Anonym
Gegenmacht oder chaotischer Kampf ?
I
Das Individuum, das frei sein will, ist für mich der Ausgangspunkt von anarchistischem Kampf und Bewegung. Natürlich ein Individuum, das geboren und geworden ist, geprägt durch die autoritären sozialen Beziehungen, in die es hineingewachsen ist – ausgebeutet, regiert und unterworfen. Dennoch ein Individuum, das will und das in erster Person handelt und welches dadurch beginnt sich zu bewegen. Dieses Individuum befindet sich in Bewegung samt seinen Qualitäten und seinem Wollen. Und schließt sich je nach Lust und Notwendigkeit mit anderen zusammen. Dabei entwickelt das Individuum Initiative sowohl alleine als auch gemeinsam mit anderen. Diese Initiative ist die Grundlage des Kampfes. Die Grundlage um zu versuchen die Herrschaft ins Wanken zu bringen.
Für mich sind es also Individuen, die nach Freiheit streben und ihre frei assozierten Initiativen, aus denen heraus die anarchistische Bewegung und Kampf geboren wird.
Mir ist klar, dass dieser Definitionsversuch anderen Anarchist*innen vor den Kopf stoßen mag. So gibt es doch immer noch solche, die auf Gegenmacht setzten und damit auf ein Verständnis von anarchistischer Bewegung und Kampf beharren, dessen Ausgangspunkt Organisationen und deren Handlungsgrundlage Einheit sein soll. In Abgrenzung zur Gegenmacht will ich hier ein anderes Verständnis vorschlagen: den chaotischen Kampf. Wer auf akademisch tönende Sprache steht, kann auch von akkumulierender Bewegung vs intensivierender Bewegung sprechen.
II
Diese beiden Verständnisse unterscheiden sich grundlegend und beeinflussen weitreichend die Art und Weise die Realität zu betrachten und auf sie einzuwirken. Auf der einen Seite haben wir die Gegenmacht oder akkumuliernde Bewegung: Hier haben wir Organisationen (bzw. abstrakte „Wir“-Körperschaften wie „die Szene“, „die Bewegung“ oder auch die vielbeschworene „Community“), die über Einheit (sei dies jetzt taktische und ideologische Einheit wie im Plattformismus oder auch Einheit in der Vielheit wie in der Syntheseorganisation oder in der autonomen/anarchistischen „Szene“ oder Einheit durch Betroffenheit in verschiedenen „Communities“) und dem propagieren einer draus resultierenden Utopie (bzw. Programm, Manifest, …) versuchen für eine „befreite Gesellschaft“ Gegenmacht aufzubauen. Gegenmacht wird dabei in erster Linie quantitativ bestimmt und gemessen: unter anderem in Mitgliedszahlen, föderierten Gruppen, absolvierten Events und Veranstaltungen sowie der Zahl der Teilnehmenden.
Wenn die versammelte Gegenmacht groß genug ist und wenn die Umstände reif sind, also reif für die Organisation(en), wird zur Revolution gerufen – zumindest in der Theorie. Nach besagter (und erfolgreicher) Revolution, liefert die Organisation bereits die Keimzelle(n) für die befreite Gesellschaft. Also ist sie – die Organisation (Szene/Community/Bewegung) – ein entscheidender Embryo für die post-revolutionäre Gesellschaft und damit maßgeblicher Impulsgeber, wie diese organisiert und beschaffen sein wird.
III
Im Gegensatz der chaotische Kampf oder die intensivierenden Bewegung: Sie geht vom Individuum aus, das frei sein will und dessen Initiative. Den Individuen, die sich frei miteinander assoziieren, um Projekte zu entwickeln, die darauf abzielen Herrschaft zu zerstören. Die Zerstörung von Herrschaft erzeugt und verbreitet Chaos[1]. Einen Zustand, in dem keine ordnende Macht existiert und aus dem heraus die Befreiung der unterdrückten Regungen der Individuen folgen kann. Was uns wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, zum Individuum, das frei sein will. Wir haben also einen Kreislauf, der sich intensiviert, der also in erster Linie an Qualität gewinnt, auch wenn er natürlich auch einen quantitativen Aspekt hat.
