#title Anarchismus und Subversion #author Wolja #SORTauthors Wolja #SORTtopics Anarchismus; Subversion; Citoyennismus; Kohärenz; Medien; Quantität; Über Kuhn, Gabriel; #date Januar 2014 #source Entnommen am 03.02.2015 von [[http://blackoutblog.noblogs.org/files/2014/03/Wolja1Farbe.pdf][http://blackoutblog.noblogs.org/files/2014/03/Wolja1Farbe.pdf]] #lang de #pubdate 2015-02-03T10:56:11 #notes Anonym veröffentlicht in "Wolja - Anarchistische Zeitschrift", Nr. 1, Wien, Nov-Jan 2013/14.
„Die Idee selbst ist wunderbar, dass Menschen herrschaftsfrei, gerecht und solidarisch leben sollen. Das spaltet sich allerdings an gewissen Realitäten, und der Anarchismus hat darauf bis heute nicht die richtigen Antworten parat, sonst wäre er auch stärker.“Ich glaube nicht, dass es uns so sehr an Antworten mangelt, ich glaube dass wir nicht mehr oder weniger Antworten auf essenzielle Fragen haben als andere Menschen auch. Viel wichtiger ist aber, ob die Fragen die sich die Politik zu bestimmten Problemen stellt von uns beantwortet werden sollten. Als AnarchistInnen sind wir weder die besseren DemokratInnen, noch halten wir etwas vom Dialog mit der Politik. Ich würde in Frage stellen, dass diejenigen die die ‘richtigen’ Antworten zu den jeweiligen Fragen der Zeit haben, auch ‘am stärksten’ sind. Hatte der Faschismus die richtige Antwort auf die Krise der Zwischenkriegszeit? Hatten die Bolschwiki die richtige Antwort auf das Elend und die Unterdrückung im zaristischen Russland? Beide stellten sich aufgrund spezifischer Bedingungen als die ‘stärksten’ Kräfte heraus. Ob sie die richtigen Antworten hatten? Was waren die ‘richtigen Antworten’ in diesem Falle? Sind die soziale Befriedung und der Massenkonsum die richtige Antwort auf die Entfremdung im Spektakel der demokratischen Totalität, oder sind es gerade die Spezifika der Unterdrückung die diese ausmachen? Wenn wir jedes Verlangen in die Zukunft verbannen. Wenn wir nur mehr davon reden, was alles passieren könnte, wenn ‘wir’ ‘stärker’ wären, dann hören wir auf reale Kämpfe zu führen. Dann sind wir bei der Logik der Politik angekommen.
„Der aktuelle Ruf des Anarchismus ist immer noch stark von den Anschlägen auf Regierungsvertreter bestimmt, zu denen es Anfang des 20. Jahrhunderts kam. Wie ernst solche Drohungen heute zu nehmen sind, ist eine andere Frage, vor allem in Italien. Dass es immer wieder Anarchisten gegeben hat, die Gewalt anwenden, lässt sich nicht leugnen, aber es war stets eine kleine Minderheit. [...] Man muss versuchen, dieses Bild so weit wie möglich zu korrigieren. Dafür muss man sich aber auch aus der eigenen Szene herausbewegen, was nicht alle Anarchisten wollen. So wird von manchen jeder Kontakt mit bürgerlichen Medien abgelehnt. Oder auch mit Universitäten: Wenn es dort einen Anarchismus-Kurs gibt, dann ist das scheiße, weil die Uni scheiße ist. Ich verstehe diese Argumente, glaube aber gleichzeitig, dass auch Anarchismus öffentlich diskutiert werden muss. Zumindest sollte die Geschichte richtig dargestellt werden. So haben sich 99 Prozent der Menschen, die sich als Anarchisten verstehen, noch nie an gewalttätigen Aktionen beteiligt und auch noch nie eine Fensterscheibe eingeschlagen. Der Großteil pflegt Gemeinschaftsgärten und hilft alten Leuten über die Straße.“Ich will gar nicht so genau wissen was jenen vorschwebt, die davon sprechen, dass sie das Bild des Anarchismus korrigieren wollen. Es ist eine Antwort auf eine falsche Frage. Es stimmt, dass AnarchistInnen aus den eigenen, festgefahrenen Strukturen, die sie oft mit der gesamten Linken gemeinsam haben heraus müssen. Damit ist aber für mich nicht die Kooperation mit Medien, den bürgerlichen Wissenschaften und anderer Diener der bestehenden Ordnung gemeint. Ob jene, die sich nicht in ihrem Kampf die Mittel vorgeben lassen, und selbst ihren Weg wählen immer eine Minderheit waren sei dahin gestellt. Diese Argumentation ist lediglich ein weiterer Beweis für den Fetisch an den Massen, wie er von vielen AnarchistInnen und Linken vertreten wird. Dass es jene AnarchistInnen auch heute noch gibt, die der Macht die Stirn bieten und diese angreifen ist eine Sache die ich hier nur kurz anschneide, um