Wolja

Anarchismus und Subversion

Januar 2014

"Ich stehe irgendwo in der Mitte.“ Gabriel Kuhn

Als Anarchisten und Anarchistinnen lehnen wir alle Autoritäten ab. Egal ob diese nun staatlicher oder nicht staatlicher Natur sind. Egal ob es eine Alternative zu diesen Herrschaftsstrukturen gibt oder nicht. Die Bewertung von Situationen, von Momenten der Rebellion, von Texten und Analysen nach quantitativen Gesichtspunkten ist ein Irrweg in den wir uns viel zu oft verlaufen. Es kann uns nicht um die Menge, um die Masse, um die ‘Mehrheit’ oder einzig und allein um den Erfolg gehen. Vielmehr müssen wir eine Qualität schätzen lernen. Eine Qualität von Beziehungen zwischen uns und unseren GefährtInnen. Einer Innigkeit und eines Vertrauens, das auf gemeinsamen Erfahrungen, aus gemeinsamen Perspektiven und der daraus resultierenden Initiative basiert. Eine Vertrautheit im Kampf die sich nicht durch Versammlungen, große Namen, Asambleas und Mitgliedslisten herstellen lässt, sondern sich nur aufgrund von gemeinsamen Affinitäten entwickeln kann.

Was ist es, das uns zu Gegnern des Staates, des Kapitals, der gesellschaftlichen Zwänge, jeder Kirche und allen Religionen macht? Was macht uns zu Gegnern der spezialisierten Wissenschaft, der Schulen und Universitäten, der Arbeit, der Gefängnisse und Psychiatrien? Sowohl Gegner der Faschisten zu sein, als auch Gegner weiter Teile der (radikalen) Linken. Zu Gegnern ihrer Dogmen, ihrem vermeintlichen Fetisch nach Wissenschaftlichkeit, ihrer Anbiederung und ihrer ständigen Kompromisse. Es macht uns zu Gegnern ihrer ‘Massenhaftigkeit’.

Die ständige Gier nach einer größeren Zahl an Beteiligten, nach mehr Aktivisten, nach mehr Beachtung, Einfluss, nach einer Massenbewegung steht für viele Revolutionäre im Zentrum ihrer gesamten Tätigkeit. Die Massenbewegung, so wie sie von vielen angestrebt wird kann jedoch nie unser Ziel sein, denn für uns steht am Beginn immer noch das Individuum und dessen Verantwortung, für seine Worte und Taten. Das bedeutet nicht, dass wir vor jeglicher Massenaktion, vor jeder Initiative die von vielen ausgeht zurückschrecken. Es geht nicht darum sich möglichst weit zu isolieren, um sich auf elitäre Kreise zu reduzieren. Es geht mir viel eher um eine Kritik an der Haltung vieler Linker und AnarchistInnen, die sich eine Initiative nur dann vorstellen können wenn sich eine gewisse Zahl an Beteiligten unter ihren Fahnen versammelt hat. Es geht mir um eine Kritik an der Organisation, die rein der Organisation wegen besteht. Wenn wir die Revolte und den Aufstand auch als soziale Momente begreifen, können wir nicht von einer statischen Massenorganisation ausgehen, sondern von einer Spontaneität deren Grundlage immer das Individuum im kollektiven Kampf sein wird. Keine Grundsätze, keine Programme, keine Organisationen, die uns zur Vereinheitlichung unserer Kampfmethoden bringen würden. Das bedeutet auch dass wir keinen Fetisch der Instrumente entwickeln, die wir gedenken einzusetzen. Wo wir bei einem Grundproblem wären. Denn viele von uns sind nicht fähig eine Differenzierung zwischen den Mitteln die nötig sind, und den Mitteln die sie aus egoistischen Gründen, aus Gründen des Prestige und des Spektakels favorisieren, zu machen. Und dies völlig losgelöst von der Gewaltfrage, denn diese Tendenzen sind in den unterschiedlichsten Strömungen festzustellen. Die Zeit bestimmt nicht unsere Theorie, aber wir müssen sehr wohl unsere Praxis mit den Gegebenheiten ‘engführen’. Nicht dass ich damit eine Anpassung an das Bestehende meine. Das ist nicht das wovon hier die Rede ist. Sondern unsere eigenen Verlangen mit ein zu beziehen, die Grundlagen und Voraussetzungen die uns unsere Umwelt bietet zu beachten und auf Basis unserer Möglichkeiten die Subversion in allen Aspekten unseres Lebens zu intensivieren.

