spürt, wie er aufatmet. Auf einmal fühlt er sich nicht mehr beschwert, sondern wütend. Er denkt, dass die Besitzer der Fabrik, in der er arbeitet, Mörder sind, dass sie mit der Aktivität dieses Kolosses hunderte Personen ermorden und dass sie das ganze umliegende Gebiet zerstören, das nunmehr unbrauchbar ist. Am Tag darauf begibt er sich zur Arbeit, er kommt wie jedes Mal an der Kreuzung mit den beiden Wegweisern vorbei, die zur Fabrik, zu seinem Quartier und zum Friedhof zeigen. Doch diesmal hält er plötzlich inne und bleibt daneben stehen. Er schafft es nicht mehr, sich zu bewegen, er bleibt für den ganzen Tag dort. Später ruft er all seine Arbeitskollegen, jene, die er besser kennt, denn in seiner Fabrik arbeiten mehr als zehntausend Leute, und er lädt sie ein, sich zu dieser Kreuzung zu begeben. Schaut, sagt er, habt ihr gesehen, was da geschrieben steht: FRIEDHOF. Jetzt reicht‘s, wir können nicht weiter sterben, unsere Familienangehörigen können nicht weiter sterben, jene, die in dieser Stadt leben, können nicht weiter sterben. Niemand antwortet. Es bricht Stille herein, aber es ist der Gipfel der Wut, den jeder von ihnen in sich spürt.

Am Tag darauf begeben sich alle in die Fabrik, aber um die Fabrik stillzulegen. Die Hochöfen erlöschen, die Dämpfe verschwinden allmählich. Am nächsten Tag begeben sich die Bosse an Ort und Stelle, sie sind voller Groll, haben das Blut in den Augen, die Profite fallen zusehends, die Aufträge werden nicht ausgeführt. Die internationalen Anleger verlassen den Industriekoloss und gehen woanders hin. Aber die Arbeiter sind unerschütterlich, sie setzen ihre Abbrucharbeit fort. Auch die Drohung mit der Entlassung bringt sie nicht dazu, abzulassen, und im Übrigen ist ihre Absicht, dass diese Fabrik kein Tod mehr produziert, weshalb sie eine Entlassung gewiss nicht besorgen kann. Am Tag darauf begeben sich dann auch alle Gewerkschaften geschlossen in die Fabrik und fordern die Arbeiter auf, die Produktion wieder aufzunehmen, sich zu besinnen, und sie sagen, dass das, was sie da tun, eine Sabotage ist, aber auch ihre Intervention hat keinen Erfolg. Schliesslich probiert es die Polizei in Anti-Riot-Ausrüstung, indem sie versucht, überzeugendere Waffen einzusetzen. Nichts. Die Arbeiter haben nicht vor, locker zu lassen. Sie sind mehrere tausend und nun kann sie nur die Armee noch aufhalten, auf die Gefahr hin, ein Blutbad anzurichten. In dem Land sind alle auf die Strassen gegangen, um Tage für Tage aufeinanderfolgend zu demonstrieren. Es ist unmöglich, sie zur Vernunft zu bringen. Alle Repräsentanten der Institutionen lancieren besorgte Aufrufe, damit der Gewalt ein Ende geboten wird, denn dies ist ein Angriff gegen die demokratische Ordnung, aber es nützt nichts. Jedem, der sich mit der Absicht nähert, den Kurs ihrer Entscheidung zu ändern, wird im Bösen und im Guten gedroht, sich wieder davon zu machen. Dieses Land ist dabei, zu einer Insel zu werden, seine Bewohner haben einen Weg eingeschlagen, der ohne Rückkehr ist, und sie haben neue Möglichkeiten des Zusammenlebens, des Lebens, der Nahrungsversorgung, der Arbeit, der Bildung, der Unterhaltung, der Organisierung erfinden müssen. Bereits ein Weg ohne Rückkehr. Nun, schliesslich liessen wir unsere Gedanken nur ins Absurde schweifen, vielleicht…


Übersetzt aus Tairsìa, anarchistisches Blatt, Nr. 4, März 2013, Lecce, Italien.

Über die Frage der Organisation

Wie oft haben wir es schon gehört: „Aber von welcher Organisation seid ihr denn?“. Vielen scheint es gegen ihr Weltverständnis zu gehen, dass es Individuen gibt, die nicht im Namen irgendeiner Organisation, sondern einzig und allein in ihrem eigenen Namen agieren. Nun, ich bin Anarchist, und natürlich organisiere ich mich, um für meine Ideen zu kämpfen, gemeinsame Projekte (wie z.B. diese Zeitung) zu realisieren und zu versuchen, die Realität zu verändern. Dazu brauche ich aber keine „Organisation“ – in dem Sinne, wie ich sie hier verstehe, das heisst, als eine repräsentative Struktur mit Name, Mitgliederliste, Statuten und Programm. Und ich möchte noch mehr sagen: Es ist nicht nur, dass ich keine solche „Organisation“ brauche, ich halte sie auch für schädlich für das, wofür ich kämpfe. Ich halte sie für schädlich, wenn das Ziel ist, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken und sie zur Selbstorganisation zu ermutigen.

Wieso ich das so sehe, und auf welche Weise ich die Organisationstatsache verstehe, will ich in diesem Artikel zu erklären versuchen.

Delegation und Repräsentation

Wir leben heute in einer Gesellschaft, deren ganzes Organisationsmodell –  also die Demokratie  – auf einem System von Delegation und Repräsentation basiert. Als Mitglieder dieser Gesellschaft delegieren wir permanent den Grossteil der Entscheidungen, die im Grunde unser eigenes Leben und unsere eigene Umwelt betreffen, an irgendwelche „Spezialisten“, in erster Linie an die Politiker aller Art, die behaupten, unseren Willen zu repräsentieren. Mit der Politik, den Abstimmungen und dem Referendum will uns der Staat das Gefühl geben, teilnehmen und mitbestimmen zu können – unter der Voraussetzung, ihn selbst und seine Spielregeln zu akzeptieren. So beschränkt sich die sogenannte „Souveränität des Volkes“ darauf, von Zeit zu Zeit zwischen zwei falschen Alternativen abzustimmen, den einen Esel mit einem anderen auszutauschen, vielleicht eine Beschwerde oder eine Petition einzureichen, oder äusserstenfalls mit Protesten auf die Politiker Druck auszuüben“. So oder so, die letztendliche Entscheidung delegieren wir immer an andere, an Spezialisten, Politiker und Autoritäten, die die Aufgabe haben, unsere Leben zu verwalten und „sich unseren Problemen anzunehmen“ – natürlich stets im Rahmen der bestehenden Ordnung, die ihre eigenen Privilegien und ihre eigene Machtposition bewahrt und beschützt.

Die Tatsache, zu delegieren und uns repräsentieren zu lassen, ist also etwas, das wir von klein auf lernten und das tief in uns sitzt. Von klein auf sagt man uns, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann, und dass, wenn wir ein Problem haben, wenn uns etwas nicht passt, wir eben Abstimmen oder selber in die Politik gehen müssen.

Nun, das, was mir nicht passt, das, was mein Problem ist, ist aber die bestehende Ordnung selbst, die Existenz des Staates selbst, weil dieser für mich, wie für die meisten, mit seinen Gesetzen, Ordnungshütern und Gefängnissen, immer die Aufrechterhaltung meiner Unterdrückung und Ausbeutung zum Profit der Reichen und Mächtigen bedeuten wird. Es ist also offensichtlich, dass es sinnlos wäre, dieses „Problem“ an irgendwelche Politiker zu delegieren.

Als Anarchist kämpfe ich für eine Welt, in der ein jeder tatsächlich Souverän über das eigene Leben ist, in der niemand über den Köpfen und über den Willen von anderen entscheidet, in der es keinen Staat und keine Politik gibt, die über unsere Leben walten, kurzum: in der wir unsere Leben selbstverwalten. Ein solches selbstverwaltetes Leben will ich nicht nur in einer mehr oder weniger fernen Zukunft, für die ich kämpfe, sondern Hier und Jetzt. Das bedeutet nicht nur, dass ich mich weigere, mich an dem politischen Zirkus der Parteien und Abstimmungen zu beteiligen, sondern auch und vor allem, dass ich mich selber organisieren will, um selbstständig und direkt in die Realität zu intervenieren und das zu bekämpfen, was mir gegen meinen Willen aufgezwungen wird.

Es drängt sich also die Frage auf, wie ich mich für diesen Kampf organisieren will.

Selstorganisation

Oft wird diese Frage, auch unter Revolutionären und Anarchisten, mit einem Organisationsmodell beantwortet, das im Grunde dieselben Mechanismen reproduziert, nach denen auch diese Gesellschaft funktioniert, die man behauptet, zu bekämpfen. Man gründet eine repräsentative, mehr oder weniger parteiähnliche Organisation, die Mitglieder sammelt und quantitativ anzuwachsen versucht, um – wenn auch ausserparlamentarisch – eine gewisse politische Macht (oder Gegenmacht, wenn ihr bevorzugt…) zu erlangen; eine Organisation mit Name und Aushängeschild, mit einheitlichem Programm und Statuten, aufgeteilt in Arbeitsgruppen und mehr oder weniger verhüllte Hierarchien. Meiner Meinung nach reproduziert eine solche Organisation, anstatt alle zu ermutigen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich selbst zu organisieren, eben diese Gewohnheit der Delegation, die tief in uns sitzt und von der es nicht einfach ist, loszukommen. Anstatt diese Gewohnheit zu bekämpfen, verleitet sie ihre Mitglieder nur erneut dazu, sich genau wie in der Gesellschaft, bewusst oder unbewusst, von einem übergeordneten Organ repräsentieren zu lassen, auf ihre eigene Individualität zu verzichten und sich den Mehrheitsbeschlüssen zu fügen; dazu, die eigene Verantwortung an die Organisation abzuschieben und die eigenen Entscheidungen an «jene, die es besser können», an irgendwelche Spezialisten und kleine und grosse Bewegungsführer zu delegieren. Ihre Mitglieder sehen sich schliesslich, genau wie in der Gesellschaft, verleitet, eine blosse Rolle, eine blosse Funktion zu übernehmen, anstatt das ganze Potenzial ihrer Individualität zu entfalten und ihren Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist, neben anderen Gründen, weshalb ich eine solche formelle Organisation für schädlich halte und weshalb ich es bevorzuge, mich informell zu organisieren. Aber was soll das heissen?

Es sei zunächst gesagt, dass auch ich die Tatsache der Organisation als eine Notwendigkeit anerkenne, sowohl für die Kämpfe von heute wie für die freie Gesellschaft von morgen. Und es wäre absurd, diese Tatsache zu negieren, insofern jeder noch so kleine und kurzlebige Zusammenschluss von Individuen für ein spezifisches Ziel bereits eine Form von Organisation ist. Als Anarchist suche ich schlicht nach Wegen, sich zu organisieren, ohne die Mechanismen der Delegation und der Repräsentation zu reproduzieren, die stets der fruchtbarste Boden für die Herausbildung von Autoritäten sind – auch unter Revolutionären, und ja, auch unter Anarchisten.

Meiner Meinung nach besteht das beste Mittel, um diese Angewohnheit zu bekämpfen, darin, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken, und somit den Drang danach, «selber zu machen», also nach Selbstorganisation, nach individueller Initiative und direkter Aktion zu fördern. Diese Empfindung und dieser Drang können beispielsweise durch Erfahrungen von Revolte gegen Einschränkungen und Aufzwingungen, durch Experimentieren mit den eigenen Fähigkeiten in eigenen Projekten des Kampfes, oder durch Vertiefung der eigenen Ideen anwachsen.

Der Ausgangspunkt für jede Organisation, die nicht eine blosse Repräsentation sein will, ist also das Individuum, das den Willen hat, sich zu entfalten, zu kämpfen, und in erster Person zu überlegen und zu agieren. Die Organisation, wie ich sie verstehe, sollte also nicht bezwecken, ihre Mitglieder zu vereinheitlichen und zu repräsentieren, sondern ist nichts anderes als ein Zusammenwirken von verschiedenen individuellen Initiativen, ein Zusammenschluss von Individuen, um gemeinsame Projekte zu realisieren, bzw. ein spezifisches Ziel zu erreichen, das man teilt und über die dafür einzusetzenden Mittel und Methoden man sich einig ist. Die dazu geschaffene selbstverwalterische Struktur hat für mich, als Anarchist, da ich nicht bezwecke, bzw. verhindern will, irgendeine „politische Macht“ aufzubauen, keinen Grund, über das spezifische Ziel oder Projekt hinaus fortzubestehen und anzuwachsen. Wurde der Zweck der Organisation erreicht oder ist sie dafür nicht mehr von Nutzen, löst sie sich wieder auf, während ich mich für andere Ziele und andere Projekte wieder neu und anders zusammenschliesse. Es geht also nicht um eine permanente, quantitative, formelle Struktur, die auf einmal festgelegten Grundsätzen basiert, sondern um einen temporären, beschränkten, informellen Zusammenschluss, der sich im ständigen Wandel befindet.

Die Tatsache der Organisation kann also ein Hilfsmittel sein, um, gemeinsam mit anderen, den eigenen Kampf, die eigene Befreiung und die eigenen Ideen zu verwirklichen, während sie nicht darauf abzielen sollte, die Initiativen in sich zu zentralisieren, sondern darauf, wo immer möglich, die Praxis der Selbstorganisation zu fördern und sozial zu verbreiten – jene Selbstorganisation, deren Generalisierung schliesslich die Grundlage einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Autoritäten ist.

Direkte Aktion

Wenn der Grund, wieso ich mich selbstorganisieren will, die Verweigerung der Praxis der Delegation ist, so ist mein Ziel die direkte Aktion – also die direkte Intervention in die Prozesse um uns herum, die uns vom Staat aufgezwungen werden und uns zwingen wollen, unter seiner Herrschaft zu leben. Die direkte Aktion ist sowohl ein Mittel, tatsächlich und effektiv etwas anzupacken und zu verändern, sowie ein Zeichen an andere des Willens, sich das eigene Leben wieder anzueignen.

Nehmen wir ein lokales Beispiel: der Bau des PJZ beim alten Güterbahnhof. Viele Leute wollen nicht, dass dieser riesige Polizei- und Justizpalast gebaut wird, weil sie sehrwohl wissen, dass dies noch mehr Bullen und Kontrollen im Quartier, eine weitere „Säuberung“ der Strassen, und somit eine „Aufwertung“, eine Vertreibung der ärmeren Anwohner bedeuten wird. Aber das PJZ wurde nunmal gesetzlich abgesegnet. Es ist offensichtlich, dass es sinnlos wäre, noch auf irgendwelche Politiker zu setzen, wenn wir es verhindern wollen. Wenn wir wirklich verhindern wollen, dass dieser riesige Kontroll- und Gefängniskomplex bald über unseren Leben thront und wacht, müssen wir zu anderen Mitteln greifen. Wir müssen selber Hand anlegen. Wir müssen uns selber organisieren – uns zur direkten Aktion gegen das PJZ selber organisieren. Dazu brauchen wir nicht irgendeine Organisation, die mit Protesten bei den Politikern „Druck ausübt“, welche so oder so nichts ändern werden. So würden wir nur wieder die Hoffnung in andere setzen, von den Politikern und Autoritäten fordern, die Entscheidung in die Hände von jenen delegiern, die sich anmassen, unsere Leben zu regieren. Wenn wir unsere Leben aber selbst in die Hand nehmen wollen, dann sind wir es, die entscheiden, dass dieses Projekt nicht gebaut wird, und dann müssen wir auch eigenhändig dafür sorgen, dass dem so ist – mit den Mitteln, die dafür nötig sind. Dafür reichen kleine, selbstständige und namenlose Grüppchen von Leuten, die sich zusammenschliessen, weil sie sich kennen und den Willen teilen, auf auf direkte Weise zu kämpfen. Grüppchen, die verstreut gegen dieses Projekt vorgehen, die nicht beabsichtigen, zu verhandeln, sondern sich in permanenter Konflikthaltung befinden, kleine verstreute Angriffe und Sabotagen realisieren, und mit ihren Aktionen die Unterstützer dieses Projekts entlarven und zur Verantwortung ziehen. Und durch eine permanente Feindlichkeit gegen dieses Projekt und all seine Kollaborateure, durch eine soziale Verbreitung der Selbstorganisation in diesem Kampf, unabhängig von allen Parteien und politischen Organisationen, können wir vielleicht eine Stimmung kreieren, die es schliesslich ermöglicht, gemeinsam gegen diese Struktur in Aufstand zu treten, sie zu stürmen und… dann ja, dann liegt die Entscheidung, das PJZ zu verhindern, in unseren Händen.

Nun, man erzählt uns von klein auf, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann. Ich will das Gegenteil behaupten: Nichts und niemand ausser das Individuum kann entscheiden, etwas zu verändern, und solange das Individuum, ob organisiert oder alleine, nicht im Hier und Jetzt entscheidet, zu handeln, wird alles immer beim Alten bleiben…

Ausgabe 7

Mein Irrealismus

«Es ist ja schön und gut, was ihr wollt, eine Welt ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung, in der alle Menschen frei sind, aber das ist einfach unrealistisch. Wenn man etwas verändern will, dann muss man realistisch sein und für kleine Schritte kämpfen. » Eine Phrase, die wir als Anarchisten oft zu hören bekommen… Die Aufforderung, im Namen des Realismus die eigenen ungehemmten Freiheitsträume zu begraben und für kleine Ausbesserungen dieser Gesellschaft zu kämpfen – dieser Gesellschaft, die doch in ihrer Grundlage selbst, nämlich dem Prinzip von Autorität und Eigentum, die Möglichkeit einer Freiheit und eines Wohlstands für alle negiert. Der Vorwurf, die Idee der Anarchie sei zwar ein schönes Ideal, aber unrealistisch, kommt, in meinen Augen, allzu oft von Menschen, die bereits resignierten, und die diese Resignation dadurch zu rechtfertigen versuchen, dass sie andere überzeugen wollen, ebenfalls zu resignieren. Wie viele haben nicht, im Namen eines „Realistisch-Seins“, eines „Vernünftig-Werdens“, ihre einstige Rebellion gegen diese Gesellschaft, ihr unberechnetes Verlangen nach Freiheit aufgegeben, um sich den Spielregeln dieser Realität zu fügen? Wie oft haben wir gesehen, wie der Realismus einem Possibilismus entsprach, das heisst, wie man begann, nur noch das zu wollen, was möglich scheint, anstatt zu versuchen, das zu ermöglichen, was man will?

Ich frage mich: kann jemand, der etwas ganz anderes will, als diese Realität, die uns gegenwärtig umgibt, kann jemand, der eine tiefgreifende soziale Revolution dieser Realität will, können wir, als Anarchisten, wirklich im strengen Sinne realistisch sein?

Wir können kein Modell der Anarchie aufzeichnen, um zu beweisen, dass sie möglich ist. Wir können kein Programm darlegen, um zu beweisen, dass sie erreichbar ist. Wir können nicht auf eine Zeit oder einen Ort zeigen, und sagen: hier, schaut, da wurde realisiert, was wir wollen. Eine menschliche Gesellschaft, welche die Beseitigung von jeglicher Form von Autorität und Eigentum realisierte, hat es, zumindest in der jüngeren Geschichte, soviel mir bekannt ist, noch nie gegeben. Jeder Versuch in diese Richtung, von den Sklavenaufständen der Antike über die Bauernaufstände des Mittelalters bis zu den Arbeiteraufständen der industrialisierten Gesellschaft, ist früher oder später auf die blutige Repression von Seiten jener gestossen, die dadurch ihre Privilegien von Macht und Reichtum verlieren würden. Und dennoch ist es das, und nichts Geringeres, was wir wollen, und einzig darin sehen wir die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit für alle. Es ist das, und nichts Geringeres, es ist die Zerstörung des Prinzips von Autorität und Eigentum bis auf seine Grundfesten, was wir für Notwendig halten, um endlich in einer Gesellschaft zu leben, die keine Unterteilung in Herrschende und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Besitzende und Besitzlose mehr kennt – und, egal wie fern das scheinen mag, dieser Idee werden wir im Namen keines Realismus entsagen.

Wenn ich sagte, dass die Freiheit, im anarchistischen Sinne verstanden, noch nie und nirgendwo realisiert wurde, so bedeutet das nicht, dass der Geschmack von ihr den Menschen vorenthalten blieb. Im Gegenteil. Unzählige Menschen haben sie gekostet, in unzähligen individuellen und kollektiven Revolten, Insurrektionen und Revolutionen, die, von den Ursprüngen des Staates bis heute, unter diesem universellen Schrei nach Freiheit, die Geschichte der Menschheit durchpflügten. Und es sind diese Erfahrungen, die, durch Überlieferung und durch eigenes Erleben, unser Vorstellungsvermögen von dieser ganz anderen Möglichkeit anwachsen lassen. Darum ist die Vorstellbarkeit dieses völlig Anderen, dieses geradezu unrealistischen, das die Freiheit ist, in einer Welt, die ihr in allen Aspekten entgegenwirkt, unmittelbar an den Ausbruch und an die Revolte gebunden. Solange wir im Alltag der herrschenden Realität gefangen bleiben, können wir uns auch nichts anderes als diese Realität vorstellen, einschliesslich ihrer mehr oder weniger radikalen Modifikationen. Um Platz für die Vorstellung und Realisieren eines neuen Lebens in Freiheit zu finden, müssen darum die Institutionen zerstört und die Menschen bekämpft werden, welche diese Realität der Unterwerfung und Ausbeutung kreieren und reproduzieren.

Der oben genannte Vorwurf enthält, wenn ihr mich fragt, durchaus auch ein Stückchen Wahrheit. In der Tat ist das, was wir wollen, eben weil es jenseits des Horizonts dieser Realität liegt, eben weil es etwas ist, das innerhalb der gegenwärtigen Realität keinen Platz hat und nicht vorstellbar ist, etwas unrealistisches. Aber anstatt dies als Grund zu betrachten, um mein Verlangen nach Freiheit zu stutzen oder zu begraben, und für kleine Schritte zu kämpfen, will ich lieber den Irrealismus meiner Verlangen bekräftigen, und ohne Kompromisse für meinen Freiheitstraum kämpfen. Denn, wenn wir immer nur von dieser Realität ausgehen, von den uns umgebenden Bedingungen und den Bedürfnissen, die sie kreieren, werden wir nie über sie hinausgehen können und immer in ihr stecken bleiben.

Der Ausbruch ist notwendig

Sich in Form halten – Der Trott des Alltags ist eine sehr mächtige Waffe des Systems. Man krepiert bei der Arbeit, man krepiert beim Schlange Stehen vor den Behörden, man krepiert angesichts der Abwesenheit von wirklichen Beziehungen. Unser Gehirn verdirbt an Vorurteilen und falschen Werten wie Macht, Geld und Gehorsamkeit. Sich in Form halten, um fähig zu sein, diese Routine zu durchbrechen, seinen Geist trainieren, um selbst nachzudenken, bedeutet, die Feindseligkeiten gegen dieses System aufzunehmen, das uns gefangen hält.

Komplizen suchen – Niemand wird an unserer Stelle revoltieren, dies hängt gänzlich von uns selbst ab. Aber auf dem Weg der Revolte werden wir auch anderen Wütenden begegnen. Diese Komplizenschaften und diese Solidaritäten können immer breitere Angriffe gegen die Macht ermöglichen.

Die Gitterstäbe durchsägen – Die Macht hat Namen und Adressen: die Banken, die Supermärkte, die Institutionen, die Polizeiposten, die Warenlager; die Betreibungsbeamten, die Gefängniswärter, die Politiker, die Reichen, die Denunzianten; die Elektrotransformatoren, die ihre Todesfabriken versorgen, die Telekommunikationsantennen, die uns an die Technologie ketten. Das sind alles Ziele in Greifweite. Lasst uns nicht darauf warten, grosse Demonstrationen zu sehen, bevor wir unsere Wut entfesseln, lasst uns hier und jetzt angreifen, auch wenn wir wenige sind. Indem wir beginnen, die Gitterstäbe der Macht zu durchsägen, kann die Revolte bei anderen Rebellen auf Widerhall stossen und sich immer weiter ausbreiten.

Seine Flucht vorbereiten – Wenn die Macht nicht reformiert werden kann, wenn sie also von Grund auf zerstört werden muss, dann müssen unsere Waffen mit Freiheit geladen sein. Ohne zu wissen, wohin wir wollen, ohne über das Wieso nachzudenken, können wir nicht hoffen, aus der Welt des Geldes und der Autorität auszubrechen. Lasst uns die bösen Leidenschaften entfesseln, lasst uns keine Angst vor Ruinen haben, aber lasst uns auch wieder zu träumen beginnen. Denn demjenigen, der für seine Würde kämpft, für die Würde und die Freude, als freie Frauen und Männer zu leben, kann keine Macht standhalten.


Text eines Plakates auf den Mauern von Brüssel. Auch veröffentlicht in Hors Service, Nr. 36, Brüssel.

Wir sind keine Sklaven

Wir sind keine Sklaven, wir sind Dynamit. So titelte ein Plakat, das vor einigen Jahren auf die Mauern gekleistert wurde, um zwei Anarchisten zu verteidigen, die nach einem Banküberfall verhaftet wurden.

Eine bedrohliche Phrase für die Mächtigen, aber lasst uns gut nachdenken. Denn sie sollte nicht umgedreht werden. Wir sind nicht Dynamit, weil wir Sklaven sind. Wir sind Dynamit, weil wir keine Sklaven sein werden, weil wir keine Sklaven sein wollen. Zwischen diesen beiden Aussagen gibt es eine ganze Welt des Unterschieds; eine Welt, welche die Anarchisten von allen anderen Strömungen unterscheidet, die behaupten, revolutionär zu sein.

Es ist nicht unsere Lebensbedingung, die Tatsache, Proletarier oder Arbeiter, Armer oder Papierloser zu sein, die uns zu Rebellen werden lässt. Es ist nicht die Verschlechterung der Überlebensbedingungen, der wir heute beiwohnen, über die wir uns Illusionen zu machen brauchen, um zu denken, dass alles hochgehen wird, weil alles immer schlechter wird. Das sind nur süsse Illusionen, die man den Revolutionären dosiert auftischt, um sie einzuschläfern.

Die Macht kettet den Menschen an die Rolle, die sie ihm in der Gesellschaft aufzwingt. Sie kreiert und reproduziert unablässig die Bedingungen dieser Rolle, um zu verhindern, dass sich der Sklave seiner Ketten entledigt. Aber damit es einen Kampf bis auf den Tod zwischen der Macht und dem Sklaven geben kann, ist es zuerst notwendig, dass sich der Sklave entscheidet.

Der Wille, dies ist, was den Unterschied zwischen dem Sklaven und dem Rebellen ausmacht. Der Wille, dagegen anzugehen, nicht zu akzeptieren, nicht zu erdulden, sich mit allem zu konfrontieren, was danach strebt, dich zu unterwerfen, dich zum Sklaven zu machen. Der Wille ist das, was die Macht niemals unter ihren Gefangenen wird vollständig auslöschen können, er ist das, wovor sie sich permanent fürchtet. Denn der Wille beweist uns auch, dass wir nicht zu warten brauchen, dass wir hier und jetzt agieren können. Dass die Entschlossenheit und die Entscheidung, wie minoritär sie auch seien, die Trägheit der Masse und der bestehenden sozialen Beziehungen überwiegen.

Lasst uns keine Angst vor unserem eigenen Willen haben. Wenn wir wollen, werden wir Dynamit sein, und die Gebäude der Macht werden zusammenfallen.

Die Geschichte ist nicht eine Abfolge von Ereignissen, die von einem allmächtigen Gesetz erzeugt wird. Die Geschichte wird geschaffen und neu geschaffen durch die Willen, die agieren.


Publiziert in Hors Service, Nr. 34, Brüssel.  

Operation Asche

Brüssel, 22. Mai: Sie kamen am frühen Morgen, brachen in 3 Wohnungen ein und durchwühlten die Zimmer. Sie entwendeten persönliche Materialien und entführten die 11 anwesenden Personen, um sie nach einigen Belästigungen wieder gehen zu lassen. Für Gewöhnlich organisieren sie sich, um Leute auf der Strasse anzuhalten, sie auseinanderzunehmen und zu erniedrigen. Sie überwachen die Menschen, fordern als Schutzgeld ihre Unterwerfung und drohen ihnen damit, sie in ein Loch zu sperren, falls sie ihren Kodex nicht schlucken und sich ihm nicht anpassen. Falls sich ihnen jemand widersetzt, zögern sie auch nicht, zum Schlagstock oder zur Schusswaffe zu greifen, um durch die Verbreitung von Angst, durch Terror, wie man sagen könnte, zu kontrollieren und zu beherrschen. Man nennt sie auch „Hüter des Friedens“. Ja, wir sprechen von der Polizei. Die Personen, deren Wohnungen sie, im Namen der Operation „Asche“, durchsuchten, sind einige anarchistische Kameraden. Die Anklage: „terroristische Organisation“, „kriminelle Vereinigung“ und „Brandstiftung“. Einmal mehr wollen sie durch die Verdrehung der Worte weismachen, dass nicht sie, sondern diejenigen, die für die Freiheit kämpfen, es sind, die es zu fürchten gilt, die „terroristisch“ sind. Die Anarchisten in Belgien führen seit Jahren einen Kampf gegen die Gefängnisse und diese Welt, die sich immer mehr nach ihrem Abbild gestaltet, sowie spezifisch in den letzten Jahren gegen den Bau eines neuen Ausschaffungsgefängnisses für rebellierende Migranten. In diesem Kampf, begleitend zu den zahlreichen Meutereien, die in den letzten Jahren die belgischen Gefängnisse aufwühlten, und an der Seite von allen, die gegen ihre Unterdrückung und Ausbeutung rebellieren, haben sie stets hartnäckig ihre Ideen auf der Strasse verbreitet und die Sabotage und die direkte Aktion als Mittel der Befreiung verteidigt. Hunderte verstreute und meist anonyme Angriffe trafen in diesen letzten Jahren die Verantwortlichkeiten der Gefängniswelt, der Ausschaffungsmaschinerie und diverser Institutionen der Kontrolle und Unterdrückung. Um mit den Worten unserer Kameraden zu enden: « Angesichts dieser Anschuldigungen von Terrorismus und ihrer ganzen Ladung von Einschüchterungen und Schikanierungen gilt es nicht, den Ideen und Praktiken zu entsagen, die auf die Zerstörung von jeglicher Autorität abzielen, und auch nicht, auf die Freude zu verzichten, die dieser Kampf mit sich bringt. Lasst uns den Kampf für die Freiheit weiterführen, gegen diese tödliche Welt, die unterdrückt und ausbeutet. »

Demokratie (Teil 1)

Die Schweiz, das Land der Demokratie, der direkten, ja, der einzig wirklich direkten Demokratie. Wir alle wurden gezwungen, uns mit der Demokratie zu identifizieren, ihre Werte wurden uns reingewürgt bis zum geht-nicht-mehr und deshalb ist es an der Zeit, diesen höchsten aller Werte einmal gründlichst in den Dreck zu ziehen.

