Titel: Autonome Selbst-Organisierung & anarchistische Intervention
Untertitel: Eine Spannung in der Praxis
Datum: März 2004
Bemerkungen: Originaltitel: "Autonomous Self-Organization and Anarchist Intervention - A Tension in Practice" publiziert im März 2004 bei Venomous Butterfly Publications.

Einleitung: Ein paar Definitionen und Erklärungen

Jeder potentiell befreiende Kampf von Ausgebeuteten und Enteigneten gründet notwendig auf autonomer Selbst-Organisierung. Als AnarchistInnen, für gewöhnlich selbst ebenfalls Ausgebeutete, haben wir jeden Grund an diesen Kämpfen teilzunehmen und dazu zu ermutigen. Da wir jedoch ein spezifisch revolutionäres Ziel und spezifische Ideen davon haben, wie wir unsere Kämpfe führen wollen, nimmt unsere Beteiligung die Form einer Intervention an, die diese Kämpfe in eine spezifische Richtung bewegen soll. Da wir weder den Wunsch nach irgendeiner Form von Avantgarde oder Führung haben, noch uns im freudlosen Spiel der Politikmacherei verfangen wollen, finden wir uns in der Spannung wieder, unsere Konzepte von Kampf und Freiheit im Kontext einer unfreien Realität zu leben; versuchen wir die realen Probleme, denen wir uns täglich gegenübersehen, mit der uns eigenen Verweigerung der Spielregeln dieser Welt entgegenzutreten. Daher ist die Frage autonomer Selbst-Organisierung und anarchistischer Intervention ein fortwährendes Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, ohne auf einfache Antworten und den Glauben an organisatorische Patentrezepte hereinzufallen. Werfen wir zunächst einen Blick auf einige Definitionen und Erklärungen, um diese Frage genauer zu untersuchen.

Autonome Selbst-Organisierung

Wenn ich von autonomer Selbst-Organisierung spreche, meine ich damit ein spezifisches Phänomen, das die Neigung hat überall dort aufzutauchen, wo Leute wütend über ihre Lebensbedingungen sind und den Glauben an jene verloren haben, die delegiert wurden, um für sie zu handeln; wo Leute sich entscheiden für sich selbst zu handeln. Autonome Selbst-Organisierung manifestiert sich daher niemals in Form einer politischen Partei, einer Gewerkschaft oder einer anderen Art repräsentativer Organisation. All diese Formen der Organisierung beanspruchen die Kämpfenden zu repräsentieren, in ihrem Namen zu handeln. Autonome Selbst-Organisierung definiert sich genau in der Zurückweisung jeglicher Repräsentation. Parteien, Gewerkschaften und andere repräsentative Organisationen neigen dazu, autonomen Organisierungen einzig in Form einer Vereinnahmung des Kampfes zu begegnen – danach zu streben, die Führung zu übernehmen und sich selbst zu SprecherInnen des Kampfes zu ernennen – üblicherweise mit dem Ziel, mit den Herrschenden zu verhandeln. Daher können sie überall dort nur als potenzielle Ursupatoren gesehen werden, wo es zu einer wirklich selbst-organisierten Revolte kommt.

Autonome Selbst-Organisierung definiert sich durch einige wesentliche Merkmale. Zuallererst ist sie nicht-hierarchisch. Es gibt keine institutionelle oder dauerhafte Führung oder Autorität. Auch wenn einer Person, die in bestimmten, auf den aktuellen Kampf bezogenen Dingen über besonderes Wissen verfügt, die Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird, die ihr hinsichtlich dieses Wissens gebührt, kann nicht zugelassen werden, dass darauf irgendeine permanente Führungsrolle gegründet wird, da dies ein weiteres wesentliches Merkmal autonomer Selbst-Organisierung untergraben würde: Horizontale Kommunikation und Beziehungen. Dabei geht es darum, dass die Leute miteinander sprechen und interagieren, miteinander handeln und sich wechselseitig beeinflussen, ihre Wünsche und Bedürfnisse offen zum Ausdruck bringen, die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, tatsächlich gemeinsam und in praktischen Begriffen diskutieren, ohne dass irgendeine Führung diesen Ausdruck an eine vorgegebene Linie anpasst. Dies bringt uns zu einem weiteren Merkmal, das unter kollektivistischen Ideologen umstritten sein mag, das aber allein im Stande ist, die ersten beiden Merkmale zu garantieren: Die grundlegende Einheit autonomer Selbst-Organisierung ist das Individuum. Ansonsten könnte argumentiert werden, dass alle Staaten und Geschäfte autonome Selbst-Organisierungen sind, denn auf institutioneller und kollektiver Ebene organisieren sie sich selbst. Die Individuen aber, die deren menschliche Komponente bilden, werden über diese Institutionen definiert und entsprechend institutioneller Bedürfnisse platziert. Somit besteht autonome Selbst-Organisierung zuallererst im Individuum, das seinen Kampf gegen die ihm von der Welt aufgezwungenen Verhältnisse auf die ihm eigene Art organisiert und die Mittel findet, die notwendig sind, um diesen Kampf zu führen. Diese notwendigen Mittel aber bestehen auch in Beziehungen zu anderen Leuten, daher ist autonome Selbst-Organisierung auch eine kollektive Praxis. Aber diese kollektive Praxis baut nicht darauf auf, die Individuen an eine ihnen aufgenötigte Organisation anzupassen, sondern setzt vielmehr auf das Entwickeln von Beziehungen der Gegenseitigkeit zwischen ihnen, wobei sie gemeinsames Terrain in ihren Kämpfen und Bedürfnissen entdecken, Verbundenheit in ihren Träumen und Wünschen. Mensch könnte sagen, dass autonome Selbst-Organisierung in der Entwicklung geteilter Kämpfe besteht, die zur vollen Verwirklichung aller beteiligten Individuen auf Gegenseitigkeit aufbauen. Um diesen Punkt noch deutlicher zu machen (und nebenbei einer falschen Dichotomie entgegenzutreten, die in revolutionären Milieus häufig auftaucht), kann mensch sich das ganze in Bezug auf den revolutionären Klassenkampf anschauen. Während sie sich in Details unterscheiden, sind sich anti-staatliche, anti-kapitalistische RevolutionärInnen im Allgemeinen einig, dass es die »revolutionäre Aufgabe« der ausgebeuteten Klasse ist, sich als Klasse abzuschaffen, indem sie die Klassengesellschaft abschafft. Was bedeutet das und wann im Verlauf des Kampfes geschieht das? Mir scheint, dass dies genau bedeutet sich selbst als Individuum wiederzuentdecken, mit all den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Träumen, die in keiner Beziehung stehen zu dem, was das Kapital anzubieten hat – Wünsche, Bedürfnisse und Träume, die am besten in freier Assoziation mit anderen erfüllt werden können, aufbauend auf Gegenseitigkeit und Verbundenheit. Wenn die Ausgebeuteten im Verlauf des Kampfes die Methoden finden, ihre eigenen Handeln gemeinsam zu organisieren, hat der Prozess sich selbst als Klasse abzuschaffen bereits begonnen, da sie beginnen als Individuen miteinander zu sprechen und zu handeln. Schließlich ist autonome Selbst-Organisierung praktisch. Sie besteht nicht in der Stiftung einer formalen Organisation, um irgendwas zu repräsentieren. Vielmehr besteht sie im Zusammenbringen der notwendigen Elemente, die zum Vollbringen der verschiedenen Aufgaben und Aktivitäten eines speziellen Kampfes nötig sind. Darin wird mensch dazu neigen, Wege der Kommunikation zu entwickeln, Wege, das Handeln zu koordinieren, notwendige Werkzeuge zu sammeln, usw. Wie wir weiter unten sehen werden, gibt es in Kämpfen größeren Ausmaßes die Neigung Versammlungen hervorzubringen, um zu diskutieren, was nötig ist; dies sind keine formalisierten Strukturen, sondern vielmehr spezifische Methoden mit anstehenden Problemen umzugehen.

Anarchistische Intervention

Als AnarchistInnen sind wir häufig Teil der Ausgebeuteten und Enteigneten. Daher haben wir ein unmittelbares Bedürfnis gegen diese Gesellschaftsordnung zu kämpfen. Zur gleichen Zeit stossen wir zu diesen alltäglichen Kämpfen mit einer bewussten revolutionären Perspektive und mit spezifischen Ideen darüber, wie wir in diesen Kämpfen handeln wollen. Daher ist es unvermeidlich, dass unsere Beteiligung als AnarchistInnen die Form der Intervention annehmen wird. Es ist eine Überlegung wert, was unsere Beteiligung zu einer Intervention macht.

Zunächst kommen wir als AnarchistInnen zu jedem Kampf mit einer bewussten revolutionären Perspektive. Was immer der konkrete Grund sein mag, der einen Kampf auslöst: wir erkennen darin einen Aspekt der sozialen Ordnung, die zerstört werden muss, um die Möglichkeiten für eine freie und selbstbestimmte Existenz zu eröffnen. Kämpfe und Revolten werden im Allgemeinen von spezifischen Umständen provoziert, nicht durch die massenhafte Erkenntnis der Notwendigkeit, dass Staat, Kapital und alle Institutionen zerstört werden müssen, durch die Herrschaft und Ausbeutung ausgeübt wird. Anarchistische Intervention ist somit die Anstrengung, einen Kampf über die vorfindliche Ursache hinauszutreiben, die ihn ausgelöst hat – nicht allein durch Worte, sondern durch Taten die Verbindung klar zu machen, die zwischen dem spezifischen Problem und der größeren Realität der uns umgebenden sozialen Ordnung besteht. Dies würde beinhalten, die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kämpfen ebenso zu finden und deutlich zu machen wie die Unterschiede, die einen breiteren Kampf fördern und die Revolte voranbringen können.

Da wir als AnarchistInnen zu jedem Kampf mit einer spezifisch revolutionären Perspektive kommen, ist es in unserem Interesse eine Methodik des Kampfes vorzuschlagen, die diese Perspektive in sich trägt, eine von Grundsätzen geleitete Methodik, die in jedem Kampf eine Basis für unsere Komplizenschaft zur Verfügung stellt. Die Methodik von der ich spreche ist nicht einfach eine Methodik für den Kampf, sondern etwas, das so weit wie möglich auf das ganze Leben angewendet werden kann. Zuallererst muss der Kampf in völliger Autonomie, d.h. in kompletter Unabhängigkeit von allen repräsentativen Organisationen geführt werden. Wir müssen in Gewerkschaften und Parteien die Ursupatoren erkennen, die sie sind, und unser spezifische Handeln in jedem Kampf für uns selbst bestimmen, ohne Rücksicht auf ihre Forderungen. Zweitens hat unsere Praxis die der wahrhaft direkten Aktion zu sein – es gilt herauszufinden, wie wir die spezifischen Aufgaben, die wir uns selbst stellen selbst erfüllen können – nicht zu fordern, dass irgendeine Autorität oder irgendeine »RepräsentantIn« des Kampfes für uns handelt. Drittens müssen wir den permanenten Konflikt mit der sozialen Ordnung, gegen die wir aufbegehren mit Blick auf die spezifische Sache, um die es gerade geht, aufrecht erhalten, indem wir unsere Angriffe fortsetzen, um klar zu machen, dass es nicht in unserer Absicht liegt uns vereinnahmen zu lassen. Viertens müssen wir angreifen – es verweigern mit den Herrschenden zu verhandeln oder Kompromisse zu schließen. Diese Methodik transportiert in sich zugleich das Prinzip der Selbst-Organisierung wie die revolutionäre Notwendigkeit, die gegenwärtige herrschende Ordnung zu zerstören.