In vielen Auseinandersetzungen sehen wir uns mit einer gewissen Naivität konfrontiert, die wohl auch der lediglich theoretischen Behandlung von bestimmten Fragen und dem Verlust der Praxis zu schulden ist. Wir können die selbsternannten SpezialistInnen der ‘Bewegung’/Szene dabei beobachten, wie sie sich bei allem was sie tun in den Vordergrund drängen. Schlimmer noch beanspruchen sie Diskussionen für sich, die sie weder erfahren, noch die Vertiefung darin gesucht haben. Sie reden von der Revolte, als ob sie Spezialisten und Professionalisten auf diesem Gebiet wären, obwohl sie den größten Teil ihres Lebens hinter dem Schreibtisch, an der Bar, und in überfüllten Vorlesungssälen verbracht haben. Und dennoch fordern sie einerseits von anderen Grundsätze ein, die sie selbst nicht fähig sind zu erfüllen, und versuchen allen die sie zu ihrer fiktiven herbei sinnierten Bewegung zählen eine gemeinsame Identität aufzuzwingen. Und damit Idee, Haltung und Handeln vorzugeben. Als Anarchist ist für mich die Delegation immer noch eines der hinterhältigsten Prinzipien der Autorität. Und das, von allen Seiten betrachtet. Sowohl als Empfänger von Anweisungen, als auch als selbsternannte ‘Steuermänner’ der Bewegung. Dabei denke ich beispielsweise an ein Interview, das einer dieser großen Wissenschaftler der Bewegung in der bürgerlich-links-liberalen Zeitung ‘Der Standard’ im Sommer 2012 gegeben hat. Unter dem Titel ‘Auch Anarchismus muss öffentlich diskutiert werden’ erschien dieses Interview am 7. August 2012. Als ich über dieses Interview gestolpert bin, sah ich für mich sehr viele Parallelen zu Kritikpunkten, die ich an der radikalen Linken und vielen AnarchistInnen habe, wieder bestätigt. Der Fetischismus alles zu ‘bespringen’ was nach Masse/ Massenbewegung aussieht, und die feuchten Träume von der Organisation sind ebenso Teil davon, wie die Idee dem Anarchismus ein möglichst massenfähiges Image zu verleihen, das sich meist an gesellschaftlichen Maßstäben orientiert. So wie die folgenden Argumentationen des Interviews zeigen sollen:

Die Idee selbst ist wunderbar, dass Menschen herrschaftsfrei, gerecht und solidarisch leben sollen. Das spaltet sich allerdings an gewissen Realitäten, und der Anarchismus hat darauf bis heute nicht die richtigen Antworten parat, sonst wäre er auch stärker.