Das, was heute Demokratie genannt wird, lässt sich ungefähr so beschreiben: Alle Bürger eines Staates dürfen über bestimmte Angelegenheiten eines Staates entscheiden. Alle Bürger eines Staates (z.B. „die mündigen Schweizer“) können ihre Stimme abgeben zu gewissen Fragen wie der Staatsapparat genau herrschen soll, wer in ihm herrschen soll, et cetera. Die Mehrheit des Wählervolkes hat Recht, weil anscheinend die blosse Tatsache, dass mehr Leute für etwas sind, dieser Sache schon den Glanz der Richtigkeit verleiht. Die Wähler können natürlich nicht über alles abstimmen, zu grundlegende Dinge überlassen sie lieber irgendwelchen Berufspolitikern. Die Ausführung ihrer „Entscheidungen“ haben sie so oder so längst delegiert, was sie interessiert, ist eigentlich nur, ihren elenden Alltag bequem fortsetzen zu können. Für den Staat sind die Wahlen und ähnlicher Schwachsinn natürlich eine ganz praktische Sache, ungefähr wie bei einer Produktumfrage stellen sie sicher, dass die Wähler zufrieden sind, und wird daran abgemessen, wie weit man mit der Ausbeutung der Welt in Zukunft gehen kann. Demokratie ist heute der Name für das formelle Prozedere, zu der Scheisse, die hier läuft, auch noch die eigene Unterschrift zu geben, um weiter in Gleichgültigkeit dahinzuleben und sich niemals grundlegende Fragen zu stellen. Demokratisch nennt sich heute der Staat und diese Gesellschaft von Untertanen. Demokratie sei angeblich keine Unterdrückung, wird behauptet, und trotzdem sehen wir Staat, Ausbeutung, Armut, Gefängnisse, Überwachung und Polizei…

Wir scheissen auf die Demokratie!

Sobald wir das sagen, können wir sicher sein, dass sich irgendein Demokrat auf die Füsse getreten fühlt. Die kritischeren unter ihnen werden uns sagen: „klar, ihr habt ganz recht, zu sagen, dass der Staat schlecht ist. Aaaaber: das, was heute Demokratie genannt wird, ist gar keine, es ist eine Pseudo-Demokratie, es ist die Herrschaft einer Minderheit und nicht des ganzen Volkes, sie ist bestimmt vom Geld, was undemokratisch ist, und sowieso echte Demokratie wäre: bla, bla und bla…“

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: sie haben recht, das System unter dem wir Leben, Demokratie zu nennen, gleicht – angesichts dem demokratischen Ideal – einem schlechten Witz. Es ist effektiv so, dass im grossen und ganzen eine Minderheit von Parlamentariern herrscht, die zudem noch ihre Macht hauptsächlich erkauft hat, und es stimmt auch, dass die Macht des Parlaments ein blosses Spektakel ist und schlussendlich die Wirtschaft und die Unterschiede zwischen arm und reich völlig ausgeblendet werden.

Darüber, ob die Demokratie hier nun verwirklicht sei oder nicht, wollen wir uns aber gar nicht streiten – das überlassen wir gerne den Demokraten, die dieses Land en masse bewohnen; wir wollen hier nur zeigen, wie die Idee der Demokratie, und sei sie direkt und „nicht-parlamentarisch“, der Freiheit entgegengestellt ist, und dass sie, wie das alle Systeme tun, einen immensen Schaden an der Realität ausübt, der sie aufgedrückt wird. Wir selbst haben kein Interesse daran, irgendeine Form von Demokratie zu verwirklichen, wir betrachten sie hier nur etwas genauer, weil sie des Öfteren Verwirrung stiftet; teils so stark, dass einige gar glauben, sie wäre ein Werkzeug zur Befreiung…

Das Volk herrscht…

Um demokratisch zu sein, muss erstmal eine Einheit definiert werden, die entscheidet. Genaugenommen müsste es „das Volk“ (griechisch: demos) sein (obwohl dieser Begriff alles andere als genau ist…), dass dann das Monopol zur Entscheidungsfindung bekommt. Um demokratisch zu sein, muss dieses Volk also zuerst mal den Willen haben, eine gemeinsame Entscheidung zu finden. Und hier ist es, wo die Demokratie herrscht, wo mit aller Autorität ein Volk produziert wird, wo alles integriert werden, jeder Widerspruch neutralisiert werden muss. Und dies trifft auch auf die radikalsten Demokraten zu – die sogar den parlamentarischen Staat kritisieren – nur, um das wesentliche des Status quo aufrecht zu erhalten; die verhindern wollen, dass irgendwo ein Konflikt auftaucht, der nicht gelöst, sondern nur gelebt werden kann, die den „Frieden“ aufrecht erhalten wollen, die Einheit, oder sie erst erreichen wollen; die nicht akzeptieren können, dass das Leben in Freiheit sich in verschiedenste Richtungen entwickelt und dass dies zu Widersprüchen führt; die nicht kapieren, dass das Leben in Kasten zu stecken, zu kontrollieren und zu halten, genau das ist, was das Problem ist.

Das Volk kann nun, ist es erst mal (re-)produziert, Entscheidungen finden, die es, bzw. das Exekutivorgan, dann durchsetzt. Diese Entscheidungen kann es auf verschiedene Arten finden, per Mehrheitsabstimmung, Zermürbungs-Diskussion bis zum absoluten Konsens oder sonstwie. Wie auch immer, in jeder demokratischen Form, auch in der „nicht-staatlichen“, muss sich eine Art Mini-Parlament entwickeln, das die Entscheidung verkündet und (re-)präsentiert. Eine Entscheidung, die sogar als permanenter verfassungsgebender Akt der Volks-Vollversammlung gedacht werden könnte, trotz allem müsste aber jede Abweichung von ihr denunziert und sanktioniert werden; ansonsten wäre „die Souveränität des Volkes“ nicht gegeben. Jedes Individuum und jede Gruppe aber, die selber eine Entscheidung trifft (die alle betrifft), sie selbstorganisiert ausführt und nicht auf eine Mehrheit (oder gar auf alle) abstützt, muss, streng demokratisch gedacht, auf die eine oder andere Weise neutralisiert werden, sei dies mit Gewalt, oder diffuser, psychologisch oder durch Integration.

Die jeweilige Einheit kann natürlich von Konflikten zerrissen sein und ist das heute auch offensichtlicher denn je, man betrachte z.B. nur einmal die komplett gegensätzlichen Interessen, die ein Bonze und ein Sozialhilfebezüger nur schon wegen ihrer finanziellen Situation haben müssen. All das wird in der Demokratie komplett ausgeblendet. Die demokratische Einheit – das Volk – ist schlichtweg Vereinheitlichung. Sie ist keine Vereinigung von Individuen um ihrer selbst Willen, sondern eine erzwungene Einheit, die etwas über den vereinigten Individuen ist und jede individuelle, unkontrollierte Initiative auslöscht. Wir aber wollen von den wirklich Handelnden ausgehen (und vor allem mit der heutigen Passivität brechen) und sagen deshalb, dass jede reale Vereinigung nur im Sich-vereinen der Individuen existiert, und ansonsten nur ein Herrschaftsverhältniss werden kann (die Einheit (Volk, Organisation) wird aufrechterhalten von einigen Leuten, die die anderen in diese Einheit integrieren, was heisst: einsperren, einzwängen, darin festhalten).

…und die Bürger

Was produziert werden muss, um eine Demokratie überhaupt am Laufen zu haben, ist ein braver (schweizer) Bürger. Er muss jede Entscheidung, jeden Kompromiss der demokratisch legitimiert wird, also gesetzeskräftig ist, akzeptieren. Er kann zwar gegen eine Entscheidung protestieren, da er sie z.B. als eine Privatsache ansieht, um darauf aufmerksam zu machen, dass es ein Problem gibt, das es zu lösen gilt; er kann einen Verein gründen, Politiker werden oder einer Partei beitreten; grundlegend darf er allerdings nichts daran ändern, dass über sein Leben entschieden wird, er sich zwar an dieser Entscheidung beteiligen kann und vor allem soll, er sich dieser dann aber zu fügen hat.

Eine öffentliche Versammlung (getrennt von allem, was zur Privatsache gemacht wird, was „nichts in der Öffentlichkeit verloren hat“) von solchen Bürgern soll also im Himmel der direktesten Demokratie herrschen, über alle, die keine Bürger sind, über alle in ihrer Andersheit. Denn, wie die Zivilisiertheit der Bürger dadurch zustande kommt, dass sie die unzivilisierten Teile ihrer Persönlichkeit verdrängen, so kommt die demokratische Ordnung dadurch zustande, dass die Konflikte verdrängt werden, dass alle zu Bürgern und einem „Teil des Volkes“ gemacht werden müssen, oder von jeder Entscheidung ausgeschlossen werden, als Pöbel, der nichts zu sagen hat, der in den Knast gesteckt werden muss, der beim grossen demokratischen Zirkus nicht mitmachen darf, ausser er zivilisiert sich, was natürlich jeder tun sollte. Jeder darf und soll nämlich bei der Demokratie mitmachen. Die radikaleren Demokraten beklagen sich darüber, dass noch nicht alle mitmachen können, bei der Verwaltung der Welt. Wir beklagen uns aber über diese ganze Demokratie und wissen, dass nur die unkontrollierte, individuelle Initiative und die freie Vereinigung und Spaltung uns davon befreien kann.


(Fortsetzung folgt)  

Unruhenachrichten

Kollaboration heisst Verantwortung tragen

Wer mit einem Projekt der Unterdrückung kollaboriert, muss auch die Verantwortung dafür tragen. Ein Gedanke, der vielleicht auch dem Besitzer eines Autos der Firma „Eberhard“ durch den Kopf ging, das mit plattgestochenen Pneus und mit Farbe beschrieben in Zürich Wiedikon gesehen wurde. Wie jedem bekannt ist, der die Baustelle des künftigen Polizei- und Justizzentrums (PJZ) im Auge hat, kümmert sich Eberhard um den Abriss des alten Güterbahnhofs, der in diesen Tagen begann. Im nächsten Jahr wird dann mit dem Bau dieses neuen Gefängnissees und dieser modernen Polizeihochburg begonnen. Insofern alles störungsfrei verläuft…

Erster Mai

Am Abend des Tags der Arbeit wurden in Lugano auch die Arbeiter in Uniform gefeiert, zuerst, indem eine Gruppe von Jugendlichen auf sie Feuerwerkskörper auf Körperhöhe abfeuerte, dann, indem sie Steine und Verkehrsschilder auf sie warfen. Glückwunsch!

Von Melilla nach Zürich

Ein 6 Meter hoher, mit Stacheldraht, Kameras und bewaffneten Ordnungskräften abgesicherter, doppelter Zaun verläuft entlang der Grenze der Spanischen Enklaven Ceuta und Melilla bei Marokko, der einzigen Festlandgrenze zwischen Europa und Afrika. Seit März häufen sich die selbstorganisierten Massenanstürme von Migranten auf diesen Grenzzaun wieder, bei denen seit Jahren immer wieder dutzende wie Kaninchen niedergeschossen werden. Alleine im Mai wurde der Zaun zwei Mal von ungefähr 150 Personen in Ansturm genommen, in der Hoffnung, auf der anderen Seite ein etwas weniger erbärmliches Leben zu finden.

Eine Hoffnung, die nur allzu schnell enttäuscht werden wird, denn, wenn es nicht monatelange Haft und eine erneute Ausschaffung ist, die sie hier erwartet, so ist es dire Ausbeutung unter niedrigsten Bedingungen. Etwas, das gewiss auch jene 5 Immigranten festgestellt haben, die Mitte Mai im „Empfangszentrum“ von Bellinzona rebellierten, wo sie gefangen gehalten wurden. Wer alles zurückgelassen hat, hat oft nichts mehr zu verlieren, ausser die eigene Würde… aber diese verteidigen sie mit aller Entschlossenheit. Durch das Zerstören von Scheiben und aus dem Fenster Werfen von Mobiliar fügten sie diesem niederträchtigen Ort, in dem sie eingepfercht gehalten wurden, so viel Schaden zu, dass er gänzlich geschlossen werden musste. 4 Polizeipatrouillen waren nötig, um ihre Rebellion zu bändigen.

Um eben solche Migranten zu brechen, die ihre Würde zu verteidigen wissen und rebellieren, wird diesen Sommer in Zürich mit dem Bau eines Bundesverfahrenszentrums begonnen, eine riesige Haftanstalt für Migranten, mit 400-500 Plätzen und besonderen Bedingungen für die Aufsässigen unter ihnen. Das Duttweiler-Areal, wo dies gebaut werden soll, wurde Mitte Mai von einigen dutzend Personen für drei Tage besetzt, um gegen diesen Bau zu protestieren. Lasst uns dazu beitragen, dass es nicht bei dieser symbolischen Aktion bleibt; lasst uns unsere Solidarität mit der Rebellion der Migranten zeigen, indem wir diesem Bau, sowie der ganzen Migrationsverwaltung und Ausschaffungsmaschinerie, mit unserer Revolte und direkten Aktion Steine ins Getriebe werfen.

„Tanz dich Frei“

So lautete das Motto eines 10‘000 Teilnehmer grossen illegalen Festes, das durch die Strassen von Bern zog und zu 70 zerbrochenen Schaufensterscheiben, 20 verletzten Polizisten, Plünderungen und Konfrontationen mit den Ordnungskräften bis in die Morgenstunden führte. Nun, ein Motto, das offenbar nicht alle gleich interpretierten. Denn, wie kann man frei sein, neben einem Bullen, der das Recht hat, einen zu verhaften und einzusperren, wenn man sich nicht nach seinem Geschmack verhält? Wie kann man frei sein, in einer Stadt, in der Schaufensterscheiben einem vorenthalten, was andere im Überfluss haben, während man täglich seine Arbeitskraft ausbeuten lassen muss und sich trotzdem nichts leisten kann? Wie kann man frei sein, in einer Stadt, die mit ihren weissen Wänden, patrouillierenden Polizisten, Überwachungskameras und bürgerlichen Geschäftern und Menschen nichts als den Willen nach Kontrolle und Anpassung ausdrückt? „Tanz dich frei“ haben scheinbar an diesem Abend einige sehr treffend interpretiert. Denn, um frei zu sein, müssen wir angreiffen und zerstören, was diese Freiheit unterdrückt. Darum lasst uns tanzen, und tanzen… bis das alles verschwunden ist.

Mit dem Essen spielt man nicht

Aus einem Communiqué: « Die Firma Monsanto bekleidet eine Schlüsselposition im Aufkauf von Nahrungsmitteln und Samen. Ihre Aktionäre bereichern sich gleich neben uns, in aller Ruhe, dank der Arbeit ihrer treuen Angestellten, die daran arbeiten, unsere Welt auszuhungern und zu zerstören.

Am Montag, 15. April, eröffnete in Lausanne der internationale Gipfel des Rohstoffhandels. An diesem Tag, nachdem sie wieder einmal einen Tag damit verbrachten, mit dem Essen zu spielen, wurde den Angestellten der Monsanto Filiale in der Stadt Morges ihr Ausgang entzogen, indem die Pneus all ihrer Autos plattgestochen wurden. »

7 Tage Revolte

Wieder eine Wutexplosion. 7 Tage der Revolte. Nach den Banlieues von Frankreich, den Vierteln von Griechenland, den Ghettos von England, sind es nun die Vorstädte von Schweden, die infolge eines x-ten polizeilichen Mordes entflammten. Wie immer war es nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die jungen Wütenden steckten während mehr als einer Woche Autos in Brand und griffen, verstreut und in kleinen Gruppen, alles an, was sie in ihrem Alltag unterdrückt: Beamte, Patrouillen und Gebäude der Polizei, Schulen, Einkaufszentren, usw.

Die Revoltierenden sind vor allem Migranten, Arme, Bewohner der Blocksiedlungen am Rande der Stadt. Ohne Zukunft und ohne Illusionen, angewidert von der Welt, die sie umgibt, scheinen sie in der Zerstörung die einzige und, in der Tat, treffendste Sprache zu finden, um ihre Wut zu artikulieren. Entwurzelt und entfremdet, ist es vor allem eine Negation dieser Welt, die sich ausdrückt, einer Welt, die sie zu Ausgeschlossenen verdammt. Nun, die Tatsache, dass sich die revolutionäre Frage in den letzten Jahrzehnten aus dem sozialen Panorama zurückzog, bedeutet offensichtlich nicht, dass die Unterdrückung und die Wut, die sie provoziert, ebenfalls verschwinden. Ganz im Gegenteil. Und so können wir sicher sein, dass wir in Zukunft noch vielen solchen Wutexplosionen begegnen werden. Die Frage ist, wie sie darüber hinauswachsen und in Richtung einer tiefgreifenden sozialen Umwälzung gehen können. Und wie wir dazu beitragen können…

Ausgabe 8

Die revolutionäre Frage 

Die revolutionäre Frage, im anarchistischen Sinne verstanden, das heisst, die Frage des menschlichen Emanzipationskampfes in Richtung Freiheit, ist im Verlaufe der Geschichte der Menschheit schon immer eine Konstante gewesen. In jedem Zeitalter und in jeder Gesellschaft gab es schon immer Individuen, die, alleine oder mit anderen, gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung und Herrschaft kämpften. Wenn dieser Kampf schon immer eine Konstante in der Geschichte gewesen ist, so waren es jedoch nicht die Formen, die Inhalte und die Bestrebungen, die er annahm. Dies aus dem schlichten Grund, dass die Unterdrückungsformen, die die Herrschaft annahm, obwohl auch sie schon immer eine Konstante gewesen ist, nie dieselben waren.

Die Beispiele können hunderte, wenn nicht tausende sein, und wir werden hier nur einige der bedeutenderen und bekannteren zitieren.

Schon in der Antike, zur Zeit der Römischen Republik, gab es Revolten von Sklaven und Bauern, die sich, trotz ihrer unterschiedlichen sozialen Bedingungen, auf dem gemeinsamen Terrain des Elends, der Ausbeutung und des Verlangens nach Freiheit zusammenfanden und gegen die römische Republik in Aufstand traten, mit dem Ziel, sie zu zerstören. Diese Revolten nahmen die Form von bewaffneten Insurrektionen an, welche die Existenz selbst der Republik gefährdeten, da die Bestrebungen dieser Individuen mit jenen der römischen Herrschaft unvereinbar waren.

Im Mittelalter nahmen die Freiheitsbestrebungen oft religiöse Formen an. Man sah die ketzerischen Bewegungen und die Rebellionen der Millenaristen im Mittelalter des katholischen Absolutismus, wobei, im Namen eben der Prinzipien der christlichen Religion, die religiöse Macht der Kirche und die feudale Macht der Herren angegriffen wurden, während man die Ländereien entflammte und unabhängige Gemeinschaften kreierte, die auf Prinzipien von Gleichheit und Teilen basierten.

Im Kolonialzeitalter, während dem Sklavenhandel, gab es nicht selten Fälle, in denen sich schwarze Sklaven entschieden, sich mittels bewaffneter Insurrektionen gegen ihre Schinder und gegen die Kolonialmächte aufzulehnen, um der eigenen Ausbeutung ein Ende zu setzen und ihre Freiheit zu erobern.

Auch der Beginn der industriellen Revolution war kein schmerzloser Übergang in der Geschichte des menschlichen „Fortschritts“. In den Ländern, die als „fortgeschrittener“ betrachtet wurden, wie beispielsweise in England, werden die Aufstände gegen die neuen Maschinerien und die Brandstiftung der Industrien durch die ersten Fabrikarbeiter (Ludditen genannt) zu einem verbreiteten Phänomen und zu einer Gefahr für die Entwicklung selbst der Industrie. So sehr, dass die Staaten auf die bewaffneten Kräfte zurückgreifen mussten, um diese Aufstände im Blut zu ersticken. Diese Menschen revoltierten gegen die neue Arbeitsbedingung, die von den Maschinen geschaffen wurde, und gegen den damit zusammenhängenden Autonomieverlust, der während der industriellen Revolution von der Fabrikarbeit und vom Leben in den Metropolen verursacht wurde, während sie die neuen Bedingungen der industriellen Ausbeutung zurückwiesen. Diese Revolte, die auch unsere Breitengrade erreichte, gipfelte in der Schweiz in den Ereignissen von Uster (siehe Artikel „Der Brand von Uster“).

Das Entstehen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, ein Entstehen, das, wie wir gerade gesehen haben, eine schmerzhafte Geburt war, und die falsche Zentralität, die ihr von einem Teil der Revolutionäre (besonders von den Marxisten, aber auch von verschiedenen Anarchisten) zugeschrieben wurde, hat die revolutionäre Frage auf radikale Weise verändert. Wenn es vorher um einen Kampf gegen die Gesellschaft der Unterdrückung und für die Freiheit von allen ging, hat sie sich nun für viele fast ausschliesslich in einen Kampf für eine neue Verwaltung der Produktionsmittel von Seiten der Produzierenden selbst verwandelt. Es geht nicht mehr darum, sich eine andere Welt vorzustellen, sondern darum, die Verwaltung der Produktion der bestehenden Welt zu ersetzen, indem man von jener der Bosse zu jener der Produzierenden übergeht. Die russische Revolution in ihren Anfängen und die spanische Revolution sind eine Repräsentation dieser Bestrebungen nach einer Änderung der Verwaltung: die erste durch die Erschaffung der Sovjets, Versammlungen von Arbeitern und Bauern, die die Produktion und den Konsum der Gesellschaft verwalten sollten, die nach der Machtergreifung der Bolschewisten schnell zu Organen der Parteidiktatur degenerierten; und die zweite durch die Kollektivierung von Eigentum und Produktionsmitteln, die von den Anarchisten auf dem Land und in den Städten vorangetragen wurde. Ohne der Wichtigkeit dieser historischen Erfahrungen irgendetwas abzusprechen, sind wir nicht damit einverstanden, die Frage des Kampfes für die Freiheit auf die blosse Frage der Kontrolle der Produktionsmittel zu reduzieren: wenn wir damit einverstanden sind, dass wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der die Mittel von den Reichen und Mächtigen verwaltet werden, dann heisst das nicht, dass die Produktionsmittel an sich nicht infrage gestellt werden dürfen. Schliesslich befinden wir uns in einer Gesellschaft, deren Strukturen, deren Produktionsmittel, und, kurz gesagt, deren ganze soziale Organisation das Ergebnis von Jahrhunderten der Unterdrückung und der Herrschaft sind, eine Herrschaft, die man nicht einfach mit einem Schwammstrich wegwischen kann, wenn diese einmal von den Produzierenden kontrolliert werden. In einfachen Worten: diese Produktionsmittel können nicht als neutral, und somit nicht als automatisch der Freiheit der Menschen dienlich betrachtet werden, wenn sie in die Hände der Produzierenden fallen. Die Frage, die wir uns, unserer Meinung nach, stellen müssen, lautet: Was ist möglich, für die Ziele der Emanzipation und der Freiheit der Menschen zu benutzen und aufrechtzuerhalten, und was hingegen kann nur Herrschaftsmechanismen reproduzieren? Unserer Ansicht nach kann, wenn wir in einer freien Gesellschaft leben wollen, wenig oder nichts von dieser Gesellschaft bewahrt werden.

Dieser Widerspruch, der Widerspruch zwischen den Vorschlägen vieler Revolutionäre, die Verwaltung der Gesellschaft zu ändern, und der Realität einer Gesellschaft, die für viele Individuen schlichtwegs untragbar ist, wird heute in den Revolten und Wutexplosionen offensichtlich, die in der post-industriellen Welt immer geläufiger zu werden scheinen. Von den flammenden Wochen der französischen Banlieus zu den Unruhen von London, von den spontanen Revolten in Zürich der vergangenen Jahre zu den Wutexplosionen dieses Sommers in Schweden. Der gemeinsame Faden dieser Revolten ist eine gewisse Irrationalität, die Tatsache, dass sie fast immer von unvorhersehbaren und emotionalen Gründen ausgehen (oft von Morden von Seiten der Polizei), und dass sie, jenseits der Wut und des Angriffs auf einige unterdrückerische Strukturen (was wir immer wertschätzen können), an sich nichts vorzuschlagen und nichts zu fordern haben. Obwohl diese Charakteristiken diese Revolten interessant machen, weil sie von der Macht und ihren Dienern nicht wieder eingegliedert werden können, ist dieser quasi rein negative (im Sinne einer Negierung der heutigen Gesellschaft) und nihilistische Charakter sicher eine der grossen Grenzen dieser Momente, die es schwierig machen, darin einen möglichen qualitativen Sprung in Richtung von etwas potenziell anderem, in Richtung von anderen Horizonten als das Bestehende zu sehen.

Die Negierung der heutigen Gesellschaft ist gewiss ein unumgänglicher Übergang auf dem Weg der Freiheit, eine Negierung, die nur durch die Zerstörung der Welt der Autorität geschehen kann, aber, wenn, wie ein alter anarchistischer Revolutionär sagte, „auch die Zerstörung eine erschaffende Leidenschaft ist“, dann wird es notwendig, dass sich Perspektiven und Horizonte mit ihr vereinen, wonach es zu streben gilt, um darüber hinaus gehen zu können, um die Türen zur neuen Welt der Freiheit aufzustossen. Dies ist, wofür wir Anarchisten kämpfen, und dafür werden wir immer an Seite von jenen stehen, die gegen diese Welt der Unterdrückung revoltieren.

Der Brand von Uster

Die Geschichte eines Aufstands 

Geschichte ist eine harte Nuss. Härter noch als die Gegenwart. Es ist nicht nur schwierig, ihr einen Platz und eine Bedeutung in unserem alltäglichen Leben einzuräumen oder so etwas wie Auslöser und Ursache bestimmter Geschehnisse oder bestimmter Ideen und Taten von Menschen zu definieren. Im Gegensatz zum Jetzt kommt noch dazu, dass man oft auf die Informationen und Überlieferungen irgendwelcher mehr oder weniger zuverlässigen Geschichtsschreiber zurückgreifen muss, die nur allzu oft im Dienste der einen oder anderen Autorität stehen. Die Tatsache, dass man in Schulbüchern und klassischen Werken von Historikern wenig bis nichts über Aufstände und Revolten findet, die nicht unter irgendeiner Parteifahne oder Organisation gelebt wurden, kann nichts als eine Bestätigung der heutigen Welt sein, die sämtliche selbstorganisierte und den Konflikt offen angehende Taten entweder als lächerlich oder kriminell verschreit. In diesem Sinne soll auch gesagt sein, dass ich niemals beabsichtige, und auch nicht daran interessiert bin, irgendwelche Geschehnisse der Geschichte oder der Gegenwart zu verherrlichen. Zum einen, weil dies eine passive, konsumierende und unkritische Haltung anpreisen würde, zum anderen, weil ich finde, dass alles, was um uns herum passiert, oder passiert ist, immer nur als eine Inspiration für eigenes Handeln aufgrund individueller Ideen dienen sollte. Womit wir wieder beim Beginn angekommen sind. Und somit bei der Frage nach Auslöser und Ursache gewisser Handlungen, wie man sie in den letzten Jahren, ganz konkret auch bei Aufständen in europäischen und andersweitigen Städten und Vierteln, schon so oft zu hören bekommen hat. Niemand wird dir erzählen können, was genau die Ursache dafür war. Am Wenigsten die Zeitungen und ihre sensationssüchtigen Aasgeier. Rein kollektive Symptome gibt es meiner Meinung nach nicht. Der Aufstand war damals und ist heute noch genauso eine Antwort, ein Mittel, um gegen spezifische Projekte und allgemeine, uns erdrückende, der Selbstbestimmung entraubende Zustände zu rebellieren. Es gilt also, sich umzusehen, mit offenen Augen und bepackt mit den eigenen Ideen, dem eigenen Wissen und den eigenen Erfahrungen, und zu sehen, wo die Wiedererkennung in den Handlungen von anderen Parallelen schlägt und wo nicht.

Und nun lasst uns in der Zeit zurückgehen, bis

irgendwann zu Beginn des 19. Jahrhunderts,

irgendwo in Europa…

…und mitten in eine äusserst unruhige Epoche.