Aufgrund der Natur unserer anarchistischer Ausdrucksformen wird sich unsere Intervention in den Kämpfen stets als eine Spannung auf mehreren Ebenen ausdrücken. Zunächst einmal befinden sich die meisten von uns, wie ich bereits sagte, selbst unter den Ausgebeuteten und Enteigneten der gegenwärtigen sozialen Ordnung und sind nicht Teil der herrschenden oder verwaltenden Klassen. Daher sind wir mit den gleichen unmittelbaren Realitäten konfrontiert wie die anderen in unserer Umgebung, haben das selbe Bedürfnis nach unmittelbarer Erleichterung. Aber wir haben auch ein Bedürfnis nach einer neuen Welt, und wir möchten dieses Bedürfnis in all unsere Kämpfe einbringen; nicht nur in Worten, sondern in der Art und Weise, in der wir zur Tat schreiten. Von daher leben wir in der Spannung, uns unter repressiven Bedingungen willentlich in Richtung Autonomie und Freiheit zu bewegen. Darüber hinaus wünschen wir auf spezifische Arten zu kämpfen und unser Leben zu leben. Diese Methoden bauen auf horizontalen Beziehungen und der Verweigerung von Hierarchie und Avantguardismus auf. Unser Bestreben, Wege dafür zu finden bewegt sich in der Spannung, unsere Konzepte davon, wie wir kämpfen wollen auf eine Weise voran zu bringen, die bereits existierende Ansätze von Selbst-Organisierung und direkter Aktion stärkt, ohne in Methoden eines politischen Evangelismus zu verfallen. Wir wollen uns letztlich als GenossInnen und KomplizInnen aufeinander beziehen, nicht als AnführerInnen. Und dann stehen wir noch in der Spannung des Wunsches, ungeachtet des gegenwärtigen Niveaus des Kampfes unmittelbar gegen die Zumutungen zu handeln, die diese Gesellschaft unserem Leben aufnötigt, und dabei gleichzeitig jede Tendenz des Avantguardismus zu vermeiden. Auf eine Art ist die anarchistische Intervention das Drahtseil zwischen unserem eigenen alltäglichen Kampf und der Suche nach Wegen, diesen Kampf mit den Kämpfen aller Ausgebeuteten zu verbinden, von denen die meisten unsere bewussten Perspektiven nicht teilen – eine Verbindung die nötig ist, wollen wir uns in Richtung von sozialem Aufstand und Revolution bewegen. Ein Fehltritt in der einen Richtung lässt unseren Kampf um sich selbst kreisen, wodurch er in individuellen radikalen Hedonismus ohne jede soziale Relevanz verwandelt wird. Ein Fehltritt in die andere Richtung macht ihn einfach zu einer weiteren politischen Partei (welchen Namen auch immer man ihr gibt, um diese Tatsache zu verbergen), die um die Kontrolle des sozialen Kampfes wetteifert. Dies ist der Grund warum wir immer im Kopf behalten müssen, dass wir nicht nach Gefolgschaft oder AnhängerInnen suchen, sondern nach KomplizInnen für das Verbrechen der Freiheit.

Anarchistische Interventionen können unter zwei Umständen auftreten: wo es zu selbst-organisierten Kämpfen der Ausgebeuteten kommt, oder wo eine spezifische Situation nach einer unmittelbaren Antwort verlangt und AnarchistInnen zu selbst-organisierten Methoden ermuntern möchten, diese Antwort zu geben. Ein Beispiel für die erste Situation wäre eine Bewegung des wilden Streiks, in der AnarchistInnen ihre Solidarität ausdrücken, zur Ausbreitung des Streiks ermuntern, den Verrat der Gewerkschaften herausstellen können; wo eine weitreichendere Kritik an der Gewerkschaft als Institution ebenso geteilt werden kann wie Visionen über Wege dem Leben und der Welt zu begegnen, die anders sind als nur zu arbeiten, um auf einem gewissen Niveau zu überleben. Wir werden uns weiter unten eine Reihe von Beispielen anschauen. Die zweite Art der Intervention wäre etwa der Bau einer Atomwaffenbasis in der Gegend, in der mensch lebt, oder ein Mord der Polizei, begangen an einer armen Person oder Leuten, die einer Minderheit angehören. So etwas verlangt nach einer unmittelbaren Antwort und AnarchistInnen werden in einer solchen Situation danach verlangen, selbst autonome Antworten zu geben. Und sie werden dazu anregen, dies in Form direkter Aktion zu tun, statt sich mit Forderungen an die Herrschenden zu wenden. Die genaue Art und Weise, wie AnarchistInnen in solchen Situationen intervenieren werden, unterscheidet sich je nach den Umständen. Aber der Punkt ist, dass es immer darum geht, die nach Autonomie, Selbst-Organisierung und direkter Aktion strebenden Tendenzen zu ermutigen, statt eine politische Perspektive zu pushen.

Einige historische und gegenwärtige Situationen

Da diejenigen, denen ihr Leben gestohlen wird, häufig ein hohes Maß Wut über ihre Situation und Misstrauen erreichen, das sich sowohl gegen die Herrschenden als auch gegen jene wendet, die für sich beanspruchen die Ausgebeuteten zu vertreten, ist es glücklicherweise nicht schwierig Beispiele für die Praxis autonomer Selbst-Organisierung zu finden. nter Umständen finden sich Beispiele der Intervention anti-politischer (wenn auch nicht immer spezifisch anarchistischer) RevolutionärInnen. Außerdem habe ich ein Beispiel einer anarchistischen Intervention gefunden, wo diese in Reaktion auf eine spezifischen Situation agierten, um zu selbst-organisierten direkten Aktionen gegen die Errichtung einer Atomwaffenbasis in Sizilien zu ermutigen. Lasst uns auf einige dieser Beispiele einen Blick werfen.

Italien in den 1970ern

In den 1970er Jahren erlebte Italien eine soziale Bewegung der Revolte, in der junge ArbeiterInnen, StudentInnen, arme und ausgebeutete Jugendliche und Frauen eine zentrale Rolle spielten. Eine der herausragenden Charakteristika dieser Bewegung war genau ihre Autonomie von den üblichen Organisationen, die beanspruchten die Kämpfe der Ausgebeuteten zu repräsentieren. Weder Gewerkschaften noch Parteien führten die Kämpfe an. Das Misstrauen diesen Organisationen gegenüber war groß und wurde noch größer, als die Parteien und Gewerkschaften durch plumpe Bestrebungen, die Kämpfe entweder zu vereinnahmen oder zu diskreditieren ihre wahre Natur offenbarten.

Im Verlauf dieser Kämpfe kam überall im Land eine Vielfalt verschiedener Formen zum Einsatz: wilde Streiks, massive Demonstrationen, Sabotage, massenhafte Besetzungen von Häusern und anderen Räumen, Straßenkämpfe mit Bullen und Faschisten, sowie eine große Zahl anderer Formen direkter Aktion. Zusätzlich begann sich der bewaffnete Kampf in vielfältiger Form zu entwickeln, die häufig nicht die spektakuläre und spezialisierte Form von Gruppen wie den Roten Brigaden hatte. Um die Realitäten dieser Kämpfe miteinander zu kommunizieren und das Handeln zu koordinieren, entwickelten sich spontane Versammlungen in Fabriken, besetzten Universitäten und Nachbarschaften. In oftmals vehement geführten Diskussionen und Debatten wurde auf sehr hohem Niveau die Frage nach der Natur dieser Gesellschaft aufgeworfen und wie dagegen gekämpft werden könne. Was jenseits spezifischer Arbeitsbedingungen die Frage der Arbeit an sich beinhaltete, der Ehe und der Familie als Quell repressiver Beziehungen entlang von Geschlecht und Alter, des technologischen Apparats und der Natur der Produktion, usw.

Sicherlich waren viele AnarchistInnen und andere anti-politische RevolutionärInnen an dieser Bewegung beteiligt. Ihre Interventionen nahmen verschiedenste Formen an, von denen ich nur einige erwähnen möchte. Im Laufe des Aufstands gab es Myriaden von Publikationen zur Verbreitung anarchistischer und anti-politischer Analysen. Eine große Zahl von Piratenradios entstand, die halfen die Informationen über spezifische Kämpfe in den jeweiligen Regionen zu verbreiten, in denen sie sich befanden. Zusätzlich kamen viele AnarchistInnen (und andere) in kleinen Bezugsgruppen zusammen, um in Bezugnahme auf spezifische Aspekte des andauernden Kampfes spezifische Angriffe und Sabotageakte durchzuführen. Die meisten dieser Gruppen waren temporär mit dem Ziel der Vollendung einer spezifischen Aktion. Eine spezifische bewaffnete Gruppe, die Azione Rivoluzionaria (AR) entstand auch aus einer anti-politischen, anti-autoritären und anti-kapitalistischen Perspektive. Beim Lesen ihrer Kommuniqués und Texte wird klar, dass die Gruppe stark von Raoul Vaneigem beeinflusst war. Für alle praktischen Zwecke bestand sie in einer informellen Föderation von Bezugsgruppen, die verschiedene bewaffnete Angriffe gegen die Institutionen der Macht ausführten. Anders als die stalinistischen Roten Brigaden, die definitiv vorhatten, die bewaffnete Partei zu sein, die das Proletariat zum Sieg führt, sah sich die AR einfach als einen Schritt in der Verallgemeinerung des bewaffneten Kampfes. Trotzdem führten sie ihre Angriffe in einer Weise aus, die es möglich machte, sie zu spektakularisieren und vom größeren Kampf zu separieren, daher wurden sie auf praktischer Ebene zu SpezialistInnen in der Nutzung eines speziellen Werkzeugs des Kampfes.

Der aufständische Kampf im Italien der 1970er Jahre war recht weit fortgeschritten. Mit Sicherheit spürten einige die Revolution in der Luft liegen (inklusive, unglücklicherweise, die Behörden). Es ist unmöglich zu sagen, in welchem Ausmaß das spezifische Handeln von AnarchistInnen oder anderen anti-politischen RevolutionärInnen die Richtung der allgemeinen Revolte tatsächlich beeinflusst hat, aber sicherlich waren viele der Interventionen (vom Piratenradio zur Sabotage und darüber hinaus) nützlich. Die Art und Weise, in der viele der autonomen Kämpfe – insbesondere kleinere Aktionen – organisiert wurden, erinnerten an die Ideen und Praktiken von AnarchistInnen unter dem Einfluss von Luigi Galleanis Ideen. Wenn Gruppen wie die Azione Rivoluzionaria in eine spezifische Rolle verfielen, und damit die Nützlichkeit ihrer Aktivität schwächte, so taten es doch viele nicht – und es gab inmitten des Kampfes eine Kapazität für ernsthafte Kritik, die es uns erlaubt von den Ereignissen zu lernen. Schlussendlich führte harte staatliche Repression in Kombination mit dem Säen von Missverständnissen zwischen den Menschen in der Revolte zur Zerstreuung dieser Bewegung. Als der Staat zuschlug, war die Bewegung nicht darauf vorbereitet sich zu verteidigen. Auch wenn es Hinweise auf die Möglichkeit einer Ausbreitung des bewaffneten Kampfes gibt (Individuen, die nicht Teil einer spezialisierten bewaffneten Gruppe waren, begannen sich zu Verteidigungszwecken zu bewaffnen), verhinderte eine Kombination von Statements bestimmter linker Gruppen, die sagten, dass die Zeit nicht reif sei für den bewaffneten Konflikt, zusammen mit der Spektakularisierung spezialisierter bewaffneter Gruppen durch die Medien jede Klarheit in dieser Frage. Nichts desto weniger existieren eine Menge anarchistischer Analysen aus dieser Zeit, die die Fragen untersuchen, wie sich die aufständischen Kämpfe entwickeln, wie die anarchistische Intervention, der bewaffnete Kampf usw. Und ein großer Teil des Experimentierens und Erkundens findet in Italien auch heute noch entlang dieser Linien statt.

