Titel: Zur Frauenfrage
Datum: 1. Januar 1887 – 26. Februar 1887
Bemerkungen: Aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. No.5 2. Jahrgang, 1. Januar 1887; No. 6 2. Jahrgang, 15. Januar 1886; No. 9 2. Jahrgang, 26. Februar 1887.
I.

Gibt es eine Frauenfrage?[1] — Nein — werden viele Genossen und Genossinnen antworten — von Natur aus ist das Weib mit dem Manne gleichberechtigt; und da das Weib, unter den heutigen Verhältnissen ebenso, ja in manchen Beziehungen noch mehr leidet wie der Mann, und dem Weibe in der von uns erstrebten Gesellschaft die gleichen Rechte garantirt sind wie dem Manne, verschmelzen sich ihre Interessen in gemeinsame. Die Propaganda, wie der Kampf um die Freiheit bleibt dieselbe.

So klar auch diese Antwort zu sein scheint, ist sie dennoch unrichtig (zum Mindesten einseitig), und wie durch Folgendes bewiesen werden wird, gibt es dennoch eine Frauenfrage, deren Vernachlässigung täglich fühlbarer wird.

Der heutige Mensch ist durch die Jahrtausende alte Gotteszucht und Mordscivilisation seiner wahren Natur entfremdet und zur willenlosen Marionette oder zur Bestie entartet. Als das Prinzip der Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren zur Basis des Gesellschaftssystems geworden, die Völker durch rohe brutale Gewalt in schmachvolle Sklaverei gepresst wurden, musste die Verrohung der Menschen eine natürliche logische Folge sein, wodurch sich der Mann, vermöge seiner physischen Ueberlegenheit, zum Herrn und Tyrannen des Weibes aufwarf, welche unter diesem doppelten Drucke wiederum noch tiefer sinken musste.

Die Perioden physischer Hilflosigkeit, welcher das Weib, zur Zeit der Mutterschaft etc., von der Natur aus unterworfen ist, trug selbstverständlich grösstentheils dazu bei, sich der Herrschaft des Mannes zu unterwerfen.

So nahm die Leidensgeschichte des Weibes eine von der des Mannes verschiedene Form an. In den Epochen, wo der Mann sich von dem auf ihm lastenden Joche zu befreien suchte, konnte es das Weib nie, denn sie hätte nicht nur gegen die Tyrannen der Völker, sondern auch gegen die Tyrannei des Mannes kämpfen müssen. Was würde ihr dies auch eventuell in einer Gesellschaft genützt haben, wo der physisch Stärkere das Recht diktirt! — Unter diesen Einflüssen gestaltete sich auch das Geistesleben des Weibes anders als das des Mannes.

Die Degradation des Weibes unter den Mann sank allmählig so tief, dass sie schliesslich als ein häusliches Zuchtthier, als eine der Gesellschaft nothwendige Gebärmaschine oder als ein Vergnügungsobjekt betrachtet wurde, über welches der “Eigentümer” — Mann — nach Belieben schalten und walten kann.

Erst in der französischen Revolution erwachte auch in der Frau das Bewusstsein ihrer Gleichberechtigung und sie kämpfte gleich einer Löwin an der Seite des Mannes, hoffend mit seiner Freiheit auch die ihre zu erreichen. Obwohl die Revolution verrathen und das Volk mit der Bourgeoisherrschaft seine Tyrannen gewechselt, blieb doch jener Hoffnungsstrahl der Freiheit in dem Herzen des Weibes, das Bewusstsein ihrer Menschenwürde und Gleichberechtigung stählend und kräftigend.

Die Bourgeoisie, der die Thatkraft, sowie der Einfluss der Frau auf die Revolution nicht entging, machte aus der Frauenemanzipation genau dasselbe trügerische Zerrbild, wie aus allen Idealen der Freiheit und Gleichheit, für welche das Volk geblutet.

Das Bourgeoisideal der Frauenemanzipation ist getreu dem herrschenden Ausbeutungsprinzipe angepasst: Zulassung in das private und staatliche Beamtenthum und die Hochschulen, um sich ein Heer neuer Ausbeutungsobjecte und billigere Hilfskräfte zu schaffen; schliesslich auch eine Erweiterung der politischen Rechte der Frauen, und dafür verlangt die Bourgeoisie nichts — nichts als ein Bischen Freundschaft für die Pfaffen.

