Arthur Assault
Über die Verwirrung des individualistischen "Irrealismus"
„Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außer dir, aber vor der Verwirrung in dir!“
Dieser Text entstand als spontane Kritik an einen Text Namens „Mein Irrealismus“[1] der in einer anarchistischen Zeitung erschien. Hauptsächlich wird im eben genannten Text für eine Art „Unrealismus“ plädiert, der angeblich erforderlich ist um „ganze andere“ Möglichkeiten (sprich Revolutionäre Ideen) in den Köpfen der Menschen entstehen zu lassen. Die Ideen für diese Kritik sind schon älter (sicher zwei Jahre her) und der letzte Teil über Freiheit wurde letztes Jahr ergänzt. Letzterer bezieht sich nicht auf den bereits erwähnten Text sondern ist eine Kritik an bestimmten Argumente die in anarchistischen Kreisen immer wieder zu hören sind. Der Grund dafür, dass dieser Text bis jetzt nicht publiziert wurde, ist, dass fälschlicherweise davon ausgegangen wurde dass solch ein verworrener Text über einen „Irrealismus“ nicht die Runde machen würde. Nun muss ich mir selbst an den Kopf stoßen und habe mir vorgenommen diesen Text zu veröffentlichen. Es werden viele Rechtschreibfehler zu finde sein, dies ist jedoch für mich zweitrangig solange inhaltlich meine Kritik verstanden wird.
Viele, meistens junge AnarchistInnen, scheinen von einer, von ihnen selbst so genannten „unrealistischen“ Einstellung fasziniert zu sein und stellen ihre isolierte Kämpfe, als Kämpfe dar die in der Lage sind über den Tellerrand zu blicken. Der Reformismus und sogenannte reaktionäre Ansätze werden zurecht angeprangert, doch nicht als solche identifiziert, sondern nur umschrieben. Somit werden bürgerliche Tendenzen nicht beim Namen genannt, sondern es wird ein mysteriöses Spinnennetz gebaut dass dem Leser schlussendlich jegliche Übersicht raubt. Es wird behauptet, dass es Leute gibt, die anderen einreden wollen lieber für kleine Veränderungen einzustehen anstatt eine gesamte Umwälzung der sozialen Umstände anzustreben. Dies ist jedoch keine „Aufforderung im Namen des Realismus“ so wie einige behaupten, sondern eine Aufforderung der herrschenden Klassen und/oder der klein-bourgeoise oder sogar einiger Unterdrückten (die sich selber als revolutionäre Klasse verneinen) im Namen eines kapitalistischen, auf Autorität und Ausbeutung basierenden, Systems. Es ist die Aufforderung einer selbstzerstörerischen, unrealistischen Logik der Gesellschaft selbst. Dieser Reformismus hat außerdem nicht unbedingt immer etwas mit Resignation zu tun, denn Resignation beinhaltet dass man zu einem früheren Zeitpunkt andere formen zu kämpfen bevorzugte, sie aber irgendwann aufgegeben hat. Es gibt jedoch auch viele Leute die gar nie zum kämpfen gekommen sind , weil sie sich ihrem eigenen Potential nie bewusst geworden sind und ihre möglichen Komplizen innerhalb der Gesellschaft nicht ausfindig machen konnten (Stichwort Vereinzelung, moderner, destruktiver Individualismus bzw. das Fehlen eines historischen Bewusstseins). Genauso gibt es Leute die nur bürgerliche formen der Politik kennen, weil eben die Erfahrung anderer Perspektiven fehlen. Das „Vernünftig-werden“ ist eine Redewendung, doch das Wort Vernunft können wir nicht mit Apathie und Konformismus gleichsetzen, so einfach ist es nicht. Was heißt schon sich den „Spielregeln dieser Realität fügen“? Das ist doch nur eine gedankliche, und sprachliche Verwirrung, viel mehr sollte es heißen „sich den Spielregeln der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie fügen“. Die gesamte Realität als „Feindbild“ zu betrachten würde bedeuten unsere eigenen Ideen innerhalb der gegenwärtigen Lage auch als feindlich zu betrachten. Bereits Marx und Engels hatten darauf aufmerksam gemacht, dass die herrschenden Ideen, Ideen der Herrschenden Klassen sind. Doch das bedeutet nicht dass die herrschenden Ideen jegliche andere Ideen determinieren, und auch nicht dass revolutionäre Ideen mit einem ziemlich nichts aussagendem „Irrealismus“ liebäugeln müssen um zu „erwachen“. Solch eine rein idealistische Position versucht revolutionäre Inhalte auf persönliche Einstellungen zu reduzieren und versteht einen revolutionären Prozess als einen Prozess der aus „Ideen“ entspringt und nicht aus materiellen Interessen.