Spanien 1976-1979

Im Dezember 1975 starb Franco, der für mehr als 35 Jahre der Diktator Spaniens gewesen war. Als ein neues Regime die Ordnung in Form eines demokratischen Staates wiederherzustellen versuchte, brach eine Bewegung wilder Streiks aus, die Möglichkeiten für eine neue Gesellschaft eröffneten, in der Staaten und Bosse keinen Platz mehr haben würden. Diese Bewegung wilder Streiks spiegelte verschiedene Aspekte ihrer Zeit wieder: Die durch den Fall des Franco-Regimes entstandene Öffnung, die von der herrschenden Klasse auf Kosten der ArbeiterInnen gewünschte Umstrukturierung des spanischen Kapitals, den Kotau der Gewerkschaften und verschiedener linker Parteien vor den Forderungen der herrschenden Klasse in der Hoffnung legalisiert zu werden, die Bereitschaft der Ausgebeuteten, die Möglichkeit am Schopf zu packen und in ihrem eigenen Interesse zu handeln.

Der Kampf verbreitete sich in einer großen Zahl von Städten in Spanien. ArbeiterInnen blockierten die Straßen, machen spontane Demos, um die Neuigkeiten des Streiks überall zu verbreiten, bauten Barrikaden, kämpften gegen die Polizei und besetzten Fabriken und andere Räume. Die verschiedenen Aktionen der Streikenden wurden durch tägliche Versammlungen in den Fabriken organisiert, wo die wirklichen Entscheidungen getroffen wurden, sowie durch zweiwöchentliche gemeinsame Versammlungen, die nur koordinierende Funktion hatten. Außerdem wurden, als sich die Bewegung verbreitete, Nachbarschaftsversammlungen gebildet, die den Kampf gegen die Ausbeutung in alle Bereiche des täglichen Lebens hin ausbreitete. Interessanterweise war es die Ausbreitung der Bewegung der Versammlungen über die Fabriken hinaus, die zu weitreichender Kritik und der Infragestellung der Lohnarbeit an sich führte.

Die größte Schwäche dieser Versammlungen scheint ihre Toleranz für das Heckmeck der Gewerkschaften und Parteien auf den Versammlungen gewesen zu sein. Diese DienerInnen der verschiedenen oppositionellen Bürokratien riefen, natürlich, immer zur Mäßigung und zu Verhandlungen auf – und versuchten die Versammlungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch wenn sie für gewöhnlich ignoriert wurden, so wurden sie doch nicht aus den Versammlungen geworfen und bei einigen Begebenheiten unterminierten sie laufende Kämpfe, indem sie sie an sich rissen und mit den Herrschenden verhandelten. Dies spielte bei der einsetzenden Zerstreuung der Revolte eine zentrale Rolle.

Da Spanien eine enorm starke anarchistische Geschichte hat, spielten AnarchistInnen ohne Zweifel eine bedeutende Rolle in diesem Kampf. Aber nicht durch irgendeine der wohlbekannten Organisationen. Die am besten bekannte »anarchistische« Organisation in Spanien, die CNT, bewies erneut, dass sie zu zuallererst eine Gewerkschaft der Arbeit ist, d.h. eine Organisation, welche die Kämpfe der ArbeiterInnen in Verhandlung mit den den Bossen repräsentiert. Wie alle anderen Gewerkschaften strebte sie nach Legalisierung im neuen Regime, und spielte von daher auch die gleiche Rolle wie sie – die im Versuch bestand, die Kämpfe in Richtung Mäßigung und Kompromiss zu manipulieren.

Auf der anderen Seite waren anti-politische RevolutionärInnen auf vielseitige Art an den wilden Streiks beteiligt. Zu dieser Zeit kursierten anonyme Schriften, in denen die Situation aus einer ausdrücklich revolutionärer Perspektive analysiert, und die Manipulationen von Gewerkschaften und Parteien entlarvt wurden. Eine Gruppe, die sich selbst die »Unkontrollierbaren« nannte – in Verwendung eines von RepublikanerInnen bis CNTlern in abfälliger Weise benutzten Begriffes, der sich gegen jene RevolutionärInnen richtete, die sich den kompromisslerischen Anführern der 1930er Jahre nicht beugen wollten – lieferte fortlaufend Analysen der Situation.

Hinzu kamen die »autonomen Gruppen«, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Bewegung aktiv wurden. Diese Gruppen setzten sich aus Individuen der ausgebeuteten Klassen mit einer revolutionären Perspektive zusammen, die beschlossen, nicht mehr zu arbeiten, außerhalb des Gesetzes zu leben und von dort aus an den Kämpfen teilzunehmen. Ihre Praxis bestimmte sich aus ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen, aber da dies die Solidarität mit anderen beinhaltete, spiegelte sich diese Komplizenschaft in ihren Akten der Enteignung, des Vandalismus und der Sabotage wieder. Sie sahen sich selbst in keiner Weise als SpezialistInnen, sondern schlicht als Individuen, die eine Wahl darüber getroffen hatten, wie sie hier und jetzt im Kampf mit dieser soziale Ordnung leben, und entsprechend dieser Wahl handeln wollen. Ihre Interventionen waren präzise und gezielt, damit sie in Bezug auf die laufende Bewegung der wilden Streiks verstanden wurden.

Comiso, Sizilien 1982-83

Im Dezember 1979 trafen die USA mit der italienischen Regierung ein Abkommen über die Stationierung von Atomwaffen in Italien. Das Abkommen wurden im Geheimen getroffen, doch im Frühjahr 1981 sickerte die Nachricht nach draußen. Ein Flughafen nahe der Stadt Comiso im Süden Siziliens war ausgewählt worden, 112 Nuklearraketen zu beherbergen. Augenblicklich reagierten die Menschen der Region wütend darüber, wie offensichtlich hier über ihr Leben verfügt wurde. Die Leute begannen über die Sache zu diskutieren. AnarchistInnen nahmen an diesen Diskussionen teil, verteilten Flugblätter und besuchten Treffen über die Militärbasis.

Die üblichen VereinnahmerInnen erschienen sofort auf der Bildfläche: linke Parteien gründeten Friedenskomitees, die darauf abzielten mit symbolischem Protest die Entscheidungen der Herrschenden zu beeinflussen. Die AnarchistInnen aber riefen mit anderen RevolutionärInnen, die am radikalen Potential der wütenden Leute aus der Region interessiert waren, eine Organisierungsgruppe ins Leben, die vom Ansatz her auf direkte Aktion und Angriff zielte.

Während die Friedenskomitees symbolische Großdemonstrationen organisierten und »Frieden« forderten diskutierten AnarchistInnen und andere RevolutionärInnen in der Organisierungsgruppe darüber, auf welche spezifischen Ziele der Kampf in Cosimo und anderen Gegenden, die mit ähnlicher Fremdbestimmung konfrontiert waren, konzentriert werden könnte. AnarchistInnen aus Catania vertraten die Ansicht, der Kampf sollte auf einer sozialrevolutionären Grundlage geführt werden, mit einer Methodik des Angriffs auf Personen und Strukturen, die für die Entscheidung der Errichtung der Basis verantwortlich sind. 1982 spaltete sich die Organisierungsgruppe aufgrund unauflösbarer Widersprüche.

Im April 1982 organisierten die Friedenskomitees einen weiteren Friedensmarsch in Cosimo. Es ging um den üblichen befriedenden Bullshit, Spiegel des Opportunismus der linken Parteien. Im Mai entschieden sich die AnarchistInnen von Ragusa und Catania zu intervenieren und die massenhafte Opposition gegen die Militärbasis mit dem Ziel zusammenzubringen, den Bauplatz zu besetzen.

Über die nächsten Monate hinweg beriefen sie eine Reihe öffentlicher Treffen ein, sie verteilten Flugblätter und andere Literatur zum Thema. Anarchistische Frauen gingen von Tür zu Tür, um mit den Frauen der Region zu sprechen, die aufgrund der extrem patriarchalen regionalen Kultur nur selten das Haus verlassen. Da sie auf positive Resonanz in der örtlichen Bevölkerung stießen, schlugen die AnarchistInnen eine Methode vor, um den Kampf auf autonome Art zu organisieren. Der Geschichte Siziliens sind Rebellionen nicht fremd, und eine der Formen, die Selbst-Organisierung dort gewöhnlich genommen hatte war die der selbst-verwalteten Liga. Die AnarchistInnen empfahlen darüber nachzudenken, diese Form für den aktuellen Kampf wiederzubeleben. Am 31. Juli und 1. August fand eine anarchistische Konferenz statt, auf deren abschließender Versammlung unter freiem Himmel der Kampf gegen die Militärbasis mit der Verweigerung des Militarismus verbunden wurde, indem ein Anarchist seine Einberufungspapiere zerstörte.

Die selbst-verwaltete Ligen begannen Form anzunehmen. Die AnarchistInnen eröffneten ein Koordinationsbüro zur technischen Unterstützung und Förderung der Kommunikation zwischen den Ligen, während sie selbst damit fortfuhren, öffentliche Treffen abzuhalten und Flugblätter zu verteilen. Da sich Ligen bestehend aus ArbeiterInnen, StudentInnen, Erwerbslosen usw. gründeten, kam es zu verschiedenen Aktionen, die nicht selten darauf zielten, sich die für die Diskussion der Angelegenheit nötige Zeit und auch den Raum dafür zu nehmen. Insbesondere SchülerInnen der oberen Klassen streikten und nutzten die Zeit, um zu diskutieren, was zu tun sei.

Unterdessen wurden die Auswirkungen der Militärbasis klarer und klarer: ansässige BäuerInnen wurden von ihrem Land vertrieben, um Platz für Raketentests zu schaffen, amerikanische Militärs und NATO-Offiziere reservierten verschiedene Hotels und andere Dienstleistungen für sich, die Mafia[1] nötigte und terrorisierte GegnerInnen der Militärbasis und versuchte ihnen Angst einzujagen. Die AnarchistInnen fuhren damit fort Kontakt zu ArbeiterInnen, Erwerbslosen, StudentInnen und Hausfrauen in der Gegend aufzunehmen, aber die Kräfte der Repression taten alles, um deren Aktivitäten durch Einschüchterung, Falschinformationen, usw. zu behindern.

Zur Besetzung selbst kam es nie. Als der Bau der Basis voranschritt, kam eine große Zahl AnarchistInnen nach Comiso, und die meisten waren der Ansicht, dass eine Besetzung zu diesem Zeitpunkt viel zu riskant wäre. Dennoch führten die fortgesetzten Aktivitäten in dieser Zeit zu einer Reihe explosiver Situationen und ganz sicher zeigten sie die Offenheit einer Menge Leute für selbst-organisierter Kämpfe. Die Initiative endete mit einer riesigen Demonstration zur Raketenbasis. Die Cops griffen die Demo mehrmals und über einige Stunden hinweg gewaltsam an. Tatsächlich setzten sie den DemonstrantInnen kilometerweit nach. Die Militärbasis wurde Mitte der 80er in Betrieb genommen, aber 1992 wieder geschlossen.