Viele und grosse Veränderungen waren im Anmarsch, man konnte es riechen, fühlen in der Luft und sogar sehen in den Augen der Menschen. Schon vor vielen Jahren hatte man die ersten Gerüchte vernommen. Es wurde über grosse und schnelle, durch Wasserkraft angetriebene Maschinen gesprochen, welche die vergleichsweise langsame und quantitativ weniger ertragreiche Hand- und Heimarbeit ersetzen soll. Und man hörte von Orten, die sie Fabriken nannten, wo all jene Maschinen in Reih und Glied standen und Menschen hingehen mussten, um das Einzige zu verkaufen, woran die Bosse dieser Fabriken interessiert waren: ihre Körper und deren Möglichkeit, Arbeit zu leisten, so viel und so lange, wie man es ihnen befahl. Die Gerüchte blieben nicht ohne Wirkung. Die bürgerliche Klasse, also diejenigen, die am oberen Ende der sozialen Leiter standen oder über Geld und Mittel verfügten, denen aber durch das Fehlen von blauem Blut in den Adern der Zugang zu Regierungsmacht und dadurch auch zu wirklichem Einfluss auf politischer Ebene entsagt wurde, sahen plötzlich neue und rosige Zeiten auf sich zukommen. Durch die Veränderungen auf ökonomischer aber auch gesellschaftlicher Ebene rochen sie die Chance, die damalige Elite und deren Regeln durch sich und ihre eigenen, (wirtschaftlich-)liberalen Ideale auszutauschen.

Am anderen Ende der Leiter war Angst und Wut zu sehen. Jene Leute, die ihr Leben bisher als Bauern oder Heimarbeiter geführt und, so gut oder schlecht, wie es halt ging, für sich selbst gesorgt hatten, betrachteten die aufkommenden Veränderungen, zu Recht, mit Misstrauen. Ihr Zuhause, ihre gewisse Unabhängigkeit, das Umsetzen und Handhaben von eigenen Kenntnissen, kurz, das Leben, das sie sich bis zu jenem Punkt aufgebaut hatten, stand auf dem Spiel. Alles würde man ihnen entreissen, und ihnen statt dessen ein Dasein als Arbeiter, namenlos und wertlos, an einem dunklen und stinkenden Ort auftischen.

Aber, wie schon gesagt, die Zeiten waren unruhig. Und trotz des Elends, der Entbehrung und der blutigen Spur, die das Aufkommen des Kapitalismus durch die Leben von Millionen von Menschen zog, sind sich an eben so vielen Orten der Welt viele unter ihnen ihrer eigenen Kraft und der Möglichkeit, sich zu widersetzen, bewusst geworden. Zerknitterte Flügel entfalteten sich…

Während sich die Industrie in anderen Ländern Europa‘s schon gegen Ende des 18. Jh. einen festen Platz in Land und Leben der verschiedenen Gesellschaften zu erobern begann und gleichzeitig viele Menschen von der Erfahrung der Revolte und des Aufstands dagegen geprägt wurden, vollzog sich das Ganze in der kleinen Schweiz ein bisschen langsamer. Aber verschont blieb sie natürlich nicht davon und schlussendlich wurden auch die Leute hier von der grossen Welle eingeholt. Diese Zeit, das Jahr 1832, um genau zu sein, lieferte den Nährboden für eine der grösseren gekannten Revolten gegen den einmarschierenden Kapitalismus in der Schweiz.

Wir setzen Fuss auf den dazumals noch grünen Hügeln rund um Uster, ein Städtchen ausserhalb von Zürich. In dieser Umgebung lebten viele vom Weben und Verkaufen von Stoffen. Aber diese Region im Osten des Landes war auch reichlich von Flüssen und anderen Gewässern durchzogen, und dadurch ein anziehender Ort für die Fabrikanten. Einer von diesen, das Geschäft der Ausbeutung betreibenden Herren war Corrodi. Er hatte dort am Kanal, unterhalb vom Wald von Uster gelegen, zusammen mit einem anderen Mann namens Pfister eine Weberei-Fabrik gebaut, mit Schmiede und Scheune nebenan. Die Hand- und Heimarbeiter der Umgebung wussten nur zu gut, welche Konsequenzen die Anwesenheit und das Bestehen dieser Männer und ihrer Maschinen auf ihre Leben haben würde. Also entschieden sie sich, zusammenzukommen und eine Lösung für das Problem zu suchen. Inzwischen hatte sich der November bereits ins Land geschlichen. Am 22. des Monats wurde im Zentrum von Uster getanzt und gefeiert. Man gedachte dem Tag zwei Jahre zuvor, als die konservative Regierung (unter der Verwaltung der Stadt Zürich), mit Hilfe des massenhaften Auftretens von Kleinfabrikanten und Heimarbeitern der Umgebung, in einen neuen liberalen Grossrat verwandelt wurde. Teil der Abmachung mit den liberalen Bürgerlichen war, dass die neue Führung im Gegenzug dafür sorgen würde, dass ein Verbot für Webmaschinen ausgesprochen wird. Was natürlich nie passierte, und dazu führte, dass viele, die es bis dahin noch nicht begriffen hatten, spätestens dann etwas wichtiges lernten: nämlich, dass man Politikern nicht vertrauen sollte und vor allem, dass man sie auch nicht nötig hat. Dass man die Dinge besser selber in die Hand nimmt.

So begaben sich an jenem besagten Tag viele bereits früh Morgens durch den Wald zum Kanal, wo die neue Fabrik stand. Sie taten das in Gruppen von 10, 20 Leuten. Die Besitzer hatten anscheinend Wind davon bekommen und standen dort bereits, zusammen mit drei Mitgliedern des Regierungsrates, um die Fabrik zu bewachen. Mehrere Männer riefen ihnen zu, dass die Maschinen ihnen nur Unglück brächten und daher kaputt gemacht werden müssen. Die Politiker versuchten, zu diskutieren, und wiesen sie auf den gesetzlichen Weg der Petition hin. Aber diese aufgebrachten Menschen waren nicht gekommen, um zu diskutieren. „Petitionen? Petitionen sind nutzlos. Wir werden dafür sorgen, dass die Webmaschinen nicht Fuss fassen! Wenn die Regierung nicht helfen will, muss man sich eben selber helfen. Und auch wenn ihr von der Regierung wäret, wir würden euch nichts fragen. Wir sind Meister und die Maschinen müssen weg!“ Die Menge wuchs beständig an. „Das Fest in Uster?“, rief ein Anderer, „Das werden wir nicht stören. Es kümmert uns nicht, was dort vorgeht. Hier ist es, wo Hand angelegt werden muss!“ In diesem Moment kam eine neue kleine Gruppe angelaufen. 6-8 Männer, pfeifend und jauchzend, mit Bündeln von Reis und Stroh über den Schultern, und hinter ihnen noch eine weitere, grössere Gruppe. „Hiermit muss die Fabrik verbrannt werden!“, riefen sie. Es herrschte allgemeine Freude und Ausgelassenheit. Und schon warf jemand aus der Menge einen Stein durch ein Fenster im Hauptgebäude der Fabrik. Einer der Bewacher versuchte, den Täter noch aufzuhalten, aber das Signal war bereits gegeben. Alles, was den Leuten gerade in die Finger kam, wurde als Wurfgeschoss benutzt. Ein älterer Mann viel dadurch auf, dass er mit besonders viel Herzblut und Raserei seine Zerstörungswut herausliess. Als nun Fierz, einer der Politiker, auf ihn einzureden versuchte, darauf hinweisend, dass er damit sich und seinen Haushalt ins Unglück stürze, und dass man von einem Mann in seinem Alter doch Ruhe und Besinnung erwarten sollte, antwortete er: „Ich weiss, was ich hier tue. Ich bin jetzt 51 Jahre alt und habe Frau und Kind, und zerstört und verbrannt muss diese Fabrik sein. Und wenn es nicht passiert, solange ihr hier seid, so muss es doch geschehen. Wir können länger warten als ihr!“ Ein anderer kam mit einem Stück Holz angerannt und drohte dem Politiker damit, ihn niederzuschlagen, falls er die Leute an ihrem Tun zu hindern versuche. Das Einwerfen der Fenster war noch nicht vorbei, als bereits mehrere Leute anfingen, Stroh- und Reisbündel durch die kaputten Scheiben hineinzuschieben und anzuzünden. Und als das mitgebrachte Brennmaterial ausging, holte man sich Nachschub aus der Scheune des Eigentümers. Die Bewacher eilten von der einen Seite zur anderen und versuchten, die endgültige Zerstörung der Fabrik zu verhindern. Aber die Stärke war auf Seiten der Aufständischen. Dieser Moment schien für einige gelegen, um den Herren Politikern und Besitzern einmal gehörig auf die Nase zu klopfen. Wenig später brachen schon die ersten Flammen aus den beiden Seitenfenstern des Gebäudes. Viele waren durch die kaputtgeschlagenen Fenster und Türen ins Innere der Fabrik eingedrungen und beschäftigten sich nun damit, die Maschinen teils zu zerstören und teils in den Fluss zu werfen. Andere brachen in die Schmiedewerkstatt ein, holten sich dort glühende Eisenstangen heraus und verteilten damit das Feuer in allen Teilen der Fabrik. Bald brachen die Flammen an vielen Punkten zugleich heraus. Die Tat war vollbracht.

Demokratie (Teil 2)

Im ersten Teil dieses Artikels wurde versucht, aufzuzeigen, wieso wir, als Anarchisten, auch wenn man die heutige Demokratie zu Recht dafür anklagen kann, keine „echte“ Demokratie zu sein (wie das viele soziale Bewegungen tun), sie nicht verbessern wollen, sondern die Idee der Demokratie als solche ablehnen. Es wurde aufgezeigt, wie die Demokratie auf Biegen und Brechen eine Einheit, ein „Volk“ produziert, indem sie die Widersprüche neutralisiert, unterdrückt und unter die Oberfläche verschiebt; wie selbst eine „nicht-staatliche“ Form der Demokratie (für viele das Bild einer freien Gesellschaft) zwangsläufig zu Organen führt, die Entscheidungen aufzwängen, die Herrschaft ausüben; und im Allgemeinen, wie die Produktion des braven, akzeptierenden und den Spielregeln folgenden Bürgers die Grundlage jedes demokratischen Systems bildet. In diesem zweiten Teil soll das demokratische Ideal und seine Funktion etwas genauer betrachtet werden.

Perfektionierung des Bestehenden

Schauen wir uns an, was normalerweise dabei herauskommt, wenn angestrebt wird, eine direkte, „echte Demokratie“ zu praktizieren. Beispiele solcher Bestrebungen gibt es genug, der Slogan „wir sind die 99%“ wird wohl einigen hängengeblieben sein und drückt den demokratischen Gedanken der Mehrheit auch bestens aus. Diese imaginierte Mehrheit, die sich darüber empört, das ihnen der Kapitalismus nicht fair genug ist. Sie wollen das System nicht zerstören, ja, sie betonen immer und überall ihre Friedlichkeit; d.h. ihre komplette Angepasstheit an die herrschenden Normen. Das reibungslose Funktionieren des ökonomischen Getriebes wird so keineswegs gefährdet, eben weil sie dieses Getriebe verteidigen, gegen die, die es ihnen übertreiben mit Börsenspekulation und Grössenwahn. Aber nicht nur gegen diese „Machtmissbräuche“, denn sie werden auch immer die „Chaoten“, „Gewalttätigen“, „Krawallmacher“ aufhalten, denunzieren und ausliefern.

Natürlich haben auch diese Demokraten eine Kritik an der heutigen zentralistischen Demokratie. Ja, die Demokraten sind selbst anarchistischer Kritik gegenüber ganz offen eingestellt. Aber sie benutzen alle Kritik zum Erhalt des Bestehenden. Deshalb sind die Demokraten auch tolerant gegenüber wirklich radikalen Ideen. Um sie zu verwässern, damit sie die Radikalen dazu bringen, am grossen Tisch der Demokratie mitzudiskutieren. Alle Veränderung, die diese Demokraten wollen, wollen sie als Evolution dieser Zivilisation. Sie stellen das System, die Gesellschaft, nicht als solches in Frage. Das, was sich entwickelt, ist aber das Problem. Diese Zivilisation, ihre Grundlagen. Während wir ihre komplette Zerstörung wollen, fragen sich die meisten Demokraten, wie sich diese Zivilisation besser entwickeln könnte. Wie sie ihren Herrschaftsanspruch humaner, partizipativer, demokratischer Gestalten kann. Wie diese Zivilisation ohne ihre übelsten Auswüchse wie Atombomben, Nationalstaaten, et cetera auskommen kann, nur um die alltägliche Zerstörung und Ausbeutung der Welt beibehalten zu können. Die Demokratie hat immer ein Bestehendes zur Grundlage, normalerweise das heutige. Es kommt der Bruch nicht vor, weil die Demokraten nicht über das staatliche Denken hinaus kommen. Sie legen immer eine bestehende Gesellschaft fest (zum Beispiel „die 99%“), einen Status quo, den es zu konservieren gilt. Der wird dann demokratisch verwaltet, die Demokratie vermittelt zwischen allen verschiedenen Tendenzen „in ihr“ und das Prozedere der Ab-stimmung (wie auch immer es geschieht) entscheidet, was richtig ist. Also nicht Ich soll entscheiden, mir die verschiedenen Ansichten anhören, und dann danach handeln, wie ich es für richtig halte, sondern „alle“ (zu denen Ich gehören soll, obwohl irgendwie doch niemand „alle“ ist), sollen das (für mich) tun. Nicht nur, dass die Frage nach dem Was völlig ausgeblendet wird, solange das demokratische Prozedere ja nur angewendet wurde. Auch wird meine Eigenständigkeit komplett negiert. Was den radikalsten Demokraten vorzuschweben scheint, ist die weltweite Verbreitung der Untertanenmentalität, aber ohne einen, der über den anderen steht. Untertanen ohne Chef. Anpassung an die Mehrheit. Unterwerfung aller unter alle. Eine komplett kontrollierte Gesellschaft, mit dem Unterschied zur heutigen, dass die Kontrolle nicht von spezialisierten Organen ausgeführt wird, sondern… wie auch immer. Wir haben keine Ahnung, ob so eine Entwicklung überhaupt möglich wäre. Die demokratische Vorgehensweise ist ein direktes Hindernis für Individuen, die sich befreien wollen. Weil sie suggeriert, dass Kontrolle und Gehorsam an und für sich notwendig sind, um überhaupt zusammenleben zu können.

Das Kompromisseln

Die demokratische Idee hier und heute anzuwenden, ist also offensichtlich absurd. Soll die Demokratie heute praktiziert werden, ist sie eine Bindung und Anpassung an das Bestehende; an die bestehende Gesellschaft, an den bestehenden Kompromiss! Doch im Utopischen, jenseits der heutigen Gesellschaft, wollen sie einige praktizieren. Sie glauben, dass, wenn „das Volk“ sich befreit hat, dieses Volk sich dann demokratisch verwalten soll. Die Demokratie soll in der utopischen, idealen Gesellschaft praktiziert werden, wo es nur noch Einheit geben soll. Doch, sobald die Demokratie angewendet wird, wird sie zur konservativen Kraft, weil sie den Zustand, den sie als Gegeben annimmt, aufrechterhält, durch eben den Mechanismus, diesen Zustand als Gegeben anzunehmen, als genügend, um ihn als Grundlage für die Ewigkeit zu nehmen. Die Demokratie ist und bleibt eine statische Idee, die ihre Entwicklung allen anderen Entwicklungen aufpresst, die die einzige Entwicklung sein will. Das demokratische Prozedere ist die Selektion eines Kompromisses, Selektion aus den verschiedenen widersprüchlichen Richtungen, um diese zu vereinheitlichen. Die Demokratie ist überflüssig, wenn sowieso eine grundlegende Übereinstimmung über die Richtung besteht, weil die Leute dann sowieso in ihre Richtung gehen und handeln können, ohne sich gegenseitig zu stören; und sie ist schädlich, sobald diese gemeinsame Übereinstimmung nicht mehr vorhanden ist, denn ab da muss sie, soll sie weiterhin existieren, sich der Einheit, die demokratisiert werden soll, aufzwingen; wird sie zum Herrschaftsapparat. Da aber die Demokratie in einem harmonischen Zustand überflüssig ist, existiert sie (ob in den Köpfen oder real) nur dazu, künstlich eine Harmonie, ein Zusammenleben zu erzwingen und die Konflikte zu befrieden; dies ist aber immer nur eine oberflächliche Harmonie, die die einzelnen Individuen mit ihren Wünschen in Widerspruch bringt, weil sie sich einem Kompromiss unterwerfen; sie produziert somit eigentlich immer gehorchende Individuen, unterwürfige Individuen, Individuen, die nicht tun, was sie wollen, sondern was sie müssen. Dies, weil die demokratische Mentalität vor allem eins verlangt: die Bereitschaft, sich dem nächstbesten Kompromiss zu unterwerfen. Sich dem Konsens zu unterwerfen, wie auch immer dieser Zustande kommt.

Die Demokratie ist also nie die Zerstörung der Herrschaft, sondern nur ihre Verschiebung. Die Herrschaft des Volkes. Diese Macht ist umso erdrückender. Der Zwang, sich der Norm anzupassen, wird viel direkter ausgeübt, in den direktdemokratischen Paradiesen sogar ohne repräsentativen Schnick-Schnack. So würde aber die Autorität nicht abgeschafft, nicht einmal abgeschwächt, sie würde nur ungreifbarer, anonymer. Und damit auch unangreifbarer, weil irgendwie alle ihre eigenen Bullen wären. Das alles hat nichts mit Befreiung, nichts mit Anarchie zu tun, sondern nur damit, die Herrschaft anders zu legitimieren. Die Demokraten sagen uns, dass die Herrschaft gerecht ist, wenn sie „von allen“ ausgeübt wird, genauso wie uns irgendwelche Monarchisten sagen, dass sie nur gerecht ist, wenn sie vom gottgewollten König ausgeübt wird. Die Demokratie führt trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen absurderweise immer zur Herrschaft einer Minderheit, und nur schon das sollte beweisen, dass an dieser Idee etwas faul ist. Aber selbst wenn wirklich die Mehrheit oder sogar „das ganze Volk“ herrschen könnte und uns das wieder als Freiheit verkauft würde, würden wir sagen, dass uns nur der absolute Ungehorsam gegenüber jeder Autorität und die permanente Rebellion dagegen befreien kann, und daran werden hoffentlich früher oder später alle Herrschaftssysteme, seien sie noch so demokratisch, ökologisch und was auch immer, scheitern.

Bruch

Wir wollen also die Zivilisation der Herrschaft zerstören. Das ist die einzige Veränderung, die uns genügt. Wie sich diese Gesellschaft aufrechterhält, ob sie dafür einen zentralistischen Staatsapparat, Bullen und Militär benötigt oder ob das ganz demokratisch durch die blosse Verbreitung der Bullenmentalität und den Gehorsam ihrer Bürger geschieht, geht uns eigentlich mehr oder weniger am Arsch vorbei. Diese Zivilisation ist buchstäblich auf der Autorität aufgebaut. Von der Familie über die Arbeit bis zu der sogenannten Freizeit, die Pest der Autorität verbreitet ihren Gestank überall. Das Ganze stinkt uns. Wir kämpfen für eine Revolution wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Um alle Institutionen, auf denen diese Gesellschaft aufgebaut ist, zu zerstören, und nicht bloss an der Oberfläche zu kratzen. Nicht, um danach neue Institutionen zu errichten, seien sie auch noch so demokratisch. Sondern um uns von der Autorität und vom Gehorsam zu befreien. Um ein freies Zusammenleben zu erproben, nicht erst in der Zukunft, sondern schon heute. Bewaffnet mit unseren Ideen und Überzeugungen warten wir auf keinen Konsens, um anzugreifen. Wir wollen frei Leben, dafür brauchen wir keine Legitimation, und sei sie „das Volk“. Wir vereinen uns mit allen, die sich auch befreien wollen, und wir stellen uns allen entgegen, die die herrschende Ordnung verteidigen. Wir wollen mit den Bürgern, Bullen, et cetera keine demokratische Verständigung. Wir wollen überhaupt gar keine Verständigung mit ihnen, wir wollen ihre Welt zerstören. Wir wollen sie aus unseren Leben vertreiben. Die Zerstörung einer feindlichen Gesellschaft beschliessen wir nicht demokratisch, sondern selber. Der Passivität der kompromisselnden Akzeptanz setzen wir die Aktivität der individuellen Initiative, als Bruch, Revolte und Angriff entgegen. Wir organisieren uns selber und das macht Mini-Parlamente, Gesetze, Verwaltungsräte und Vermittler nicht nur überflüssig, sondern zu unseren Feinden!


(Schluss)

Ausgabe 9

Für die Umwälzung der Welt

Es gibt offensichtlich zahlreiche Menschen, die mit den bestehenden Verhältnissen überhaupt kein Problem zu haben scheinen. Sei es, weil sie sich auf der profitierenden Seite davon befinden, oder schlicht, weil sie sich mit jener unterwürfigen und sich allem anpassenden Mentalität durchs Leben schlagen, die von der heutigen Wirtschaft überall eingeflöst wird. Wie auch immer, dies sind nicht die Menschen, an die ich mich hier wenden will. Ich möchte mich, mit diesem Artikel, an jene Menschen richten, denen ich trotz allem immer wieder begegne, und in deren Herzen noch ein Verlangen nach Freiheit pulsiert.

Wie ich in Diskussionen und Gesprächen immer wieder feststelle, scheinen die Ideen von Freiheit, die wir als Anarchisten verfechten, im Grunde von nicht wenigen Menschen geteilt zu werden – zumindest theoretisch, als Ideen, als Wunschtraum… Schliesslich sind die Probleme, von denen wir sprechen, Probleme, die viele aus ihrem eigenen Alltag kennen. Die Ablehnung, die wir für so viele Aspekte der heutigen Gesellschaft empfinden, ist eine Ablehnung, die im Innern vieler brütet. Denn, wer mag es schon, seinen Willen und seine Würde irgendeiner Autorität zu unterwerfen? Wer mag es schon, von Chefs, Beamten und Polizisten herumbefehligt zu werden? Aufgrund jedes „falschen“ Schrittes nach Gesetzen von anderen bestraft und eingesperrt werden zu können? Sich mit dem Staat und seiner Bürokratie herumschlagen zu müssen, die sich überall in unser Leben einmischen? Wer mag es schon, sich verkaufen zu müssen, um überleben zu können? Seine Fähigkeiten von irgendeinem Bonzen ausbeuten lassen zu müssen, der sich an unserer Anstrengung bereichert? Schliesslich: Wer mag es schon, in einer Welt zu leben, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht? Wer würde nicht lieber in einer Welt der Solidarität und der Freiheit leben?

Und doch, die Argumente, womit sich die Menschen diesen Umständen fügen, scheinen grenzenlos in ihrer Vielfältigkeit. Nun, auf Argumente, die behaupten, diese Umstände nicht als Unterdrückung oder Unfreiheit zu empfinden, werde ich hier nicht eingehen. Wer dies nicht so empfindet, hat selbstverständlich auch wenig Grund, dagegen zu kämpfen (aber auch nicht das Recht, andere davon abzuhalten, die dies so empfinden). Auch Argumente, die behaupten, dass diese Dinge, wenn auch unangenehm, nun mal notwendig sind, da das Autoritätsprinzip in der unveränderlichen Natur des Menschen liegt, werde ich hier beiseite lassen. Eine Behauptung, die, wenn auch nicht hier, durchaus an anderer Stelle eine kritische Vertiefung verdient.

Ich werde in diesem Artikel von der Feststellung ausgehen, die ich, wie viele andere, von dieser Realität machen: dass dies ganz gewiss nicht die Freiheit ist, dass die Freiheit etwas völlig anderes sein muss. Und ich richte mich somit an jene, die diese Feststellung teilen.

Ich gehe ausserdem von der Überzeugung aus, dass die Freiheit, die demnach jenseits des Bestehenden liegen muss, dennoch erreichbar, realisierbar, erkämpfbar ist. Eine Überzeugung, die, während erstere Feststellung durchaus relativ breit geteilt zu werden scheint, heute leider allzu selten geworden ist.

Es ist diese Möglichkeit eines ganz anderen Wegs, eines Kampfes in Richtung Freiheit, die ich hier untersuchen will.

Bloss ein Wunschtraum?

Die oben beschriebenen Verhältnisse, die Existenz von Autoritäten aller Art, die unsere Unterwerfung fordern, von Ausbeutern aller Art, die sich an unserer Arbeit bereichern, sind nicht nur eine persönliche Realität, sondern seit Urzeiten die Grundlage der gesellschaftlichen Welt, in der wir leben. Auch wenn diese Verhältnisse heute oft rationaler, subtiler, feinmaschiger und demokratischer als früher erscheinen, sind sie nichtsdestotrotz, oder eher, umso mehr, ihr tief verwurzeltes Fundament. Daher bin ich der Ansicht, dass wir, wenn wir diese Verhältnisse nicht einfach akzeptieren wollen, eine ebenso fundamente Umwälzung ins Auge fassen müssen: eine tiefgreifende soziale Revolution, die alle Institutionen zum Verschwinden bringt, die dem freien Leben, wovon wir träumen, im Wege stehen. Wenn ich also von der Überzeugung spreche, dass die Freiheit erkämpfbar ist, spreche ich von einem immensen Werk der Umwälzung von Beziehungen, der Zerstörung von Strukturen und der Neuerschaffung eines Lebens auf anderen Grundlagen. Ein Werk, das gewiss nicht von einem Tag auf den anderen realisiert werden kann, das es aber, wenn es nicht im Bereich der blossen Wunschträume gelassen werden will, vom heutigen Tag an zu beginnen gilt.

Doch, kaum habe ich dies gesagt, werden auch unter jenen, die sich im Grunde in denselben Problemen und in denselben freiheitlichen Ideen wiedererkennen, schnell verschiedenste Einwände laut: „Was kann ich schon ausrichten?“ „Wir sind doch viel zu wenige.“ „Die notwendige Veränderung ist viel zu gross.“ „Auch wenn wir uns wehren, wird sich ja doch nichts ändern.“ „Wenn wir heute die Autoritäten angreifen, werden sie uns nur morgen bestrafen.“ Etc. Etc. Mit diesen und anderen resignierten Argumenten, die ausserdem vom vorherrschenden Denkmuster unterstützt werden, scheinen sich viele immer wieder selbst von jenem Schritt zur Revolte abzuhalten, der doch die notwendige Bedingung ist, um irgendwas zu ändern.

Und so akzeptiert man allzu oft, wenn auch widerwillig, eben doch die Umstände, die uns aufgezwungen werden, wählt man für das „geringere Übel“ und schlägt man sich durchs Leben. So zieht man sich eine Maske über, um sich Morgens im Spiegel nicht in die Augen zu schauen, begräbt man seine alten Träume und versinkt an ihrer statt oft in Depressionen, Frustration, Zynismus und Selbstbetäubung…

Leider ein allzu häufiger Weg, mit der Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse umzugehen (oder eben nicht umzugehen). Ein anderer, bestimmt nicht einfacherer, aber stolzerer, schönerer und perspektivenreicherer Weg scheint mir, eben diesen Schritt zur Revolte zu wagen. Ein Schritt, der gewiss Mut und Willen fordert, aber gleichzeitig Kraft und Selbstvertrauen gibt. Ein Schritt, der eine Eintscheidung aus dem Innern ist, und nicht auf berechnende Weise angegangen werden kann. Die Entscheidung, sich nicht mehr einfach zu bücken und nicht mehr einfach zu akzeptieren, sondern, sein eigenes Leben in die eigenen Hände zu nehmen, selbstständig seine eigenen Ideen zu entwickeln und seinen eigenen Kampf in Richtung Freiheit anzugehen – ausgehend von wo auch immer man sich befindet.

Es geht also darum, den Bereich der blossen Wunschträume zu verlassen, und sie zum Antrieb für ein konkretes Agieren in der Realität werden zu lassen.

Die Revolte

Die Revolte – als ein geistiger sowie physischer, und notwendigerweise oft auch gewaltsamer Akt der Auflehnung gegen die Ideen, Strukturen und Menschen, die unsere Unterdrückung und Ausbeutung ermöglichen und aufrechterhalten – scheint mir, wie gesagt, die unabdingbare Voraussetzung, um die bestehenden Verhältnisse wirklich zu verändern. Dennoch ist sie nicht nur das. Und das scheint mir wichtig, hier gleich von Anfang an zu betonen: noch vor jeglicher Einschätzung der damit zu erreichenden Resultate, ist die Revolte ein Akt der Rückeroberung der eigenen Würde. Eine Bestätigung, noch am Leben zu sein, in einer Welt voller Leblosigkeit und Fügsamkeit. Eine Bekräftigung der eigenen Individualität, in einer Gesellschaft voller Herdenmentalität. Die Revolte ist also nicht bloss „zweckmässig“, sondern – für jene, die sich nicht unterwerfen wollen – eine Lebensnotwendigkeit.

Unter diesem Blickwinkel, den die demokratischen Soziologen nie verstehen werden, die im Dienste des Staates die heutigen sozialen Explosionen analysieren, hat die Revolte keine aufzählbaren Gründe oder Forderungen nötig, um gerechtfertigt zu sein. Und unter diesem Blickwinkel, den auch die Buchhalter der Revolution nie verstehen werden, die im Dienste ihrer Ideologie und ihres Programms über die unkontrollierten Rebellionen urteilen, braucht sie auch keine aufzählbaren Resultate vorzuweisen, um wertvoll zu sein. Die Revolte enthält ihren Wert bereits in ihrem Akt an sich.

Dennoch, selbstverständlich, damit sie zu einer verändernden Kraft auf gesellschaftlicher Ebene werden kann, muss sie sich mit einer Perspektive verbinden. Eine Perspektive, in der wir uns mit den notwendigen Ideen, Analysen und Mitteln ausrüsten, um das revolutionäre Projekt dieser gesellschaftlichen Umwälzung voranzutragen. Ideen von dem Leben, das wir wollen, die sich durch die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserem Verhältnis zur Realität, in der wir leben, entwickeln. Analysen der Gründe und Ursprünge von dem, was wir bekämpfen wollen, um treffend zu agieren. Mittel, um unsere Vorschläge mit Worten und Taten sozial zu verbreiten.