Die nach Freiheit dürstenden Frauen suchten in dieser “Emanzipation” ihre Erlösung, die wahren Ursachen ihrer sozialen Erniedrigung verkennend oder ignorirend. Bald gab es nur zwei Sorten Frauen — “emanzipirte” und “fromme!” Wohl werden Beide — Männer und Frauen — durch die Macht der Verhältnisse nach einem gemeinsamen Ziele gedrängt, allein ihre Wege sind verschieden. Leider nur zu oft stehen sich die angeblich beiderseitigen Interessen diametral gegenüber.

Sehen wir nicht täglich Männer ihre Ueberzeugung opfern, weil der Liebesbarometer seiner “Julia” je nach dem Erfolge steigt oder fällt? Begeisterte Atheisten lassen ihre Kinder taufen und beten lernen oder begleiten gar ihre “theure Ehehälfte” zur Kirche, um des lieben ‘‘Hausfriedens’’ willen! — Und erst die unzähligen Fälle, wo begeisterte Freiheitskämpfer durch die Macht der Gardinen zu schlafmützigen Philistern geworden! — Vielfach besteht die Emanzipation der Frau darin, dass sie die Rollen wechselt und sich die Herrschaft über den Mann — dabei alle seine Untugenden und Lächerlichkeiten — aneignet. Sie glaubt sich um so emanzipirter, je auffallender sie sich benimmt und ihre wahre Weiblichkeit verläugnet. Diesen falschen, von dem giftigen Geifer der Bourgeoismoral durchtränkten Emanzipationswahn überträgt sie auf die Kinder. Traurige Nachkommenschaft!

II.

Soll das in voriger Nummer Gesagte die Frau als emanzipationsunfähig darstellen? — Nein! Wir wollten damit nur zeigen, dass sie sich auf falscher Fährte befindet, welche das Wort Emanzipation zum Schrecken jedes vernünftigen Wesens macht; anstatt Fortschritt, Reaktion zur Folge haben muss.

Wie konnten nun so traurige Erscheinungen eintreten? — Weil einerseits die Bourgeoisie den in der Frau erwachenden Freiheitsdrang in ihrem Interesse ausnutzte; und anderseits der Mann aus Egoismus und eigener geistiger Beschränktheit der Frau mit Nachlässigkeit oder Geringschätzung begegnete.

Die Befreiung der Arbeiter aus ihrer sozialen Knechtschaft kann nur ihr eigenes Werk sein. Soweit sind also die Interessen des Mannes und der Frau gemeinsame. Die Befreiung der Frau aus der Knechtschaft des Mannes kann aber ebenfalls nur das Werk der Frauen selbst sein, womit sich die Interessen der Frau von denen des Mannes trennen. Aber diese Interessenverschiedenheit ist nur eine relative und dem Egoismus und geistigen Beschränktheit des Mannes abhängige. Ein konsequenter, aufrichtiger Sozialist kann die Frau nie anders, als mit ihm gleichberechtigt betrachten, denn das wirkliche, wahre Interesse des Mannes, sowie der vollen freien Entwickelung des gesammten Menschengeschlechtes besteht nicht in der sozialen Unterordnung der Frau unter den Mann, sondern in ihrer vollsten, unbeschränktesten Gleichberechtigung. Darum soll auch der Mann den speziellen Fraueninteressen entgegenkommend sein, d.h. den Freiheitsbestrebungen der Frau mehr Aufmerksamkeit schenken, mehr behilflich sein, will er von ihr verstanden werden, und sie nicht zu seiner Gegnerin im eigenen Emanzipationskampfe machen.