Ich glaube nicht, dass es uns so sehr an Antworten mangelt, ich glaube dass wir nicht mehr oder weniger Antworten auf essenzielle Fragen haben als andere Menschen auch. Viel wichtiger ist aber, ob die Fragen die sich die Politik zu bestimmten Problemen stellt von uns beantwortet werden sollten. Als AnarchistInnen sind wir weder die besseren DemokratInnen, noch halten wir etwas vom Dialog mit der Politik. Ich würde in Frage stellen, dass diejenigen die die ‘richtigen’ Antworten zu den jeweiligen Fragen der Zeit haben, auch ‘am stärksten’ sind. Hatte der Faschismus die richtige Antwort auf die Krise der Zwischenkriegszeit? Hatten die Bolschwiki die richtige Antwort auf das Elend und die Unterdrückung im zaristischen Russland? Beide stellten sich aufgrund spezifischer Bedingungen als die ‘stärksten’ Kräfte heraus. Ob sie die richtigen Antworten hatten? Was waren die ‘richtigen Antworten’ in diesem Falle? Sind die soziale Befriedung und der Massenkonsum die richtige Antwort auf die Entfremdung im Spektakel der demokratischen Totalität, oder sind es gerade die Spezifika der Unterdrückung die diese ausmachen? Wenn wir jedes Verlangen in die Zukunft verbannen. Wenn wir nur mehr davon reden, was alles passieren könnte, wenn ‘wir’ ‘stärker’ wären, dann hören wir auf reale Kämpfe zu führen. Dann sind wir bei der Logik der Politik angekommen.

Der aktuelle Ruf des Anarchismus ist immer noch stark von den Anschlägen auf Regierungsvertreter bestimmt, zu denen es Anfang des 20. Jahrhunderts kam. Wie ernst solche Drohungen heute zu nehmen sind, ist eine andere Frage, vor allem in Italien. Dass es immer wieder Anarchisten gegeben hat, die Gewalt anwenden, lässt sich nicht leugnen, aber es war stets eine kleine Minderheit. [...] Man muss versuchen, dieses Bild so weit wie möglich zu korrigieren. Dafür muss man sich aber auch aus der eigenen Szene herausbewegen, was nicht alle Anarchisten wollen. So wird von manchen jeder Kontakt mit bürgerlichen Medien abgelehnt. Oder auch mit Universitäten: Wenn es dort einen Anarchismus-Kurs gibt, dann ist das scheiße, weil die Uni scheiße ist. Ich verstehe diese Argumente, glaube aber gleichzeitig, dass auch Anarchismus öffentlich diskutiert werden muss. Zumindest sollte die Geschichte richtig dargestellt werden. So haben sich 99 Prozent der Menschen, die sich als Anarchisten verstehen, noch nie an gewalttätigen Aktionen beteiligt und auch noch nie eine Fensterscheibe eingeschlagen. Der Großteil pflegt Gemeinschaftsgärten und hilft alten Leuten über die Straße.

Ich will gar nicht so genau wissen was jenen vorschwebt, die davon sprechen, dass sie das Bild des Anarchismus korrigieren wollen. Es ist eine Antwort auf eine falsche Frage. Es stimmt, dass AnarchistInnen aus den eigenen, festgefahrenen Strukturen, die sie oft mit der gesamten Linken gemeinsam haben heraus müssen. Damit ist aber für mich nicht die Kooperation mit Medien, den bürgerlichen Wissenschaften und anderer Diener der bestehenden Ordnung gemeint. Ob jene, die sich nicht in ihrem Kampf die Mittel vorgeben lassen, und selbst ihren Weg wählen immer eine Minderheit waren sei dahin gestellt. Diese Argumentation ist lediglich ein weiterer Beweis für den Fetisch an den Massen, wie er von vielen AnarchistInnen und Linken vertreten wird. Dass es jene AnarchistInnen auch heute noch gibt, die der Macht die Stirn bieten und diese angreifen ist eine Sache die ich hier nur kurz anschneide, um zu sagen, dass sich nicht alles was Unbehagen bereitet einfach in ‘die Vergangenheit’ verbannen lässt. Wenn wir von der Geschichte ‘des Anarchismus’ sprechen, dann müssen wir auch davon sprechen, dass es immer AnarchistInnen gegeben hat, die die individuelle oder kollektive direkte Konfrontation mit dem Staat gesucht, und diese dem Dialog vorgezogen haben. Sie haben der Aussöhnung, der Wartehaltung und dem Organisationsfetisch, zugunsten des Angriffes auf die Strukturen der Macht und deren Repräsentanten, eine Absage erteilt. Es gab jene die sich der revolutionären Sache soweit verschrieben hatten, dass sie ihr ganzes Leben in den Kampf warfen. Und in vielen Fällen auch damit bezahlt haben. Auch das ist Geschichte des Anarchismus. Ob das denjenigen die gerne einen Anarchismus mit sauberer Weste haben wollen nun passt oder nicht. Welche Schlüsse wir heute aus den alten Geschichten ziehen können kann nicht in einem Satz beantwortet werden. Doch können wir aus den Geschehnissen aus vergangener Zeit Lehren ziehen, die unsere Haltung der Unterdrückung gegenüber betreffen. Weder um eine Heroisierung alter Helden zu forcieren, noch die Vergangenheit zu verteufeln. Wenn einige Anarchisten ganze Abschnitte der Geschichte des Anarchismus versuchen zu negieren und in böse und gute AnarchistInnen einzuteilen, dann haben sie manches nicht verstanden.