Doch hier, angesichts der überwältigenden Grösse der notwendigen Veränderung, womit sich eine revolutionäre Perspektive zwangsläufig konfrontiert sieht, drängt sich bei vielen immer wieder jener Einwand auf: wir sind wenige.

Der soziale Konflikt

Ja, angesichts der Trägheit der heutigen Mentalität und angesichts des sozialen Friedens, den man innerhalb der Gesellschaft zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Reichen und Armen einzurichten versucht, sind wir wenige, die für eine Umwälzung dieser Verhältnisse kämpfen. Aber genauso ist es eine alte Banalität, dass nichts, das jemals gross geworden ist, nicht einst mit wenigen begann. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es also absurd, nicht zu handeln, nur weil wir wenige sind. Was ich aber vor allem bekräftigen will, ist die Tatsache, dass wenige zu sein, nicht bedeutet, isoliert zu sein.

Auch wenn es heute, hierzulande, wenige sein mögen, die revoltieren, so sind es nicht wenige, die den Konflikt dieser Gesellschaft auf eigener Haut erfahren. Das Prinzip von Autorität und Eigentum, worauf diese Gesellschaft seit jeher beruht, kreiert eine Trennung und eine Ungleichheit, die die ganze soziale Landschaft durchzieht: zwischen wenigen Reichen und einem Grossteil von Armen, zwischen wenigen Privilegierten und einem Grossteil von Ausgeschlossenen, zwischen wenigen Machthabern und einem Grossteil von Untergeordneten. Diese Verhältnisse bergen ein ewiges Konfliktpotenzial, das im Verlaufe der Geschichte schon unzählige Male, unter den Schreien nach Gleichheit und Freiheit, zu Aufständen führte, die dieser Privilegienordnung ein Ende bereiten wollten.

Sich diesem Konfliktpotenzial bewusst und ihre Positionen sichernd, versuchen jene, die von dieser Ungleichheit profitieren, auf zahlreichen Wegen von der Revolte abzulenken und diesen Konflikt künstlich zu befrieden, bzw. unter die Oberfläche zu verschieben.

Ich bin aber der Ansicht, dass dieser Konflikt nicht befriedet werden kann, sondern, dass er, wenn auch unter der Oberfläche, solange weiter existieren wird, wie diese Ungleichheit weiter existiert. Nur führt die Tatsache, dass die Gründe dafür heute, aufgrund der wachsenden Entfremdung, allgemein weniger klar identifiziert zu werden scheinen, dazu, dass sich dieser Konflikt auf oft irrationale Weise äussert: wahllose Gewalt, Depressionen, Selbstbetäubung, Selbstmord,… Ich denke, dass dieser Konflikt nur aufgelöst werden kann, indem er ausgetragen wird, und zwar bis zum Ende. Bis wir in einer Welt leben, die nicht mehr geteilt ist, in der sich nicht mehr der eine auf Kosten der anderen bereichert, sondern sich die Freiheit aller durch die Freiheit der anderen erstreckt.

Die Revolte, wenn auch einer Minderheit, insofern sie sich in diesen real existierenden Konflikt einschreibt, den zahlreiche Menschen in sich tragen, ist also nicht isoliert. Als Hinweis und Verdeutlichung dieses sozialen Konflikts kann sie dazu beitragen, die Gründe und Verantwortungen der unterdrückenden Verhältnisse für mehr Menschen identifizierbarer, und somit angreifbarer zu machen. Auch wenn sie punktuell und begrenzt ist, enthält die Revolte immer die Möglichkeit ihrer Ausweitung, indem sie andere Menschen ermutigen und es ihnen erleichtern kann, ebenfalls zu revoltieren.

Schliesslich hat uns die Geschichte schon unzählige Male gezeigt, wie es der mutigen und entschlossenen Aktion einer rebellierenden Minderheit gelang, aufzudecken, was im Innern vieler brütete, um ganze Aufstände und Revolutionen auszulösen (die Auflehnungen von 2011 in Nordafrika sind nur das jüngste Beispiel dafür).

Eine andere Auffassung von Stärke

Der Argumentation, wir seien zu wenige und der Gegner zu gross, liegt oft auch eine Auffassung zugrunde, die den sozialen Kampf mit einer militärischen Logik betrachtet: die Auffassung, dem riesigen Koloss des Staates und seiner Ordnungskräfte müsse ein ebensogrosser Koloss gegenübergestellt werden, der fähig ist, dem Staat die Stirn zu bieten. Dies ist auch die Auffassung zahlreicher, mehr oder weniger autoritärer revolutionärer Organisationen, die überall um Mitglieder werben und beabsichtigen, die Kräfte in sich zu zentralisieren. Wir, als Anarchisten, haben eine gänzlich andere Auffassung des sozialen Kampfes, und daher auch von Stärke.

Der rohen und quantitativen Stärke der Macht, die sich in der militärischen und zentralisierenden Logik ausdrückt, wollen wir nicht eine auf derselben Logik basierende “Gegenmacht” entgegenstellen, sondern die soziale und qualitative Stärke der Freiheit. Eine Stärke, die aus dem Prinzip der Dezentralität und der Autonomie der Individuen besteht. Wir zielen also nicht darauf ab, die Individuen in Massen zu verwandeln, sondern die Massen in Individuen zu verwandeln. Individuen, die nicht irgendeinem Führer oder irgendeiner Ideologie folgen, sondern für ihre eigenen Ideen und für ihre eigene Befreiung und Entfaltung kämpfen. Freiheit, der Kampf für Freiheit, ist etwas, das von allen einzeln auskommen muss, und nicht von irgendeiner Organisation, die behauptet, die Individuen zu repräsentieren. Ansonsten handelt es sich nur wieder um eine neue Auferlegung (und wie viele Male in der Geschichte haben wir das Freiheitsverlangen der Menschen auf diese Weise schon verraten gesehen?…).

Abgesehen davon zeigen die einstigen Massenorganisationen, also die gewerkschaftlichen und parteilichen Organisationen mit revolutionären Bestrebungen, heute deutlich ihre Überholtheit. Es ist nicht nur, dass die zentralistische Form, die sie angenommen haben, meiner Ansicht nach einer antiautoritären Perspektive widerspricht, sie entspricht heute auch schlicht nicht mehr der Realität. Die Konzentration der Ausgebeuteten in Fabriken und Arbeiterquartieren, die diese Organisationsform einst begünstige, da sie sich auf eine breit geteilte Ausbeutungsbedingung und ein gewisses “Klassenbewusstsein” stützen konnte, existiert heute, zumindest in unseren Breitengraden, praktisch nicht mehr. Das Gespenst der “Arbeiterklasse” ist aus dem sozialen Panorama verschwunden (was selbstverständlich nicht heisst, dass die Proletarier, die Ausgeschlossenen, die Ausgebeuteten verschwunden sind). Die ganze Produktion des Kapitalismus, und somit auch die Ausbeutung durch die Arbeit und die Bedingungen dieser Ausbeutung, haben sich heute, vor allem durch die Einführung der modernen Technologien, massiv verstreut und zerstückelt. Wir stehen also einer ganz anderen Realität gegenüber als noch vor einigen Jahrzehnten.

Entgegen den zentralistischen Massenorganisationen schlagen wir eine möglichst verstreute Kreierung von autonomen, selbstorganisierten Basisgruppen vor. Gruppen, die überall gebildet werden können, wo Menschen eine gewisse Unterdrückungsbedingung teilen. Ihre Bildung ist temporär und wandelbar, also nicht auf ein beständiges Anwachsen ausgerichtet. Ihr Ziel ist der aktive, selbstorganisierte Kampf, durch eine permanente Konflikthaltung und nicht durch Verhandlungen, für die Erleichterung und mögliche Beseitigung der Unterdrückungsbedingungen. Um ihre autonome Grundlage zu bewahren, basieren sie auf der Unabhängigkeit von jeglichen Parteien und politischen Organisationen, sowie auf der Weigerung der Delegation. Ihre treibende Kraft sind die direkte Aktion und die individuelle Initiative.

Eine solche verstreute Auffassung des sozialen Kampfes entspricht auch dem Ziel einer sozialen, und nicht bloss einer politischen Revolution. Denn die Herrschaft kann nicht bekämpft werden, indem man wie damals in Russland den Winterpalast, oder hier das Bundeshaus stürmt. Sie ist etwas, das sich in allen Bereichen des Alltags, in zahlreichen verstreuten Institutionen, Funktionen, Denkmustern, Beziehungen und Verhaltensweisen manifestiert. Es ist also etwas, das es, mit kleinen und grossen Aktionen, überall und alltäglich zu bekämpfen gilt.

Ein weiterer Faktor, der eine verstreute Auffassung des sozialen Kampfes begünstigt, ist die Entwicklung der kapitalistischen Struktur selbst. Die Flexibilisierung und Dezentralisierung der Wirtschaft durch die Auflösung der grossen Industriekomplexe und die oben genannte Zerstückelung der Produktion durch die Einführung der modernen Technologien, hat dazu geführt, dass auch die Adern, die dieses System am Laufen halten (Transport, Elektrizität, Kommunikation, etc.) massiv verstreut, und somit leichter verletzbar und dezenral angreifbarer wurden…

Wie wir sehen können, basiert das Ziel einer möglichst grossen Verbreitung von autonom agierenden Gruppen und Individuen (die sich natürlich auch zu massenhaften Momenten zusammenfinden können), auf einer Auffassung von Stärke, die der rohen, quantitativen, zentralisierten Stärke der Macht asymetrisch entgegengestellt ist.

Selbstverwaltung

Wenn wir uns der Frage der sozialen Revolution annähern, kommen wir nicht umhin, uns auch die Frage der Selbstverwaltung in einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Regierung zu stellen. Eine Frage, die, meiner Ansicht nach, auch ihrerseits unter dem Licht der Veränderungen der letzten Jahrzehnte neu betrachtet werden muss.

Das Ziel der einstigen revolutionären Gewerkschaftsstrukturen, auch der anarchistischen, war es, bereits die Grundlage der künftigen befreiten Gesellschaft zu bilden, das heisst, nachdem die Produktionsmittel einmal den Kapitalisten entrissen wurden, die Produktion, ohne Bosse und ohne Eigentum, zum Wohl aller selbstzuverwalten. Heute, angesichts der Einführung der modernen Technologien in praktisch alle Bereiche der Produktion, die, abgesehen von tödlichen Auswüchsen wie der Nuklear-, Chemie- und Waffenindustrie, zu einer immer ausgefeilteren Spezialisierung, Hierarchie und Entfremdung führte, müssen wir uns fragen, ob wir diese Produktion tatsächlich aufrechterhalten wollen. Meiner Ansicht nach kann der Grossteil der heutigen Produktionsstrukturen nicht im Sinne der Freiheit organisiert werden, und sollte demnach nicht selbstverwaltet, sondern zerstört werden.

Die Freiheit kann also, unter diesem Blickwinkel, nicht einfach die Selbstverwaltung der bestehenden Gesellschaft ohne Staat bedeuten. Sie muss die Selbstverwaltung eines neuen Lebens auf ganz anderen Grundlagen sein, und darf daher keine Angst vor Ruinen haben.

Ein Ausgangspunkt für die notwendigen selbstverwalterischen Grundlagen einer freien Gesellschaft (auf dem alten kommunistischen Prinzip von „jeder nach seinen Kräften, jedem nach seinen Bedürfnissen“) können die verstreuten Erfahrungen der autonomen Basisgruppen sein, die, in ihren Kämpfen, heute bereits mit der autonomen Selbstorganisation experimentieren.

Aufstand

Insofern unser Ziel die fundamentale Umwälzung der bestehenden Gesellschaft ist, zielt unsere Aktion, in all ihren unzähligen Ausdrucksformen, ob mit Worten oder Taten, legal oder illegal, individuell oder kollektiv, darauf ab, auf kurze oder lange Frist, die Bedingungen für jene aufständischen Taten zu begünstigen, die notwendig sind, um eine solche Umwälzung zu realisieren.

Mit dieser Umwälzung meine ich die Abschüttelung der jahrtausendealten Gewohnheit der Autorität, des Staates und seiner Institutionen, zugunsten der direkten Selbstorganisation in allen Bereichen, basierend auf der gegenseitigen Hilfe und der Autonomie der Individuen, die frei beschliessen, miteinander in Gesellschaft zu treten. Eine Umwälzung, die selbstverständlich nicht wie durch Zauberhand im Moment des Aufstands geschieht, der aber die gewaltsame Unterbrechung des normalen Laufs der Dinge den nötigen Raum und die nötige Zeit verschaffen kann.

Ausserdem ist der Aufstand notwendig, um konkret das anzugreifen, was den Staat ermöglicht, und somit sein Wiederaufkommen nach dem Aufstand zu hindern, das heisst: die Zerstörung der administrativen Einrichtungen (Verwaltungsunterlagen, Identitätsdaten, etc.), der finanziellen (Eigentumsregister, Beseitigung der nationalen Goldreserven, etc.) und repressiven Einrichtungen (Polizei- und Militärstrukturen, Gefängnisse, Gerichte, etc.), die Aufhebung des Gewaltmonopols (durch die allgemeine Bewaffnung),…

Es versteht sich von selbst, dass eine soziale Revolution nicht die Angelegenheit eines einzigen Aufstands, irgendeines Grossen Tages irgendwann in der Zukunft ist, sondern ein langer, ja permanenter Prozess ist, der mit unserer Aktion von heute beginnt, und worin Aufstände nur eine beschleunigende Phase, die Phase eines möglichen Sprungs bilden.

Ich spreche von einem permanenten Prozess in dem Sinne, dass Freiheit für mich kein Zustand ist, der eingerichtet und in einer „Struktur“ bewahrt werden kann, sondern eine Spannung ist, ein Antrieb in den Individuen, der die Welt beständig neu kreiert. In diesem Sinne ist es notwendig, auch im Falle von Aufständen und Revolutionen, stets gegen jene weiter zu kämpfen, die eine neue Herrschaft, ein neues Regime, einen neuen festen Zustand durchsetzen, und somit den Freiheitsdrang der Menschen aufs neue verraten wollen. Denn solange es Regierungen gibt, in welcher Form auch immer, und auch wenn sie behaupten, im Namen der Freiheit zu handeln, wird es immer Menschen geben, denen diese Regierung aufgezwungen wird. Und, wie ein alter Anarchist einst sagte: solange es Menschen gibt, die nicht frei sind, kann es keine Freiheit geben, kann auch ich nicht vollständig frei sein.

Die Wirrungen in Ägypten

Die Revolution in Ägypten sieht sich heute eindeutig mit einer komplexen Situation konfrontiert. Zu komplex, um sie mit den spärlichen und ungenauen Informationen der hiesigen Presse zu analysieren. Sicher ist aber, dass die Machtübernahme der Armee, mit dem Versuch, den Konflikt in Pro-Armee und Pro-Mursi Anhänger zu kanalisieren, jener revolutionären Bewegung, die weder das eine noch das andere Regime will, einen grossen Stein in den Weg legte.

Dennoch glauben wir sicherlich nicht, dass alle, die vorher gegen das Mursi-Regime kämpften, nun das Militärregime gutheissen. Die Erinnerungen an die Rebellen, die nach dem Sturz von Mubarak von demselben Militär, das heute heuchelt, auf der Seite des Volkes zu stehen, erschossen wurden, sind noch zu lebendig. Ausserdem ist vielen klar, dass es der Armee um nichts als Machtinteressen geht (sie kontrolliert in Ägypten 40% der Wirtschaft und stellt somit lange schon eine Art Paralellmacht dar). Nur wird der Kampf gegen das Regime momentan von den Moslembrüdern dominiert, die Mursi zurück an die Macht wollen. Und diejenigen, die weder Mursi, noch das Militär an der Macht wollen, werden kaum an Seiten der Moslembrüder kämpfen wollen.

Ein geschickter Schachzug also, um das Fortschreiten der Revolution zu lämen. Dennoch, die Erfahrungen dieser mehr als 2 Jahre der Auflehnung, zuerst gegen Mubarak, dann gegen das Militärregime, und dann gegen Mursi, haben viele Menschen in Ägypten verändert. Eine Zeit, die nicht nur von Konfrontationen auf den Strassen, sondern auch von unzähligen Diskussionen und individuellen Befreiungsakten gezeichnet war, die auch mit patriarchalen, religiösen und moralischen Unterdrückungsformen brachen. Eine Zeit, in der die unterdrückende Funktion der Religion, auch durch die gnadenlose Politik der Moslimbrüder, begann, immer deutlicher zu werden, und manche auch begannen, die Religion an sich zu verwerfen. Aber vor allem eine Zeit, in der viele begannen, zu bemerken, dass keine Regierenden, sondern nur sie selbst, ihr Elend ändern können, und in der der Mythos der Politiker und der Führer, von denen das Heil kommen soll, zu zerbrechen begann.

Wir denken nicht, dass diese Erfahrungen so schnell verschwinden werden, und wir hoffen, dass sich die Revolution in Ägypten einen Weg durch die aktuellen Wirrungen bahnen wird, jenseits der Armee, der Islamisten, und egal welchen Regimes…

An dieser Stelle möchten wir die Übersetzung aus dem Arabischen eines Flugblatts abdrucken, den einige ägyptische Anarchisten noch vor der Machtübernahme der Armee vom 30. Juni auf Demonstrationen verteilten. Es richtete sich vor allem kritisch gegen die „Tamarrod“ Kampagne, welche die Massenproteste gegen das Morsi Regime organisierte, und zeigt auf, dass es genauso auch Gegner des Morsi-Regimes gab, die sich gegen das Regime als Ganzes, und nicht nur gegen seine Spitze richteten:

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Die umstrittene Annahme, dass die „Tamarrod“ Kampagne fähig sein könnte, das System zu verändern oder zu stürzen, ist eine Illusion, der nur die Erfinder der Kampagne anhängen. Wenn wir etwas nachdenken, sehen wir, dass die „Tamarrod“ <em>Kampagne nicht darauf ausgerichtet ist, das Regime zu Fall zu bringen oder zu verändern. Es ist eine Kampagne, um die Leute davon zu überzeugen, dass das Problem nur in der Spitze des Regimes liegt, und nicht in seiner ganzen Struktur und seinem Funktionieren. Die Kampagne ist nichts anderes als das Vorbringen der Forderungen der Elite – die in den Oppositionsmedien ein Sprachrohr finden – oder ein Disput zwischen den politischen Kräften, die – zwischen den Wendungen des Konflikts – auf den Parlamentsstühlen vergassen, dass es bei der Rebellion gegen das Regime nicht um eine Veränderung seiner Spitze geht. Die Spitze wird niemals die unterdrückende Struktur verändern, die in den meisten Schichten der Gesellschaft herrscht.

Die „Tamarrod“ Kampagne beschwert sich über den Kopf des Regimes. Das System wird aber nicht durch seine Spitze gesteuert, sondern durch ein Netz von Interessen, die die Spitze des Systems in einer heiteren Inszenierung ausrichten, die man „Demokratie“ nennt. „Tamarrod“ ist nicht gegen das Regime, denn diese Kampagne rebelliert nicht gegen die sozialen Verhältnisse, die dieses System kreiert haben. Rebellion bedeutet, eben diese Verhältnisse zu bekämpfen, die dieses System kreiert haben und es fortbestehen lassen.

Das Regime schert sich nicht um die Krisen, die die Nicht-Privilegierten immer tiefer ins Elend tauchen; um sich auf den Schutz der Profite und auf das Anhäufen von Geld für die Profitierenden dieses Systems zu konzentrieren.“

Unruhenachrichten

Die Adern des Systems

Die SBB. Ein so alltägliches und unscheinbares Unternehmen. Und doch, mit ihren Transportachsen beteiligen sie sich an allen möglichen Schändlichkeiten. Von der Hilfe bei Ausschaffungen von Migranten bis zu Waffen- und Atommülltransporten. Sie liefert die Adern, die den Kapitalismus am laufen halten. Und damit sich auch niemand dagegen wehrt, haben sie in Zürich ihren alten Güterbahnhof verkauft, damit dort ein schönes neues Polizei- und Justizzentrum gebaut werden kann. Nun, genug Gründe, um sich über die Nachricht zu freuen, dass Anfangs Juni in der Nähe der Langstrasse vier ihrer Transporter in Brand gesteckt wurden.

Ein amüsanter Abend

In Bern haben Ende Juni einige Rebellen einmal wieder bekräftigt, dass es die Autorität nicht zu respektieren, sondern vielmehr anzugreifen gilt. Etwas, dass nicht nur möglich ist, sondern auch den Abend versüssen kann. Anstatt sich an den immer gleichen Partys zu langweilen, amüsierten sie sich mit dem Errichten von Barrikaden und dem Werfen von Steinen und Molotovs gegen die Bullen. Die Unruhen dauerten einige Stunden an.

„Glencore“

Es ist eines der grössten Unternehmen der Schweiz, das auf der ganzen Welt ausbeutet. Ihre Arbeiter genauso rücksichtslos wie die Rohstoffe, mit denen es handelt. Ein 18-jähriger Mann wollte sich gegen diesen Riesen wehren. Anfangs Juni schüttete er in Baar Benzin vor einen seiner Sitze. Er wurde gesehen und rannte davon. Auf der Flücht wurde er von der Polizei verhaftet, wobei sich ein Schreckschuss aus der Pistole löste, die er bei sich trug.

Wir wünschen dem Jungen Kraft und Mut!

Ausgabe 10

Mut

Ohne Mut ist keine Revolte möglich. Die Revolte erfordert, eine Schwelle zu überschreiten, und wir wissen im Voraus, dass die Macht einen solchen Schritt kaum schätzen wird. Um diese Schwelle zu überschreiten, müssen wir nicht nur die Ungerechtigkeit der Unterdrückung empfinden, nicht nur von all den Schäbigkeiten angewidert sein, die diese Gesellschaft des Geldes und der Macht durchdringen, sondern müssen wir uns auchtrauen.

Ich spreche hier nicht vom Mut wie man ihn oft versteht, vom Mut desjenigen, der zuerst zuschlägt, desjenigen, der seine Muskeln zeigt. Ich spreche vom Mut, sich mit Scharfblick in einem Spiegel zu betrachten, vom Stolz, seine eigenen Ideen zu haben und zu ihnen zu stehen. Mut ist einfach, wenn wir in dieselbe Richtung wie die gesichtslose Masse, die Gesellschaft oder die herrschende Moral gehen. Doch dies ist nicht der wahre Mut: es ist der „Mut“ des Soldaten, der Befehle ausführt, jener des Schafes, das mit der Herde blöckt. Es ist brillieren mit Gehorsamkeit. Was ich unter „Mut“ verstehe, ist, sich zu trauen, gegen die Strömung zu gehen, zu seinen eigenen Ideen zu stehen und nicht vor den logischen Konsequenzen eben dieser Ideen zurückzuweichen. Wenn wir, beispielsweise, gegen die Unterdrückung sind, während wir wissen, dass diese Unterdrückung vor allem vom Staat auskommt (ganz egal, ob sich dieser demokratisch, diktatorisch, volksnah, islamistisch, sozialistisch oder katholisch nennt, denn jeder Staat sperrt ein, bestraft, unterdrückt, kontrolliert, zwingt auf, erpresst, foltert und beutet aus), so können wir zwei Dinge tun. Entweder wir sagen uns, dass wir es mit einem Monster von der Grösse des Staates nicht aufnehmen können, und wir resignieren somit und vergraben unsere Ideen irgendwo; oder wir sagen uns offen: wenn ich gegen die Unterdrückung bin, dann muss ich alles tun, was ich kann, um sie zu zerstören. Und um dies zu tun, müssen wir den Mut haben, auf dieser Idee, auf dieser Überzeugung zu beharren, trotz der eventuellen Repressionen, Gefängnisstrafen, sozialen Ausschliessungen oder Unverständnisse des eigenen Umfelds.

Mut heisst also nicht, grosse Eier zu haben und auf einen Abzug zu drücken. Jeder beliebige kann das tun, und der so verabscheuenswürdige Polizist an erster Stelle. Mut ist, unserem eigenen Weg zu folgen, während wir, mit Wagemut, den Hindernissen entgegentreten, die sich vor uns zeigen. Es ist, das zu tun, was du für richtig, korrekt, konsequent hältst, während dir alle davon abraten; es ist, den Mund zu öffnen, wenn alle ihn schliessen; es ist, das anzugreifen, was uns zu Sklaven macht (die Arbeit, das Gefängnis, die Schule, den Konsum), auch wenn die anderen Sklaven ohne mucksen in ihrer Unterwerfung versinken.

Dies ist, weshalb die Revolte nicht möglich ist ohne diesen Mut, von dem ich spreche, der auch nicht der des Märtyrers ist, der sich aufopfert, sondern der des Individuums, das sein Leben in die eigenen Hände nimmt. Diesen Mut entdecke ich bei anderen Individuen, wenn sie nicht tausend Entschuldigungen herumschleppen, um nichts zu tun, wenn sie nicht die Allmacht des Bosses, des Politikers, des Bullen herbeibeschwören, um die herrschende Passivität zu rechtfertigen, wenn sie sich trauen, sich aufs Spiel zu setzen, um für die Freiheit zu kämpfen, die ihrige und die von allen. Er ist selten, dieser Mut, doch er ist nicht ausser Reichweite, er ist nicht etwas angeborenes. Wenn wir uns auf den schwierigen Weg machen, nachzudenken, zu diskutieren, uns zu bemühen, die Quellen der Ausbeutung und der Unterdrückung zu identifizieren, wenn wir uns von der Revolte anderer Individuen inspirieren lassen, und die Solidarität ertasten, die sich über die Gesetze hinwegsetzt, dann könnte dieser Mut auch unsere Herzen entflammen.


Originaltext veröffentlicht in Hors Service, Nr. 38, Brüssel.

An die Arbeiter von EBERHARD

Das Unternehmen EBERHARD beteiligt sich am Bau des neuen Polizei- und Justizzentrums (PJZ) in Zürich. Wer auf dieser Baustelle arbeitet, macht nicht einfach „nur seinen Job“. Die Abbruch- und Aushubarbeiten beim alten Güterbahnhof tragen dazu bei, ein Projekt der Unterdrückung zu realisieren. Eine Hochburg der Kontrolle und Einsperrung, die für uns, Arbeiter und Arme, vor allem folgendes bedeuten wird:

30 Abteilungen von Polizei und Justiz, um uns besser an die Gesetze zu ketten, die in erster Linie nicht, wie man behauptet, zu unserem Schutz, sondern zum Schutz der Privilegien der Machthabenden und Reichen und zur Aufrechterhaltung unserer Ausbeutung da sind;

300 Gefängnisplätze, um die sozialen Konflikte und „Verbrechen“, die haupsächlich aufgrund dieser Ausbeutung und dieser Ungleichheit entstehen, besser isolieren und wegsperren zu können;

Die Aufrüstung der Bereitschaftspolizei, um die Unruhen und Revolten, in denen sich die Zurückweisung dieser Zustände und das Verlangen nach einer gerechten und freien Welt ausdrücken, besser niederschlagen und ersticken zu können;

Eine Polizeischule, um noch mehr arrogante Bullen heranzuzüchten, die es sich zum Job machen, uns und unsere Kollegen im Namen des Staates zu belästigen, zu erniedrigen, einzusperren und zu verprügeln.

Das PJZ, an dessen Bau sich EBERHARD beteiligt, richtet sich also gegen uns alle, Arbeiter, Arbeitslose, Migranten, Arme,… gegen alle, die in ein immer prekäreres und fügsameres Leben gezwängt werden. Um unsere Ruhigstellung zu sichern, um die Akzeptanz unserer Ausbeutung zu sichern. Um zu verhindern, dass wir nach Wegen jenseits der Gesetzlichkeit suchen und unsere Würde und Freiheit zurück erkämpfen.

Darum, an alle Arbeiter von EBERHARD: Wenn wir nicht die Erbauer unserer eigenen Unterdrückung sein wollen, dann lasst uns die Arbeit auf der PJZ-Baustelle verweigern. Lasst uns diese schändliche Arbeit aufhalten, mit jener Waffe, die seit jeher die unsere ist:

SABOTAGE

Experiment

Wir wollen den Bruch mit dieser Gesellschaft. Dieser Gesellschaft, die aus völlig institutionalisierten Beziehungen besteht, die einer kompletten Verwertung durch den Markt ausgesetzt sind, und die uns von der Erfahrung freier Beziehungen abhalten. Wir wollen den Bruch mit dieser Gesellschaft, um ihr ein Ende zu setzen. Und um Platz zu machen für das Experiment. Für das freie Experiment in allen Lebensbereichen und in gesellschaftlichen Ausmassen. Für ein Experiment, das nur in offener Feindschaft mit der herrschenden Gesellschaft (und ihren Verteidigern) möglich ist, die das Experiment nur im abgeschlossenen Rahmen erlaubt, und dies auch nur solange sich damit Geld machen lässt.

Wir sagen, dass freies Leben nur im und durch Experiment möglich ist, ein permanentes Experiment, das die Grenzen der Herrschaft (und der Isolation) sprengt. Auf dem Boden, den uns die herrschende Zivilisation vorsetzt, ist das einzig mögliche freie gesellschaftliche Experiment das ihrer Zerstörung. Der Zerstörung all der Institutionen, die unsere Unterdrückung möglich machen.

Das Experiment, das wir möglich machen wollen, das aber gewissermassen schon heute, in jeder Revolte, sich anbahnt, ist also ein aufständisches und revolutionäres. Der Ausgang eines jeden Experiments ist ungewiss (aber das trifft genauso auf die autoritären Projekte derer zu, die glauben, alles kontrollieren zu können). Mit Experiment meinen wir allerdings eben genau auch, dass der Wert nicht allein im Erfolg liegt, sondern auch im Scheitern, im Scheitern, um zu lernen und weiterzugehen. Dass der Wert im Versuch liegt, im hartnäckigen Versuch.