Das interessante an dieser Initiative liegt nicht in Erfolg oder Niederlage, sondern im Bemühen um eine selbst-organisierten Revolte gegen die Basis – im Gegensatz zu den symbolischen Protesten, zu denen die italienische kommunistische Partei und andere Parteien aufriefen. Zu diesem Zweck zeigten die AnarchistInnen die Verbindungen zwischen der Militärbasis und den Realitäten der Ausbeutung in der Region auf – die Vertreibung der BäuerInnen von ihrem Land, die sich verschlechternde ökonomische Situation der ArbeiterInnen, die Vergänglichkeit der für die Dauer des Bauarbeiten der Basis versprochenen Jobs, usw. Sie bezogen sich auf vergangene Aufstände in der Region und schlugen Methoden der Selbst-Organisierung vor, die bei diesen Gelegenheiten entwickelt worden waren. Darüber hinaus halfen sie einfach dabei die notwendigen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen. Entkamen sie mit dieser Vorgehensweise der Praxis von PolitikerInnen? Mir kommt es so vor, aber das ist ein Thema für die Debatte.

Albanien 1997

1997 kam es in Albanien zu einem Aufstand, der den Machtapparat nahezu zerlegte. Wie es so oft der Fall ist, entzündete sich der Aufstand nicht an großen Ideologien sondern an unmittelbaren Banalitäten. Auf Ermunterung des albanischen Präsidenten Sali Berisha hin hatte zahlreiche albanische Familien all ihr Erspartes bei einigen wenigen Finanzkonzernen angelegt, die hohe Profite versprachen. Offenbar betrieben diese Konzerne eine Art Pyramidenschema. Im Januar ging ein Konzern nach dem anderen bankrott, wodurch den ohnehin verarmten AlbanerInnen das wenige, was sie besaßen, auch noch genommen wurde.

In der Hoffnung sich selbst an die Spitze einer friedlichen Protestbewegung zu setzen, rief die sozialistische Partei zu einer Demonstration auf. Die Wut, die auf dieser Demonstration zum Ausdruck kam zeigte allen Parteien, dass diese Explosion nicht kontrollierbar war. Es kam zu immer neuen gewaltsamen Demonstrationen. Polizeistationen, Gerichte, Büros von Ministerien und Parteien wurden mit Steinen angegriffen, das Rathaus in Brand gesetzt. Der Vize-Premierminister wurde als Geisel genommen und verprügelt. Das Parlament wurde attackiert, es kam zu einer Gefängnis-Revolte. All dies geschah in den ersten beiden Wochen.

Als der Widerstand um sich griff, nahmen die Angriffe auf Strukturen von Staat und Kapital zu. Die Leute begannen sich zu bewaffnen, indem sie Polizeistationen angriffen, Waffenlager der Armee stürmten (wobei wehrpflichtige Soldaten häufig Komplizen waren) oder verschiedene andere Mittel anwendeten. Wo zuerst Forderungen gestellt wurden, war bald der Angriff übliche Praxis. Regierungsgebäude, Parteihauptquartiere, Polizeihauptquartiere, Banken und Büros des Geheimdienstes – sie alle wurden Freiwild des Angriffs. Als die Revolte um sich griff, waren mehr und mehr Leute bewaffnet. Sie waren in der Lage Blockaden zu errichten und hinderten so Riot-Cops daran, mit ihren Fahrzeugen von einer Stadt in die andere zu fahren. Sie entwaffneten die Cops (und besorgten sich so weitere Waffen), zogen sie aus und fackelten ihre Autos ab. Selbst die öffentliche Wohnung von Berisha wurde angegriffen und niedergebrannt. Auch wurden Knäste angegriffen und die Gefangenen befreit. Die AufrührerInnen zeigten ihr praktisches Verständnis, indem sie beim Stürmen von Polizeistationen erst die Waffen herausholten (und alle Gefangenen aus den Zellen) bevor sie sie anzündeten, sie die polizeilichen Operationen immer schwieriger machten, indem sie die Ausrüstung der Polizei stahlen oder zerstörten. Alle, Männer, Frauen und Kinder bewaffneten sich, um gegen die Polizei und das Militär zu kämpfen. In Erwartung des Gegenangriffs der Regierung wurden in Gegenden, die von den Aufständischen kontrolliert wurden, Barrikaden und Blockaden errichtet. Manchmal wurden Polizeibeamte gefangen genommen oder getötet; Militärangehörige desertierten häufig und schlossen sich den Aufständischen an.

Als offensichtlich wurde, dass das albanische Militär nicht in der Lage sein würde, den Aufstand niederzuschlagen (was zum Teil den Desertationen geschuldet war), kamen die Kräfte der Vereinnahmung ins Spiel. Die AnführerInnen der Oppositionsparteien, die sich selbst zu RepräsentantInnen der Aufständischen erklärten, gaben Bedingungen bekannt unter denen die RebelInnen bereit seien die Waffen abzugeben. Bedingungen, die einfach auf einen Regierungswechsel hinausliefen. Nichts davon freilich wurde auf Anfrage der Aufständischen unternommen.

Währenddessen griffen die AufrührerInnen weiterhin Regierungsgebäude an, plünderten Geschäfte, bewaffneten sich und bauten ihre Verteidigung auf. Ein Großteil des Militärs desertierte, schloss sich entweder den Aufständischen an oder floh nach Griechenland. Die Ausbreitung der Revolte zwang Berisha dazu, sich zur Vereinnahmung des Widerstands auf eine Aussöhnung mit einigen Oppositionsparteien einzulassen. In einer Reihe aufständischer Städte gründeten Mitglieder der Oppositionsparteien, die den Aufstand kontrollieren und zähmen wollten, sogenannte Public Health Committees. Als diese das Abkommen, das Berisha mit der sozialistischen Partei schloss, gut hießen, ignorierten die Aufständischen die PHCs und trafen ihre eigenen Entscheidungen. Der Aufstand verbreitete sich schnell und schon begannen benachbarte Staaten zu fürchten, dass er die Grenzen Albaniens überschreiten könnte. Mitte März sah sich die Regierung, inklusive der Geheimpolizei gezwungen aus der Hauptstadt zu fliehen. Das Plündern von Waffen und Gütern war zügellos, das Hauptquartier des Geheimdienstes und die Nationalbank wurden angegriffen.

An diesem Punkt versprach die EU eine »humanitäre Intervention« von 50.000 Soldaten nebst technischen BeraterInnen, um den albanischen Behörden dabei zu helfen, wieder funktionierende Polizei- und Armeekräfte aufzubauen. Der Aufstand hatte zu dieser Zeit einen Punkt erreicht, an dem ein albanischer Minister einräumen musste: »Es gibt keine funktionierenden Gefängnisse.« Ende März begann die militärische Intervention von außen. Zwischen April und August wurde mit einer Mischung aus Repression, Vereinnahmung und militärischer Besatzung die öffentliche Ordnung wieder hergestellt. Mit den Wahlen Ende Juni konnte festgestellt werden, dass die Drohung der Revolution aufgrund der Rückkehr der Politik verschwunden war. Am 12. August verließen die multinationalen Truppen Albanien.

Auch nach dem Fall von Enver Hoxhas »kommunistischem« Regime ist es alles andere als leicht an Informationen aus Albanien zu kommen, von daher ist es schwer zu sagen, wie die Aufständischen ihre Kämpfe organisierten. Es scheint, dass sie Versammlungen einberiefen. Auch gab es »Räte des Aufstands«, doch ob diese tatsächlich autonome Organisierungen der Ausgebeuteten waren oder Organisationen der oppositionellen Parteien zum Zweck der Vereinnahmung ist nicht bekannt. Da Albanien noch immer in weiten Teilen ländlich geprägt ist, scheint es wahrscheinlich, dass alte bäuerliche Strukturen etwas wie eine Basis zur Schaffung horizontaler Entscheidungsstrukturen zur Verfügung stellten.

Aufgrund des Ausmaßes seiner ökonomischer Interessen in Albanien spielte Italien eine zentrale Rolle bei der internationalen Niederschlagung der Revolte. Zur gleichen Zeit begannen italienische AnarchistInnen die Situation zu erkunden und nach Wegen zu suchen ihre Solidarität mit den albanischen AufrührerInnen auszudrücken. Unglücklicherweise beschränkte die unmittelbare Repression, der sie infolge der Marini Untersuchungen ausgesetzt waren ihre Möglichkeiten, insbesondere als sich eine Reihe dieser AnarchistInnen im Gefängnis wiederfand.

Bolivien 2000 – heute

In den vergangenen Jahren kam es zu einer Menge Unruhen in Südamerika, und Bolivien war Zentrum einiger der interessantesten Geschehnisse. Für die Rebellionen in Bolivien gab es eine Reihe von Gründen: die Bestrebungen der Regierung, die Kontrolle über die Wasserrechte an ausländische Mächte zu vergeben; die Situation verschiedener ArbeiterInnen, indigener Gruppen, der Coca-Bauern und BäuerInnen (cocaler@s), kleiner SchuldnerInnen; die Bestrebungen der Regierung die Rechte am Erdgas an multinationale Konzerne zu verkaufen, usw. Diesen offiziellen Entscheidungen wurde mit Straßen- und Stadtblockaden begegnet, mit Streiks, Riots, Angriffen auf Polizeistationen und andere Regierungsgebäude, verschiedenen Sabotageakten, und so weiter. Die Proteste neigten dazu anzudauern, hielten den Druck aufrecht und zwangen mindestens einen Präsidenten aus dem Amt. Auch gab es einiges an Koordinierung der Aktivitäten.

Auch wenn Gewerkschaften und Parteien, sowie andere politische Organisationen einen gewissen Anteil an den verschiedenen Revolten hatte, so scheint dieser im Allgemeinen eine Randerscheinung gewesen zu sein, die darauf abzielte, die Dinge in Richtung Reform und Errichtung einer »demokratischeren« Regierung zu bewegen. Dennoch scheinen einige der Anführer dieser Gruppen mehr Einfluss auf die Bewegung gehabt zu haben als gut ist.

Trotz dieses reformistischen Faktors aber nahmen die Kämpfe in den vergangenen Jahren im Allgemeinen die Methode autonomer direkter Aktion an. Indigene Bäuerinnen und Bauern der Hochebene sowie cocaler@s wendeten sich in ihren Kämpfen den traditionell informellen und nicht-hierarchischen Methoden der Organisierung zu. An einem bestimmten Punkt riefen die Kämpfenden zur Auflösung des Parlaments und der Entwicklung von Volksversammlungen auf, was den Wunsch nach Selbst-Organisation des Lebens, wie des unmittelbaren Kampfes erkennen lässt. Zusätzlich begannen die BäuerInnen der Hochebene und die cocaler@s auf die Repression zu antworten, indem sie begannen, sich zu bewaffnen.

AnarchistInnen waren in diesen Revolten sehr stark involviert. Juventades Libertarias, die Libertäre Jugend war sehr aktiv in den Kämpfen, sie nahm daran teil, kritisierte unmittelbar die vereinnahmenden Aktivitäten von Gewerkschaften, Parteien und politischen Gruppen und brachte Nachrichten nach draußen.

Mujeres Creando, eine anarcha-feministische Gruppe war ebenfalls sehr aktiv. Insbesondere halfen sie kleinen SchuldnerInnen beim Organisieren ihrer Kämpfe. Ihre vielleicht bekannteste Aktion bestand in der Eroberung von drei Regierungsgebäuden durch kleine SchuldnerInnen, unter ihnen Frauen von Mujeres Creando, bewaffnet mit Dynamit und Molotov Cocktails.