Wenn man auf der Basis anarchistischer Ideen gesellschaftlich wirksam sein will, dann muss man auch gesellschaftlich präsent sein. Das heißt aber nicht, dass man nicht gewisse Grenzen ziehen soll. Ich würde ja auch nicht jedem ein Interview geben.

Ich denke nicht dass man gesellschaftlich präsent sein muss. Ich denke, dass wir dort präsent sein müssen wo die reibungslosen Abläufe des gesellschaftlichen Motors infrage gestellt und gestört werden. Ich denke dass unser Platz nicht neben PolitikerInnen, JournalistInnen, und anderen gesellschaftlichen Persönlichkeiten ist, sondern an der Seite der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, die die Entscheidung getroffen haben sich gegen dieses ganze zivile Pack zur Wehr zu setzen. Unser Platz ist an der Seite jener, die lieber das Theater abfackeln wollen, anstatt auch nur noch eine einzige weitere dieser biederen Vorstellungen die sie täglich inszenieren, weiter ertragen zu müssen.

Sich für das Spektakel der Medien zu prostituieren, ist die eine Sache, die wir als frei-denkende Menschen für uns selbst abschätzen müssen und dabei auch die daraus resultierenden Konsequenzen in unserer eigenen Verantwortung liegen. Eine andere Sache ist es aber ein befriedetes Zerrbild zu präsentieren, um jenen zu gefallen, die die Trends unserer Zeit bestimmen. Um den Schreibtischtätern der Journaille zu gefallen, und im weiteren Sinne eine saubere Weste zu tragen, um im politischen Zirkus eine Stimme zu haben. Das bringt uns zu der Frage nach dem subversiven Gehalt des Anarchismus. Beziehungsweise die Subversion bei jenem Anarchismus in Frage zu stellen der von den großen Organisatoren, Wissenschaftlern, und Anführern vertreten wird.

Das Verhalten den Medien gegenüber ist in diesem Zusammenhang immer wieder zur Diskussion gestanden. Ich bin dagegen, sich genötigt zu fühlen mit allen in Kontakt zu treten, die im Entferntesten der Verbreitung irgendwelcher Teile unserer Idee zuträglich sein könnten. Was in den meisten Fällen auch gar nicht stimmt. Zu oft haben wir beobachtet wie die ‘Taktierer’ unter den Antiautoritären die versuchten sich mit der Presse zu arrangieren, sich erst einmal aller Kanten und Spitzen die die Subversivität ihrer Ideen ausgemacht haben entledigten. Dann wurden sie dennoch vorgeführt, obwohl ihr gesamtes Auftreten, ihre ganze Anbiederung bereits so konform war, dass man dabei nicht mehr von Subversion sprechen konnte.

In vielen Debatten werden wir sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wenn wir tiefer gehen wollen. Ich sehe mich nicht gezwungen auf allen möglichen Kongressen zu verweilen, nur weil sich diese eben als ‘anarchistisch’ bezeichnen. Wir haben alle das Treiben auf dem letzten ‘großen anarchistischen Weltkongress’ verfolgt. Schon der Aufruf hat uns einiges verraten.