Das Experiment, das wir im Bruch mit dieser Gesellschaft suchen, ist das der freien Entwicklung jedes Individuums, durch und in der Vereinigung (mit Anderen) und durch die Zerstörung aller Hindernisse, daher: von allem, was Institution ist oder es werden will. Institution, die eben normierte Entwicklung, Herrschaft ist. Das ich oben von gesellschaftlichem Experiment gesprochen habe, meint eben genau, dass so etwas statisches wie die Gesellschaft dadurch unmöglich wird, dass sich niemals so etwas wie Institution und die Passivität, die mit ihr einhergeht, festsetzen kann. Klar tendiert immer alles dazu, sich festzusetzen, statisch zu werden. Was wir brauchen, ist deshalb eine völlig neue Herangehensweise an’s Leben, eine, die keine Institutionalisierung der Beziehungen zulässt. Eine, die die ganze Moral, die Vorurteile, die wir in der Erziehung gelernt bekommen, über Bord wirft. Damit das Feld frei ist für die Individuen. Damit alle die Kraft finden, alles, was sich als weitere Knechtschaft entpuppt, über Bord zu werfen.

Aufstand

Wir brauchen die Umstände nicht zu akzeptieren, die uns aufgezwungen werden. Auch nicht die herrschenden Spielregeln, um etwas daran zu ändern. Wir brauchen bei niemandem um Zugeständnisse zu betteln. Wir haben die Fähigkeit, zu rebellieren. Wir haben die Möglichkeit, uns hier und jetzt zu besorgen, was wir wollen. Dazu brauchen wir keine weitere Rechtfertigung, als die Wut darüber, dass man uns die Freiheit raubt.

Wir brauchen keine Politiker, Parteien und Organisationen. Wir können unsere Kämpfe selber organisieren. Wir müssen unsere Würde nicht in Verhandlungen verkaufen, wir können mit unseren Unterdrückern in Konflikt treten, und zwar ohne Kompomisse. Wir brauchen nicht zu warten und an andere zu delegieren. Wir haben die Möglichkeit, eigenhändig und konkret das anzugreifen, was uns das Leben vermiest.

Es ist eine alte Sache. Und doch, gerade heute steht sie wieder stolz und mutig vor der Tür. Sie springt von Land zu Land, hinterlässt ihre Spuren und rüttelt die Gemüter auf. Sie ist seit jeher der Schrecken jener, die befehlen und ausbeuten wollen. Und seit jeher die Waffe jener, denen es nach Freiheit verlangt.

Wir können auf diese Waffe zurückgreifen, wenn wir wirklich beenden wollen, was uns aufgezwungen wird. Wenn wir die Projekte verhindern wollen, deren einziges Ziel unsere Ausbeutung und Unterdrückung ist. Hier in Zürich will man uns ein neues Polizei- und Justizzentrum (PJZ) aufzwingen. Wenn wir den Bau dieser Hochburg der Kontrolle und Einsperrung wirklich verhindern wollen, dann lasst uns die herrschenden Spielregeln verwerfen, unserem Mut und unserer Wut Platz machen und, gemeinsam und verstreut, dagegen in Aufstand treten!

Lasst uns, wie damals in Uster, zu zerstören wissen, was unsunterdrückt


Abdruck des Textes von einem Plakat auf den Wände von Zürich.

Durchsage an die Passagiere

Wir sind es alle. Wir durchqueren dieses Leben auf der Erde, im Wissen, dass wir nur vorübergehende Passagiere sind. Auch weil wir das Steuer nicht in den Händen halten, das die Reise unseres Lebens lenkt, kontrollieren wir weder seine Geschwindigkeit, noch seine Dauer, noch seine Bestimmung. Wir durchleben diese Erfahrung, die einzige, die wir haben, während wir uns bestenfalls damit zufriedengeben, aus dem Fenster zu schauen. Wie Passagiere eben. Wohl wissend, dass nichts ewig andauert, dass man früher oder später an der Endstation ankommt und aussteigt.

Wir haben gelernt, dass das Glück ein vorübergehender Zustand ist. Früher oder später verschlechtern sich die menschlichen Beziehungen, führt uns das morgendliche Erwachen wieder zurück in die alltäglichen Zwänge, hinterlassen die Enttäuschungen ihre schmerzhaften Wunden. Und das Glück schwindet dahin.

Wir haben gelernt, dass die Liebe eine flüchtige Freude ist. Früher oder später springt das Herz nicht mehr wie verrückt, zerbricht der Zauber der Blicke, wird das Verlangen schwächer. Und die Liebe endet.

Wir haben gelernt, dass das Vertrauen eine widerrufbare Entscheidung ist. Früher oder später werden die Versprechen nicht gehalten, werden die Programme nicht respektiert, kommen die Lügen ans Licht. Und das Vertrauen macht sich davon.

Wir haben gelernt, dass der Frieden ein unsicherer Wert ist. Früher oder später wird ein Demonstrant auf der Strasse niedergeprügelt, wird ein Pendler von einem Zug zerfetzt, wird ein Zivilist in seinem Haus bombardiert. Und der Friede ist vorbei.

Wir haben gelernt, dass die Arbeit eine temporäre Beschäftigung ist. Früher oder später wird die Technologie erneuert, wird der Sektor gesättigt, tritt der Markt in Krise. Und die Arbeit ist zu Ende.

Wir haben gelernt, dass unser ganzes Leben vorläufig und prekär ist. Wir können die Bilder, die vor dem Fenster vorbeiflitzen, nicht selber aussuchen, und auch nicht, wer sich neben uns setzt. Es passiert, was passiert; unnütz, zu protestieren, und ausserdem ist es verboten, mit dem Chauffeur zu sprechen. Dies ist, weshalb uns nichts von dem, was passiert, zu berühren scheint. Wenn die Passagiere eines öffentlichen Verkehrsmittels stumm und regungslos jeder Aggression beisitzen, so sitzen die Passagiere des Lebens stumm und regungslos jedem Missbrauch bei. Anstatt uns dazu anzuspornen, unsere Verlangen hier und jetzt zu verwirklichen, eilig, bevor es zu spät ist, hat uns die Vergänglichkeit unseres Lebens blind, unempfindsam und resigniert gemacht.

So wundert es uns nicht einmal, wenn wir erfahren, dass auch die Freiheit eine provisorische Bedingung ist. Ja, auch die Freiheit. Was einst der Hauptgrund war, wofür man lebte, kämpfte und starb, hat heute die Züge eines Privilegs angenommen, das für die wenigsten unentbehrlich, und für die meisten überflüssig ist. Früher oder später kann es allen geschehen, zu sprechen, zu lieben, zu protestieren, zu leben, ohne dafür bei den zuständigen Personen um Erlaubnis zu fragen. Und mit der Freiheit ist es vorbei. Zumindest für jene, die, müde, den vorbeifahrenden Zuschauer zu spielen, um jeden Preis aus der sozialen Maschine aussteigen wollen, die auf eine Fahrt losgeschickt wurde, die sie nichts angeht. Schliesslich für jene, die darauf beharren, zu denken, dass die Freiheit noch immer der Hauptgrund ist, wofür es zu leben und zu kämpfen gilt.

Allen anderen wünschen wir eine angenehme Fahrt. Und vergesst nicht, eure Tickets abzustempeln.


Originaltext auf dem italenischen Blog "Finimondo" (www.finimondo.org).

Unruhenachrichten

Die naiven PJZ Gegner…

Ein illegales Konzert lockte am Abend des 22. Augusts mehrere hundert Personen auf das Areal des alten Güterbahnhofs, wo die Bauarbeiten für ein neues Polizei- und Justizzentrum begonnen haben. Einige Individuen nutzten die Gelegenheit, um Flugblätter zu verteilen, Plakate zu kleistern und Parolen zu sprayen, die den Vorschlag eines direkten und selbstorganisierten Kampfes gegen das PJZ verbreiten. Ein Vorschlag, der, wie scheinbar gewisse der Organisatoren zur Presse meinten, “so naiv” ist, zu glauben, dass sich dieser Bau tatsächlich noch aufhalten lässt. Ein Vorschlag, der sich von Sabotageakten nicht distanziert, sondern sie offen ermutigt, als ein Mittel für alle, die genug von den politischen Betrügereien haben. So meint die Presse, “sei die Firma, die den Güterbahnhof abreisst (Eberhard), in den letzten Monaten zum Ziel von mehreren Vandalenakten geworden.” Auch die Baustelle des PJZ selbst sei an diesem Abend schon zum dritten Mal mit Sprayereien bedeckt worden. Diesmal ist von der Hardbrücke aus in grossen Lettern zu lesen: “Zerstören wir, was uns unterdrückt! PJZ Niemals!”, während anderswo geschrieben steht: “Das PJZ wird auch zu deiner Unterdrückung sein.”, und: “Weder Politiker noch Parteien, organisieren wir uns selbst!”

Nun, dann lasst uns weiterhin naiv bleiben, und, entgegen jedem demokratischen Menschenverstand, hartnäckig und eigenhändig gegen den Bau dieses schändlichen Projektes kämpfen. Vergessen wir das Gequatsche der Medien und Politiker, seien sie parlamentarisch oder “von der Bewegung”, und lasst uns diesen sozialen und aufständischen Kampf beleben. Wir alle können, selbstorganisiert und vertreut, die verschiedenen Interessen aufzeigen und angreifen, die hinter diesem Bau stehen.

Und schliesslich, bleibt sich zu fragen, was eine solche Anzahl Menschen, wie sie sich an diesem Abend versammelte, auf dem Baugelände des PJZ-Areals anstellen könnte, wenn sie diesen Bau tatsächlich aufhalten will…

Geld oder Leben

Ein 21-jähriger Junge ist am 1. August gestorben. An diesem Tag, während der Grossteil der Schweizer Bevölkerung ihren grossartigen Staat hochjubelte, hat er versucht, den eisernen Fängen eben dieses Staates zu entkommen. Er hätte wohl kaum das Geld gehabt, um es mit solch unterwürfigen Feierlichkeiten zu verschleudern. Er sass wegen eines Banküberfalls in Untersuchungshaft. Sein Versuch, sich das, was ihm fehlt, dort zurückzuholen, wo es sich die Ausbeuter im Übermass anhäufen, musste er mit seiner Freiheit bezahlen. Sein Versuch, sich die entrissene Freiheit zurückzuholen, musste er mit seinem Leben bezahlen. Der Preis einer Welt des Geldes und der Macht. Die Umstände seines Todes sind dann auch ziemlich… dubios. Die Ermittler meinen nun, einige Wochen später, es habe sich “mit grosser Wahrscheinlichkeit um Suizid” gehandelt. Aha. Erklärt wird das wie folgt: Als der Untersuchungshäftling nach einem Arztbesuch die Flucht ergriff, geriet er mit einem Polizisten in ein Gerangel, dabei habe er diesem die Waffe entrissen, um sich dann… selbst in den Kopf zu schiessen. Und das Feuerwerk glitzerte über diesem neuen Streich des hochgejubelten Staates.

Ausgabe 11

1:12

Gleichheit kennt keine Proportionen

Wir leben in einer Welt, die in Reiche und Arme unterteilt ist. Das wissen wir alle. Das ist eine allgemein bekannte und, offensichtlich, auch eine recht breit akzeptierte Tatsache. Und doch, wie es scheint, vermag sie gelegentlich für Empörung zu sorgen, selbst bei den einen oder anderen Politikern. Aber nein doch, sagt ein Hauch von Gerechtigkeitsgefühl in ihnen, dass einige wenige das zig-fache der grossen Mehrheit verdienen, während die anderen sich tagtäglich abrackern müssen, um über die Runden zu kommen, das kann doch nicht sein! Und so haben sich einige beherzte Sozialisten auf ihr Wahlkampfpferd geschwungen, um hier einmal für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Nein, nicht die Gleichheit, dieses alte sozialistische Prinzip, so tollkühn sind dann unsere beherzten Ritter doch wieder nicht. Einfach die allzu offensichtliche Ungleichheit etwas reduzieren, ja, das würde sich für unsere demokratische Gesellschaft schon gehören. 1:12, so soll das Verhältnis sein. Ihr habt schon richtig verstanden, nicht 12:1, was ja zumindest noch nachzuvollziehen wäre. Nein, die 1, das seid ihr. Ihr, die überwiegende Menge von Arbeitenden, diejenigen, die die Häuser bauen, in denen die Menschen wohnen, sowie die Strassen, die sie befahren, diejenigen, die, von einem miesen Job zum anderen wechselnd, die gesamte Infrastruktur dieser kapitalistischen Gesellschaft in Gang halten – die, wie wir vielleicht festgestellt haben, kaum zu unseren Gunsten, sondern einzig zur Aufrechterhaltung unserer Ausbeutung zu Gunsten der Reichen dient – ihr alle, ihr sollt nun endlich von der Demütigung der Ungerechtigkeit erleichtert werden. Ihr sollt nun nur noch 12 Mal weniger Wert sein als diejenigen, die, aufopferungsvoll und erhaben, für euch die schweeere Last der Verantwortung, des Befehlens und, nicht zuletzt, des überquellenden Eigentums übernehmen – so schwer, dass sie tiefe Dellen in ihren plüsch-gepolsterten Chefsesseln hinterlässt.

Nun, bei allem Respekt vor dem Gerechtigkeitsgefühl unserer tapferen sozialistischen Ritter, aber mit einem Kampf für soziale Gleichheit und Freiheit hat das wenig zu tun. Geschweige denn von der Tatsache, dass die wirkliche Gleicheit die Beseitigung des Eigentums und der Autorität, und somit der Lohnsklaverei und der Ausbeutung des Menschens durch den Menschen erfordert, und dass sie gewiss nicht dadurch erkämpft wird, dass man einen Papierzettel in irgendeine Schachtel wirft. Ganz im Gegenteil beginnt dieser Kampf damit, die Delegation der sozialen Probleme an die Politiker zu verweigern, und sie selber in die Hand zu nehmen, und kann er letztendlich auf nichts anderes hinauslaufen, als auf die soziale Revolution, das heisst, die allgemeine Enteignung und Vergemeinschaftung der Reichtümer und die Zerstörung des Staates, der stets die Interessen der Reichen, und somit die soziale Ungleichheit beschützt und verteidigt. Und diese Enteignung der Reichtümer von jenen, die sie im Übermass besitzen, da angehäuft durch die Ausbeutung unserer Arbeit, darauf haben wir alle ein Recht, vom heutigen Tag an, ob individuell oder kollektiv. Auch ohne auf irgendeinen grossen Tag der Gerechtigkeit zu warten. Dies ist der Vorschlag, den wir jenen machen können, welche die herrschende Ungleichheit nicht akzeptieren wollen, und nicht irgendwelche Proportionen.

Aber dieser Kampf – und das mag unsere dem König Demokratie treu ergebenen Ritter erschrecken –, der kann nicht mit dem zahmen Gaul des Wahlkampfs gefochten werden, sondern nur mit dem wilden Mustang der Rebellion, unzähmbar und freiheitsliebend.

Eigentum

In der heutigen Zeit sind wir gezwungen, unser Leben – unsere Zeit und Energie – zu verkaufen, in den Dienst dieser beschissenen Ordnung zu stellen, um uns mit dem Lohn dann über Wasser zu halten. Die Arbeit gilt heute etlichen als etwas an und für sich wertvolles und in der Logik der Bürger wird selbst dem dümmsten Job irgendein Sinn abgewonnen. Wir, die wir gar nichts produktives zur bestehenden Ordnung beitragen wollen, halten auch nichts von der Arbeit, der Sklaverei unserer Zeit, und wollen stattdessen davon sprechen, dass diese Eigentumsordnung, die uns dazu zwingt, uns ausbeuten zu lassen, zu zerstören ist.

In dieser staatlich-kapitalistischen Zivilisation ist das Eigentum einer der heiligsten Werte. Unzählige Leute werden eingesperrt wegen sogenannten Eigentumsdelikten, und dafür haben die Herrschenden auch allen Grund, denn schliesslich ist der Respekt vor dem Eigentum – der damit eingebläut werden soll – einer der Grundpfeiler dieser Ordnung. Jeder soll zu einem guten Bürger konditioniert werden, der in seiner Ignoranz nur die Parzelle seiner kleinen, heilen Privat-Welt betrachtet und diese – ein eigentliches Gefängnis – liebt, verteidigt und nie ihre Grenzen übertritt.

Das Eigentum ist grundlegend mit der Herrschaft verknüpft. Das Eigentum definiert sich nicht dadurch, dass dem jeweiligen Individuum etwas gehört, sondern dadurch, dass es dieser Person allein und ausschliesslich gehören soll und zudem, dass dieses Eigentum einer Person rechtlich gehören soll, dass es durch einen legalen Titel geheiligt ist. Das heisst zum Beispiel: Das Haus, in dem du wohnst, gehört irgendeinem Typen, den du vielleicht nie gesehen hast und der von seinem Sessel aus sagt, was mit diesem Eigentum gemacht werden darf. Es bleibt also sein Eigentum, und du darfst nur nach einem fremden (seinem) Regelwerk darauf handeln.

Das Privateigentum hat aber eigentlich als Grundlage die Herrschaftsmacht. Wer effektiv das Eigentum gegen die, die weder betteln noch sich verkaufen wollen, gegen den Pöbel also, durchsetzt, das ist die Polizei im weitesten Sinne. Das heisst, es muss nicht unbedingt der uniformierte Bulle sein, es kann auch irgendein Anhänger der Legalität sein, der sich geneigt fühlt, Polizei zu spielen und die herrschende Eigentumsordnung zu beschützen. Es gibt leider viel zu viele, die sich durch Denunziation von z.B. so etwas alltäglichem wie Ladendiebstahl hervortun; bei Bonzen mag das ja noch einigermassen nachvollziehbar sein, das solch erbärmliche Gestalten aber teils Menschen sind, die von dieser Ordnung selbst so gut wie gar nicht profitieren, stärkt mich nur in der Überzeugung, dass die Gesetzestreuen mit zu unseren schlimmsten Feinden gehören.

Durch die Mittel der Eroberung nimmt das Eigentum immer mehr Raum ein, und was heute absurd wirkt, wird morgen schon irgendjemandes Privateigentum sein. Heute sind viele schockiert, das teils schon Wasser privatisiert wird, aber dass die unmittelbare Umwelt, in der du lebst, nicht dir gehört, sondern einer Firma, dem Strassenbauamt, etc., und dass irgendwelche Bürokraten und Architekten darüber bestimmen, wie deine Umwelt als nächstes verunstaltet wird, ignorieren die meisten. Wenn wir uns gegen zweiteres nicht auflehnen, wird ersteres immer eine Möglichkeit bleiben. „Der Fortschritt ist unaufhaltsam“, heisst es. Und solange nur der Kapitalismus fortschreitet, wird auch diese Welt immer kompletter zum Privateigentum von irgendwem. Und da hilft es auch nichts, die Verstaatlichung von irgendetwas zu fordern, denn das Prinzip bleibt das gleiche: Alle anderen, alle, die nicht offiziell Eigentümer sind, werden von der jeweiligen Sache ausgeschlossen. Und so produziert diese Ordnung Milliarden von Ausgeschlossenen, die sich an die Reichen verkaufen müssen, in Wohnungen gepfercht werden, die ebendiesen Reichen gehören, etc.

Wie gesagt: Hinter dieser Ordnung, die jedem sein parzelliertes Fleckchen zuteilt, steht die Regierung, die diese Sache verwaltet. Denn, um dieses ganze Spiel aufrechtzuerhalten, braucht es die Bullen, die den Regelverstoss bestrafen (oder gar verhindern). Was es aber noch vielmehr braucht, sind Untertanen. Leute, die diese Ordnung respektieren, das Eigentum respektieren. Darauf ist diese Ordnung aufgebaut, dass die Leute nicht permanent versuchen, sich der Maschinerie zu entziehen und sie im geeigneten Augenblick anzugreifen, sondern, dass sie an diese Ordnung glauben, hoffen, irgendwann ihren Teil vom Kuchen zu bekommen, nicht mehr Ausgeschlossen zu sein, sondern ihr möglichst tief in den Arsch zu kriechen, um dann darin zu versauern. Diesen Leuten ist der Respekt vor dem Eigentum so tief eingeprägt, dass sie es gar für „natürlich“ halten, und (dadurch) die Barrieren, die es zwischen alle Leute setzt, verewigen.

Wenn wir uns aber nicht mit den Parzellen abfinden wollen, die uns zugestanden werden, sehen wir, dass wir Ausgeschlossene sind. Die Möglichkeiten aber, die eine grenzenlose Freiheit mit sich brächte, sind enorm. Da wir nunmal in dieser Welt leben, wo alles eingezäunt ist, bleibt uns zur Befreiung nur die Möglichkeit, alle Zäune einzureissen. Wenn wir die Gleichgültigkeit und Bezugslosigkeit gegenüber dem, was auf der Welt passiert und existiert, überwinden wollen, dann dadurch, dass wir unsere Betroffenheit in Taten umwandeln, also nicht dadurch, dass wir uns mit unserer Ohnmacht abfinden oder es an andere delegieren, „die Dinge zu verändern“, sondern dadurch, dass jeder und jede Einzelne die eigene Verantwortung, die Initiative und Dinge in die eigenen Hände nimmt. Diese Aneignung des Lebens ist aber nur durch die Revolte möglich, durch die Aneignung der eigenen Destruktivität. Das setzt die komplette Respektlosigkeit gegenüber Gesetz und Eigentum voraus, um all die Institutionen, die architektonische Umgebung und die Bauten, die uns enteignen, ausschliessen und unterdrücken, zu zerstören – egal wessen Eigentum sie sich nennen. Denn die Welt gehört allen…

…wenn wir sie uns nehmen!

Gefangene der Geschichte

Eine der häufigsten Kritiken, die uns unsere Gegner vorwerfen, ist, dass die Anarchie unter dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht realisierbar sei. Es mag euch vielleicht komisch erscheinen, gesagt von Anarchisten, aber bis hierhin haben wir nichts einzuwenden. Es handelt sich im Grunde um keine unfundierte Kritik: Es wäre ein Fehler – der leider auch von vielen Anarchisten gemacht worden ist –, zu denken, dass eine „anarchistische“ Organisation der heutigen Gesellschaft, konstruiert nach dem Ebenbild der Herrschaft, nicht bloss möglich, sondern, mehr noch, sogar wünschenswert sei.

Lassen wir unsere Gedanken einen Moment ins Absurde schweifen: Wenn, aus irgendeinem mysteriösen Grund, von einem Tag auf den anderen, Bosse, Politiker, hierarchische Organisationen, usw., verschwinden würden… als wäre dies alles schlicht aus der Gesellschaft herausgeschnitten worden. Das Ganze wäre offensichtlich unmöglich, ohne dass die Gesellschaft selbst weiter verändert werden müsste, um sie so einzurichten, dass es tatsächlich möglich ist, sie auf anarchistischen Grundlagen zu organisieren, in anderen Worten: über die blosse Frage der Selbstverwaltung hinaus, müsste man entscheiden, welche in der heutigen Gesellschaft bestehenden Strukturen mit der Freiheit des Menschen vereinbar sind, und welche nicht. Die Strukturen, die nicht mit der Freiheit vereinbar sind, müssten demnach verlassen oder zerstört werden. In diesem Fall würde die Gesellschaft selbst als etwas völlig anderes resultieren als die Welt, in der wir heute leben, und es würde sich nicht einfach um die Organisation der heutigen Gesellschaft auf anarchistischen Grundlagen handeln. In einer Gesellschaft ohne Privateigentum, ohne Repression, ohne Hierarchien, basierend auf der Solidarität, können wir uns da die Existenz von Polizei, Banken, Versicherungen, Bürokratie, Atomkraftwerken, Gewerkschaften oder Waffenfabriken vorstellen? Beispiele gäbe es hunderte.

Aus diesem Grund wäre eine anarchistische Gesellschaft schlichtwegs etwas anderes als eine blosse Änderung der Organisationsweise. Aus diesem Grund ist die Anarchie, unter dem gegenwärtigen Stand der Dinge, nicht möglich. Aber woraus entsteht dieses Missverständnis? Dieses Missverständnis entsteht aus einer fortschrittlichen Auffassung der Menschheitsgeschichte. Eine Auffassung der Welt, wonach die Geschichte des Menschen immer weiter von einem Zustand der Barbarei zu einem Zustand grösserer Freiheit und Zivilisation voranschreitet. Diese Auffassung der Geschichte ist in den vergangenen Jahrhunderten von vielen Denkern ab der Aufklärung entwickelt worden, und sie ist auch von vielen Anarchisten und vielen anderen Revolutionären angeeignet worden, welche – mit dem Fall der Monarchie in Europa, der allgemeinen Entwicklung einer grösseren Toleranz in der Gesellschaft, der Entwicklung von neuen Produktionsmitteln, die fähig sind, gleichzeitig die Produktion zu erhöhen und die menschliche Anstrengung zu verringern – in einem präzisen historischen Moment lebten, kurz gesagt: in einem Klima von Optimismus gegenüber den neuen Möglichkeiten, die von der Wissenschaft und der neuen demokratischen Gesellschaft eröffnet wurden. Diese Anarchisten und Revolutionäre sahen in der Entwicklung der Wissenschaft eine mögliche Befreiung von der Arbeit und folglich von der Ausbeutung, und in der Entwicklung der demokratischen Gesellschaft eine Evolution in Richtung der zukünftigen anarchistischen Gesellschaft.

Die Geschichte und der Fortschritt wurden somit als positive Kräfte betrachtet, die zur künftigen Befreiung des Menschen führen.

Unnötig, zu sagen, dass man heute, einige Jahrhunderte Geschichte, Fortschritt und Demokratie später, unschwer feststellen kann, dass all diese Versprechungen und Illusionen völlig ungerechtfertigt waren, und sind. Die Wissenschaft und die Technik haben uns nicht von der Arbeit und von der Ausbeutung befreit, im Gegenteil haben sie sich als Werkzeuge zur Reproduzierung und zur Fortführung der Ausbeutung herausgestellt, und dies nicht, weil sie falsch eingesetzt wurden, sondern weil sie von denselben Ausbeutungslogiken erzeugt wurden. Die demokratische Gesellschaft war keine Evolution in Richtung der Freiheit, und sie ist es noch nie gewesen, sie war im Gegenteil eine Anpassung der Macht an die neuen sozialen Bedingungen, eine Umwandlung in Richtung von einer anderen Form von Herrschaft.

Wenn wir wirklich in Richtung einer freien Gesellschaft voranschreiten wollen, dann müssen wir von der Feststellung des ideologischen Schwindels des Fortschritts ausgehen, von der Feststellung, dass es keinen beruhigenden Mechanismus gibt, der fähig ist, uns ohne unser Einwirken in Richtung dieser Gesellschaft zu bringen, schliesslich, um es anders auszudrücken: wenn wir neue Horizonte erreichen wollen, dann müssen wir beginnen, uns nach ihnen auf den Weg zu machen, denn nichts und niemand wird es für uns tun, ohne Angst vor den Hindernissen, die sich vor uns auftun könnten, wie unüberwindlich sie auch scheinen mögen. Sowie es, um sich auf den Weg zu machen, notwendig ist, sich zu orientieren, zu verstehen, in welcher Richtung sich das befindet, was man sucht – sonst könnten wir leicht vom Weg abkommen, oder schlimmer noch, im Kreis gehen –, ist es notwendig, das Terrain zu kennen, auf dem wir uns momentan befinden, um seine Gefahren und seine möglichen begehbaren Wege zu erkennen, die nötige Ausrüstung zu haben, die zur Unternehmung dieser Reise dient, und braucht es nicht zuletzt das eigentliche Sich-Bewegen, denn ohne Bewegung, auch auf die Gefahr hin, Fehler zu begehen, bleibt das Ganze nur ein Abschweifen der Gedanken. Um in Richtung einer freien Gesellschaft voranzuschreiten, müssen wir wissen, nach was wir streben wollen, müssen wir die Welt kennen, in der wir heute leben, um die Möglichkeiten, die potenziellen Komplizen darin erkennen zu können, um unsere Feinde (die sich oft unter dem Gewand des Komplizen präsentieren) und vor allem die Fallen, die uns gestellt werden, entlarven zu können, müssen wir ein Projekt haben – sprich: müssen wir wissen, wie es ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen möglich sein kann, eine tatsächliche Veränderung in Richtung von dem, was wir uns wünschen, eine Brücke zwischen der Gegenwart und der zukünftigen anarchistischen Gesellschaft, herbeizuführen –, auch wenn dieses Projekt partiell und nicht perfekt, im Laufe seiner Realisierung zu verfeinern ist. Nicht zuletzt müssen wir uns die nötigen Werkzeuge verschaffen, um dieses Projekt voranzutragen. Wenn wir von Projekt sprechen, müssen wir sicherlich einerseits sehr achtsam darauf sein, nicht in eine effizientistische Logik zu fallen, das heisst, nicht die Bewertung unserer Aktion auf im Voraus festgelegte, unmittelbare Resultate zu reduzieren, und andererseits nicht in den Spontaneismus zu fallen, in eine mangelnde Bestimmung von dem, was zu tun ist, um ein gewisses Ziel zu erreichen.

Ohne eine Projektualität könnte sich unser Agieren auf ein reines Zwangsverhalten reduzieren, auf ein Reagieren auf äussere Stimulationen und auferlegte Termine, auf ein um sich Schlagen in alle Richtungen, ohne irgendwohin zu gehen. Deshalb glauben wir, dass es für die Feinde dieser Welt wichtig ist, eigene Projektualitäten zur Umwälzung dieser Welt auszuarbeiten.

Mörder!!!

Am 2. Oktober 2013 ist ein Schiff aus Libyen, überfüllt mit 500 Migranten, vor der Küste Italiens versunken. Der Grossteil von ihnen ertrank. Aufgrund der traurigen Wiederholung solcher Ereignisse, Jahr für Jahr, Monat für Monat, bleibt uns nur, die Worte eines Plakates zu wiederholen, das 2004, angesichts einer selben Tragödie, in Lecce, einer Stadt an der Süditalienischen Küste, auf alle Wände geklebt wurde.