Welchen Abgrund eingefleischter Vorurtheile hat ein jahrtausende alter barbarischer Egoismus zwischen Mann und Frau geschaffen, wo das Weib nur als Halbmensch betrachtet, ihr jeder Antheil an der allgemeinen Geistesentwickelung versagt und als unweiblich erklärt wurde? — ! —

Darum sehen wir heute in diesem grossen Emanzipationskampf des Proletariats Mann und Frau, von einander unverstanden, sich gegenseitig ein Hinderniss, womöglich sich bekämpfend, anstatt Hand in Hand für ihre gemeinsame Befreiung zu kämpfen. Und solange die Frau über die Natur und ihre Gesetze, über die sozialen Verhältnisse, deren Ursachen und Wirkungen, von Vorurtheilen beherrscht im Dunkeln tappt; solange sie vom Manne als etwas ihm Untergeordnetes betrachtet und behandelt wird, solange wird ihr Fühlen und Denken auch ein dem des Mannes verschiedenes sein. Sie wird als Lebensgefährtin, als Mutter und Erzieherin der heranwachsenden Generation den Bestrebungen des Mannes reaktionär entgegenwirken; — oder, als willenlose Sklavin, der Herrschsucht des Mannes immer neue Nahrung zuführen, Herrschsucht und Knechtssinn auf die Kinder übertragend.

Und solange bleibt die Lösung der sozialen Frage eine schöne Illusion! —

Darum fort mit diesen aus finsterer Barbarei entsprungenen Vorurtheilen; aber auch fort mit der falschen Emanzipirung! Die Emanzipation besteht nicht in der Befriedigung persönlicher Eitelkeit oder lächerlicher Nachäffung männlicher Untugenden, oder in der Theilnahme an der politischen Humbugerei, sondern in dem Erkennen ihrer wahren Menschenwürde, der Beseitigung jeder Herrschaft in der Gesellschaft und Familie.

Möge es uns gelingen, in dem weiblichen Theile unserer Leidensgenossen dieses Bewusstsein zu erwecken, ihre Kräfte für den solidarischen Kampf zu gewinnen, und der Sieg wird unser sein. Den Frauen fehlt es weder an gutem Willen, noch an den nöthigen Fähigkeiten. Dass der Erfolg unserer Propaganda unter den Frauen noch nicht grösser, hat seine Gründe in den bereits angeführten Verkehrtheiten und Missgriffen. Dieselben zu vermeiden und zu bekämpfen, muss eine unserer vorzüglichsten Aufgaben sein.

III.

Jede, die Menschheit bewegende Idee bietet in ihrer Entfaltungsperiode ein wirres Gemisch von eingewurzelten Gewohnheiten und idealem Streben. Es ist ein Kampf des Neuen mit dem Alten, des Werdenden mit dem Vorgehenden. Gestalt und Form wechselt je nach den intellektuellen Fähigkeiten und Neigungen der Individuen und der Verhältnisse, welche auf das Individuum und sein Geistesleben Einfluss nehmen. Jeder Einzelne formt sich Anfangs eine solche Idee nach seiner Art und Weise, bis sie nach einer Periode des individuellen Meinungsaustausches und praktischer Erfahrung festere, bestimmtere Gestalt annimmt. Die geistesverwandten Anhänger gruppiren sich in eine Partei, wo sich durch die stete Reibung individueller Meinung abermalige Klärung vollzieht, bis sie als Gemeingut aller Menschen realisirt werden.

Als im vorigen Jahrhundert die Idee der allgemeinen Menschenrechte die Völker bewegte, folgte Alles ihrem Banner. Adel und Bauer, Priester und Sansculotte, Männer und Weiber, Kinder und Greise, sie Alle stritten für sie; doch Jeder formte sich dieselben nach seiner Idee. Was der Eine unter “Freiheit” verstand, war meist die Sklaverei des Andern, und die wie Pilze aufschiessenden Parteien vertheidigten jede die Freiheit wie sie sie auffassten.

Dasselbe ist mit der Frauenemanzipation der Fall. Je nach den individuellen Neigungen, Denkvermögen und Vorurtheilen sind die Ansichten noch verschieden. Ein grösser Theil der Frauen erblickt ihr Emanzipations-Ideal in der ökonomischen Gleichstellung mit dem Manne. Sie wünschen zu allen Stellungen und Beschäftigungen zugelassen zu werden, ohne zu berücksichtigen, dass sie damit, unter dem heutigen Gesellschaftssystem, nur noch mehr Elend verursachen, als die nur theilweise Erfüllung dieses Ideals gebracht hat. Wohl fühlt die Frau die sie erdrückende Last ihres Doppeljoches, nur verwechselt sie Ursache mit Wirkung und glaubt, alle Schuld liege an ihrem geringeren Lohne, während die kapitalistische Ausbeutung, das ganze ökonomische System, die Ursache ist.