zu sagen, dass sich nicht alles was Unbehagen bereitet einfach in ‘die Vergangenheit’ verbannen lässt. Wenn wir von der Geschichte ‘des Anarchismus’ sprechen, dann müssen wir auch davon sprechen, dass es immer AnarchistInnen gegeben hat, die die individuelle oder kollektive direkte Konfrontation mit dem Staat gesucht, und diese dem Dialog vorgezogen haben. Sie haben der Aussöhnung, der Wartehaltung und dem Organisationsfetisch, zugunsten des Angriffes auf die Strukturen der Macht und deren Repräsentanten, eine Absage erteilt. Es gab jene die sich der revolutionären Sache soweit verschrieben hatten, dass sie ihr ganzes Leben in den Kampf warfen. Und in vielen Fällen auch damit bezahlt haben. Auch das ist Geschichte des Anarchismus. Ob das denjenigen die gerne einen Anarchismus mit sauberer Weste haben wollen nun passt oder nicht. Welche Schlüsse wir heute aus den alten Geschichten ziehen können kann nicht in einem Satz beantwortet werden. Doch können wir aus den Geschehnissen aus vergangener Zeit Lehren ziehen, die unsere Haltung der Unterdrückung gegenüber betreffen. Weder um eine Heroisierung alter Helden zu forcieren, noch die Vergangenheit zu verteufeln. Wenn einige Anarchisten ganze Abschnitte der Geschichte des Anarchismus versuchen zu negieren und in böse und gute AnarchistInnen einzuteilen, dann haben sie manches nicht verstanden.
„Wenn man auf der Basis anarchistischer Ideen gesellschaftlich wirksam sein will, dann muss man auch gesellschaftlich präsent sein. Das heißt aber nicht, dass man nicht gewisse Grenzen ziehen soll. Ich würde ja auch nicht jedem ein Interview geben.“Ich denke nicht dass man gesellschaftlich präsent sein muss. Ich denke, dass wir dort präsent sein müssen wo die reibungslosen Abläufe des gesellschaftlichen Motors infrage gestellt und gestört werden. Ich denke dass unser Platz nicht neben PolitikerInnen, JournalistInnen, und anderen gesellschaftlichen Persönlichkeiten ist, sondern an der Seite der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, die die Entscheidung getroffen haben sich gegen dieses ganze zivile Pack zur Wehr zu setzen. Unser Platz ist an der Seite jener, die lieber das Theater abfackeln wollen, anstatt auch nur noch eine einzige weitere dieser biederen Vorstellungen die sie täglich inszenieren, weiter ertragen zu müssen. Sich für das Spektakel der Medien zu prostituieren, ist die eine Sache, die wir als frei-denkende Menschen für uns selbst abschätzen müssen und dabei auch die daraus resultierenden Konsequenzen in unserer eigenen Verantwortung liegen. Eine andere Sache ist es aber ein befriedetes Zerrbild zu präsentieren, um jenen zu gefallen, die die Trends unserer Zeit bestimmen. Um den Schreibtischtätern der Journaille zu gefallen, und im weiteren Sinne eine saubere Weste zu tragen, um im politischen Zirkus eine Stimme zu haben. Das bringt uns zu der Frage nach dem subversiven Gehalt des Anarchismus. Beziehungsweise die Subversion bei jenem Anarchismus in Frage zu stellen der von den großen Organisatoren, Wissenschaftlern, und Anführern vertreten wird. Das Verhalten den Medien gegenüber ist in diesem Zusammenhang immer wieder zur Diskussion gestanden. Ich bin dagegen, sich genötigt zu fühlen mit allen in Kontakt zu treten, die im Entferntesten der Verbreitung irgendwelcher Teile unserer Idee zuträglich sein könnten. Was in den meisten Fällen auch gar nicht stimmt. Zu oft haben wir beobachtet wie die ‘Taktierer’ unter den Antiautoritären die versuchten sich mit der Presse zu arrangieren, sich erst einmal aller Kanten und Spitzen die die Subversivität ihrer Ideen ausgemacht haben entledigten. Dann wurden sie dennoch vorgeführt, obwohl ihr gesamtes Auftreten, ihre ganze Anbiederung bereits so konform war, dass man dabei nicht mehr von Subversion sprechen konnte. In vielen Debatten werden wir sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wenn wir tiefer gehen wollen. Ich sehe mich nicht gezwungen auf allen möglichen Kongressen zu verweilen, nur weil sich diese eben als ‘anarchistisch’ bezeichnen. Wir haben alle das Treiben auf dem letzten ‘großen anarchistischen Weltkongress’ verfolgt. Schon der Aufruf hat uns einiges verraten.