Das x-te Massaker hat sich im Mittelmeer ereignet, das letzte in einer äusserst langen Reihe, die seit Jahren die Meere, die Italien umgeben, in Blut tränkt. Ein weiteres Mal hat die ganze zivilisierte Gesellschaft ihre Mitleidsstimmen erhoben; ein weiteres Mal wurden von Seiten der verschiedenen politischen Kräfte die Entrüstungschore laut; ein weiteres Mal stürzten sich Zeitungen und TV scharf auf die Verbrecherbande, welche die sogenannten „Reisen der Hoffnung“ organisiert, und auf die skrupellosen Schleuser der Bootsflüchtlinge. Ein weiteres Mal haben Menschen auf der Suche nach einer lebenswürdigen Existenz ihr Leben gelassen: alle empören sich, aber gleichzeitig lenken sie die Aufmerksamkeit ab und hüten sie sich gut davor, auf die wirklichen Verantwortlichen für diese Tragödien zu zeigen, wovon um unsere Küsten eine auf die andere folgt. Und doch, auch wenn es keine materiellen Täter gibt – wie es hingegen 1997 beim Versinken des albanischen Schiffes Kater I Rades geschah –, sind die Auftraggeber dieser Morde nur allzu leicht ermittelbar. Es sind die Staaten, die Regierungen und die Organismen, die mit ihrer Verteidigung und ihrem Schutz beauftragt sind. Jedes Mal, wenn ein Mensch auf diese Weise stirbt, sind die Staaten schuld, welche Schranken errichtet haben, um die Entrechteten abzuweisen, die versuchen, ihre Grenzen zu überschreiten; sind die Regierenden schuld, welche bilaterale Abkommen geschlossen haben, um die Armen dazu zu verurteilen, an ihrer Armut zu sterben, und in ihrem Herkunftsland zu sterben; sind die Armeen schuld, die Krieg und Tod in ferne Länder tragen, um sich ihrer Ressourcen zu bemächtigen, sie zu kontrollieren und auszubeuten; sind die Polizeikräfte schuld, die sich dafür einsetzen, diejenigen, die von diesen gemarterten Ländern fliehen, zurückzuweisen, zu jagen und einzufangen; sind schliesslich diejenigen schuld, die sich, hier bei uns, darum kümmern, diese Männer und Frauen einzusperren, in Erwartung darauf, ein Flugzeug oder ein Schiff zu füllen, und sie wieder zurück in die Hölle zu schicken, wovor sie geflüchtet sind. […]

Wir wissen nicht, wie lange wir noch weinen sollen, wir wissen, das wir es müde sind. Aber wir wissen auch, dass, sich auf die Tränen und das Bedauern zu beschränken, sicher nicht ausreichen wird, um zu verhindern, dass noch viele weitere Tote auf die der letzten Tage folgen werden. Wir müssen uns konkret dafür in Gang setzen, all dem ein Ende zu setzen, den Betrug zu demaskieren, hinter dem sie die Wahrheit verbergen, mit aller Luft, die wir im Körper haben, herausschreien, was die Staaten und Regierungen für uns wirklich sind: Mörder!!!

Unruhenachrichten

Standortfucktor

Mitte September fand in Winterthur eine Tanzdemo unter dem Namen „StandortFUCKtor“ statt. Offensichtlich aufgeschreckt durch die wilden Ausmasse, die andere derartige Veranstaltungen angenommen haben, versuchten die Bullen von Beginn an, jeden Ansatz zu ersticken. Mit einem riesigen, kantonalen Aufgebot, mit Gitterwägen, Wasserwerfern und Gummischrot wurde die Versammlung gleich am Bahnhofplatz eingekesselt. Der Masse gelang es trotz allem, aus diesem Kessel auszubrechen, um sich dann an einem anderen Ort zu versammeln. Hier starteten die Bullen ihren nächsten Angriff, dem auch mit verschiedenem Wurfmaterial entgegengetreten wurde. Dennoch gelang es den Bullen, einen Teil der Leute ein zweites Mal einzukesseln. In diesem Kessel, aus dem immer Mal wieder Flaschen flogen, während die Bullen die Eingekesselten mit Wasserwerfer und Gummischrot eindeckten, schossen die Ordnungshüter einer Person das Auge aus!…

In derselben Nacht wurden mehrere Bullenautos versprayt, und etwas später verlor die Halter AG – eine der hauptverantwortlichen für die „Aufwertung“ in Winterthur – mehrere Scheiben. Soviel zu den Ereignissen.

Die Medien geben sich nun teils plötzlich schockiert über den „unverhältnissmässigen Polizeieinsatz“. Aber es gibt keine „verhältnissmässigen“ Polizeieinsätze. Das einzig verhältnismässige ist es, die Verhältnisse, den Staat, etc., anzugreifen… Dass die Medien sich nun so geben, zeigt nur einmal mehr ihr heuchlerisches Wesen. Lassen wir uns nicht verarschen. Lassen wir die Dynamik der „wilden Strassenfeste“, die sich in letzter Zeit schweizweit entwickelte, nicht von den Medien, politischen Organisationen, etc. vereinnahmen. Denn, das wird versucht, wenn auch bisher relativ erfolglos – setzen wir den Vereinnahmungsversuchen das höhnische Lachen der Revolte entgegen. Keine Kommunikation mit Bullen, Medien und Politikern. Auge um Auge!

1000 Gründe

Ende September waren bei der Bullenwache am Meierhofplatz in Höngg die Scheiben eingeschlagen. An der Wand waren folgende Graffitis zu lesen: „Fuck Cops“ und „Es gibt 1000 Gründe!“. Bestimmt wird jeder, der schmunzelnd daran vorbeispazierte, seine eigenen gehabt haben.

Sabotage

Zur täglichen Ausbeutung fahren, von Uniformierten kontrolliert und von Überwachungskameras gefilmt werden, und dafür auch noch bezahlen? Eine Frage, die sich für einige wohl von selbst erledigte, die eines Morgens Anfangs Oktober in den Kreisen 1, 4 oder 5 ein Ticket lösen wollten. Rund 24 Ticketautomaten der VBZ waren ausser Betrieb, da jeweils Ausgabeschalen, Kartenleser und Münzschlitze mit Schaum gefüllt wurden…

Selbstverwalten?

In Bangladesch kamm es Ende September zu massiven Unruhen in einer Industriezone. Zehntausende streikende Arbeiter konfrontierten sich mit den Ordnungskräften, während 3 Industriekomplexe vollständig zerstört wurden. Und da soll uns noch jemand kommen und sagen, das Ziel einer Revolution wäre es, alle Produktionsstrukturen selbstzuverwalten. Diese Todesfabriken gehören zerstört, und nichts anderes. Die Arbeiter selbst wissen das am besten.

Ausgabe 12

Editorial

Seit einem Jahr schon findet nun der Aufruhr auf den Strassen und in den Köpfen von Zürich, und darüber hinaus, Verbreitung. Seit 12 Nummern versuchen wir mit unserem anarchistischen Blatt zum Denken und zum Handeln anzuregen, in der Perspektive eines Kampfs für die Freiheit. Die Reaktionen reichen von begeistert über kontrovers bis zu empört. Aber die Diskussionen leben auf und die Begegnungen mehren sich. Die anarchistischen Ideen zirkulieren und finden ihren Platz, bei jenen Individuen, die bereit sind, alles zu hinterfragen und den eigenen Freiheitsdrang zu wecken. Die Arbeit, die wir in den “Aufruhr” stecken, zeigt sich also fruchtbar, und wir haben keineswegs vor, nachzulassen. Ganz im Gegenteil.

Trotz der leichten Verspätung der letzten beiden Nummern, aus redaktionellen Gründen, wollen wir weiterhin unsere monatliche Regelmässigkeit aufrechterhalten. Ausserdem kann über die auf der Rückseite abgedruckte Kontaktadresse, gegen Spende oder auch unentgeltlich, ab jetzt auch eine Abonnierung oder ein Bündel mit allen bisher erschienenen Nummern angefragt werden. Wir freuen uns wie immer über Kommentare, Kritiken und Beiträge.

Der falsche Streitpunkt der Gewalt

Die Frage, die ich behandeln will, ist eine alte und immer wieder diskutierte Frage, sowohl unter Anarchisten wie auch im Allgemeinen. Es geht um die Frage der Gewalt. Ich bin der Ansicht, dass die Unterscheidung in Gewalt und Gewaltlosigkeit im Grunde ein falscher Streitpunkt ist, der vor allem von vielen Missverständnissen genährt wird. Dieser Artikel will versuchen – sicherlich nur ansatzweise – einige dieser Missverständnisse zu klären.

Wir, als Anarchisten, sind für eine freie und zwangslose Gesellschaft, basierend auf der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, und somit für die grösst mögliche Beseitigung der rohen Gewalt aus den sozialen Verhältnissen. Und eben aus diesem Grund sind wir Gegner des Kapitalismus und des Staates, der, unter Androhung und Anwendung der Gewalt (des Polizisten und gegebenenfalls des Soldaten), den Grossteil der Menschen dazu zwingt, sich von den Reichen und den Bossen ausbeuten zu lassen, beziehungsweise sich an die Gesetze zu halten, die diese Ausbeutung sicherstellen. Mittels der Gewalt verteidigt der Staat das heilige Eigentum, das heisst, beschützt er die Privilegien der Besitzenden und hält er die Armen davon ab, sich das zurückzuholen, was ihnen tagtäglich bei der Ausbeutung ihrer Arbeit gestohlen wird. Mittels der Gewalt setzt das Kapital seine wirtschaftlichen Interessen durch, auch ohne davor Halt zu machen, auf Kriege und Verheerungen (Umweltzerstörung, Atomkraft, etc.) zurückzugreifen. Dieser alltäglichen und ständigen Gewalt, der, unter den heutigen Bedingungen, Milliarden von Menschen ausgesetzt sind, als Auswuchs einer Gesellschaft, in der die Autorität und das Geld regieren, wollen wir so bald wie möglich ein Ende setzen.

Es wäre jedoch ein Irrsinn, ja geradezu ein fataler Fehler, zu glauben oder darauf zu hoffen, dass die Privilegierten, die von dieser Ordnung der Dinge profitieren, und die die Macht in ihren Händen halten, sich den Schaden zu Herzen nehmen, den sie für den Grossteil der Menschen bedeutet, und freiwillig auf ihre Privilegien verzichten würden. Darum sind wir überzeugt, dass es, um dieser sozialen Ungleichheit ein Ende zu setzen, eines Aufstands bedarf – von Seiten jener, die unter diesen Bedingungen leiden und sich, je bewusster sie sich dieser Bedingungen werden, umso dringender davon befreien wollen. Deshalb kämpfen wir für eine soziale Revolution, die sicherlich ein Anwachsen und eine Verbreitung dieses Bewusstseins bedingt, aber dennoch ohne jene aufständischen Bewegungen unmöglich bleibt, die fähig sind, das zu zerstören, was die systematische Gewalt, das heisst, den Staat und die Ausbeutung möglich macht. Dieser revolutionäre Prozess wird immer die konservativen und staatlichen Kräfte gegen sich haben und kann, so bitter wir dem auch gegenüberstehen mögen, nicht anders als gewaltsam sein.

Die Frage liegt also, aus diesem Blickwinkel betrachtet, jenseits des falschen Streitpunkts von Gewalt oder Gewaltlosigkeit. Die Gewalt ist ein Übel. Und dennoch ist sie, zur Befreiung von den gegenwärtigen Unterdrückungsbedingungen, notwendig, ja wäre es fatal, ihr zu entsagen, wenn wir nicht dafür mitverantwortlich sein wollen, dass die alltägliche und grössere Gewalt dieser Ordnung weiter fortdauert. Auch wenn ich jeden verstehen kann, der aus persönlichen Gründen auf jeglichen Gebrauch von Gewalt verzichten will: daraus ein universelles Prinzip zu machen, bedeutet, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das einzige Mittel abzusprechen, um ihrer Bedingung wirklich ein Ende zu setzen.

Betrachten wir die Frage unter einem anderen Aspekt. Im Grunde läuft die Position der meisten sogenannten „Gewaltlosen“ darauf hinaus, die Legitimität des Gebrauchs von Gewalt auf die äusserste Notwendigkeit, auf die Verteidigung gegen einen unmittelbaren und materiellen Angriff zu reduzieren. Wenige gehen soweit, zu behaupten, man solle sich lieber erschiessen lassen, als zurückzuschlagen – abgesehen von irgendwelchen christlichen Märtyrern vielleicht.

Doch, wenn wir davon ausgehen, dass die Gewalt einzig als Verteidigung gegen einen materiellen Angriff legitim ist, befindet sich dann derjenige, der sich in einer Situation von Ausbeutung und Unterdrückung befindet, der, aufgrund eben dieser Situation, einer permanenten Drohung ausgesetzt ist, nicht immer im Zustand von legitimer Verteidigung? Und, im Wissen, dass der Angriff oft die beste Verteidigung ist, wieso sollte er erst, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Repression des Gegenübers bis zum Äussersten getrieben wird, moralisch gerechtfertigt sein, sich gegen die Verantwortlichen für seine Bedingung zu wehren? Und, ganz abgesehen davon, wieso sollte sich jemand anmassen, darüber urteilen zu können, ab wann jemand anderes (dessen intime Bedingung wir meistens kaum kennen) genug unterdrückt wurde, um sich legitim verteidigen, beziehungsweise angreifen zu dürfen?

In unseren Augen ist die rebellierende Gewalt des Unterdrückten immer eine verteidigende Gewalt. Der Staat, die Polizei, die Gefängnisse, die von den Bossen organisierte Ausbeutung, und jede andere repressive Institution, stellen alleine schon durch ihr Bestehen eine Drohung, eine Provokation, ein Angriff dar. Und es ist nicht nur legitim, sondern, wenn wir uns dieser Gewalt nicht einfach unterwerfen wollen, notwendig, vom heutigen Tag an, ob individuell oder kollektiv, gegen sie die Initiative zu ergreifen und Angriffe zu realisieren, ohne auf irgendeinen hypothetischen grossen Tag der Befreiung zu warten.

Wie oft sind nicht jene, die schreien, wenn ein Individuum sich auflehnt und gewaltsam gegen seine Unterdrückung rebelliert, dieselben, die schweigend Kriege und Polizeigewalt als Normalität legitimieren? Wir wissen, dass diese Ordnung jeden gewaltsamen Akt von Rebellen immer als Grausamkeit hinstellen wird, während sie selber im Hintergrund foltert, tötet und massakriert. Wir wissen, was der „Friede“ bedeutet, wovon die Regierenden ständig und überall sprechen, und wir wollen diesen Frieden nicht. Denn, wie es ein Anarchist einmal ausdrückte: « amit zwei in Frieden leben können, ist es notwendig, dass beide den Frieden wollen; […] wenn einer der beiden darauf beharrt, den anderen mit Gewalt dazu zwingen zu wollen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, der andere, wenn er seine Menschenwürde bewahren und nicht in die niederträchtigste Sklaverei gezwungen werden will, trotz all seiner Liebe für den Frieden und das gute Einverständnis, gezwungen sein wird, der Gewalt mit angemessenen Mitteln Widerstand zu leisten. 

Wem gehört die Stadt?

Der folgende Text zirkulierte als Flugblatt an einer Demonstration am 26. November, die unter diesem Motto stattfand.

Ja, wem gehört sie den wirklich? Den Parteien, die nur auf Wählerfang sind und denken, durch ihr demokratisches Handeln die Welt verbessern zu können, damit aber nur den Status Quo aufrecht erhalten? Oder den Organisationen, die mit ihrer bürgerlichen Moral jedes autonome Handeln hemmen und jeden als Gefahr für die Gesellschaft abstempeln, der sich nicht ihrem demokratischen Diskurs fügen will?

Ihr fordert mit dieser Demonstration bezahlbaren Wohnraum, wir fordern vom Staat in erster Linie gar nichts. Von einem Staat etwas zu fordern, bedeutet, seine Bedürfnisse in die Hände von angeblichen Experten zu legen. Ihr redet und fordert Freiräume, wir haben genug davon, zu reden und zu verhandeln, und wollen nichts weniger als dass sich der Staat aus unseren Leben verpisst. Wir nehmen unsere Leben in die eigenen Hände, fernab von Staat und Kapital, und nehmen uns das, was uns eh schon gehört. Die Forderung, dass es mehr Freiräume für Kultur und Gewerbe braucht, und geichzeitig gegen eine Stadt der Kapitalinteressen zu wettern, zeigt, wie sehr diese Logik der Marktwirtschaft bereits verinnerlicht wurde.

Wir glauben, dass unsere Interessen und Bedürfnisse als Individuen von niemand anderem ausser uns selbst bestimmt werden sollten, und somit spucken wir auf alle Parteien und Organisationen.


Einige Wütende

Zum Kampf gegen den Bau des PJZ

[Der nachfolgende Text wurde uns zugesendet, mit der Bitte, ihn abzudrucken.]

Die meisten werden über das neue Polizei- und Justizzentrum, das beim ehemaligen alten Güterbahnhof gebaut wird, bereits bestens informiert sein, und ich will daher hier nicht lange bei technischen Informationen verweilen, und stattdessen vor allem auf unseren Vorschlag zu sprechen kommen, wie wir gedenken, dass dieser Bau noch immer verhindert werden kann. Dennoch will ich dieses Projekt kurz in einem Kontext verorten, den es wichtig ist, uns bewusst zu halten, um die Tragweite, das heisst, die beträchtlichen Konsequenzen zu verstehen, die es für das ganze umliegende Quartier, und darüber hinaus, haben wird.

Wie wir in der Vergangenheit bereits deutlich sehen konnten, sind im Quartier von Aussersiehl grosse Veränderungsprozesse im Gange. Die letzten in dieser langen Reihe können wir mit der Sanierung und Vertreibung der Anwohner an der Weststrasse, mit dem Luxusprojekt der Europaallee oder eben, mit dem Bau eines neuen Polizei- und Justizpalastes sehen. Dieser allmähliche „Aufwertungsprozess“, ein Wort, das offenbar etwas gutes suggerieren will, hat in Wirklichkeit für die meisten jetztigen Anwohner bedeutende negative Konsequenzen. Abgesehen davon, dass die Vorstellung von „Wert“ sehr verschieden sein kann, und, zumindest in unserem Fall, keineswegs mit jener der Reichen und Regierenden übereinstimmt, ist klar, dass diese Aufwertung nicht für alle realisiert wird. Davon „geniessen“ können, werden nur jene, die es sich auch leisten können, das heisst, die sich die steigenden Mieten leisten können, welche die Sanierungen und Neubauten unweigerlich mit sich bringen. Alle anderen werden früher oder später gezwungen sein, wegzuziehen, in den meisten Fällen in Richtung Stadtrand, wo bereits dafür vorgesehene Wohnblocksiedlungen stehen und in Planung sind.

Im Konkreten werden insbesondere für das Bullingerquartier, eines der 4 Pilotprojekte der Schweiz für „nachhaltige Quartierentwicklung“, bereits umfassende Zukunftspläne ausgearbeitet. An erster Stelle soll die unmittelbare Nachbarschaft des PJZ erneuert werden. Die Besitzer der Siedlungen rund um den Erismannhof sind bereits dabei, in Zusammenarbeit mit Ämtern der Stadtentwicklung die künftigen Neubauten zu planen. Für die Siedlungen Kanzlei und Seebahn ist der Bautermin auf 2018 angesetzt, also unmittelbar nach Inbetriebnahme des PJZ. Beim Erismannhof, der seit langem den Ruf von „Undisziplinierbarkeit“ geniesst, ist stark anzunehmen, dass in den kommenden Jahren dasselbe versucht wird. Weitere Abbrüche, Neubauten und Sanierungen werden, wie von der Stadtentwicklung Zürich angekündigt, im ganzen Bullingerquartier folgen.

Diese Veränderungsprozesse, die langsam aber sicher ihren Lauf nehmen, werden uns wie natürliche Entwicklungen präsentiert, die wir nichts als akzeptieren können. Mit einem ökologischen Anstrich und einer Pseudo-Miteinbeziehung der Quartierbewohner wollen sie verbergen, dass es sich dabei schlicht und einfach um ein weiteres Unternehmen handelt, um auf dem Rücken der ärmeren Schichten Profit zu schlagen. Diejenigen, die davon betroffen sind, haben also alles Recht, sich gegen diese Ausbeutung und Vertreibung zu wehren, und zwar mit allen Mitteln, die dafür nötig sind. Wenn wir nicht zuschauen wollen, wie diese Prozesse ihren Lauf nehmen, bis sie früher oder später an unserer Tür anklopfen, wenn wir die Bestimmung nicht einfach akzeptieren wollen, welche die Stadtregierung für uns vorsieht, dann sollten wir, meiner Meinung nach, nicht auf morgen warten, sondern heute damit beginnen, uns zu wehren.

Wenn wir über den Vorschlag eines Kampfes gegen den Bau des PJZ sprechen, ist es wichtig, uns den Kontext dieser Veränderungsprozesse im Quartier bewusst zu halten. Die heutige Baustelle beim ehemaligen alten Güterbahnhof hat im Grunde eine gewisse Schlüsselfunktion in diesen Prozessen. Sie liefert den entscheidenden Baustein, um das neue, aufgewertete und kontrollierte Quartier durchzusetzen, das die Stadtregierung realisieren will. Dieser riesige Gebäudekomplex, als Gefängnis, Strafverfahrenszentrum und Zentrale der Bereitschaftspolizei, soll mit einer erhöhten Polizeikontrolle im Quartier dafür sorgen, dass die Strassen und Plätze für die Bedürfnisse der künftigen, reicheren Anwohner gesäubert sind. Das Klima im Quartier wird sich bedeutend verändern und die Präsenz dieses Gebäudes, die Frequentierung durch Polizeipatrouillen und Gefangenentransporte, wird deutlich zu spüren sein. Nicht zuletzt wird ein gewisser Teil der zahlreichen Leute, die künftig im PJZ arbeiten werden, also Bullen oder Leute, die für die Bullen arbeiten, im anliegenden Quartier wohnen kommen und ein Teil von jenen sein, welche die bevorstehende Aufwertung in Anspruch nehmen.

Doch so entscheidend dieser Bau für die Veränderungsprozesse im Quartier, und in der Stadt im Allgemeinen sein wird, so entscheidend wird es sein, wenn er aufgehalten wird. Und dies ist etwas, das wir für möglich halten, mit der nötigen Entschlossenheit und Tatkräftigkeit.

Dass der politische Weg wirkungslos ist, haben wir in der Vergangenheit bereits gesehen. In 2 Abstimmungen wurde das PJZ angenommen, obwohl in den am direktesten betroffenen Gebieten praktisch alle Anwohner dagegen sind. Es wäre also sinnlos, die Verantwortung, etwas gegen dieses Projekt zu unternehmen, in die Hände von Politikern zu legen, die sowieso nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Wir haben auch gesehen, dass die anklagenden und fordernden Demonstrationen relativ wirkungslos bleiben. Unserer Meinung nach wäre es fatal, uns darauf zu beschränken, mit Protesten politischen Druck auszuüben und somit darauf zu hoffen, dass die Autoritäten früher oder später nachgeben. Etwas, das ausserdem heute im Falle des PJZ praktisch auszuschliessen ist.

Darum ist das, was wir vorschlagen können, das, worin wir eine reelle Möglichkeit sehen, diesen Bau noch immer zu stoppen, das direkte Eingreifen durch konkrete Taten. Wir schlagen vor, uns selber zu organisieren, unabhängig von irgendwelchen Parteien oder Organisationen, um ab heute Praktiken zu verbreiten, die wir alle selber in der Hand haben, und womit wir alle selber dafür sorgen können, dass dieser Bau gestoppt wird. Sei es durch die Verbreitung unserer Feindschaft mit Worten und Gesten, oder durch die konkrete Blockierung der Arbeiten, die Sabotierung der Baustelle, das Verursachen von ökonomischen Schäden bei den beteiligten Firmen oder die Störung der für den Bau Verantwortlichen. Die Möglichkeiten, einen solchen direkten und selbstorganisierten Kampf zu beleben und zu verbreiten, sind unzählige. Es liegt an uns allen, darüber zu diskutieren und sie in Praxis umzusetzen.

Trotz allem Mensch sein!

Der folgende Artikel wurde uns per Brief von Thomas Meyer-Falk zugesendet, ein anarchistischer Kamerade, der 1996 in Deutschland für einen Banküberfall verhaftet wurde, ein Überfall, dessen Ziel es war, Geld zu enteignen, um revolutionäre Aktivitäten zu finanzieren.

Wir versprechen ausserdem, in den nächsten Nummern des Aufruhr das Thema der Enteignung als revolutionäres Finanzierungs- und Überlebensmittel und jenes des Isolationsregimes, dem einige anarchistische Kameraden und andere revoltierende Gefangene unterzogen werden, in Artikeln zu vertiefen.

Trotz allem Mensch sein!

So beginnt eines der wohl bekanntesten Gedichte Erich Mühsams; und an anderer Stelle heisst es:

„Mensch sein heisst Unrecht bei der Gurgel fassen

und es mit jedem Keim zu Staub zerreiben“,

die galt damals und hat heute nicht an Aktualität verloren. Der „Aufruhr“ wird auch in Gefängnissen gelesen, dort, wo die gelandet sind, welche mal aus eigennützigen Motiven heraus, aber auch als politische Kämpferinnen und Kämpfer für eine Welt, die allen Menschen erlaubt, Mensch zu sein, aufrührerisch gehandelt haben – und dafür jetzt mit dem Entzug ihrer Freiheit bestraft werden. Die drangsaliert, entwürdigt und unmenschlich behandelt werden, auf dass sie als abschreckendes Beispiel dienen für jene, die – vielleicht – noch davor stehen, sich aufzulehnen gegen die bestehenden Strukturen.

Seit bald 20 Jahren sitze ich im Gefängniss, aber trotz langer Jahre der Isolationshaft haben sie es nicht geschafft, mich zu brechen. Aktuell wird an mir, und rund 500 Männern, sowie drei Frauen in Deutschland ein NS-Gesetz vom 24.11.1933 vollstreckt, die Sicherungsverwahrung. Eine Regelung, die im Vorfeld schon Kurt Tucholsky bekämpfte: „Nieder mit der Sicherungsverwahrung!“ (in: Die Weltbühne 1928, S. 839), die aber noch heute, auch in der Schweiz, ein wichtiges Repressionsinstrument darstellt.

Aufruhr, davon bin ich überzeug, beginnt im Herzen, dann, wenn wir nicht mehr zusehen können und wollen, wie Unrecht geschieht! Und aus dem Gedanken wird dann die Tat, das Handeln geboren.


Thomas Meyer-Falk

c/o JVA (SV-Abt.)

Hermann-Herder-Str. 8

D-79104 FREIBURG

freedomforthomas.wordpress.com

Kommentare

Am vergangenen 3. November wurden die Anwohner des Bullingerquartiers, und darüber hinaus, zu einer Diskussion für einen Kampf gegen den Bau des PJZ in die Pizzeria am Bullingerplatz eingeladen. Dort wurde, nach einem kurzen Vortrag, der dieses Projekt auch in den Kontext der laufenden Vertreibung der Anwohner durch „Aufwertungsprozesse“ stellte, angesichts der offensichtlichen Aussichtslosigkeit einer politischen Opposition, über die Möglichkeiten einer direkten und selbstorganisierten Opposition diskutiert. Dabei wurde unter anderem die Tatsache betont, dass der Streitpunkt dieses Projektes, in zwei Abstimmungen, vor allem seine hohen Kosten waren, und dass daher von einer relativen Knappheit des zur Verfügung stehenden Budgeds ausgegangen werden kann. Ein in die Höhe Treiben der Kosten, durch Sabotagen und Blockierungen der Arbeiten, nicht nur auf der Baustelle, sondern beim ganzen Netz der beteiligten Interessen, könnte also das Projekt zum Scheitern bringen. Ausserdem wurde das Beispiel der Besetzung der Baustelle des Atomkraftwerks von Kaiseraugst erwähnt, die 1975 zur Einstellung des begonnenen Baus beitrug. Im Allgemeinen war man sich einig, dass nur eine konstante und sozial verbreitete Feindlichkeit diesem Projekt Einhalt gebieten kann, und dass es dazu hilfreich ist, Begegnungsmomente in verschiedenen Formen zu kreieren.

Unruhenachrichten

«Wir sprechen nicht mit Bullenschweinen!»

Dies steht bei der OJA (Offene Jugendarbeit) Kreis 3&4 an die Wand gesprayt. Grund dafür mag vielleicht die Veranstaltung sein, die Mitte Oktober dort mit Polizeipräsident Wolff, dem K4-Bullenchef und anderen Blaulingen stattfand, um gemeinsam mit Jugendlichen aus dem Quartier über das Problem der ständigen Kontrollen und Erniedrigungen zu sprechen. Die Sprayerei wirft die Frage auf: Denken wir wirklich, dass sich etwas ändern wird, wenn wir uns dazu herablassen, uns mit unseren Erniedrigern an einen Tisch zu setzen? Oder wird dies nicht vielmehr durch unsere Nicht-Kollaboration und unsere Auflehnung geschehen? Was haben wir den Bullen zu sagen, «Bitte seid etwas netter?», oder »Verpisst euch!»? Sollte die Tatsache, dass „es brodelt“, wie Wolff meint, und die für ihn bedeutet, „das Polizeidepartement besser zu machen“, für uns nicht vielmehr ein Ansporn sein, uns zusammenzutun – ohne Bullen und Sozis – um uns immer mehr gegen die Bullen zu wehren? Was uns betrifft, wir fordern keine menschlichere Polizei, denn so etwas gibt es nicht. Das Problem ist ihr Bestehen an sich, und darum wollen wir, dass sie aus der Welt verschwinden.