[...] Die Entscheidungen des Organisationskomitees werden prioritär durch Konsens während der Versammlungen getroffen. [...] Sollte dies nicht möglich sein, werden die Entscheidungen per 3⁄4-Mehrheit getroffen.

An anderer Stelle war einiges mehr darüber zu lesen unter welchem Banner der Kongress stattfinden sollte, und wer nach Meinung des Organisationskomitees nicht willkommen war.

[...] Internationalen Treffen das Gedankengut des sozialen Anarchismus weiterverbreiten und bewerben. Unsere Arbeit vollzieht sich im Geist der Offenheit gegenüber den verschiedenen Traditionen, Konzeptionen und Praktiken des Anarchismus [...]

und im darauf folgenden Punkt:

[...] Verlagen, Herausgebern, Individuen und Gruppen ausgehen, die sich zum sozialen Anarchismus bekennen [...]

und an anderer Stelle weiter:

[...] Der soziale Anarchismus verfolgt politisch und strategisch gesehen die Politik der direkten Aktion, folglich der Selbstorganisation, der Emanzipation, des radikal demokratischen Aufbaus (was im doppelten Sinne verstanden werden muss: einerseits als Aufbau von Gegenmacht außerhalb des Staates aber auch gegen diesen gerichtet und andererseits als Übereinstimmung zwischen Mitteln und Zweck des Kampfes), wodurch die heutigen Kämpfe und Organisationen die Basis für eine militante, konkrete und kritische Utopie bilden, die jener Gesellschaftsform entspricht, die wir aufbauen wollen. [... ] Im Zentrum der militanten Bestrebungen des sozialen Anarchismus liegen der strategische Aufbau einer allgemeinen Emanzipationsbewegung, die Koordinierung der Kämpfe, die Entwicklung einer Gegenmacht angesichts dieses Systems der Ausbeutung und Herrschaft, um mittels der föderierten Kämpfe einen revolutionären Wandel herbeizuführen, der nur das Ergebnis einer freien und bewussten Vereinbarung der beteiligten Individuen und sozialen Bewegungen sein kann – denn diese haben die Macht, unsere Gesellschaft radikal zu verändern, zu emanzipieren.

Ich frage mich in diesem Zusammenhang, wenn die ganze Zeit vom ‘sozialen Anarchismus’ die Rede ist, was dann der ‘asoziale’ oder ‘antisoziale’ Anarchismus wäre. Vor allem in Anbetracht dessen, dass sich der größte Teil der beteiligten Gruppen und Organisationen aus jener der syndikalistischen und plattformistischen Strömungen, sowie den Föderationen zusammensetzt. Wir, die wir diese starren Organisationen nur ablehnen können, da wir in ihnen bereits den autoritären Keim von Morgen wachsen sehen, wollen uns nicht als strikt ‘sozial’ oder ‘antisozial’ kategorisieren. Die soziale Dimension von Revolten, Aufständen und anderen Erhebungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, im besten Falle im losen Verein mit Antiautoritären, Revolutionären und Anarchisten lässt sich nicht von der Hand weisen. Dass diese Brüche mit der verwalteten Normalität nicht gewaltlos und ohne Konflikte und Reibungen, beziehungsweise ohne Widersprüche vor sich gehen, sollte zwar einleuchten, dennoch können in diesem Punkt die sozialen Implikationen der Aufständigkeit und der Revolte ohne Vermittler, Organisationen, Komitees und (Möchtegern) Politiker nicht negiert werden. Wenn die Verweigerung des Dialoges mit Medien, Politik, etc. bedeutet ‘antisozial’ zu sein, wenn uns die Befriedung und die Herdenmentalität anwidert, wenn wir gerne darauf verzichten uns an die Verhältnisse anzupassen um die Massen um uns scharen zu können, und das der Preis für einen Kampfes ist der von vielen ausgeht, dann sind wir nicht bereit diesen in Kauf zu nehmen. Dann kämpfen wir lieber alleine oder mit wenigen. Wenn ihr diese Punkte als ‘anitsozial’ bezeichnen wollt, ja dann sind wir auch ‘antisozial’. Im Grunde genommen halte ich diese jeweilige Fixierung auf Begriffe des ‘sozialen’ oder ‘antisozialen’ aber für subjektive Abstraktionen, die uns in unserem Kampf oft nur hinderlich sind.