„[...] Die Entscheidungen des Organisationskomitees werden prioritär durch Konsens während der Versammlungen getroffen. [...] Sollte dies nicht möglich sein, werden die Entscheidungen per 3⁄4-Mehrheit getroffen.“An anderer Stelle war einiges mehr darüber zu lesen unter welchem Banner der Kongress stattfinden sollte, und wer nach Meinung des Organisationskomitees nicht willkommen war.
„[...] Internationalen Treffen das Gedankengut des sozialen Anarchismus weiterverbreiten und bewerben. Unsere Arbeit vollzieht sich im Geist der Offenheit gegenüber den verschiedenen Traditionen, Konzeptionen und Praktiken des Anarchismus [...]“und im darauf folgenden Punkt:
„[...] Verlagen, Herausgebern, Individuen und Gruppen ausgehen, die sich zum sozialen Anarchismus bekennen [...]“und an anderer Stelle weiter:
„[...] Der soziale Anarchismus verfolgt politisch und strategisch gesehen die Politik der direkten Aktion, folglich der Selbstorganisation, der Emanzipation, des radikal demokratischen Aufbaus (was im doppelten Sinne verstanden werden muss: einerseits als Aufbau von Gegenmacht außerhalb des Staates aber auch gegen diesen gerichtet und andererseits als Übereinstimmung zwischen Mitteln und Zweck des Kampfes), wodurch die heutigen Kämpfe und Organisationen die Basis für eine militante, konkrete und kritische Utopie bilden, die jener Gesellschaftsform entspricht, die wir aufbauen wollen. [... ] Im Zentrum der militanten Bestrebungen des sozialen Anarchismus liegen der strategische Aufbau einer allgemeinen Emanzipationsbewegung, die Koordinierung der Kämpfe, die Entwicklung einer Gegenmacht angesichts dieses Systems der Ausbeutung und Herrschaft, um mittels der föderierten Kämpfe einen revolutionären Wandel herbeizuführen, der nur das Ergebnis einer freien und bewussten Vereinbarung der beteiligten Individuen und sozialen Bewegungen sein kann – denn diese haben die Macht, unsere Gesellschaft radikal zu verändern, zu emanzipieren.“Ich frage mich in diesem Zusammenhang, wenn die ganze Zeit vom ‘sozialen Anarchismus’ die Rede ist, was dann der ‘asoziale’ oder ‘antisoziale’ Anarchismus wäre. Vor allem in Anbetracht dessen, dass sich der größte Teil der beteiligten Gruppen und Organisationen aus jener der syndikalistischen und plattformistischen Strömungen, sowie den Föderationen zusammensetzt. Wir, die wir diese starren Organisationen nur ablehnen können, da wir in ihnen bereits den autoritären Keim von Morgen wachsen sehen, wollen uns nicht als strikt ‘sozial’ oder ‘antisozial’ kategorisieren. Die soziale Dimension von Revolten, Aufständen und anderen Erhebungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, im besten Falle im losen Verein mit Antiautoritären, Revolutionären und Anarchisten lässt sich nicht von der Hand weisen. Dass diese Brüche mit der verwalteten Normalität nicht gewaltlos und ohne Konflikte und Reibungen, beziehungsweise ohne Widersprüche vor sich gehen, sollte zwar einleuchten, dennoch können in diesem Punkt die sozialen Implikationen der Aufständigkeit und der Revolte ohne Vermittler, Organisationen, Komitees und (Möchtegern) Politiker nicht negiert werden. Wenn die Verweigerung des Dialoges mit Medien, Politik, etc. bedeutet ‘antisozial’ zu sein, wenn uns die Befriedung und die Herdenmentalität anwidert, wenn wir gerne darauf verzichten uns an die Verhältnisse