«Es ist ja schön und gut, was ihr wollt, eine Welt ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung, in der alle Menschen frei sind, aber das ist einfach unrealistisch. Wenn man etwas verändern will, dann muss man realistisch sein und für kleine Schritte kämpfen. » Eine Phrase, die wir als Anarchisten oft zu hören bekommen… Die Aufforderung, im Namen des Realismus die eigenen ungehemmten Freiheitsträume zu begraben und für kleine Ausbesserungen dieser Gesellschaft zu kämpfen – dieser Gesellschaft, die doch in ihrer Grundlage selbst, nämlich dem Prinzip von Autorität und Eigentum, die Möglichkeit einer Freiheit und eines Wohlstands für alle negiert. Der Vorwurf, die Idee der Anarchie sei zwar ein schönes Ideal, aber unrealistisch, kommt, in meinen Augen, allzu oft von Menschen, die bereits resignierten, und die diese Resignation dadurch zu rechtfertigen versuchen, dass sie andere überzeugen wollen, ebenfalls zu resignieren. Wie viele haben nicht, im Namen eines „Realistisch-Seins“, eines „Vernünftig-Werdens“, ihre einstige Rebellion gegen diese Gesellschaft, ihr unberechnetes Verlangen nach Freiheit aufgegeben, um sich den Spielregeln dieser Realität zu fügen? Wie oft haben wir gesehen, wie der Realismus einem Possibilismus entsprach, das heisst, wie man begann, nur noch das zu wollen, was möglich scheint, anstatt zu versuchen, das zu ermöglichen, was man will?

Ich frage mich: kann jemand, der etwas ganz anderes will, als diese Realität, die uns gegenwärtig umgibt, kann jemand, der eine tiefgreifende soziale Revolution dieser Realität will, können wir, als Anarchisten, wirklich im strengen Sinne realistisch sein?

Wir können kein Modell der Anarchie aufzeichnen, um zu beweisen, dass sie möglich ist. Wir können kein Programm darlegen, um zu beweisen, dass sie erreichbar ist. Wir können nicht auf eine Zeit oder einen Ort zeigen, und sagen: hier, schaut, da wurde realisiert, was wir wollen. Eine menschliche Gesellschaft, welche die Beseitigung von jeglicher Form von Autorität und Eigentum realisierte, hat es, zumindest in der jüngeren Geschichte, soviel mir bekannt ist, noch nie gegeben. Jeder Versuch in diese Richtung, von den Sklavenaufständen der Antike über die Bauernaufstände des Mittelalters bis zu den Arbeiteraufständen der industrialisierten Gesellschaft, ist früher oder später auf die blutige Repression von Seiten jener gestossen, die dadurch ihre Privilegien von Macht und Reichtum verlieren würden. Und dennoch ist es das, und nichts Geringeres, was wir wollen, und einzig darin sehen wir die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit für alle. Es ist das, und nichts Geringeres, es ist die Zerstörung des Prinzips von Autorität und Eigentum bis auf seine Grundfesten, was wir für Notwendig halten, um endlich in einer Gesellschaft zu leben, die keine Unterteilung in Herrschende und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutete, Besitzende und Besitzlose mehr kennt – und, egal wie fern das scheinen mag, dieser Idee werden wir im Namen keines Realismus entsagen.

Wenn ich sagte, dass die Freiheit, im anarchistischen Sinne verstanden, noch nie und nirgendwo realisiert wurde, so bedeutet das nicht, dass der Geschmack von ihr den Menschen vorenthalten blieb. Im Gegenteil. Unzählige Menschen haben sie gekostet, in unzähligen individuellen und kollektiven Revolten, Insurrektionen und Revolutionen, die, von den Ursprüngen des Staates bis heute, unter diesem universellen Schrei nach Freiheit, die Geschichte der Menschheit durchpflügten. Und es sind diese Erfahrungen, die, durch Überlieferung und durch eigenes Erleben, unser Vorstellungsvermögen von dieser ganz anderen Möglichkeit anwachsen lassen. Darum ist die Vorstellbarkeit dieses völlig Anderen, dieses geradezu unrealistischen, das die Freiheit ist, in einer Welt, die ihr in allen Aspekten entgegenwirkt, unmittelbar an den Ausbruch und an die Revolte gebunden. Solange wir im Alltag der herrschenden Realität gefangen bleiben, können wir uns auch nichts anderes als diese Realität vorstellen, einschliesslich ihrer mehr oder weniger radikalen Modifikationen. Um Platz für die Vorstellung und Realisieren eines neuen Lebens in Freiheit zu finden, müssen darum die Institutionen zerstört und die Menschen bekämpft werden, welche diese Realität der Unterwerfung und Ausbeutung kreieren und reproduzieren.

Der oben genannte Vorwurf enthält, wenn ihr mich fragt, durchaus auch ein Stückchen Wahrheit. In der Tat ist das, was wir wollen, eben weil es jenseits des Horizonts dieser Realität liegt, eben weil es etwas ist, das innerhalb der gegenwärtigen Realität keinen Platz hat und nicht vorstellbar ist, etwas unrealistisches. Aber anstatt dies als Grund zu betrachten, um mein Verlangen nach Freiheit zu stutzen oder zu begraben, und für kleine Schritte zu kämpfen, will ich lieber den Irrealismus meiner Verlangen bekräftigen, und ohne Kompromisse für meinen Freiheitstraum kämpfen. Denn, wenn wir immer nur von dieser Realität ausgehen, von den uns umgebenden Bedingungen und den Bedürfnissen, die sie kreieren, werden wir nie über sie hinausgehen können und immer in ihr stecken bleiben.