Zu behaupten wir können nicht beweisen dass eine „freie, staatenlose und egalitäre Gesellschaft“ möglich ist und dass wir auch kein Programm dafür haben ist schlicht kleinkariert und ein Hirngespinst. Wenn man die aktuelle (und auch historische), weltweite Lage realistisch (ich benutze den Term positiv) analysiert wird, wird aus meiner Sicht klar dass Autorität und Kapitalismus zu Hunger, Tod, Ausbeutung, Krieg und Elend führen, dies ist „Beweis“ genug um diese Gesellschaft zu bekämpfen, dass kein Mensch beweisen kann was die Zukunft bringt ist klar und aus meiner Sicht eine überflüssige Frage. Dass wir, als revolutionäre kein Programm haben? Stimmt das wirklich? Mag sein, dass vor allem Anarcho-individualistischen Kreisen sich theoretisch vor Wörter wie „Proletariat“ oder „Programm“ grauen. Doch schauen wir uns mal die Praxis an. Als revolutionäre AnarchistInnen teilen vielen sicher die Idee der Zerstörung des Staates und somit der Nationen, oder der Enteignung ganz im Stile „Eigentum ist Diebstahl“ und auch der Aufhebung (nicht nur Übernahme) der kapitalistischen Produktion und der Lohnarbeit. Dies kann man durchaus als Programm betrachten. Oder nicht? Müssen wir darüber diskutieren ob vielleicht ein chauvinistischer „Anarchismus“ gebunden an einen Nationalstaat auch eine revolutionäre Perspektive darstellt? Aus meiner Sicht: Nein! Und dies ist nicht ideologisch interpretiert sondern praktisch oder wenn man so will „realistisch“! In dem Text selbst ist von einer Gesellschaft die rede „die keine Unterteilung in Herrschende und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Besitzende und Besitzlose mehr kennt“, dies zeigt ja genau dass eine realistische Interpretation der Realität auch bei den Autoren der Schrift zu finden ist, und schlussendlich eine Vorstellung davon was für Fundamente diese Gesellschaft aufrechterhaltet und was kritisiert bzw. zerstört werden muss. Einige würden das Programm nennen, andere haben Angst davon, genauso wie sie sich auch davon scheuen von „Bourgeoisie und Proletariat“ zu sprechen und dafür Synonyme verwenden wie „besitzende und besitzlose“.
Außerdem können wir uns innerhalb der gegenwärtigen Realität, sehr wohl eine andere Realität vorstellen, denn vorstellen kann sich der Mensch fast alles (spontan fällt mir z. B. ein dass sich das Unendliche vorzustellen ziemlich schwierig, wenn nicht unmöglich, ist) Aber ich kann mir, ganz banal gesagt, vorstellen, dass ich 6 Tentakel anstatt zwei Arme haben, oder dass ich fliegen kann, genauso kann man sich eine andere Gesellschaft vorstellen, das ist weder schwierig noch spektakulär und dafür braucht es vor allem keine anarchistische, „irrationale“ Lebensweise oder Gedankengut. Doch es geht hier nicht um Vorstellungen sondern um praktische Erfahrungen die eine Bewegung machen muss um stärker zu werden, denn es geht darum dass die Menschen in die Realität bewusst eingreifen, sie müssen sich nicht etwas „unrealistisches vorstellen“ sondern sich an „realistisches wiedererinnern“. Dass diese kollektive, kämpferische Erfahrungen nicht immer zum Alltag gehören heißt nicht dass sie unrealistisch sind, sondern dass wenig Kämpfe und kollektive Erfahrungen stattfinden, und dass ein historisches Bewusstsein fehlt um von vergangenen Fehlern zu lernen um die gegenwärtige Praxis zu verschärfen.
Leider ist die Realität vielmals viel härter und unberechenbarer als unsere Träume. Der von mir kritisierte Text enthält aus meinem Blickwinkel kein „Stückchen Wahrheit“ wie im Text selbst behauptet wird (wie absurd solch eine Äußerung überhaupt ist), sondern lediglich sprachliche Verwirrungen, da unter „Realismus“ eigentlich eine reformistische, bürgerliche Art der Politik verstanden wird und unter „Irrealismus“ eine revolutionäre Perspektive.