Spielerisch Zerstören

In Hünftwangen (ZH) haben sich einige Unbekannte offenbar spielerisch an einem Zerstörungswerk betätigt, zu Schaden des internationalen Ausbeuterkonzerns und WEF-Mitglieds Holcim. In einer Novembernacht wurden dort, in einem Kieswerk des Konzerns, 12 Autos eingeschlagen und ein weiteres Auto sowie ein „Grossdumper“ abgefackelt. Doch die scheinbar unbekümmerten Maschinenstürmer beliessen es nicht dabei, und nahmen sich die Zeit, mittels eines Schraubenziehers einen Bagger zu knacken, womit sie erst ein Fahrzeug überrollten und dann versuchten, einen Kipplader einen Abhang herunterzustossen – was nicht so gut klappte, aber auf jeden Fall eine amüsante Idee ist. Danach klauten diese dreisten Vandalen ein Auto, womit sie bis in den nahegelegenen Wald fuhren, um sich dann davon zu machen. Im Kieswerk hinterliessen sie einen Sachschaden von mehr als einer halben Million. Wir freuen uns über diesen gelungenen Ausflug und empfehlen auch die etwas überall zu findenden Bauterrains der Firma Eberhard, deren Maschinen in Zürich den Boden für ein neues Polizei- und Justizzentrum präparieren, für solcherlei Spässe.

Sabotage von PJZ-Beteiligten

Wie eine Meldung mitteilt, wurde Mitte November « auf einer Baustelle an der Grenze von Schwamendingen und Dübendorf, ein PKW sowie ein Schwertransporter der Firma Eberhardt angezündet! Da war wohl jemand sauer darüber, dass sich die Firma Eberhardt am Bau des PJZs beteiligt. » Aus einem Zeitungsartikel, der sich über ein Flugblatt beklagt, dass im Oktober offenbar grossräumig in ganz Aussersiehl in die Briefkästen verteilt wurde, und worin dazu aufgerufen wird, das Projekt « eigenhändig zu sabotieren, anzuprangern und aufzuhalten », geht hervor, dass «  bereits vor einigen Monaten Unbekannte zahlreiche Fahrzeuge und Maschinen der Recyclingfirma Eberhard, welche die Gebäude des Güterbahnhofs abreisst, beschädigt haben. Der Schaden belief sich auf über 100´000 Franken. » Ausserdem machen die Journalisten allen tatbereiten PJZ-Gegnern den Gefallen, noch einmal einige der Mitverantwortlichen zu zitieren: « Die SBB, der Architekt [Theo Hotz AG], die Baufirma sowie die Baudirektion, die Stadtregierung und weitere werden als Ziele genannt. » Nun dann, es gibt viele Möglichkeiten, und, wie wir in Hüftwangen gesehen haben, können nächtliche Ausflüge auch sehr viel Spass machen.

Im Alleingang

Trotz übermässiger Bullenpräsenz im Langstrassenquartier wird es ihnen nie gelingen, alle unerwünschten Regungen zu kontrollieren, wie, einmal mehr, ein Mann bewies, der, alleine, aus der dortigen ZKB-Filiale mit etwas Nachdruck einige 100`000 Franken davontrug. Die Ketten der Armut sind manchmal leichter zu zerbrechen, als wir glauben.

Psychiatrische Verwahrung gegen Rebellen

In der Logik der Macht kann, wer darauf beharrt, sich der Autorität nicht fügen zu wollen, nicht anders als «psychisch Krank» sein. Sie erklärt die Rebellion und die Nicht-Kollaboration gegenüber dem autoritären System, das uns aufgezwungen wird, zur Krankheit, um es dem Staat zu ermöglichen, Individuen in «psychiatrische Verwahrung» zu sperren. Eine Massnahme, die, im Rahmen der laufenden Umstrukturierung des Gefängnissystems, immer mehr aufkommt, und dem Staat freie Hand gibt, unerwünschte Individuen mit, in dieser Logik konstruierten, psychiatrischen Begründungen auf unbestimmte Zeit wegzusperren. Eine Massnahme, die oft auch gegen Anarchisten Anwendung findet, wie zum Beispiel im Fall von Marco Camenisch für seinen Kampf gegen die Atomkraftwerke oder im Fall von Thomas Mayer Falk (siehe Artikel).

Das jüngste Beispiel davon zeigt sich im Prozess gegen Peter Hans Kneubühl, der sich 2010 in Biel bewaffnet gegen die Polizei wehrte, die ihn gewaltsam aus seinem Haus räumen wollte, das, nach jahrelangem Herumschlagen mit den Behörden, zwangsversteigert werden sollte. Vor Kurzem fand gegen ihn der Berufungsprozess statt. Die psychische Krankheit, die diesmal erfunden wird, wird kreativ «Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn mit querulatorischer Komponente» genannt, während zur Belastung herbeigezogen wird, dass er bezüglich seiner Taten keine Reue zeigt. Kneubühl bekräftigt, wieder und wieder, dass er zu diesem Zeitpunkt ganz genau wusste, was er tat. In einem Interview schreibt er; « Sie wollen mich für den Rest meines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt versorgen und mit Drogen zum Schweigen bringen. » « Die Psychiatrie verfügt heute über eine Macht, die sich vor wenigen Jahren niemand hat vorstellen können. » Was die Tatsache betrifft, dass er auf seiner Flucht einen Polizisten angeschossen hatte, ist er deutlich: «Wenn jemand mit Waffengewalt andere Menschen angreift, so soll er sich nicht beklagen, wenn er selber eine Beule abbekommt.» Vor dem Gericht verteilte ein Bekannter von ihm Flublätter, um gegen die Massnahme der Verwahrung zu protestieren: « Hier wird ein unliebsamer Bürger als schuldunfäig eingestuft, um ihn zum Schweigen zu bringen ».

Ausgabe 13

Nieder mit der Politik

«Es ist ekelhaft für den wahren Menschenfreund, der sich noch etwas Charakter, Ehrlichkeit und Selbstbewusstsein innerhalb der heutigen Korruption bewahrt hat, den Giftpfuhl der sog. Politik zu betrachten und mit grenzenloser Verachtung und Abscheu muss er sich abwenden, denn der Gestank, der dort emporsteigt, ist zu gross und lässt eine Fäulnis erkennen, die wirklich erschreckend ist. Dort nützt kein Ausflicken und Ausbessern mehr, sondern das Übel muss vollständig beseitigt werden.»

„Der Anarchist“, Nr. 4, St. Louis, 1889

I

In der Logik der Politik existieren die Individuen, existiere ich, nur als Bürger, als politische Subjekte, ich soll meine Entscheidung abgeben, delegieren, an die Institutionen und Personen, die den legalen Rahmen, in dem sich mein Leben abspielen darf, festsetzen. Ich soll mein Privatleben führen dürfen, in den „eigenen vier Wänden“, aber gefälligst soll ich dafür bezahlen, dafür arbeiten, mich ausbeuten lassen. Wenn ich das nicht tue, kann ich vielleicht sogar Sozialhilfe beziehen, wenn ich bereit bin, die Erniedrigung der Ämter über mich ergehen zu lassen. Wenn mir das alles zu dumm ist, dann soll ich wenigstens ruhig sein, mich verurteilen lassen, schön brav die Betreibungsbeamten ins Haus lassen und zufrieden sein mit einer erbärmlichen Existenz zwischen Armut und Knast. Das alles ist meine Privatsache, und wenn ich damit unzufrieden bin, dann darf ich irgendwelchen politischen Organisationen beitreten, die „meine Interessen vertreten“ sollen, meine Meinung „frei äussern“, Petitionen initiieren oder schön friedlich demonstrieren. Kurz, ich darf mich an der Politik beteiligen, ja, das ist sogar erwünscht. Diese Logik soll ich akzeptieren, die mir jede Entscheidung, die die Grenzen „des Privaten“ überschreitet, verunmöglicht, die mich einsperrt in „meine eigenen vier Wände“. Ich soll die Entfremdung akzeptieren zwischen meinem Leben und der Entscheidung darüber, soll akzeptieren, dass alle relevanten Dinge von einer institutionalisierten, legalen Struktur geregelt werden und dass ich meine Individualität zu einem ‚politischen Subjekt‘ degradieren muss, wenn ich mich an dieser Struktur beteiligen will. Wenn… Ja, wenn… Aber ich will das gar nicht. Was ich will, das liegt meilenweit jenseits der Politik…

II

Ich bin gegen Politik, aber: ich werde mich immer in die Angelegenheiten einmischen, die uns alle angehen, will die Wut nicht herunterschlucken und mich in der Resignation um gar nichts mehr kümmern, sondern mir meine Autonomie aneignen und diese Realität angreifen, um die Politik aus unser aller Leben zu vertreiben. Das verwirrt manch Einen, sie denken: „wenn man sich um die Dinge kümmert, die auf der Welt passieren, dann interessiert man sich für Politik und dann soll man gefälligst auch Politik machen.“ Doch, ich kümmere mich eben darum, sehe aber, dass die Politik dazu da ist, die Herrschaft zu reproduzieren; dass das politische Prozedere sich immer nur darum dreht, das Wesentliche, die staatliche Ordnung – beizubehalten. Und diese Gesellschaft, deren Blicke gebannt auf das Spektakel der Politik gerichtet sind, hat sich derart in deren Maschen verfangen, dass die institutionelle Logik mittlerweile jede Beziehung vergiftet. Denn: der Polit-Zirkus genannt Parlament ist ein heimtückischer Trick, der seine verheerende Wirkung nun schon über 150 Jahre beweist. Zwar hat das Parlamentieren zuerst bestimmt den Stolz irgendwelcher Monarchen angekratzt, für die Perfektionierung der staatlichen Ordnung war es aber ein riesiger Sieg. Denn, selbst viele Leute, die den bestehenden Staat eigentlich ablehnen, werden nun als Opposition akzeptiert, wenn sie sich nur an die Spielregeln halten, und so enden sie darin, die Politiker und Parlamente (in grosser oder kleiner Form) nachzuahmen. Und dabei behaupten sie auch noch, etwas zu verändern. Doch, was auch immer sie verändern, sie reproduzieren dabei die Delegation und die Institutionalisierung der Beziehungen, sie reproduzieren den Glauben an Gesetze und das Um-Erlaubnis-bitten, kurz: die stupide Gehorsamkeit des Untertans/des Bürgers.

Denn, jede Politik monopolisiert die Entscheidungen über unsere eigenen Angelegenheiten in einer Struktur, die über unser Leben herrscht. Diese Entscheidungsstruktur kann partizipativ gestaltet sein, oder auch nicht – auf jeden Fall ändert das nichts. Denn das Entscheidungsmonopol hat den Effekt, dass jede autonome Entscheidung und jede Übereinkunft, die sich über die Bestimmungen der Politik hinwegsetzt und sich den Institutionen entzieht, als eine ungesetzliche bestimmt wird. Die Politik mischt sich in unser Leben ein und glaubt, verbindliche Regeln und Gesetze für alle machen zu können. Ob diese Entscheidungen „gut“ oder „schlecht“ sind oder wer sie trifft, interessiert uns hier wenig, denn, ob der Meister nun Zuckerbrot oder Peitsche hervorholt, seine Absicht bleibt es – das steht ausser Frage – uns an ihn zu binden und zu unterwerfen.

III

Und hier kommt die Polizei ins Spiel. Denn, die Politik, sie kann nicht ohne ihre Söldner: die Polizei; und das verrät uns nur schon die Nähe der beiden Worte (Politik und Polizei). Denn die Leute – die der Staat gerne als seine Untertanen (bzw. Bürger) sehen würde – müssen ja davon abgehalten werden, einfach unbekümmert um etwelche Gesetze ihr Leben zu leben, sie müssen arbeiten, Steuern zahlen, Militärdienst leisten, sich an die Gesetze halten, etc… Die politischen Organe, die Parlamente u. ä. wären aber nur ganz lächerliche Diskutierklubs, die ernst zu nehmen wohl niemand einen Grund hätte, wenn ihrem Entscheidungsmonopol nicht das Gewaltmonopol zur Seite stehen würde. Diese Exekutive, die Bullen, Beamten und Militärs, ist heute getrennt von der Legislative, der Gesetzgebung, wie von der Judikative, den Richtern, Schreibtischtätern und ähnlichen Bürokraten, sagen die Bürger, die darauf mächtig stolz sind, und doch war das nur eine ganz lächerliche Reform, die im übrigen im Ernstfall sofort wieder aufgehoben würde. Den Schein dieser Trennung will ich hier nicht nachbeten. Die Politik, die ich hier behandle, lässt sich nicht trennen von ihrer Ausführung, von der Polizei wie von all den Ämtern, Institutionen und Bürokraten, die die Details der Umsetzung perfektionieren. Und das ganze Staatswesen lässt sich nicht trennen von der kapitalistischen Gesellschaft; von der Ausbeutung, die es stützt und den Bonzen, die es beschützt. Die Veränderung, um die es mir geht, richtet sich gegen all das. Ich will meine individuelle Autonomie, will selber über mein Leben bestimmen und ich will in Freiheit mit den Menschen zusammenleben können, und das geht nicht, solange die Politik existiert. Solange irgendwelche Leute über unser Leben bestimmen, sich einmischen; solange die Institutionen existieren und wir unser Leben danach richten lassen. Es geht nicht, solange das Eigentumsrecht besteht, das uns sagt, dass die Welt irgendwelchen Bonzen gehört, solange wir uns in unseren „eigenen vier Wänden“ einschliessen lassen. Solange die Individuen ihre Angelegenheiten delegieren und die ihnen gesetzten Grenzen akzeptieren. Solange die herrschende Passivität nicht durchbrochen wird!

IV

Politik wird getrieben von all denen, die über die Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft bestimmen, oder die die Absicht haben, an die Schaltstellen zu kommen, um dies in Zukunft zu tun. Solange diese Schaltstellen – die Institutionen – bestehen, werden sie uns immer unseres Lebens enteignen, werden die grossen und kleinen Politiker immer Entscheidungen über Dinge treffen, die sie nichts angehen – unser Leben zum Beispiel – oder das zumindest versuchen. Und auch wenn wir tendenziell im Alltag nur mit der Exekutive zu tun haben, mit Bullen und ähnlichen Beamten, und kaum mit den Politikern – was ihre Behauptung, uns zu repräsentieren, noch lächerlicher Macht – so dürfen wir nicht vergessen, dass die Politiker, die verschiedenen Entscheidungsträger, und ihre Institutionen Namen und Adressen haben. Denn: sie setzen Entscheidungen um, die Beschlüsse der Politiker, und solange wir es zulassen, dass diese Entscheidungen treffen, werden sie immer irgendwelche Idioten finden, die die Machtansprüche ihrer Politik durchsetzen, werden sie immer eine reformierte Version der Polizei, vielleicht in der Verkleidung eines unscheinbaren Sozialarbeiters, erfinden können. Kurz: sie werden noch ihre Institutionen haben, in denen sie sich (re-)formieren können, um ihre Macht aufzubauen. Und deshalb reicht es nicht, einfach die Polizei aus unserem Leben zu vertreiben und unser Leben fortan unbekümmert um die Werte der Herrschaft zu leben, wir müssen auch all ihre Institutionen zerstören, selbst wenn sie sich den Anschein von revolutionären Institutionen (etwas das es nicht gibt) geben. Was ich also meine, ist etwas ganz anderes als schlichtes Desinteresse an der Politik, es ist nicht Desinteresse, sondern Feindschaft, und wir müssen diese Feindschaft immer wieder klar machen, wenn da Leute kommen, die behaupten uns zu repräsentieren; denn: jede Repräsentation ist eine Lüge, die wir nur dadurch widerlegen können, dass wir unseren Widerwillen gegen die Politik in Taten verwandeln.

“Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit”

[Wir publizieren folgend einen Text, der vor kurzem veröffentlicht wurde, gemeinsam mit dem betreffenden, inkriminierten Flugblatt, dessen Losung wir, wie wir bekräftigen möchten, vollumfassend teilen.]


Seit dem 6. Januar 2014, als das Test-Bundeslager für Asylsuchende in Zürich Altstetten eröffnet wurde, ist so einiges passiert. Der Kampf gegen dieses neue Herrschaftsinstrument nahm seinen Anfang und drückt sich seit Beginn auf verschiedenste Weise aus. Wir wollen hier über ein spezifisches Ereignis in diesem Kontext sprechen, das dem Staat mit seinem Repressionsapparat ein Dorn im Auge ist.

Flugblätter verteilen, um Ideen zu verbreiten, ist ein seit langer Zeit angewandtes Mittel, um im alltäglichen Leben der Menschen präsent zu sein. Wir sind uns der Farce, der stinkenden Heuchelei der “Meinungsfreiheit“ bewusst, welche uns propagiert wird. Es geht uns in diesem Schreiben also weder darum, die juristische Verletzung eines “demokratischen Rechts“ anzuprangern, noch geht es darum, uns als Opfer der Repression zu präsentieren. Was wir wollen und was uns als wichtig erscheint, ist die Verbreitung unserer Ideen. Zu den von uns gewählten Methoden gehört unter anderem das Agitieren auf der Strasse, welches direkte Begegnungen mit Individuen ermöglicht. So geschah es Ende Januar 2014 zweimal, dass Gefährt_innen beim Flugblätterverteilen von den Bullen auf Grund dessen kontrolliert wurden. Das erste Mal wurden 3 Gefährt_innen vor dem Migros in Altstetten von zwei Zivilbullen kontrolliert und ein Flugblatt wurde konfisziert. Das zweite Mal, nur wenige Tage später direkt vor dem Bundeslager, wurden 7 Gefährt_innen beim Verteilen von Flugblättern und Diskutieren mit den Insassen des Lagers, von ca. 20 Cops, ausgerüstet mit Gummischrot-Gewehren, kontrolliert. Ein Flugblatt, das die “Sichheit, Intervention, Prävention“ (die SIP ist Sicherheitsbeauftragte des Lagers) der Polizei übergeben hatte, wurde gleichermassen konfisziert. Den anwesenden Gefährt_innen wurde eine mündliche Wegweisung für die nächsten 24h erteilt. Nur wenige Tage später flatterte per Post eine polizeiliche Vorladung bei den betroffenen Personen rein, dem folgender Straftatbestand zu entnehmen war: Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit.

Was sagt uns das?

Da es offensichtlich ist, dass der staatliche Repressionsappart die abschliessenden Worte des Flugblatts schon als Straftat zu ahnden versucht, ist es wichtig, auf dieses Ereignis genauer einzugehen. Das Bundeszentrum für Asylsuchende ist ein Grossprojekt, dem Bundesratsentscheide zugrunde liegen und dessen Testlauf in Zürich auf keinen Fall irgendwelche Schwierigkeiten aufweisen darf. Deshalb ist anzunehmen, dass der Staat mit solch schnellen Vorstössen gegen Gefährt_innen den Kampf gegen das neu eröffnete Bundeslager im Keim ersticken will. Die Herrschenden sind sich dem konfliktreichen Potential des Testbundeslagers bewusst und bemüht darum, die Asylsuchenden sozial, wie politisch zu isolieren. Was der Staat daher am allerwenigsten will, ist, dass die Menschen, die in diesem gefängnisähnlichen Lager leben, mit aufständischen Ideen in Kontakt kommen, um das Konfliktpotenzial regulieren zu könnnen und die Situation unter Kontrolle zu halten.

Was tun?

Für uns ist es wichtig, diese repressiven Entwicklungen publik zu machen und die möglichen Folgen eines solchen Präzedenzfalls aufzuzeigen. Denn diese bedeuten eine neue Ebene der Repression gegenüber kämpferischen Ideen. Indem die staatlichen Repressionsorgane Ideen strafrechtlich verfolgen, versuchen sie die Agitation im öffentlichen Raum gezielt zu verhindern. Daher ist es umso zentraler, diese neue repressive Taktik zu enttarnen und aufzuzeigen, dass diese Entwicklungen uns alle betreffen.

Weil wir uns von den Herrschenden sicherlich nicht das Maul verbieten lassen, werden wir weiterhin das sagen und schreiben, was wir denken, um der Idee der Freiheit so viel Platz einzuräumen, wie sie benötigt.

In diesem Sinne wiederholen wir mit lauter Stimme nur allzu gerne das, was sie uns zu verbieten versuchen:

Auf dass alle verantwortlichen Institutionen dieses neuen Gefängnisses brennen mögen!

Zwei verschiedene Lebenshaltungen

Es gibt verschiedene Haltungen, das Leben anzugehen, ich werde mich hier damit beschäftigen, von den beiden Haltungen zu sprechen, die meiner Meinung nach am weitesten verbreitet und am bedeutendsten sind. Die erste besteht darin, sich an die Umstände anzupassen, worin man sich befindet, das heisst, in diesen Umständen eine Grenze zu sehen, worin man sich einschliesst. Diese Haltung anzunehmen, bedeutet, es hinzunehmen, seine Verlangen und seine Ambitionen auf das zu beschränkten, was man in dem Kontext, worin man lebt, für realistisch hält. Die zweite Haltung hingegen ist diejenige, die dazu neigt, diese Umstände nicht als Grenzen zu betrachten, sondern vielmehr als etwas, das es zu überwinden gilt, um unsere Verlangen und unsere Ideen zu verwirklichen, wie unrealisierbar sie auch scheinen mögen. Es versteht sich von selbst, dass diese beiden Haltungen mit unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen verbunden sind.

Die realistische Kurzsichtigkeit

Im ersten Fall hat die realistische Kurzsichtigkeit die Oberhand: „Wieso etwas begehren, das es sowieso nicht möglich scheint, zu erreichen? Kommen wir mit den Füssen auf den Boden und versuchen wir lieber, etwas zu erreichen, das in unseren Möglichkeiten liegt, dann eines Morgens, wenn wir dazu fähig sind, werden wir anderes begehren können.“ Die grösste Sorge besteht darin, zu überleben. Es ist die typische Sorge der Krämer, die in jeder Situation versuchen, auf einer Waage die möglichen Risiken, die man eingeht, auf einem Teller, und die möglichen Profite, die erreichbar sind, wenn man diese Risiken eingeht, auf dem anderen Teller abzuwägen. Es ist unnötig, zu sagen, dass all diese Berechnungen dazu neigen, die Individuen wenig bereit zu machen, ihre Situation, so elend sie auch sein mag, einem Risiko auszusetzen, es sei denn, dass sie Gewissheit über den wahrscheinlichen Erfolg ihrer Aktionen haben. Die von diesen Individuen bevorzugten Strategien, um etwas zu erreichen, sind schliesslich das Warten auf bessere Zeiten (worin die Risiken für denselben Profit geringer werden) und die Verbesserungen, die durch das Verhandeln mit der Gegenpartei erreicht werden. Die realistische Kurzsichtigkeit ist wenig zu den grossen Veränderungen geneigt, und ist somit tendenziell eine konservative Mentalität.

Eine andere Beziehung zur Welt

Im zweiten Fall hingegen will das Individuum seine Ideen und seine Verlangen verwirklichen, ohne sich allzu sehr um die Gleichgültigkeit oder sogar die soziale Feindseligkeit zu kümmern, die es über sich ergehen lassen muss. Die Umstände werden nicht mehr als Grenzen betrachtet, sondern vielmehr als ein Ausgangspunkt für eine Veränderung. Die grösste Sorge besteht nicht mehr darin, bloss zu überleben, sondern vielmehr darin, ausgehend von der jeweiligen Realität, herauszufinden, wie man es schaffen kann, seine Ideen zu verwirklichen, egal wie masslos oder unakzeptiert diese sein mögen. Dies ist die Haltung, die in der Geschichte von unzähligen Rebellen und Personen zu eigen gemacht wurde, die den Mut gefunden haben, sich zu behaupten und, in einer Gesellschaft, die nicht bereit war, sie zu akzeptieren, für ihre Ideen zu kämpfen, ohne sich um den Preis zu kümmern, den sie hätten bezahlen mögen, und ohne die geringste Garantie auf Erfolg. Dies ist, woraus die grossen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft entsprungen sind (über diese Veränderungen liessen sich Schwalle von Tinte vergiessen, es geht hier nicht darum, aufzuzeigen, ob diese Veränderungen positiv oder negativ gewesen sind, sondern vielmehr darum, zu unterstreichen, dass sie aus der Rebellion von Individuen entsprungen sind).

Der Bezug zur Organisation

Diese beiden Haltungen gegenüber dem Leben, die in den Individuen zugegen sind, spiegeln sich auch in der Art und Weise wieder, wie sich diese Individuen organisieren und die eigenen Ideen vorantragen. Wenn wir die anarchistische Bewegung betrachten, ist es ziemlich leicht, sie in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen und ihren inneren Konflikten zu erkennen. Auf der einen Seite haben wir eine Bewegung, die mehr darum besorgt ist, sich, als Zweck für sich, in einer permanenten Organisation zu konstituieren, deren Ziel das eigene quantitative Wachstum und das eigene Überleben ist, in Erwartung von Bedingungen, die als für eine Revolution optimal betrachtet werden (stets vorausgesetzt, dass das Konzept von Revolution nicht aufgegeben wurde). Diese Bewegung hat sich die Krämermentalität zu eigen gemacht, indem sie die Logik der kleinen Schritte akzeptiert und für eine allmähliche Verbesserung der Bedingungen oder für die Verteidigung der Rechte kämpft, die von den Arbeitern, den Migranten, den Frauen… erlangt wurden, ohne sich darum zu kümmern, wie diese Verbesserungen erlangt werden. Es handelt sich um eine Bewegung, die um alles fürchtet, was sie zu verlieren hat (Rechte, Privilegien, Gunst der öffentlichen Meinung…), also nicht zum Risiko geneigt und bereit, mit dem Finger auf all jene zu zeigen, die sie, mit ihren Aktionen und ihren Ideen, in Gefahr bringen können.

Auf der anderen Seite haben wir eine Bewegung, die fliessender ist, die die Tatsache, sich zu organisieren, auf eine radikal andere Weise auffasst. Die Organisation, falls sie konzipiert wird, ist nicht permanent, sondern etwas temporäres, deren Zweck einzig die Realisierung der Ziele ist, die zu Beginn festgelegt wurden. Wenn diese Ziele einmal erreicht wurden (oder nicht erreicht wurden, je nach dem), hat diese Organisation keinen Grund mehr, weiterzubestehen, und löst sich somit auf. Die Sorge um das Überleben der Organisation existiert nicht mehr. Diese Bewegung ist eher bereit, sich aufs Spiel zu setzen, ohne zu warten, da sie von den gegenwärtigen Bedingungen ausgeht, ohne auf die idealen Bedingungen zu warten, um darüber nachzudenken, wie die herrschende Lage der Dinge umgewälzt werden kann, und zu handeln.

Ein Toter mehr in den Knästen von Zürich

[Der folgende Text zirkulierte als Flugblatt auf den Strassen von Aussersihl]


In den Zeitungen reichte es gerade mal für ein paar Zeilen: ein etwa vierzig jähriger Mann, der wegen Verdacht auf Diebstahl seit beinahe vier Monaten in Sicherheitshaft sass, starb letzten Montag in dem Gefängnis beim Kanzleiareal (BGZ). Der Fall werde untersucht, Fremdeinwirkung werde jedoch ausgeschlossen.

Einen Moment mal! Wie bitte? Nicht so vorschnell, meine Damen und Herren!

Natürlich, in den Augen der Justiz und Gesetzeswächter, sind es die Zahlen die zählen, die Fakten und Statistiken. So à la: „Tja, einer mehr tot, einer weniger im Knast. Aber wir liegen noch immer im Schnitt“. Da werden Individuen fleissig kontrolliert, beschuldigt, kriminalisiert, angeklagt, eingesperrt und HOPP, der Nächste, bitte! Wie am Schnürchen läuft das. Dabei ab und zu ein bisschen Korrektheit hier und ein wenig Respekt da einzusträuen, ist nichts als purer Zynismus und Hähme derjenigen, die ihr Brot mit dem Verwalten und Halten von Menschenleben verdienen. Der Bullen, Wärter, Richter und Schreibtischtäter aller Arten und Farben. Diejenigen, die diese Vergewaltigung Notwendigkeit und Ordnung nennen.

Lasst uns also nicht um den heissen Brei herum reden:

Wenn jemand in ihren Polizeikasernen, Knästen, Lagern und Institutionen stirbt, egal ob es nun Suizid oder natürlicher Tod genannt wird, handelt es sich immer um einen Mord! Ein Mord begangen durch den Staat, seine Helfer und seine Verteidiger. Diejenigen, die vorgeben, die Kriminalität mit allen Mitteln und im Schweisse ihres Angesichts zu bekämpfen. Diejenigen, die über Leichen gehen, um sich ihre Macht und Autorität zu sichern. Sie sind die echten Kriminellen!

Lassen wir sie uns vorknöpfen und ihnen das Handwerk legen!

Unruhenachrichten

Wenn die Schweizer Wählerschafe protestieren

Am Sonntag, dem 2. Februar, hat sich wieder einmal das wunderbare Wesen der Demokratie bewiesen. Knapp mehr als die Hälfte der Schweizer Wählerschafe bestimmte, dass fortan nur noch eine gesetzlich regulierte Menge an Nicht-Schweizern, ihr ach so schönes, demokratisches Vaterland betreten dürfen. Die linke Hälfte der Wählerschafe war darüber natürlich kräftig empört, und wollte sodann dagegen protestieren. Sie konnten sich nicht wirklich damit abfinden, dass im Spiel der Demokratie, das sie so treu mitspielen, nunmal immer eine Seite verliert, und dass sie diesmal die Verlierer sind. Aber, zu ihrem Erstaunen, fanden sich an der abendlichen Demo nicht nur enttäuschte Wähler, sondern auch manche ein, die das falsche Spiel der Politik so oder so – und sei es auch demokratisch – zum kotzen finden. Als angemessener Ausdruck dieser Verachtung haben sie zum Mittel des Vandalismus gegriffen; und schon sahen sich einige der treuen Schafe veranlasst, zu beweisen, auf welcher Seite sie, trotz allem, stehen… Sie versuchten, zu verhindern, dass ihnen die Demonstration aus den Händen gerät (denn die uniformierten Bullen hielten sich, wieso, das kann sich jeder selber fragen, aus der Inszenierung zurück), und zwar, indem sie selbst die Bullenrolle übernahmen und versuchten, die Vandalen festzuhalten und anzugreifen, welche die umliegenden Institutionen verunstalteten. Nun, einige dieser „pazifistischen“ Bullen erhielten scheinbar eine Behandlung, wie sie ihrer Rolle entspricht.