Denn, sowohl die chaotische Bewegung als auch Gegenmachts-Bewegung brauchen Quanität und Qualität, die Frage ist jedoch, worauf die Gewichtung liegt und woraus sie jeweils resultieren. Das Chaos weitet sich aus, indem sich Individuen durch die Zerstörung von Herrschaft zu befreien suchen, alleine und in freier Vereinigung mit anderen – was andere inspirieren kann. Denn wie ein ins Wasser geworfener Stein, kann die Initiative Echos verursachen und Kreise ziehen, welche den Drang nach Freiheit (wieder) erwecken. Demnach rührt bei der intensivierenden Bewegung die Quantität von der Qualität her.
IV
Bei der Gegenmacht geht es darum, einer Glühbirne gleich, die Insekten anlockt, die sich nach Wärme sehnen oder vom Licht angezogen werden, die Leute um und in Organisationen zu sammeln. Dadurch sollen die Leute zu „organisierten Anarchist*innen“ werden und damit handlungsfähig. (Gelingt das nicht, sollen zumindest die Anarchist*innen zu in Organisationen „organisierten Anarchist*innen“ gemacht werden, damit diese effektiv auf die anderen Ausgebeuteten einwirken bzw. ihnen zur Seite stehen können). Die Logik und Mentalität, die die Gegenmacht dabei verbreitet, behauptet einerseits, dass außerhalb des Lichts der Organisationen nur wenig bis nichts bewirkt werden kann und andererseits, dass die Organisationen umso heller strahlen und umso effektiver sind sowie über umso mehr Legitimität verfügen, je mehr Leute sie versammeln können. Dementsprechend rührt bei der Gegenmacht die Qualität von der Quantität her.
Damit wird der Schwerpunkt der Organisator*innen auf Massenkämpfe und Kräfteverhältnisse verständlich und das Abwerten des Individuums bzw. individueller Taten. Denn die Gegenmacht traut dem Einzelnen nicht zu selbst zu handeln weder im Kleinen noch im Großen. Sie verurteilt die Einzelnen sogar regelmäßig dafür autonom zu handeln. Entweder weil diese zu viel oder zu wenig handeln. Und weil sich die Organisation dabei als Embryo der „befreiten Gesellschaft“ begreift, ist sie Trägerin einer neuen vereinheitlichenden Ordnung – von Proto-Staatlichkeit. Aus dem Grund, dass die Gegenmacht, wie es der Name schon andeutet, eine „Gegen-Macht“ aufbaut. Diese soll die bestehende Macht entweder zerschlagen oder umkrempeln (je nach Konzept) – jedoch immer durch eine neue Macht ersetzten und nicht die Macht an sich zerstören. Um damit Erfolg zu haben und wirksam zu werden braucht die Gegenmacht Masse und um Masse zu akkumulieren, muss sie die Leute „politisieren“. Was bedeutet „die Leute“ in den eigenen Gegenmachtskomplex – so klein und marginal er auch sein mag – zu integrieren. Das funktioniert auf lange Sicht nur, wenn ihre Initiativen vereinheitlicht werden.
Vereinheitlichung heißt dabei vor allem Vereinheitlichung von Entscheidungsprozessen um die Initiativen der einzelnen Individuen steuerbar zu machen. Doch wer steuert und entscheidet da? Die Szene, die Community, die Organisation? Spätestens hier zeigt sich, dass damit abstrakte Gebilde bezeichnet werden, die im besten Fall unbeabsichtigt verschleiern, dass diese sich aus Individuen zusammensetzen. Hinzu kommt, dass Individuen gemeinerweise die nervige Angewohnheit haben unterschiedliche Ansichten, Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen zu haben, was zu Fraktionsbildung und Kämpfen um die Vorherrschaft (Hegemonie) innerhalb der Gegenmacht führt.
V
Was macht den chaotischen Kampf eigentlich chaotisch? Dass er von den Individuen und ihren Initiativen ausgeht. Dass er die einzelnen Leute auch in größeren Kämpfen und turbolenten Zeiten als Akteur*innen mit ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen begreift und sie nicht in ein „Wir“-Korsett zwängt. Was diese zu Mitläufern, Parteisoldaten oder Militante einer Idee oder Sache macht. Aus diesem Grund steht die chaotische Herangehensweise jeder Organisierung- und Kampfform, die die Leute zur Masse macht, die sie ihrer Individualität beraubt, ihre Initiative hemmt und sie steuerbar machen will spinnefeind gegenüber.