anzupassen um die Massen um uns scharen zu können, und das der Preis für einen Kampfes ist der von vielen ausgeht, dann sind wir nicht bereit diesen in Kauf zu nehmen. Dann kämpfen wir lieber alleine oder mit wenigen. Wenn ihr diese Punkte als ‘anitsozial’ bezeichnen wollt, ja dann sind wir auch ‘antisozial’. Im Grunde genommen halte ich diese jeweilige Fixierung auf Begriffe des ‘sozialen’ oder ‘antisozialen’ aber für subjektive Abstraktionen, die uns in unserem Kampf oft nur hinderlich sind. Viele von euch haben die ‘Fahrt ins Blaue’ unternommen. Ich halte nicht nur den Kongress und die Beschränkung auf dessen Außenwirkung für problematisch, sondern auch die meisten Texte die Kritik daran geäußert haben. Wir wissen nicht was euch dazu gebracht hat im Zuge eurer puren Naivität in die schöne Schweiz zu pilgern, sich die ganze Szenerie anzuschauen, und danach festzustellen, dass dies nicht euren Ansprüchen gerecht wird. Eine Kritik, die lediglich an der Oberfläche kratzt, ist uninteressant. Wenn wir ohne eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Massenphänomen, der Anbiederung an die Institutionen, und an der Politik die dort gemacht wurde auskommen, verzichten wir auf sehr wichtigste Fähigkeiten. Die anarchistische Idee und das Projekt der Subversion sind keine Freizeitbeschäftigungen. Es sind keine touristischen Aktivitäten. Es ist keine Rechenaufgabe, die sich durch Massenveranstaltungen in den Annalen der libertären Geschichte niederschlägt. Es sind keine Versammlungen, die ohne weitere Handlung auskommen. Es ist der permanente Konflikt mit allen Autoritäten. Es ist die Spannung die wir mit allen unseren Interventionen erzeugen oder intensivieren wollen. Wir sind weder ‘Gemeinschaftsgärtner’ noch ‘brave Bürger die alten Leuten über die Straße helfen’. Wir erkennen uns in vielen Ansprüchen wieder, die von den Revolutionären im Jahr 1872 in St. Imier entworfen und zu Papier gebracht wurden. Dabei ist es für mich als Anarchist nötig mich nicht aufgrund von gleicher Identität und dem Glauben an die ‘utopische Zukunftsgesellschaft’ zusammenzuschließen, sondern aufgrund gemeinsamer Affinitäten, die nur zwischen Individuen entstehen können, die Perspektiven und Analysen teilen, und in dessen Folge sich daraus befähigen zum Angriff auf einen bestimmten Aspekt der Herrschaft überzugehen. Die revolutionäre Frage wird dort beantwortet, wo sie sich schon immer am dynamischsten entfaltet hat: auf der Straße.
“[...] In Erwägung, daß jede politische Organisation nur die Organisation der Herrschaft zum Nutzen von Klassen und zum Schaden der Massen sein kann und daß das Proletariat, wenn es sich der politischen Macht bemächtigen wollte , selbst eine herrschende und ausbeutende Klasse werden würde, erklärt der Kongreß von Saint-Imier: 1. Daß die Zerstörung jeder politischen Macht die erste Pflicht des Proletariats ist. 2. Daß jede Organisation einer sogenannten provisorischen revolutionären politischen Macht, um diese Zerstörung herbeizuführen, nur ein Betrug mehr sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich wäre wie alle heute bestehenden Regierungen. 3. Daß die Proltarier aller Länder, um zur sozialen Revolution zu gelangen, jeden Kompromiß zurückweisen und die Soldarität der revolutionären Aktion außerhalb jeder Bourgeoispolitik herstellen müssen.”