Viele von euch haben die ‘Fahrt ins Blaue’ unternommen. Ich halte nicht nur den Kongress und die Beschränkung auf dessen Außenwirkung für problematisch, sondern auch die meisten Texte die Kritik daran geäußert haben. Wir wissen nicht was euch dazu gebracht hat im Zuge eurer puren Naivität in die schöne Schweiz zu pilgern, sich die ganze Szenerie anzuschauen, und danach festzustellen, dass dies nicht euren Ansprüchen gerecht wird. Eine Kritik, die lediglich an der Oberfläche kratzt, ist uninteressant. Wenn wir ohne eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Massenphänomen, der Anbiederung an die Institutionen, und an der Politik die dort gemacht wurde auskommen, verzichten wir auf sehr wichtigste Fähigkeiten. Die anarchistische Idee und das Projekt der Subversion sind keine Freizeitbeschäftigungen. Es sind keine touristischen Aktivitäten. Es ist keine Rechenaufgabe, die sich durch Massenveranstaltungen in den Annalen der libertären Geschichte niederschlägt. Es sind keine Versammlungen, die ohne weitere Handlung auskommen. Es ist der permanente Konflikt mit allen Autoritäten. Es ist die Spannung die wir mit allen unseren Interventionen erzeugen oder intensivieren wollen. Wir sind weder ‘Gemeinschaftsgärtner’ noch ‘brave Bürger die alten Leuten über die Straße helfen’. Wir erkennen uns in vielen Ansprüchen wieder, die von den Revolutionären im Jahr 1872 in St. Imier entworfen und zu Papier gebracht wurden. Dabei ist es für mich als Anarchist nötig mich nicht aufgrund von gleicher Identität und dem Glauben an die ‘utopische Zukunftsgesellschaft’ zusammenzuschließen, sondern aufgrund gemeinsamer Affinitäten, die nur zwischen Individuen entstehen können, die Perspektiven und Analysen teilen, und in dessen Folge sich daraus befähigen zum Angriff auf einen bestimmten Aspekt der Herrschaft überzugehen. Die revolutionäre Frage wird dort beantwortet, wo sie sich schon immer am dynamischsten entfaltet hat: auf der Straße.

[...] In Erwägung, daß jede politische Organisation nur die Organisation der Herrschaft zum Nutzen von Klassen und zum Schaden der Massen sein kann und daß das Proletariat, wenn es sich der politischen Macht bemächtigen wollte , selbst eine herrschende und ausbeutende Klasse werden würde, erklärt der Kongreß von Saint-Imier:

1. Daß die Zerstörung jeder politischen Macht die erste Pflicht des Proletariats ist.

2. Daß jede Organisation einer sogenannten provisorischen revolutionären politischen Macht, um diese Zerstörung herbeizuführen, nur ein Betrug mehr sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich wäre wie alle heute bestehenden Regierungen.

3. Daß die Proltarier aller Länder, um zur sozialen Revolution zu gelangen, jeden Kompromiß zurückweisen und die Soldarität der revolutionären Aktion außerhalb jeder Bourgeoispolitik herstellen müssen.”

Resolution von St. Imier, 1872


Anonym veröffentlicht in "Wolja - Anarchistische Zeitschrift", Nr. 1, Wien, Nov-Jan 2013/14.