Die Kämpfe in Bolivien sind in verschiedener Hinsicht besonders interessant. Alle ausgebeuteten Gruppen waren, jede mit ihren spezifischen Problemen und Erfahrungen, dazu im Stande, ihre Revolte zu koordinieren und in Solidarität zu handeln. Für den Kampf nützliche Methoden wurden in den indigenen Traditionen des Landes gefunden. AnarchistInnen spielten eine sehr bedeutende Rolle in den Kämpfen und entlarvten verschiedentlich die vereinnahmenden Kräfte.

Region Kabyle, Algerien 2001 – heute

Im April 2001 tötete die Polizei in Tizi Ouzou in der algerischen Region Kabyle einen Schüler. Augenblicklich kam es zu Riots in Beni-Douala, einem Dorf der Region. Schnell breiteten sich die Unruhen auf weitere Dörfer und Kleinstädte der Region aus. Die Revoltierenden griffen Polizeistationen und militärische Abteilungen mit Steinen, Molotov Cocktails und brennenden Reifen an, setzten Polizeifahrzeuge, Büros der Regierung und Gerichte in Brand. Die Ziele des Angriffs weiteten sich bald auf Regierungsgebäude aller Art aus, auf Büros politischer Parteien und fundamentalistischer islamischer Gruppen. Ende April befand sich die gesamte kabylische Region in offenem Aufstand. Die Bemühungen der Regierung, den Aufstand niederzuschlagen führte zum offenen Konflikt mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten.

In der Region hatte es bereits seit altersher eine indigene Tradition von dörflichen und regionalen Versammlungen gegeben. Daher lag es nahe, einfach damit zu beginnen, in solchen Versammlungen den Kampf zu organisieren. Außerdem hatte die anti-koloniale Widerstandsbewegung gegen die französische Herrschaft eine Methode zur Koordinierung ihrer dörflichen und regionalen Versammlungen entwickelt, bekannt als aarch. Auch sie wurde wiederbelebt. Sie dient ausschließlich der Koordination. Die Delegierten der Dorfversammlungen haben ein spezifisches Mandat, das jederzeit widerrufen werden kann. Zudem müssen sie sich an einen sehr interessanten »Ehrenkodex« halten. Mit dieser Form der Selbst-Organisierung organisierten die Leute von Kabylia massive Demonstrationen, Generalstreiks, Aktionen gegen die Polizei und gegen die Wahlen.

Mitte Juni war die staatliche Kontrolle der Region nahezu vernichtend geschlagen, das Hauptquartier lag in Trümmern und die Polizei selbst war völlig kaltgestellt. Die Regierung musste sie per Helikopter und bewaffneten Konvoys mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs versorgen. Der aarch weigerte sich die Regierung zu treffen, und Mitte Juni trat der »Ehrenkodex« des aarch in Kraft, der Delegierte darauf verpflichtete »keine Aktivitäten oder Dinge voranzutreiben, die darauf abzielen, direkte oder indirekte Verbindungen mit der Macht und ihren Kollaborateuren aufzubauen«, »die Bewegung nicht für parteipolitische Ziele zu nutzen, sie nicht in Wahlkämpfe oder irgendeine andere Möglichkeit der Machtübernahme hineinzuziehen«, »keine politischen Berufungen in die Institutionen der Macht zu akzeptieren«, usw. Dieses Versprechen wurde unverzüglich auf die Probe gestellt als GewerkschafterInnen und Parteimitglieder versuchten die Bewegung zu infiltrieren. Das Scheitern ihrer Bestrebungen, die Bewegung zu kidnappen, wurde deutlich als DemonstrantInnen bei einem Generalstreik sangen »Raus mit den Verrätern! Raus mit den Gewerkschaften!«

Als Regierungsbeamte versuchten, bestimmte Leute aus dem aarch zu Verhandlungen zu überreden, wurden alle Regierungsbeamten aus der Kabyle Region verbannt. Diejenigen die versuchten sie zu betreten wurden mit Steinen gegrüßt. Im Oktober versuchten DemonstrantInnen der Regierung eine Liste mit Forderungen zu übergeben, wobei ihnen mit schwer repressiven Maßnahmen begegnet wurde. Daraufhin entschied der aarch und andere Versammlungen, dass sie sich nicht länger mit Forderungen an die Regierung wenden würden, dass ihre Forderungen absolut unverhandelbar seien und dass jeder, der sich um Verhandlungen mit der Regierung bemüht aus der Bewegung ausgeschlossen würde. Eine der Forderungen war der Rückzug aller Polizeitruppen aus der Region.

Die völlige Verweigerung der Komplizenschaft mit dem Staat wurde zur Norm in Kabylia. Sobald die Polizei wagte sich auf der Straße zu zeigen kam es unmittelbar zum Konflikt, und so wurde die Polizei weitgehend aus der Region vertrieben. Die Bewegung schaffte es zwei groß angelegte Wahlboykotts zu koordinieren. Nahezu niemand in Kabylia nahm an der Wahl teil, in Algerien als Ganzem wurde die Wahlbeteiligung erheblich gesenkt.

Ende 2002 – Anfang 2003 ergriff die algerische Regierung repressive Maßnahmen gegen die Bewegung und insbesondere gegen den aarch. Es gab hunderte Verhaftungen aber auch fortgesetzte Protestaktionen. Auch wenn Repression die aufständischen Aktivitäten verlangsamte und die Polizei in die Region zurückkehrte ist die Revolte nicht beendet. Weiterhin sind Straßenschlachten die übliche Antwort auf Nachlässigkeiten wie auch auf Gräueltaten des Staates. Zudem kann der algerische Präsident Bouteflika damit rechnen, jederzeit mit Riots und Steinen begrüßt zu werden, wenn er die Region Kabyle besucht. Für den 18. März 2004 kam es zum Generalstreik in der Region, nachdem der aarch dazu sowie zum Boykott der letzten Präsidentschaftswahl (April 2004) aufgerufen hatte.

Es ist zweifelhaft ob es in Algerien viele gibt, die sich selbst AnarchistInnen nennen. Außerhalb Algeriens, in Italien und Frankreich, verbreiteten eine Reihe von AnarchistInnen Informationen über den Kampf und machten Soliaktionen. Es ist fraglich, ob eine direkte Intervention in Algerien angemessen oder hilfreich wäre, aber Solidaritätsaktionen sind es fast sicher.

Argentinien 2001 – ?

Schon weit vor dem Aufstand im Dezember 2001 hatte es in Argentinien Unruhen gegeben. Die zerfallende Wirtschaft hatte verheerende Effekte, bei einer Erwerbslosenrate von mehr als 25% nahmen die Arbeitslosen, neben anderen, bereits an massenhaften Protesten teil, darunter Blockaden und andere Formen der direkten Aktion. Im Dezember 2001 aber begann die Wirtschaft zusammenzubrechen. Die Leute begannen ihr Geld von den Banken abzuheben und der Wirtschaftsminister setzte eine Obergrenze, wie viel abgehoben werden durfte. Die Antwort kam prompt. Am 20. Dezember begannen in Buenos Aires parallel die Großdemonstrationen, Straßenschlachten und Plünderungen. Banken und Institutionen der Regierung wurden angegriffen. Was häufig als Bewegung der »Mittelklasse«[2] beschrieben wird umfasste tatsächlich alle Menschen außerhalb der herrschenden politischen und ökonomischen Klasse.

Die Straßenschlachten, die Plünderungen und Demonstrationen breiteten sich weit über Buenos Aires hinaus aus, erfassten alle größeren Städte und weite Teile des Landes. Auf den Demonstrationen riefen die Leute oft nach der völligen Auflösung der Regierung, und tatsächlich sahen sich in den ersten Wochen des Aufruhrs mehrere Präsidenten gezwungen, die Macht abzugeben.

Bereits im Dezember kam es zu ersten Nachbarschaftsversammlungen in Buenos Aires, um den Leuten einen dafür Raum zu bieten, die Probleme zu diskutieren, mit denen sie konfrontiert waren, sowie darüber, wie sie die Kämpfe weiterführen wollten. Die Versammlungen fanden an Straßenecken und in Parks statt. Da dies offene Versammlungen waren, kamen – natürlich – die Geier der politischen Parteien und Gewerkschaften in der Hoffnung, die Bewegung zu übernehmen, doch ihre Bekehrungsbemühungen wurden nicht toleriert. Mit der Revolte breitete sich auch diese Methode der Selbst-Organisierung aus, angepasst an die jeweilige spezifische Situation.

Während die Demonstrationen, die Angriffe auf Regierungsinstitutionen und Geschäfte, Blockaden und selbst Angriffe auf spezifische PolitikerInnen (ein verachtenswerter Typ wurde in einem Restaurant beim Essen verprügelt) weitergingen, begannen die Versammlungen auch andere Aktionen zu machen. Für die Entwicklung verschiedenster Aktivitäten und Projekte wurden Räume besetzt. Die ArbeiterInnen besetzten Fabriken und hielten Fabrikversammlungen ab. Es gab mehrere Treffen von ArbeiterInnen der besetzten Fabriken mit Leuten aus den Nachbarschaftsversammlungen und Erwerbslosengruppen, um zu diskutieren, in welche Richtung der Kampf geführt werden sollte. Das war eine wichtige Frage, da die verschiedenen Besetzungen zeigten, dass immer mehr Werkzeuge, mittels derer die gegenwärtige Gesellschaft funktionierte, von den Aufständischen wieder angeeignet worden waren. Die Frage war nun wirklich, was damit getan werden sollte.

Die von den Nachbarschaftsversammlungen besetzten Plätze wurden bereits als Orte angesehen, wo die Beteiligten von ihnen gewünschte Aktivitäten und Projekte umsetzen konnten. Die ArbeiterInnen in den besetzten Fabriken scheinen sich weniger klar darüber gewesen zu sein, etwas wirklich Neues schaffen zu wollen. Tatsächlich ließen eine Reihe ArbeiterInnen die Produktion einfach unter »Arbeiterkontrolle« wieder anlaufen. In einer Fabrik lautete die Forderung »Nationalisierung unter Arbeiterkontrolle«. Es hat aus Argentinien keine neuen Nachrichten mehr über diese Besetzungen gegeben. Es ist möglich, dass der »Realismus« der ArbeiterInnen, oder einfach die Schwierigkeit, zu versuchen anders zu leben, wenn die Welt zugleich weiterhin dem Pfad der Ausbeutung und Unterdrückung folgt, die Dinge für den Moment abgekühlt hat.

Argentinien hat eine lange anarchistische Geschichte, daher sollte es nicht überraschen, dass es dort verschiedene anarchistische Gruppen gibt. Was überrascht ist, wie schlecht sie auf diesen Aufstand vorbereitet waren. Tatsächlich war das erste Statement, dass ich von argentinischen AnarchistInnen sah eine Distanzierung von Plünderungen und Riots, die sehr nahe dran war von reinem Hooliganismus zu sprechen. Das veränderte sich sicherlich, aber nichts desto trotz scheinen sich die AnarchistInnen Zeit damit gelassen zu haben zur Bewegung aufzuschließen. Sobald sie es taten, nahmen sie aktiv an den Nachbarschaftsversammlungen, Besetzungen und dergleichen teil, und es ist anzunehmen, dass sie eine Rolle in der Aufrechterhaltung des Misstrauens gegenüber PolitikerInnen und AnführerInnen spielten, das ein so gesunder Teil der Revolte war.