Ein anderer Theil schwärmt für politische Gleichberechtigung und erzählen uns, wie wir durch Theilnahme an den Wahlen und der Gesetzmacherei frei werden würden. Der politische Kampf ist aber ebenso fruchtlos wie der ökonomische. Was haben die Arbeiter durch denselben erreicht? Ausser entwürdigenden Zänkereien, Verrath und allgemeiner Demoralisation — nichts! Werden doch Gesetze immer nur für Solche gemacht, die Andere unterdrücken wollen. Und würde es bei den Frauen besser sein, wenn sie sich an dem politischen Cancan betheiligten? Gewiss nicht, eher noch schlechter. Fürs Erste hat die Frau ohnehin alle Hände voll zu thun, will sie ihren Pflichten, als Arbeiterin, Hausfrau und Mutter nur halbwegs nachkommen; und fürs Zweite würde sie, bei ihrer geistigen Vernachlässigung, ein umso fügsamer Spielball der politischen Gaukler werden. Klagt man doch heute schon allgemein über den politischen Einfluss der Pfaffen auf die Frauen. Die Theilnahme an der politischen Comödie kostet Zeit und Geld und so würde diese “Gleichberechtigung” höchstens ein neuer Sport der reichen “Damen,” bei welchem die arme Frau das Wild abgeben würde.

Ein ziemlicher Theil der Frauen hat dies auch bereits eingesehen und ist zu der Ueberzeugung gelangt, dass ihre Sklaverei nicht durch solche Flunkereien beseitigt wird. Wohl haben sich viele, dem Beispiele der Arbeiter folgend, in sozialdemokratische Reformschrullen verliebt; allein, zum Glück haben sie keine Gelegenheit sich an dem politischen Comödienspiele direkt zu betheiligen; und ein grosser Theil der Sozialdemokraten ist überhaupt der Meinung, die Frau möge Strümpfe stopfen und Suppe kochen, anstatt sich um soziale Fragen kümmern, da sich die Lage der Frau mit der des Mannes verbessern wird.

So haben die Frauen ihre Vernunft noch ziemlich frei von dem politischen Schwindel und ihr praktischer Sinn liess sie die Ideen der Anarchisten um so leichter begreifen. Während sie als Sozialdemokratin ihren männlichen Kampfgenossen gegenüber als unmündig betrachtet wird, fühlt und sieht sie sich als Anarchist in voll und ganz in ihrer Menschenwürde mit ihren männlichen Kampf- und Gesinnungsgenossen gleichberechtigt und als solche anerkannt.

In der Anarchie sieht die Frau auch ihr Ideal der Emanzipation verwirklicht; weder durch den Staat noch durch den Mann in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt, ist es gerade die anarchistische Idee, welche die volle Begeisterung und Hingabe, deren das Frauenherz fähig ist, erfüllt. Die Emanzipation der Frau löst sich in der Anarchie auf, und einmal diese Idee erkannt, wird sie es, wie schon so oft bewiesen, auch nicht an Kampfesmuth und Entschlossenheit zu deren Verwirklichung fehlen lassen.

M.

[1] Wir beginnen hiermit eine Serie von Artikeln über die “Frauenfrage” aus der Feder einer unserer bewährtesten Genossinnen, welche, wie sie uns schreibt, von den bisher in den Parteiblättern erschienenen Abhandlungen unbefriedigt war. Wir betreten damit ein ebenso wichtiges wie vernachlässigtes Propagandaterrain und hoffen damit unter den Genossen und Genossinnen für diese Frage ein energischeres Interesse zu erwecken, denn wir dürfen keinen Augenblick vergessen, dass wir für die Befreiung aller Menschen kämpfen!Die Redaktion.