Diese Leute, gute Demokraten, aber dann doch zu inkonsequent, das demokratische Spiel zu akzeptieren, halten sich für etwas grundlegend Anderes als die SVP-Idioten, und dabei akzeptieren sie dasselbe System, das Entscheidungen wie dieses Gesetz ermöglicht, akzeptieren sie die Politik – und damit sind sie Teil der Verantwortlichen dafür.

Das Asylregime sabotieren

Vor einiger Zeit fanden die Mitarbeiter der Asylorganisation Zürich (AOZ) die Scheiben des Eingangsbereichs ihres Büros eingeschlagen vor. Daneben an der Wand befleckte die Botschaft: „Asylregime sabotieren, AOZ angreifen“ die weisse Weste, mit der sich diese Organisation gerne präsentiert. Aber die Ausschaffungsmaschinerie besteht nicht nur aus dem Bullen, der die illegalen Migranten verhaftet, und den Ausschaffungsknästen, die sie gefangen halten, sondern auch aus Organisationen wie der AOZ, die, unter humanitärem Deckmantel, dafür sorgen, dass sich die Migranten in den Lagern schön ruhig verhalten, sich nicht dagegen auflehnen, wie Tiere behandelt zu werden, und sich allmählich in das hiesige Wirtschaftssystem integrieren, um sich wie alle anderen (nur noch bedingungsloser, da aufgrund ihrer Situation leichter erpressbar) ausbeuten zu lassen. Dies ist es nämlich, und nichts anderes, worauf das demokratische Gefasel über Integration hinausläuft.

Ausgabe 14

Ein Hoch auf die Meinung

Die Meinung ist die meist verbreitete Ware. Alle besitzen sie und alle gebrauchen sie. Die Produktion von Meinungen interessiert eine breite Schicht der gesamten wirtschaftlichen Produktion, ihr Konsum nimmt einen Grossteil der Zeit der einzelnen Personen ein. Die hauptsächliche Qualität der Meinung ist ihre Klarheit.

Lasst uns gleich sagen, dass es keine unklaren Meinungen gibt. Man ist entweder dafür oder man ist dagegen. Die Nuancierungen und die Ambivalenzen, die Widersprüche und die schmerzhaften Eingeständnisse von Unsicherheit sind ihr fremd. Daher die grosse Stärke, welche die Meinung demjenigen verschafft, der sie gebraucht, der sie für seine Entscheidungen konsumiert, der sie den Entscheidungen von anderen auferlegt.

In einer Welt, die immer schneller auf die Binäre des positiv/negativ, des roten Knopfs und des schwarzen Knopfs zusteuert, ist die Reduzierung auf diese vereinfachte Logik ein wichtiger Entwicklungsfaktor, vielleicht des zivilisierten Zusammenlebens selbst. Was würde aus unserer Zukunft werden, wenn wir uns weiterhin auf die ungelösten Grausamkeiten der Ambivalenzen stützten? Wie könnten wir gebraucht werden, wie könnten wir produzieren?

Die Klarheit tritt genau dann hervor, wenn sich die wirkliche Möglichkeit zur Wahl reduziert. Nur wer klare Ideen hat, weiss genau, was zu tun ist, aber die Ideen sind nie klar, und so sieht man jene hervortreten, die sie uns klären, die einfache und verständliche Instrumente liefern: nicht Diskurse, sondern Frage- und Antwortspiele, nicht Vertiefungen, sondern binäre Alternativen. Der Tag oder die Nacht, keine Dämmerungen oder Morgenröten.

Auf diese Weise fragen sie uns danach, uns für oder gegen etwas zu erklären. Sie führen uns nicht die Aspekte des Problems vor Augen, sondern nur eine grob vereinfachte Konstruktion. Es ist eine einfache Sache, sich für das Ja oder für das Nein zu erklären, aber von der Einfachkeit, die die Komplexität vertuscht und verschwinden lässt, nicht die sie versteht und sie erklärt. Keine Komplexität kann, korrekt verstanden, tatsächlich erklärt werden, ohne auf andere Komplexitäten zu verweisen. Es gibt nicht Lösungen von Problemen, sondern Gelegenheiten zur Reflexion, zur Erkenntnis, zur Begegnung. Freuden des Intellekts und des Herzens, die der schlichte binäre Vorschlag austilgt und durch die Nützlichkeit des richtigen Entscheidens ersetzt.

Und weil niemand so dumm ist, zu glauben, dass sich die Welt auf zwei logische Stelzen stützt, die positive und die negative, da es ja doch einen spezifischen Ort der Vertiefungen geben muss, einen Ort, an dem die Ideen wieder die Oberhand nehmen und die Kenntnis das verlorene Terrain zurückgewinnt, so sieht man, wie das Verlangen aufkommt, jegliche Vertiefung an andere zu delegieren, an jene, die, da sie uns einfache Lösungen vorschlagen, die Ausarbeitung der Komplexität als bereits geschehene Tatsache zu wahren scheinen, und die sich, folglich, zu Bezeugern und Hütern der Wissenschaft ernennen.

So schliesst sich der Kreis. Die Vereinfacher selbst präsentieren sich als Garanten der Fundiertheit der Meinung, worum gefragt wird, ihres korrekten Auftretens in binärer Form. Sie scheinen sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die Meinung, hat sie sich einmal abgesetzt, jegliche Fähigkeit zerstört, das verwickelte Gefüge, das ihr zu Grunde liegt, die komplexe Entwicklung der Probleme der Kenntnis, die hektische Interaktion der Symbole und der Bedeutungen, der Bezüge und der Intuitionen zu verstehen.

Der Manipulator der Klarheit zerstört das Gefüge der Differenzen, er verwässert es im binären Universum des Codes, wo die Realität nur in zwei Lösungen möglich scheint: das angestellte Lämpchen und das ausgestellte Lämpchen. Das Modell fasst die Realität zusammen, tilgt die Nuancierungen von dieser letzteren und schlägt sie in vorgefertigten statistischen Formeln vor, zum Konsum bereit. Es gibt nicht mehr Lebensprojekte, sondern blosse Symbole, die die Verlangen ersetzen und die Träume [ital.: sogni] duplizieren und in Bedürfnisse [bi-sogni] verwandeln.

Das quantitative Anwachsen der Informationen, worüber wir verfügen, erlaubt es nicht, den Rahmen der Meinungen zu verlassen. Genauso wie eine grössere Menge an Waren in einem Laden, mit allen möglichen und unnützen Variationen desselben Produkts, nicht Reichtum oder Fülle bedeutet, sondern einzig Warenverschwendung, so lässt die Vermehrung von Informationen die Meinung nicht qualitativ wachsen, das heisst, erzeugt sie nicht eine wirkliche Fähigkeit, zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Guten und dem Schlechten, dem Schönen und dem Hässlichen zu wählen, ausser jeden von diesen Aspekten auf die erstarrte Repräsentation eines vorherrschenden Modells reduzierend.

In der Realität gibt es nicht auf der einen Seite das Gute und auf der anderen Seite das Schlechte, sondern eine ganze Nuancierung von Bedingungen, von Fällen, von Situationen, von Theorien und von Praktiken, die nur eine Verständnisfähigkeit erfassen kann, also eine Fähigkeit, den Intellekt zu gebrauchen, mit den gebührenden, vom Wahrnehmungsvermögen und von der Intuition gelieferten korrektiven Präsenzen. Kultur ist nicht eine Anhäufung von Informationen, sondern ein lebendiges und oft widersprüchliches System, auf Basis von dem wir die Welt und uns selbst kennenlernen, ein Prozess, der manchmal schmerzhaft ist, und fast nie zufriedenstellend, mit dem wir jene Beziehungen realisieren, die unser Leben und auch unsere Fähigkeit, zu leben, darstellen.

Wenn wir all diese Nuancierungen austilgen, finden wir uns mit einer statistischen Kurve in den Händen wieder, ein illusorischer Hergang, produziert von einem mathematischen Modell, nicht eine fraktionierte und überwältigende Realität.

Die Meinung verschafft uns also, auf der einen Seite, Sicherheit, aber auf der anderen verarmt sie uns und beraubt sie uns der Fähigkeit, zu kämpfen, indem sie uns letzten Endes davon überzeugt, dass die Welt einfacher ist, als sie ist. Das alles liegt im Interesse von jenen, die uns beherrschen. Eine Masse von Untertanen, zufriedengestellt und überzeugt davon, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben: dies ist es, was sie brauchen, um die künftigen Herrschaftsprojekte zu realisieren.

amb, „Canenero“

Bullingerplatz polizeilich belagert 

[Am Abend des 27. März fuhren 12 Polizeivans auf dem Bullingerplatz auf, einzelne Riotcops postierten sich in den Seitenstrassen. Das folgende Flugblatt wurde am Tag darauf im Quartier verteilt, auf dem Platz wurde ein Banner gehängt: „Kein Bock auf Bullenschweine! PJZ Niemals!“]

Gestern, am Donnerstag dem 27. März 2014, hat sich auf dem Bullingerplatz eine Gruppe von Personen getroffen, um Flugblätter zu verteilen und über den Kampf gegen das PJZ (Polizei- und Justizzentrum) zu diskutieren, welches sich in diesem Quartier in der Bauphase befindet. Die Polizei, aufgrund der Weigerung dieser Personen, um eine Autorisierung zu fragen und ihre Identität anzugeben, ist mit einem Grossaufgebot auf dem Platz aufgefahren, um schliesslich verschiedene Personen zu verhaften.

Um die Sache klar zu stellen: Wir wollen uns hier nicht über die Behandlung beklagen, die diese Personen von Seiten der Autorität erfahren haben, schliesslich, trotz der demokratischen Lügen über die angebliche Vereinbarkeit zwischen Freiheit und Autorität, sind wir uns darüber bewusst, dass es zwischen der Autorität, die von der Polizei verteidigt wird, und ihren Feinden einen Abgrund gibt, einen Abgrund, den kein Dialog, kein Diskurs oder Kompromiss auffüllen kann. Wir haben gewählt, auf welcher Seite wir stehen, und wir treten den möglichen Konsequenzen entgegen. Genauso, wie wir uns darüber bewusst sind, dass die Freiheit nur im Kampf gegen und durch die Zerstörung der Autorität und ihrer Projekte möglich ist. Das PJZ ist nur eines von diesen, doch in seiner Bedeutung, unserer Meinung nach, das Sichtbarste und Deutlichste, da es einen beträchtlichen Teil des repressiven Apparates des Staates (Polizei, Gerichte, Gefängnis,…) in einem ärmeren und für sie unbequemen Quartier konzentrieren wird, in einem Quartier, das die städtischen Autoritäten aufwerten wollen, um es vermögenderen Personenkategorien zugänglicher zu machen. Diese Aufwertung wird auf Kosten von jenem Teil der Bewohner des Quartiers geschehen, der es sich nicht wird erlauben können, höhere Mieten zu bezahlen, oder der sich, aus verschiedenen Gründen, nicht einer Erhöhung der Kontrollen auf den Strassen von Seiten der Polizei aussetzen will.

Für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes (1 Teil)

Die Welt hat sich verändert. Eine banale Aussage, und doch nicht unnütz, gelegentlich in Erinnerung zu rufen – gerade heute, da die Allgegenwart und die Unmittelbarkeit der modernen Kommunikationstechnologien dabei sind, ein Gefühl der ewigen Gegenwart einzurichten. Aber die Gegenwart, als das, wie sie uns umgibt, ist die Konsequenz aus ihrer Vergangenheit, und wir können die Bedingungen von heute nicht verstehen, ohne auch die Vergangenheit zu verstehen, die sie formte. Jede revolutionäre Anwandlung kommt nicht umhin, sich dieser analytischen Anstrengung anzunehmen. Wir können die Realität nicht verändern, ohne zu versuchen, sie zu verstehen, und genauso können wir sie nicht verstehen, ohne zu versuchen, sie zu verändern. In diesem Wechselspiel gilt es heute, Mittel und Wege für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes zurückzufinden, Mittel und Wege, die den umfassenden Veränderungen angemessen sind, die auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene erfolgt sind. In diesem Sinne wollen wir etwas in die Geschichte hinabsteigen, um, in groben Zügen, einigen Entwicklungslinien zu folgen, die den sozialen Konflikt zwischen den Bedingungen von Herrschaft und Ausbeutung und den menschlichen Bestreben nach Freiheit und Solidarität kennzeichneten, bis hin zu den fortgeschrittenen Demokratien und zur post-industriellen Ausbeutung, wie wir sie heute kennen.

Der soziale Konflikt

Es interessiert uns hier nicht, den Ursprung des sozialen Konflikts in den menschlichen Gesellschaften zu suchen, der sich zweifellos in der Nacht der Zeiten verliert, ebensowenig, wie den Mythos eines linearen sozialen Fortschritts von den primitiven Stämmen bis zum modernen Staat nachzubeten. Die Geschichte, geformt von den Willen und Entscheidungen aller Individuen, ist eine viel zu komplexe Angelegenheit, um irgendwelchen deterministischen Mechanismen zu folgen. Wir können jedoch wagen, zu bekräftigen, dass es auf dieser Welt, seit es Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt, schon immer auch Individuen gegeben hat, die nach Wegen suchten, sich, alleine oder durch die Vereinigung mit anderen, dagegen zu widersetzen, um jenes höchste Gut zu verteidigen oder zu erobern, welches das Leben schliesslich ausmacht: die Freiheit. Über die Jahrhunderte hinweg, begleitet von Revolten, Aufständen und Revolutionen, haben sich die Systeme zur sozialen Organisation dieser Ausbeutung, die Mittel zu ihrer Verteidigung und Bewahrung, sowie ihre praktischen Formen, fortlaufend verändert und rationalisiert. Der grundlegende soziale Konflikt jedoch, zwischen einer herrschenden Klasse, welche die Autorität und die Mittel besitzt, um ihre Privilegienordnung aufzuzwingen, und der überwiegenden Mehrheit, dem „einfachen Volk“, das darunter leidet und ausgebeutet wird, ist bis heute derselbe geblieben: von der Sklavenhaltung der Antike, über die Feudalherrschaft des Mittelalters, bis zu den grossen Industrieanlagen der Moderne, bis zur aufgestückelten und flexiblen, post-industriellen Arbeitswelt von heute. Mit diesen Veränderungen der Ausbeutungsformen, die nie definitiv, sondern vielmehr tendenziell und ineinander überlaufend waren (heute noch bestehen moderne und antike Formen nebeneinander), haben sich auch die Mittel und Wege verändert, wodurch sich die Leute gegen ihre Ausbeuter organisierten und widersetzten.

Die „Grosse Revolution“

Einen markanten Wendepunkt in der Evolution dieser sozialen Herrschaftssysteme kann mit der Französischen Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Diese „Grosse Revolution“, die innert weniger Jahre jahrhundertealt verwurzelte Institutionen umwälzte, die Ideen und Impulse in die Welt warf, die in zahlreichen Ländern, zeitlich mehr oder weniger verschoben und mit unterschiedlichen Charakteristiken, aber mit ähnlichen Resultaten auf politischer Ebene, zu fundamentalen Umstrukturierungen führten, hat zweifellos das Schicksal der Menschheit verändert. Es war die Initiierung einer grossen Rationalisierung der Macht: das Ende des Absolutismus, der Monarchien, der Feudalherren, und das Aufkommen des Parlamentarismus, der Republiken, der „Bourgeoisie“ als neue herrschende Klasse; das Ende der Willkür des königlichen Hofes und das Aufkommen der konstitutionellen Regierungen, die Auffächerung der staatlichen Kontrolle über die Gesellschaft (Verwaltungen, Ämter, Bürokratien, etc.), die Ausprägung der Funktion des Bürgers, des gehorsamen, teilnehmenden Bürgers, des Kultes des Gesetzes, des Richters, des Beamten, wie wir dies alles heute sehr gut kennen.

Aber, was die Geschichtsschreiber meist nur am Rande anmerken: im Laufe dieser Revolution gab es nicht nur das politische Projekt der bürgerlichen Klasse, die das Fundament der heutigen demokratischen Staaten legte. In ihr gab es auch, und an erster Stelle, als wesentliche und treibende Kraft von jeder Revolution, die Bewegung des einfachen Volkes, das, angetrieben von seinen Nöten und Leiden, für unmittelbare und greifbare Verbesserungen seiner Lage kämpfte. Ohne die zahllosen Aufstände der Bauern und der Proletarier der Städte, die sich weigerten, die Abgaben an die Grundherren zu bezahlen, die die Steuereintreiber mit Prügeln empfingen, die die Schlösser der Feudalisten in Brand steckten, die die Eigentums- und Steuerregister zerstörten, die sich der feudalen Ländereien bemächtigten und sie bestellten, die, kurz gesagt, die Abschaffung der Feudalrechte in der Praxis bereits umsetzten, lange bevor sie von der Nationalversammlung dekretiert wurde, ohne diese autonome, aufständische Bewegung des bewaffneten Volkes wären die alten Institutionen niemals gefallen und wäre das revolutionäre Bürgertum niemals in der Lage gewesen, ihr parlamentarisches Regime durchzusetzen.

Es gab in dieser Revolution also, was es in jeder Revolution gibt: eine politische Bewegung und eine volkstümliche Bewegung. Als Verfechter der ersten, die autoritären Revolutionäre, die radikalen Bürgerlichen, die Jakobiner, welche die volkstümliche Bewegung für die eigenen politischen Ziele ausnutzten und zu lenken versuchten. Als Verfechter der zweiten, die freiheitlichen Ideen und Kräfte, die „Anarchisten“, wie sie abschätzend genannt wurden, die nicht in den Versammlungen und Parlamenten, sondern auf den Strassen agitierten, die die autonome und direkte Aktion des Volkes unterstützten und förderten, die vor den politischen Betrügern warnten und gegen die Einrichtung einer neuen herrschenden Klasse weiterkämpften, für die tatsächliche Gleichheit, für den Wohlstand aller. Während das aufstrebende Bürgertum einzig daran interessiert war, sich die Privilegien zu sichern, die es sich durch den Sturz des Feudalregimes erwarb, den revolutionären Prozess zu beenden und eine neue Regierung einzurichten, entwickelte sich also eine Bewegung, die weit über das Programm der bürgerlichen Revolutionäre hinaus wollte und begann, das kommunistische Prinzip einer freien und egalitären Gesellschaft zu fördern: die Abschaffung des Privateigentums an Boden und Produktionsmitteln, das seit jeher die Grundlage der Ausbeutung bildet.

Aber, wie wir wissen, wurden die grossen freiheitlichen Prinzipien, die im Laufe dieser Revolution aufblühten, spätestens mit der Schreckensherrschaft der Jakobiner und der darauffolgenden Reaktion, endgültig im Blut ertränkt, guillotiniert, erhänkt und erschossen – um nur in ihrer bürgerlichen Farce fortzubestehen. Die Freiheit wurde zur Markt- und Ausbeutungsfreiheit, die Gleichheit zur (sehr relativen) Strafgleichheit vor dem Gesetz, die Brüderlichkeit zum falschen Klassenfrieden und zum uniformierten Brudermord im Namen des Vaterlandes.

Das Bürgertum, also die wohlhabende, Land und Industrien besitzende Schicht, sicherte sich mit der neuen Gesetzgebung die Macht in den Parlamenten (ausschliessliche Wahlbeteiligung ab einem gewissen Grad an Vermögen), und verschuf ihren industriellen Unternehmen, mit dem Aufkauf der Feudalgüter und der Aufhebung der Handelskontrolle, freie Hand zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und, vor allem, der Arbeiter. Die grosse Masse des einfachen Volkes, nach hunderten Aufständen und tausenden Toten, endlich von der feudalen Knechtschaft, den aushungernden Abgaben und der königlichen Willkür befreit, sah sich nun also, ausgenutzt und betrogen, dem „Laisser faire“ der neuen, liberalen Ordnung der bürgerlichen Arbeitgeberschaft ausgeliefert.

Die schmerzhafte Lektion, die aus dieser „Grossen Revolution“ gezogen werden muss, sowie aus so vielen anderen, in denen sich ähnliche Abläufe wiederholten: Wenn das ausgebeutete Volk wirklich eine Revolution will, die es von seinen Leiden und Zwängen befreit, dann muss es diese alleine machen, autonom und selbstorganisiert, und zwar bis auf den Grund, ohne und gegen alle Arten von Politikern, die daherkommen mögen und meinen, ihre Interessen zu repräsentieren, nur um schliesslich ihre eigenen Klasseninteressen und eine neue Privilegienordnung durchzusetzen; dann muss diese Revolution eine volkstümliche und soziale Revolution sein, und nicht bloss eine politische. Dies ist die grundlegende Lektion, woraus sich, später, die spezifische anarchistische Bewegung entwickeln wird.

Die Industrialisierung und die Arbeiterbewegung

Der Aufstieg der bürgerlichen Klasse und die politische Umwälzung, die mit der französischen Revolution in zahlreichen Ländern in Gang kam, hat also, wie bereits angesprochen, der wachsenden Industrialisierung den Weg geebnet. Es ist die Zeit der ersten maschinellen Fabrikanlagen und der grossen Umsiedlung vom Land in die Städte, in die entstehenden Arbeiterquartiere. Immer mehr Leute, die bis dahin zwar arm, aber in relativer Autonomie lebten, sahen sich gezwungen, die unlukrativ gewordene Tätigkeit als Bauer oder Heimarbeiter zu verlassen und sich in die sich verbreitenden Fabriken zu begeben, um dort, nach fixen Zeiten und unter Aufsicht, das einzige zu verkaufen, was sie hatten: ihre Arbeitskraft.

Aber die Einführung dieser neuen, viel effizienteren Ausbeutungsform, welche unzählige Leute ihrem sozialen Kontext entriss und in diesen Fabriken einschloss, verbannt dazu, Tag für Tag dieselbe monotone Geste zu wiederholen, verlief nicht so ruhig, wie sich das Bürgertum das gerne wünschte. In vielen Ländern brach eine Welle von Aufständen, von „Maschinenstürmerei“, gegen die aufkommende industrielle Ausbeutung aus, und allein in England wurden, zwischen 1811-12, von der Bewegung der „Luddisten“ mehr als tausend Maschinen zerstört und mehrere Fabriken in Brand gesteckt. Die Intervention der Armee und die Einführung der Todesstrafe für Maschinenstürmerei waren nötig, um diese Bewegung niederzuschlagen. In der Schweiz gipfelte der Unmut im Aufstand von Uster, wobei eine der ersten industriellen Webereien in Brand gesteckt wurde.

Die wachsende Konzentrierung der Ausbeutungsbedingungen in den Fabriken und in den damit verbundenen Arbeiterquartieren stärkte in vielen das Bewusstsein ihrer Position als unterdrückte Klasse, und förderte, über die Jahre hinweg, das Aufkommen der „Arbeiterbewegung“. Diese letztere beginnt immer deutlicher, durch die Ausarbeitung der sozialistischen Ideen, die sich, ansatzweise, schon in der französischen Revolution manifestierten, vereint durch die generische Idee einer Kollektivierung der Produktionsmittel, das Projekt einer klassenlosen, selbstverwalteten und freien Gesellschaft zu entwickeln.

Diese Ideen waren stark geprägt von den aufklärerischen Mythen des Fortschritts, der Wissenschaft und des Historizismus, die in dieser Zeit auflebten und die allesamt, als angeblich neutrale Kräfte der menschlichen Vernunft, geradewegs in Richtung einer freien Gesellschaft führen würden. Daher auch die Vorstellung einer Revolution als schlichte andere soziale Organisation – nicht mehr durch eine herrschende Klasse von Besitzenden, sondern selbstverwaltet und solidarisch von den Arbeitern selbst – der bestehenden Produktionswelt. Eine Vorstellung, welche die Rolle der Produktionsmittel selbst, die in der Logik von Ausbeutung und Herrschaft entstanden und geformt wurden, ausser Acht lässt. Etwas, das, unserer Meinung nach, wenn es damals schon fragwürdig war, besonders heute, nach den tiefgreifenden Umstrukturierungen durch die nuklearen, telematischen und informatischen Technologien, radikal in Frage gestellt werden muss. Aber gehen wir der Reihe nach.

Die Macht wurde also, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, als Struktur, die die ganze Gesellschaft durchdringt, immer sichtbarer, die Funktion des Staates und seiner Institutionen, als Stütze und Verteidigung der kapitalistischen Produktionsstruktur, immer aufgegliederter. Die Ausbeutung, die ausbeutende Klasse, die „Bourgeoisie“ war etwas klares, etwas monolithisches, das man deutlich vor sich hatte, das sich in den Fabriken, den Kasernen, den Palästen, den Persönlichkeiten, etc. manifestierte. Der Anblick von all dem, Manifestierungen des Selbstbewusstseins einer sich ihres Triumphes sicheren Klasse, musste schrecklich gewesen sein, besonders nach den Massakern zur Niederschlagung der Aufstände von 1848 und der Pariser Kommune von 1871. Ein Eindruck, der heute noch andauert, wenn wir die pompösen architektonischen Überbleibsel aus dieser Zeit betrachten, wahre Symbole der Unterdrückung. Angesichts dieser zentralistischen, monolithischen Manifestierung der Macht im alltäglichen Leben der Leute, folgerten viele mit der Notwendigkeit, sich zu vereinen, mit der Gegenüberstellung, in derselben Logik, einer Art „Gegenmacht“, mit der Kreierung von zentralistischen Strukturen zur Verteidigung der Interessen der Ausgebeuteten. Es ist das Aufkommen der ersten Arbeiterparteien, und später der Gewerkschaften.

(Fortsetzung in der nächsten Nummer des „Aufruhr“)

(Es folgt eine Analyse der Rolle der Parteien und der Gewerkschaften, sowie der anarchistischen Kritik an diesen Mitteln, die, im Grunde, die Logik der Macht reproduzieren und die Ausgebeuteten in den Betrug der Delegation und Repräsentation verwickeln, anstatt sie zur selbstständigen, direkten Aktion zu ermutigen. Der Aufschwung der Arbeiterbewegung, in einer Periode, die von der sozialen Frage, von Aufständen und Revolutionen geprägt war, wird schliesslich durch die zwei Weltkriege beendet. Doch die Widersprüche, denen die industrielle Gesellschaft entgegengeht, führen bald zu neuen Konflikten, denen nur mit einer tiefgreifenden Umstrukturierung der gesamten Produktionsordnung abgeholfen werden kann. Die Einführung der telematischen Technologien, welche die Aufstückelung und Flexibilisierung der zentralisierten, starren Industrien ermöglicht, bringt solche Veränderungen auf sozialer, ökonomischer und politischer Ebene mit sich, dass die Terme des Klassenkonfliktes, wie wir ihn bis anhin kannten, umfassend neu gestellt werden müssen. Die Mauer, die zwischen den Ausgebeuteten und den Privilegierten verläuft, wird heute, in den „post-industriellen“ Gesellschaften, dank der Möglichkeiten der automatisierten Produktion und der Kommunikationstechnologien, weniger aus materieller Armut und roher Repression, sondern vielmehr aus kultureller Verarmung und Konsensverschaffung errichtet (man kann nicht mehr nach etwas anderem verlangen, wenn einem die Möglichkeit genommen wurde, es zu verstehen). Die Dezentralisierung der Produktion hat die parteilichen und gewerkschaftlichen Modelle, sowie die entsprechenden revolutionären Ideologien der Vergangenheit, von mehr oder weniger autoritärer Prägung, endgültig entkräftet, und somit die Gültigkeit der anarchistischen Methode bestärkt. Sie hat aber auch einen neuen Typ Mensch hervorgebracht, flexibel, anpassungsfähig und wenig bereit, zu kämpfen, während die Revolten, die trotz allem aus den unterdrückten Schichten hervorbrechen, oft das Zeichen der Perspektivenlosigkeit tragen. Die Mittel und Wege für eine Wiederaufgleisung des revolutionären Kampfes, unter diesen Bedingungen, müssen also umfassend neu betrachtet werden.)

Unruhenachrichten

Justiz

Vor kurzem wurde öffentlich, was vor einigen Monaten geschah: Ein Mann, wie täglich so viele Arme, verurteilt dafür, die legalen Diebe illegal bestohlen zu haben, lauerte in Luzern seinem Richter auf und polierte ihm das Gesicht. Ein Sonderfall, scheinbar, in der Geschichte dieser Institution. Komisch eigentlich. Verurteilen diese Hämmerchenschwinger doch täglich Menschenleben zu Sklaverei und Kerker. Aber was, wenn die von unten die Justiz von oben nicht mehr achten? Ein Alptraum des Bürgertums! Vielleicht ein Grund des langen Verschweigens?

Migration

Einige Tage nach dem x-ten Massenansturm auf den Militärzaun nach Europa, bei den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, ein Zeichen der Solidarität in Zürich: Die Konsule des spanischen Staates, verantwortlich, wie alle Staatsmänner, für die Hetzen und Massaker von Migranten, fanden ihren Arbeitsplatz mit Durchzug und Scherben vor..

[1] Wir verweisen auf den Artikel „Sitzen wir alle im selben Boot?“ aus der Nummer 3 des Aufruhr