Deshalb ist auch das Konzept von Kräfteverhältnissen für den chaotischen Kampf uninteressant, bei dem es darum geht Bündnisse zwischen abstrakten und repräsentativen Körperschaften zu schmieden, wie z.B. zwischen „den Antifaschist*innen“, „den Feminist*innen“ und der „Zivilgesellschaft“ (oder sogar mit Glaubensgemeinschaften). Etwas, das unweigerlich auf Vertretertum und politische Taktiererei hinausläuft, bei der es darum geht diese Gruppierung oder jenes Milieu auf die eigene Seite (jene der eigenen Organisation) zu ziehen, damit die eigene Gegenmacht weiter anwächst.
Wie ein chaotischer Kampf konkret in der Praxis aussehen kann, bei dem die kämpfenden Individuen ihre Initiative ohne Organisation entfalten können, zeigt beispielsweise der spezifische Kampf gegen den vorläufig eingestellten Plan eines Google-Campus in Berlin Kreuzberg.
Zwischen 2016 und 2018 fand ein Kampf gegen den geplanten Einzug eines Google-Campus in ein Umspannwerk in Berlin Kreuzberg statt. Google wollte dabei einen „Start-Up Incubator“ auf die Beine stellen, der Google bei der Suche nach jungen Tech-Talenten helfen sollte. Von Bekanntwerdung an, wurde das Vorhaben mit Ablehnung und Feindschaft begleitet. Dabei wurde nicht nur die damit einhergehende Gentrifizierung angekreidet sondern auch, dass Google federführend darin ist, das technologische Netzwerk der Herrschaft und Ausbeutung weiterzuentwickeln und voranzutreiben.
Es gab Unternehmungen gegen den Campus von verschiedenen Seiten. Für unsere Überlegung ist hier jedoch ausschließlich die anarchistische Anstrengung und Agitation interessant. Denn, die Gefährt*innen drängten von Anfang an auf einen informellen und chaotischen Kampf. Einen Kampf der auf Eigeninitiative, Selbstorganisierung und Kompromisslosigkeit beruhte. Sie schufen einen Rahmen, in dem sich Leute auf Augenhöhe begegnen konnten: das Anti-Google-Café face2face, welches alle zwei Wochen stattfand. Darin wurde allen, die ohne Führung und in Eigenregie kämpfen wollten, die Möglichkeit eröffnet, zu diskutieren, Vorschläge zu unterbreiten und sich entsprechend zu koordinieren. Alles ohne eine formelle Gruppe oder eine Organisation aufzubauen und ohne zu versuchen „die Leute“ in einen Gegenmachtskomplex zu integrieren.
Die Folge waren verschiedenste Initiativen ohne Logo oder Banner und die Möglichkeit für Leute ihren eigenen Rhythmus und ihr eigenes Konfrontationslevel zu finden. Es gab eine große Präsenz von Plakaten, Sprühereien, Zeitungen und Flugblättern in Kreuzberg, sowie individuelle Taten und kollektive Momente. All dies erzeugte eine so undurchsichtige und chaotische Dynamik, die Google vorerst dazu brachte von den Plänen eines Campus abzusehen.[2]
VI
Abseits der Gegenmacht, des Organisationssumpfes und der Ränkekämpfe um die Hegemonie über die Bewegung verschiebt sich die Fragestellung. Von: „Wie organisieren wir die „Massen“ („die Geflüchteten“, „die Arbeiter*innen“, ….)?“ bzw. „Wie kriegen wir die Massen dazu, sich selbst zu organisieren?“ zu „Wie organisiere ich mich? Und mit wem? Und um was zu tun?“.
Auf der unmittelbaren Ebene – mit den Gefährt*innen mit denen ich unmittelbar handle – ist die Organisierung auf Basis von Affinität für mich nach wie vor der beste Ansatz. Dabei wird explizit gemacht, was so oder so immer mitschwingt, dass es Mitstreiter*innen gibt, mit denen ich mehr harmoniere als mit anderen. Mit dem Wort Affinität wird dabei versucht den Prozess zu beschreiben, bei dem man über das Teilen von Erfahrungen und das Vertiefen von gemeinsamer Kenntnis in die Lage versetzt wird, gemeinsam zur Aktion zu schreiten und gemeinsam Perspektiven zu entwickeln.