Basilicata, Italien, November 2003

Der Gouverneur der Region Basilicata sah sich vergangenen November mit der unwillkommenen Überraschung konfrontiert herauszufinden, dass Leute manchmal nicht einfach die Entscheidungen verschlafen, die über ihr Leben getroffen werden. Der Gouverneur hatte ein Abkommen über den Bau eines Atommülllagers in der Region getroffen, nahe der Stadt Scanzano Jonica. Die Menschen dieser Stadt lehnten sich nicht abwartend zurück. Auch schrieben sie keine Petitionen, um den Gouverneur anzubetteln seine Meinung zu ändern. Statt dessen entschieden sie sich für direkte Aktionen. Sie blockierten die Straßen der gesamten Region und legten sie lahm.

An der Organisierung dieser Aktivität waren keine politischen Gruppen irgendeiner Art beteiligt. Vielmehr trafen sich die Leute in Versammlungen, um über die Angelegenheit zu diskutieren und die Blockaden zu organisieren. Offenbar versuchte ein unbedeutender Politiker sich reinzuhängen, fand aber keine freundliche Aufnahme. Die Bewegung blockierte die Region für mehrere Wochen im November. Ende des Monats nahm der Gouverneur seinen Plan zu Bau des Atommülllagers zurück. Auch wenn die Menschen aus Scanzano Jonica die Blockaden daraufhin beendeten, so fuhren sie doch damit fort allgemeine Versammlungen abzuhalten, um die Realitäten ihres Lebens zu diskutieren. Ihr Misstrauen gegenüber den Machthabern ist offenkundig und die Fortsetzung der Versammlungen bietet eine potentielle Grundlage für weitere Kämpfe.

Ich habe nicht gehört, dass irgendwelche AnarchistInnen direkt an diesen Kämpfen beteiligt waren, aber wenn AnarchistInnen in der Region lebten, nehme ich an, dass sie daran teilgenommen haben. Die Bewegung selbst drückte in ihrer Praxis die wesentlichen Elemente aus: eine Praxis der direkten Aktion, die Entwicklung einer Methode für eine direkte, horizontale Kommunikation und Koordination, Misstrauen politischen Lösungen gegenüber und die Weigerung zu verhandeln oder aufzugeben.

Wilde Streiks in Italien, Winter 2003 – 04

Am 1. Dezember 2003 traten die StraßenbahnfahrerInnen Mailands in einen eintägigen wilden Streik. Der Tag für eine solche Aktion war gut gewählt, denn es war ebenfalls der erste Tag eines offiziellen Umweltgipfels in Mailand – ein Gipfel, auf dem die politischen und ökonomischen Führer darüber diskutieren würden, wie sie den Schaden und die Erschöpfung der Ressourcen minimieren können, während sie damit fortfahren, Profit und Macht zu maximieren. Der unmittelbare Grund für den Streik war das Sinken der Reallöhne aufgrund der Inflation und die Nichteinhaltung früherer Verträge. Wie dem auch sei spiegelte der Streik von Anfang an die umfassendere Wut über die Verbrechen der Bosse und die Komplizenschaft der Gewerkschaften bei diesen Verbrechen wieder.

Am 15. Dezember gab überall in Italien wilde Streiks von StraßenbahnfahrerInnen. In Turin und Brescia verbrannten viele der in Streik tretenden FahrerInnen ihre Gewerkschaftsausweise. In mehreren anderen Städten veranstalteten die FahrerInnen massenhafte Sick-Ins. Ein paar Tage später machten ArbeiterInnen am Flughafen von Rom einen wilden Streik und blockierten die Eingänge zum Flughafen, um gegen drohende Entlassungen zu protestieren.

Am 19. Dezember unterzeichneten die Gewerkschaften über die Köpfe der Transport-ArbeiterInnen hinweg eine neue Übereinkunft mit den Bossen der Transportbranche. Die Antwort kam augenblicklich: Überall in Italien organisierten Transport-ArbeiterInnen über die nächsten Tage wilde Streiks, Sick-Ins und »Dienst-nach-Vorschrift« Verlangsamungen. An vielen Bahnhöfen gab es spontane Versammlungen und immer mehr ArbeiterInnen verbrannten ihre Gewerkschaftsausweise.

Entgegen der »Zurück-an-die-Arbeit« Anweisung der Regierung entschieden sich die Streikenden am 22. Dezember den Kampf fortzusetzen. Die Polizei wurde eingesetzt, um sie zurück zur Arbeit zu zwingen, aber in einigen Orten, wie etwa in Brescia, gelang es den ArbeiterInnen die Angriffe der Polizei zurückzuschlagen.

Es gab eine Reihe weiterer wilder Streikaktionen, und einige Streiks im Januar. Am 9. Januar riefen die Basisgewerkschaften (COBAS und andere Basisorganisationen) zu einem landesweiten legalen Streik auf, um gegen das Gewerkschafts-Abkommen vom 19. Dezember zu protestieren. Da diese Gewerkschaften trotz ihrer relativ dezentralen Form, wie die großen Gewerkschaftsverbände auch, wesentlich Organe der Verhandlung sind, kann dies als ein Versuch der Vereinnahmung gesehen werden. Dennoch entschieden sich die Transport-ArbeiterInnen in Genua, ihren Streik auf illegale Weise durchzuführen. Am 12. Januar traten die ArbeiterInnen in Mailand überraschen in wilden Streik. Die Regierung erließ eine weitere »Zurück-an-die-Arbeit« Verordnung. Die Mailänder ArbeiterInnen setzten sich darüber hinweg und streikten auch am 13. Januar weiter. Am 19. Januar legten die Flughafen-ArbeiterInnen in Rom erneut den Flughafen für acht Stunden lahm.

Zusätzlich gab es Kämpfe gegen drohende Kündigungen bei Alfa Romeo. Bei einigen dieser Aktionen handelten die entlassenen ArbeiterInnen gemeinsam mit den noch dort Beschäftigten. Zudem scheint es, dass die ArbeiterInnen in der Metallindustrie, die die Schnauze voll hatten von der Komplizenschaft der Gewerkschaften mit den Bossen, die wilden Streiks der Transport-ArbeiterInnen registrierten. Dennoch blieben die Kämpfe bei Alfa Romeo weitgehend unter der Kontrolle der Basis-Gewerkschaften, und ich habe von keiner Aktion der MetallarbeiterInnen gehört, die über das Ausdrücken von Unzufriedenheit hinaus gegangen wäre. Von daher ist es schwierig zu sagen, wohin das Ganze führen könnte. Tatsächlich sieht es im Moment so aus, als habe sich die Lage beruhigt.

Die Versammlungen in den Bahnhöfen und die Blockaden öffentlicher Transportwege, welche die hauptsächliche Methoden der Streiks waren, boten den Raum für einiges an direkter Kommunikation zwischen Transport-ArbeiterInnen und anderen. Bei einigen der Streiks nahmen auch andere ArbeiterInnen und UnterstützerInnen an den Blockaden teil. Ende Januar kam es zu größeren Versammlungen, die aber scheinbar unter die Kontrolle der Basisgewerkschaften gerieten. Auf einer dieser Versammlungen versprachen die ArbeiterInnen durch Versammlungen an ihren Arbeitsplätzen die Unterstützung für die Transport-ArbeiterInnen und die ArbeiterInnen bei Alfa Romeo zu verstärken. Sollte eine Transport-ArbeiterIn von Repression getroffen werden, sollte eine massenhafte Antwort darauf an allen Arbeitsplätzen organisiert werden. Aber die Kontrolle der Basisgewerkschaften lässt dies eher verdächtig erscheinen, vor allem, da es seit der Zeit ihres ersten Engagements (am 9. Januar) zu keinen autonomen Aktionen außer dem zweitägigen wilden Streik in Mailand und dem halben Tag in Genau mehr kam.

Im Februar begann die Repression zuzuschlagen. Solidaritätskomitees wurden gebildet. Auch wenn ich keine Details gehört habe, gab es augenscheinlich überall in Italien fortgesetzte Aktionen der bei Alfa Romeo Entlassenen und anderen ArbeiterInnen, gleichwohl alle unter der Kontrolle der verschiedenen Basisgewerkschaften.

Die Situation hat sich also beruhigt. Es ist schwer zu sagen, wie lang diese Ruhe dauern wird oder was genau die Rolle der vereinnahmenden Kräfte bei der Abkühlung dieses Kampfes war. Klar ist, dass er sich nicht hätte andauern können, wäre er nicht in einer tatsächlich selbst-organisierten Weise verbreitet worden. Die meisten Transport-ArbeiterInnen haben Familien, arbeiten unter prekären Bedingungen (viele als ZeitarbeiterInnen oder mit dem Status der Probezeit) und haben für gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen vergleichsweise niedrige Löhne. Die großen Gewerkschaftsverbände waren von Anfang Feinde der wilden Streiks, und auch die Basisgewerkschaften müssen ihren legalen Status als VermittlerInnen in Arbeitsstreitigkeiten schützen. Daher können sich die ArbeiterInnen auf keine der beiden verlassen. Der Aufstand der 1970er Jahren in Italien war in weiten Teilen durch wilde Streiks ausgelöst worden, aber heute sind die Bedingungen andere. Daher fällt es schwer Vorhersagen zu treffen.

AnarchistInnen und andere anti-politische RevolutionärInnen beteiligten sich an diesem Kämpfen mit Flyern und direkter Kommunikation, sie drückten ihre Solidarität aus und ermutigten die Leute, die durch Streiks von Schule und Arbeit frei gewordene Zeit zu nutzen, um andere Wege zu entdecken einander und der Welt zu begegnen. Außerdem kam es in Solidarität mit den Streikenden zur Sabotage von Fahrscheinautomaten und anderem Eigentum der Transportgesellschaft.

Einige bedeutsame Besonderheiten stechen in diesen Situationen heraus:

1) Riots, Revolten und Aufstände werden nicht generell von großen Ideen, utopischen Träumen oder völlig theoretischer Kritik der sozialen Ordnung inspiriert. Oft ist der Funke, der sie auslöst ziemlich banal: ökonomische Instabilität, schlechte Arbeitsbedingungen, Verrat durch diejenigen, die beanspruchen, die Rechte der Leute zu vertreten, Polizeigewalt. Diese scheinbar untergeordneten Details lösen eine Revolte aus, wenn zur Wut das Misstrauen gegen die herrschenden, als auch gegen die oppositionellen Institutionen kommt. Diese Tatsache ruft AnarchistInnen dazu auf, ideologische Reinheit zu vermeiden, die danach verlangt sich einzig an allumfassenden Kämpfen zu beteiligen. Auch ruft sie zur Entwicklung eines scharf geschliffenen theoretischen Verständnisses auf, um spezifische Situationen unmittelbar im Zusammenhang der Totalität von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung begreifen zu können und zugleich in der Lage zu sein, diese Theorie praktisch anzuwenden. Dies erfordert den Willen, die uns umgebenden Realitäten permanent zu untersuchen, Verbindungen herzustellen, welche die Notwendigkeit für einen revolutionären Bruch aufzeigen und zugleich angemessene Bereiche für eine Intervention herauszufiltern, angemessene Ziele für den Angriff.