„Die schönste Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt“
Gehen wir aber auf den Begriff der Freiheit ein Stück weiter ein. Stellt man die Frage der Freiheit in anarchistischen Kreisen ist es nicht überraschend (ich will hier nicht pauschalisieren) folgende Antwort zu hören: „Heute herrscht keine Freiheit auch in Demokratien nicht, ich weiß nicht was Freiheit ist, wirkliche Freiheit wurde noch von keinem Menschen erfahren, doch auch wenn ich nicht weiß was Freiheit ist weiß ich dass es sie gibt und dass der Mensch eigentlich in der Lage ist sie zu erreichen“. Solche Gedanken hören sich sehr edel an, denn als AnarchistIn will man ja nicht einen Anspruch auf die absolute Wahrheit, in Bezug auf das Wort Freiheit, erheben. Nichtsdestotrotz ergeben sich aus diesem Ansatz mehrere Probleme. Erstens entsteht logisch betrachtet einen Widerspruch.Wie kann man wissen was Freiheit „nicht ist“ und dennoch nicht wissen was Freiheit „ist“? Ich werde gleich auf dieses Thema zurückkommen, zuerst will ich noch kurz weitere Fragen auf die oben erwähnte Aussage einwerfen, wenn man behauptet „wirkliche Freiheit wurde noch von keinem Menschen erfahren“ ergeben sich zwei einfach nachvollziehbare Fragen: „Wie will man dass wissen wenn man davon ausgeht dass man nicht weiß was Freiheit ist?“ und „sollte es einen festgesetzten Begriff für „Freiheit“ geben der über die ganze Geschichte gültig ist oder ist das Verständnis von Freiheit in konstantem Wandel?“
Auf die oben erwähnte Frage „Wie kann man wissen was Freiheit nicht „ist“ und dennoch nicht wissen was Freiheit ist?“ könnte ein kreativer Geist entgegnen: „Dass ist völlig normal für den Menschen, der Mensch kann z. B. wissen was der Tod ist und gleichzeitig weiß er aber nicht wirklich was der Tod ist!“ Doch die Freiheit mit dem Tod gleichzusetzen scheint hier nicht angebracht denn der Tod transzendiert der Bereich der empirischen, sinnlichen Wahrnehmungen, die Freiheit nicht, d.h. wenn es diesen Zustand der „Freiheit“ gibt oder geben könnte, dann können wir ihn sinnlich erfahren im Gegensatz zum Tod. Auf die anderen zwei Fragen werde ich nicht eingehen denn sie würden den Rahmen dieses Textes sprengen. Ich will mich jedoch nochmals auf die obige Aussage beziehen. Wenn man behauptet, dass man nicht weiß was Freiheit ist aber dennoch davon ausgeht dass - was auch immer Freiheit sein mag - sie trotzdem erreichbar ist, zeigt sich meines Erachtens eine Parallele zur Struktur religiösen Denkens. Denn der Begriff Freiheit wird quasi als vollkommenen Zustand aufgefasst der in der Gegenwart nicht erfahrbar ist der sich aber irgendwo im „nirgendwo“ befindet und schlussendlich durch die Menschen realisiert werden kann. Anders ausgedrückt: Wenn man nicht weiß was Freiheit ist oder sein könnte aber dennoch besagt dass sie erreichbar wäre, dann besagt man: 1. Ansätze von Freiheit sind gegenwärtig nicht zu finden ( hier wäre z. B einzuwenden: sind selbstorganisierte antiautoritäre Kämpfe kein Ansatz von freien Individuen?) und 2. Das „Schicksal“ des Menschen ist so geformt dass diese Freiheit trotz allem irgendwann mal erreicht werden kann. Die Freiheit wird also, aus Furcht vor der Verabsolutierung des Begriffs oder Denkfaulheit, an einen praktisch „überhimmlischen“ Ort postuliert (dadurch der etwas provokative Vergleich mit „religiösem Denken“). Demzufolge ist man letztlich (auf theoretischer Ebene) noch ärmer dran als der konformistische Bürger denn er hat wenigstens einen Ansatz davon was für ihn Freiheit bedeutet, auch wenn seine Auffassung in meinen Augen keinen Sinn ergibt und lebensverneinend ist.
Doch was bringt uns überhaupt über das Wort Freiheit nachzudenken? Viele werden sagen: „Wir wollen Taten sehen und kein leeres, pseudo- intellektuelles Gerede“. Natürlich zeigt sich die Praxis einer anarchistischen Bewegung auf den Straßen, Gefängnissen, in den verschiedenen Kämpfen weltweit, in den Anti-kommerziellen Kulturzentren (nicht immer!) und durch Aktionen, Zeitungen, Flyer, Diskussionen usw. Doch auch die Untersuchung unseres Alltagsverstandes erscheint mir interessant. Also dass, was uns teilweise selbstverständlich, teilweise schwierig erscheint, ein Stück komplizierter zu machen im Sinne einer Hinterfragung unserer erlernten Denkmuster.
Arthur Assault, 2015
[1] "Mein Irrealismus", anonym in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Nr. 7, Jahr 1, Zürich, Mai 2013.