Auf der weiteren, mittelbaren Ebene – zwischen mir, meinem Affinitätskreis und anderen Mitstreiter*innen und Sozialrebellen – stellt sich die Frage: Wie unser Handeln koordinieren? Sofern dies überhaupt nötig und gewünscht ist. Etwas, das nur funktionieren kann und erst zur Diskussion steht, wenn ich alleine und gemeinsam mit anderen bereits in der Lage bin zu handeln und gemeinsame Kenntnis erworben habe, wohin wir in etwa mit unserem Kampf wollen und wie wir das anstellen. Damit ist die Voraussetzung für die Koordinierung das Bestehen von Individuen und Affinitätsgruppen, die sich die Kapazität zu handeln angeeignet haben und über eigene Perspektiven verfügen. Ist diese Grundlage nicht gegeben, enden Koordinierungsversuche meist frustrierend. Zum Beispiel wenn sich auf einem Treffen alle anschweigen, weil niemand etwas vorzuschlagen hat oder Vorschläge unterbreitet werden und Leute gar nicht in der Lage sind, diese umzusetzen.
Koordinierung kann dabei unterschiedliche Formen annehmen. Wenn sich Gefährt*innen von Angesicht zu Angesicht treffen, um Vorschläge zu diskutieren und ihr Handeln aufeinander abzustimmen, können wir von direkter Koordinierung sprechen. Diese kann sowohl komplett öffentlich passieren, wie das Beispiel des Anti-Google-Cafés face2face zeigt (was vor allem eine spannede Möglichkeit sein kann, sich nicht nur „unter Anarchist*innen“ zu koordinieren). Es kann aber auch im Geheimen stattfinden, wenn die nötige Vertrauensbasis zwischen verschiedenen Affinitätsgruppen besteht.
Darüber hinaus gibt es verschiedenste Mittel und Möglichkeiten der indirekten Koordinierung, etwa Diskussionbeiträge und Aufrufe in Zeitschriften und Blogs. Jedoch zeigt sich auch hier deutlich, dass diese zum scheitern verurteilt sind, sofern es keine Individuen und Zusammenhänge gibt, die über die Fertigkeit und den Willen verfügen, diesen Leben einzuhauen und sie in die Tat umzusetzen.
Koordinierungen ob indirekt oder direkt und ob einmalig oder fortlaufend können lokal in einer Stadt oder einer Region stattfinden oder auch über größere Distanzen hinweg. Was Koordinierungen jedoch nicht können, ist den Kampf zu vereinheitlichen und den einzelnen Teilnehmenden ihre Autonomie zu rauben. Außer die Koordinierung verwandelt sich in einen institutionalisierten Rahmen, wo vermeintlich allgemeingültige Entscheidungen getroffen werden. Jedoch halte ich diese Gefahr für sehr gering, solange die Gefährt*innen, aus denen sich jeweils die Koordinierung zusammensetzt, über eigene Perspektivenverfügen und über Kenntnisse, wie diese verwirklichen. Im Gegensatz zur Gegenmacht, wo die Leute von Anfang an gesammelt werden unter der Hypothese, dass mit der Masse dann schon die Klasse (also die Qualität) folgt und dass die Leute fast schon naturwüchsig, allein schon durch ihr Teil-einer-Organisation-Sein die Fähigkeiten zu handeln erwerben würden. Während die Gegenmacht tatsächlich die Initiave der Leute hemmt und bei erfolgreichem Kampf lediglich eine Macht gegen eine andere austauscht.
Gegen jede Macht und für mehr Chaos!
[1] Für eine tiefgehendere Auseinandersetzung siehe: „Immer auf der Seite des Chaos“ in: In der Tat, Nr. 4, Sommer 2019.
[2] Für eine ausführlichere Auseinandersetzung zum spezifischen Kampf gegen den Google-Campus siehe unter anderem: „Ein Interview zum Kampf gegen den Google Campus“ in: In der Tat, Nr. 2, Januar 2019. Und „Google Campus Kaputt – Reflektionen zum Kampf gegen den Google-Campus in Berlin 2016-2018“ sowie „Ein Kampf gegen Google, aber nicht nur…“.