2) Wenn eine Aufruhr oder ein spontaner Kampf über die erste Phase hinaus ist, erkennen die Ausgebeuteten die Notwendigkeit horizontaler Kommunikation. Versammlungen oder etwas ähnliches entwickeln sich spontan. In diesen Methoden drückt sich die Zurückweisung von Politik und Repräsentation aus. Zur gleichen Zeit gibt es immer Parteinasen oder Gewerkschaftsfuzzis, die zusammen mit anderen Raubtieren nach einer Schwachstelle suchen, an der sie »ihre Hilfe anbieten« können. Auch hier müssen AnarchistInnen sehr klar haben was zu tun ist, um diese vereinnahmenden Tendenzen kontinuierlich anzugreifen und den Kampf konstant in eine offen anti-politische Richtung zu pushen, in der Verhandlung und folglich Repräsentation keinen Platz hat.

3) Räume, die dazu neigten Menschen für Zwecke zusammen zu bringen, die nicht ihre eigenen waren werden so weit als möglich zu Räumen für die eigenen Projekte der Menschen umgewandelt. Dieser Aspekt ist von zentraler Bedeutung, denn die herrschende Ordnung tut alles was sie kann, öffentliche Räume zu schließen oder zu kontrollieren. In den 1970er Jahren konnten Fabriken tatsächlich Raum für Versammlungen und andere aufständische Aktivitäten bieten. Nach Veränderungen der Produktionsweise ist dies keine wirkliche Option mehr. Andere öffentliche Räume werden danach gestaltet, die Überwachung auszuweiten und die Möglichkeiten sich zu versammeln einzuschränken. Dies ist ein Bereich, in dem unmittelbarer Widerstand nötig ist und auf den die Vorstellungskraft fokussiert werden muss.

4) Wo es Traditionen und eine bekannte Geschichte der Selbst-Organisierung gibt, kann diese eine Basis zur Selbst-Organisierung der Revolte zur Verfügung stellen. Insbesondere indigene Traditionen bieten häufig solche Strukturen. Andererseits sind dort, wo keine solchen Traditionen existieren, Vorstellungskraft und die Fähigkeit aus dem Nichts etwas zu schaffen wesentlich. Dies verweist auf einen anderen Bereich, in dem unmittelbarer Widerstand nötig ist: die zunehmende Herabsetzung der Fähigkeit zu kreativem Denken muss mit Zähnen und Klauen bekämpft werden. Die Standardisierung des Denkens in reine Kalkulation und mechanische Wiedergabe von Allgemeinplätzen muss zurückgewiesen und angegriffen werden, damit die Fähigkeit tatsächlich mit Situationen klarzukommen erhalten bleibt.

Die Situation in den USA

Die Abwesenheit einer sozialen Bewegung

Keines der von mir verwendeten Beispiele kommt aus den Vereinigten Staaten. Dies nicht deshalb, weil es keine Beispiele für selbst-organisierte Kämpfe und Revolten in diesem Land gegeben hätte, aber die meisten von ihnen liegen länger zurück und gingen nicht annähernd so weit wie die oben beschriebenen Ereignisse. Es gab die Bewegung wilder Streiks der BergarbeiterInnen in den 60ern. Auch wenn es jede Menge politische Schnösel dort gab, entwickelte die Anti-Kriegs-Bewegung, die schwarzen Befreiungsbewegung und anderen Bewegungen in den 1960er Jahren bedeutende selbst-organisierte Aspekte. Die Meutereien im amerikanischen Militär in Vietnam waren selbst-organisierte Revolten. Und in jüngerer Zeit kam es offenbar in ein oder zwei der Städte, in denen es nach dem Gerichtsurteil zu [dem Mord an] Rodney King Riots gab, zu spontanen Versammlungen, die tatsächlich stattfanden, um über ein effektives Vorgehen bei den Straßenschlachten und Plünderungen zu entscheiden.

Aber die heutige Situation unterscheidet sich in bedeutender Weise von der in den 1960er Jahren (und selbst damals scheinen die verschiedenen Bewegungen Schwierigkeiten gehabt zu haben, ihre Kämpfe zu verbinden), sie ist anders als in Italien oder Spanien (wo selbst heute noch wild Streikende von anderen, inklusive RevolutionärInnen, unterstützt werden), anders als Algerien oder Bolivien.

Vielleicht ist das erste, womit wir als revolutionäre AnarchistInnen in den USA konfrontiert sind, dass es keine soziale Bewegung in diesem Land gibt. Kollektive soziale Revolten treten einzig als plötzliche Explosionen in Reaktion auf unmittelbare Situationen auf, und zerstreuen sich schnell wieder, sobald Repression und Vereinnahmung reinkommen, die Situation zu entschärfen.

Die Illusion, dass es eine Bewegung in diesem Land gibt, ist (soweit diese Illusion existiert) Resultat des spezialisierten Aktivismus, der Unzahl an Gruppen, Organisationen und Netzwerke, die diese, jene, oder andere Anliegen, Themen oder Ideologien öffentlich vertreten. Spezialisierter Aktivismus aber ist aus einer Vielzahl von Gründen das genaue Gegenteil einer sozialen Bewegung. Zuallererst ist er im wesentlichen politisch anstatt vom Charakter her sozial zu sein. Die verschiedenen aktivistischen Gruppe repräsentieren die Anliegen, Themen oder Ideologien, die ihre Spezialität sind. Diese Repräsentation kann nur um den Preis der Verdinglichung der jeweiligen Realität geschehen, die hinter dem Anliegen der Gruppe steht, der Umwandlung dieser Realität in ein spektakuläres Bild (der abgeholzte Regenwald, das tote irakische Baby, die Katze mit den Elektroden im Kopf…). Dieser Prozess der Spektakularisierung stellt sicher, dass diese Themen weiterhin auf fragmentierte Weise wahrgenommen werden, was die spezialisierte Rolle der aktivistischen Gruppen aufrecht erhält und jede revolutionäre Analyse oder Praxis in der jeweiligen Angelegenheit verhindert, auf die sie sich spezialisiert haben. Die Proteste dieser aktivistischen Gruppen können ein Bild von Widerstand erzeugen, aber sie entspringen nicht dem täglichen Leben und den gelebten Erfahrungen der Beteiligten, weshalb kein wirklich sozialer Widerstand daraus entsteht.

Die Spezialisierung des Aktivismus rund um spektakuläre Anliegen verwandeln auch die Beteiligten, zumindest potentiell, in RepräsentantInnen des Kampfes. In den USA ist das keine unbedeutende Sache. Die schiere Zahl der Momente, in denen aktivistische Gruppen oder religiöse Führer Riot-Situationen erstickten, indem sie vor den Behörden die Rolle der »RepräsentantInnen« der Unterdrückten spielten, spricht Bände. Mit Rufen nach »Gerechtigkeit« und »Rechten« bewegten sie eine unmittelbare Reaktion der Wut gegen diese Gesellschaft weg vom Bereich der sozialen Rebellion und hinein in den Bereich von Politik und Petitionen an die Behörden. Diejenigen, die diese Rolle spielen, müssen als FeindInnen jeder sozialen Bewegung der Rebellion erkannt werden, als Garantie dafür, dass jede unvermittelte Rebellion ein reines Fragment bleibt, ein Ereignis ohne Gegenwart oder Zukunft, und ohne jede Beziehung zu Rebellionen anderswo – das endlose Jetzt der Medien, in dem bedeutungsvolles Handeln unmöglich wird. Wir können nicht zulassen, dass eine lächerliche politisch korrekte Moral uns vom grimmigen Entlarven ihre Rolle abhält.

Spezialisierter Aktivismus selbst ist Symptom eines tieferliegenderen Problems. In allen oben beschriebenen Situationen existierten Ebenen des sozialen Zusammenhalts, die es gegenwärtig in den USA nicht gibt. Auch ohne versuchen zu wollen, hier alle Gründe dafür aufzuspüren, ist es doch notwendig zu erkennen, dass unsere Gesellschaft von allen existierenden die am meisten atomisierte ist. Auch wenn es seit dem II. Weltkrieg einige bedeutende ArbeiterInnenkämpfe in diesem Land gegeben hat, neigten diese dazu, isoliert zu sein, da Klassenbewusstsein in Amerika nahezu verschwunden ist. Die ArbeiterInnen in diesem Land haben zum Großteil die Konsumwerte der »Mittelklasse« angenommen: den Wunsch nach dem Einfamilienhaus, nach mindestens zwei Autos, dem ausgefallenen Unterhaltungszentrum für Zuhause, iPods, usw., usf. So viele der für wünschenswert gehaltenen Produkte arbeiten praktisch gesehen daran, die Menschen zu separieren, die Kommunikation mit denen um uns herum zu verhindern. Zudem haben die gut bezahlten, gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen die bürgerliche Arbeitsethik derart verinnerlicht, dass sie in Erwerbslosen, und noch in Obdachlosen, Schmarotzer sehen, die »von unsern Steuergeldern leben«.

In den USA kann die Frage der Rasse[3] nicht ignoriert werden, wenn mensch sich mit diesem Problem befasst. Die Art, wie mit dieser Frage in anarchistischen Krisen häufig umgegangen wird – mentale Selbst-Geißelung, p.c. Moralisierung und Schuldbekenntnis – ist von einem revolutionären Standpunkt aus nutzlos. Vielmehr ist wesentlich festzustellen, dass einerseits die soziale Erfindung Rasse durch die Anwendung sehr verschiedener Methoden von Ausbeutung und Unterdrückung auf Menschen unterschiedlicher Hautfarben und kultureller Hintergründe entwickelt wurde, und dass die Herrschenden andererseits diese Unterschiede in den Erfahrungen stets genutzt haben, um tiefgreifende Trennungen zwischen den Menschen unterschiedlicher Hintergründe zu schaffen und aufrecht zu erhalten – um sicher zu stellen, dass die Ausgebeuteten blind bleiben für die Notwendigkeit, ihre verschiedenen Kämpfe miteinander zu verbinden und einen stärkeren Angriff auf die herrschende Klasse zu führen. Dies hat nichts mit einem Schmelztiegel zu tun, es geht um das Verknüpfen unterschiedlicher Stränge des Kampfes. Aber wie es im Moment aussieht, neigt das Bewusstsein über die Rasse in den USA weit stärker zu sein als das Klassenbewusstsein, was eine zentrale Rolle spielt bei der Durchsetzung der Atomisierung sowie der Verhinderung dessen, dass bedeutungsvolle Kämpfe auf eine Art zusammen kommen, die Basis für eine wirklich soziale Bewegung sein könnte.

Ein weiterer Faktor in der Durchsetzung von Entfremdung und der Verhinderung einer sozialen Bewegung ist die Verwendung einer Propaganda der Angst als zentralem Faktor der sozialen Kontrolle. Seit den Angriffen des 11. September 2001 hat sich die Rhetorik der Angst extrem ausgebreitet, aber sie war schon immer ein wichtiges Werkzeug der herrschenden Klasse gewesen. Das Schreckgespenst der Kriminalität wird ständig in den Medien verbraten – vor dem 11. September leicht gewürzt mit Terrorismus, seither mehr als scharf. Die verschiedenen Methoden polizeilicher Verfügung, realer oder (häufiger noch) scheinbarer Überwachung helfen dabei, diese Botschaft der Angst zu verstärken. Anderen kann nicht getraut werden. Das ist die grundlegende Botschaft. Das »Sprich niemals mit Fremden« unserer Mütter oder LehrerInnen wird nun auch zum Standard des Verhaltens von Erwachsenen. Es wird von den verschiedenen technologischen Apparaten verstärkt, welche die Kommunikation zwischen Fremden erschweren: iPods, Handies, tragbare Computerspiele und ähnlichem. Inmitten der Menge bleiben wir alle in unserer eigenen kleinen Welt, fürchten uns raus zu kommen. Selbst im anarchistischen Milieu findet die Regel der Angst ihren Platz. Das sehr reale Bedürfnis nach Sicherheit wird oft in paranoides Misstrauen verwandelt gegen alle, die nicht über das richtige Erscheinungsbild verfügen, wodurch die Ghettoisierung in einer Subkultur verstärkt wird. Wenn wir irgendeinen Wunsch nach sozialer Transformation haben, ist es sicherer in den Schranken des spezialisierten aktivistischen Milieus zu bleiben. Freilich ist das die Garantie, dass eine solche Transformation nicht passieren wird.

Es wäre einfach angesichts der amerikanischen sozialen Realität zu verzweifeln, so schwer ist es zu sehen, wie aus solch einer ausgedehnten Atomisierung heraus wieder irgendeine soziale Bewegung ins Leben gerufen werden kann. Und doch gibt es einige Indizien dafür, dass sich bei denen am Boden eine gewisse Klarheit entwickelt über die Notwendigkeit, tatsächlich zu kommunizieren. Der jüngste ökonomische Niedergang hat mehr Leute in prekäre Positionen getrieben, was zumindest einige Köpfe für tiefgreifendere Fragen öffnet. Nichts desto trotz muss die Erschaffung irgendeiner wirklich sozialen Bewegung eine reale und konkret praktische Zurückweisung aktivistischer Politik beinhalten, die Entlarvung und grimmige Auseinandersetzung mit den VereinnahmerInnen, die sie heranfüttert. Da wir uns eine radikale soziale Transformation wünschen, ist es eine unserer Aufgaben als AnarchistInnen, diejenigen, die sich über ihre Lebensbedingungen in dieser Gesellschaft empören, zu ermutigen für sich selbst zu denken und zu handeln, statt sich auf die vielfältigen Ideologien und Organisationen zu verlassen die anbieten, ihre Wut und ihre Widerstand zu repräsentieren.

Zwei Beispiele des Problems

Als die Bush-Administration damit anfing von der »Notwendigkeit« des gegenwärtigen Krieges im Irak zu reden, gab es augenblicklich einigen Protest. Als die Behauptungen der Administration über die Gründe für den Krieg zunehmend suspekt wurden, wurde der Krieg weit über jedes aktivistische Milieu hinaus in Frage gestellt. Vom Januar 2003 bis zum Beginn des Krieges gab es riesige Demonstrationen, von denen die Mehrzahl der Teilnehmenden keine AktivistInnen waren. Aber die meisten dieser Märsche und Demonstrationen wurde von SpezialistInnen des Aktivismus organisiert, SchmalspurpolitikerInnen der Linken, die ihrer eigenen Agenda folgten. In L.A. wurde die aktivistische Koalition, welche die Demos organisierte von ANSWER (einer Kampfgruppe aus der Vielfalt der sozialistischen Parteien) und Not In Our Name (einer Kampfgruppe der Revolutionären Kommunistischen Partei) dominiert. Die Demonstrationen bestanden in gut regulierten Märschen und endeten in Kundgebungen mit den typischen langweiligen rhetorischen RednerInnen – PriesterInnen der Menge, wie sie die AktivistInnen lieben. Die vielleicht absurdeste Sache war der Konkurrenzkampf von ANSWER und Not In Our Name um die Aufmerksamkeit der Menge. ANSWER würde zu zurückhaltendere Art zum Protest aufrufen und Not In Our Name auf kämpferische Weise, doch beiden ging es offensichtlich darum, die Führung der Bewegung zu übernehmen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es ähnliche Dynamiken in vielen anderen Städten gegeben hat. Von daher ist es nicht überraschend, dass die Anti-Kriegs-Bewegung wieder auf eine hauptsächlich aktivistische Bewegung zusammenschrumpfte, und nicht gerade auf eine besonders energetische. Zweifelsohne wird angesichts der zunehmenden Entlarvung der Unehrlichkeit der Administration noch immer eine Menge in Frage gestellt, aber es gibt dafür kein Ventil. Die Moral der amerikanischen SoldatInnen im Irak ist im Keller, die Dersertationrate ist hoch, aber ohne eine soziale Bewegung des Widerstands gegen die Kriegsbestrebungen mögen die SoldatInnen das Gefühl haben keine Unterstützung zu bekommen, wenn sie rebellieren würden.

Ein weiteres Beispiel dafür was passieren kann, wenn die RepräsentantInnen des Kampfes die Kontrolle übernehmen trug sich in meiner Nachbarschaft zu. Im Mai 2003 wurde drei Blocks von dem Haus entfernt, in dem ich lebe, eine Frau von den Bullen ermordet. Sie hatte in einem Auto gesessen hatte, das von ihnen abgedrängt wurde. Unmittelbar darauf gab es einen Sturm der Entrüstung in der Nachbarschaft, es wurde spontan ein Gedenkort an der Stelle errichtet, an der sie getötet worden war, es gab Demos und Kundgebungen. Die Frau war Afro-Amerikanerin und in dieser Gegend spielen religiöse FührerInnen eine zentrale politische Rolle in der der afro-amerikanischen »Community«. Daher setzten sich die religiösen FührerInnen sofort selbst als RepräsentantInnen der Empörung ein, und leiteten mit dem Aufruf zur Gewaltfreiheit unmittelbar alle potentiellen Kämpfe in »ordnungsgemäße Kanäle«. Einige wenige AnarchistInnen schrieben und verteilten Flugblätter über die Natur der Polizei, bekamen aber wenig Reaktionen. Die Richtung dieses speziellen »Kampfes« war bereits von den religiösen FührerInnen festgelegt worden, die sich als seine RepräsentantInnen eingesetzt hatten, und diese Richtung war an die Herrschenden mit der Bitte zu appellieren ihre Praktiken zu reformieren. Eine Appell, der sich als wertlos erwies, da der Mörder wieder als Polizist auf der Straße ist, Behörden und Medien seine Identität schützen.

Schluss

Autonome Selbst-Organisierung muss Grundlage sein für eine tatsächlich freie Existenz als auch für den Kampf darum, diese Existenz zu erreichen. Sie ist das genaue Gegenteil von Politik, die sie in der Praxis entweder zurückweisen muss oder von ihr zerstört wird. Die Praxen der Selbst-Organisierung scheinen spontan entwickelt zu werden, sobald Menschen in einer Revolte aufstehen. Was sie von Politik unterscheidet ist ihre Opposition zu Repräsentation und Kompromiss – nicht allein mit der herrschenden Ordnung, sondern auch innerhalb der sich selbst-organisierenden Bewegung selbst. Daher sucht sie danach eine Methode zu finden die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten in einer Weise miteinander zu verknüpfen, die tatsächlich alle berücksichtigt, statt kollektive Entscheidungen auf dem Weg des Kompromisses durchzusetzen. Dies ist kein unbedeutender Aspekt, sondern ein wesentlicher. Sobald es nicht mehr Ziel unserer Kämpfe ist, unser Leben in einer Art zu organisieren, die darin besteht Wege zu finden unsere verschiedenen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse derart zu verknüpfen, dass alle darin Erfüllung finden und wir statt dessen anfangen nach Kompromissen, Positionen, Programmen und Plattformen zu suchen, nehmen diese bald den Platz von Wünschen, Träumen und Ersehntem ein. Wenn dies geschieht, können die RepräsentantInnen der verschiedenen Positionen, Programme und Plattformen ihren Platz in der Situation finden und Selbst-Organisierung in Politik verwandeln. Das ist schon früher in revolutionären Situationen geschehen, mit grauenhaften Ergebnissen.

Dies gibt einen Hinweis darauf, wie anarchistische Interventionen am besten durchgeführt werden. Wir brauchen keine politische Organisation irgend einer Art zu erschaffen, um die Anarchie zu repräsentieren. Tatsächlich würde es der Selbst-Organisierung entgegen arbeiten, dies zu tun. Statt dessen sollten wir von uns selbst ausgehen, unseren eigenen Bedingungen als Individuen, denen ihr Leben gestohlen wurde, unserem Kampf gegen diese Bedingungen und unserem Bedürfnis, SchöpferInnen unserer eigenen Existenz zu sein. Von dieser Grundlage aus wäre eine anarchistische Intervention kein Evangelismus für ein politisches Programm oder oder für das wahre politische Bewusstsein. Sie wäre vielmehr die Suche nach KomplizInnen, die Entwicklung von Beziehungen der Affinität, die Verschränkung unserer Wünsche und Leidenschaften, unserer zerstörerischen Wut, unserer Ideen und unserer Träume mit denen von Anderen in ihren Kämpfen und Revolten. Solch eine Suche kann inmitten sozialer Bewegungen der Revolte ihren Weg finden, die sich verbreitenden Affinitäten entdecken, die eine informelle Föderation der Komplizenschaft bietet. Sie kann auch dort ihren Weg finden, wo keine soziale Bewegung zu existieren scheint, die verborgenen Venen anderer individueller Revolten finden, die nach Komplizenschaft suchen, und vielleicht findet sich in diesen verborgenen Venen der Embryo einer neuen sozialen Bewegung.

In jedem Fall eintsteht aus dieser Intervention, wenn sie die Politik und ihre Methoden zurückweist, eine Spannung hin zu Revolution und Freiheit im Leben und im Kampf, ununterbrochen gegen den Strich: für die Zerstörung aller Herrschaft und Ausbeutung, für das Ende von Spezialisierung und Repräsentation, inklusive die des spezialisierten Aktivismus. Es ist die Spannung, die dem Wissen um unsere Wünsche entspringt, das zugleich das Wissen darum ist, dass wir mit einer Welt konfrontiert sind, deren Ausgestaltung die Verwirklichung unserer Wünsche verhindert – in anderen Worten das Wissen darum, dass unser Leben eine Schlacht ist. Gleichzeitig ist es die Spannung der Komplizenschaft der Wünsche, in der die Unterschiede zwischen Individuen miteinander verflochtene Harmonien der Affinität schaffen, die einen Hinweis geben auf die Richtung für eine wirklich freie Lebensweise. Innerhalb dieser Spannung kann die spezifische Selbst-Organisierung der bewussten anarchistischen Revolte Wege finden, sich mit den täglichen Kämpfen der Ausgebeuteten an Punkten zu verbinden, wo diese beginnen mit direkter Aktion und Selbst-Organisierung zu experimentieren. Eine neue Welt, die auf Freude und der Erkundung unserer Wünsche aufbaut, ist möglich. Sie beginnt überall dort zu wachsen, wo die Selbst-Organisierung der Revolte gegen diese Welt in die Selbst-Organisierung des Lebens selbst mündet.

[1] In Sizilien ist die Mafia nach wie vor eine bedeutender Teil der Machtstrukturen. Sie erkennt klar die Profitchancen, die eine Militärbasis mit sich bringt, von »legalen« Geschäften bis zu Prostitution und Drogen.

[2] Dieser Begriff ist in seiner heutigen Verwendung relativ bedeutungslos geworden. Im Kontext des Aufstands bezieht er sich auf die Tatsache, dass unter den vom Zusammenbrechen der Ökonomie betroffenen Menschen in relativ gut bezahlten Berufen waren und nicht nur die Armen.

[3] A.d.Ü.: Im englischsprachigen Raum ist es üblich, den Begriff der Rasse in ähnlicher Weise als objektiv gegebene Kategorie zu verwenden wie Klasse oder Gender. Ich habs in der Übersetzung so gelassen, auch wenn ich es besser finde, statt dessen von Rassismus zu sprechen, um klar zu machen, dass es Rassen nur bei Dackeln gibt und damit die »Frage der Rasse« im Grunde schon Teil des Problems ist.