Wolfi Landstreicher

Eine abgeschlossene Berechnung der Welt

Ein kritischer Blick auf die wissenschaftliche Weltanschauung

2001

Der Ursprung der modernen Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert korrespondiert mit den Ursprüngen des modernen Kapitalismus und des industriellen Systems. Von Beginn an haben die Weltanschauung und die Methoden der Wissenschaft perfekt in den Bedarf des kapitalistischen Gesellschaftssystems gepasst, um die Natur und die überwältigende Mehrheit der Menschen zu beherrschen. Francis Bacon machte klar, dass Wissenschaft kein Versuch war, die Natur, wie sie ist, zu verstehen, sondern sie zu dominieren, um sie für die Ziele der Menschheit - in diesem Fall gleichbedeutend mit den gegenwärtig Herrschenden in der sozialen Ordnung - zu verrenken. In diesem Sinn muss Wissenschaft notwendigerweise von jedem, der behauptet, die bestehende soziale Realität in Frage zu stellen, einer gesellschaftlichen Analyse ausgesetzt werden.

Wissenschaft handelt nicht einfach davon, die Welt zu betrachten, mit ihren Elementen zu experimentieren und begründete Schlüsse daraus zu ziehen. Andernfalls müssten wir bspw. Kinder, so genannte Primitive und jede Menge Tiere als exzellente Wissenschaftler betrachten. Aber die von uns allen Tag für Tag ausgeführten praktischen Experimente mangeln einiger notwendiger Faktoren; der erste und wichtigste von ihnen ist das Konzept des Universums als eine einzelne Einheit, die nach universellen, rationalen, erkennbaren Gesetzen funktioniert. Ohne diese Grundlage kann Wissenschaft nicht als solche funktionieren.

Natürlich kam die Idee universeller Naturgesetze schon im antiken Griechenland auf und ergab sich ungefähr zur selben Zeit, wie geschriebene Gesetze zur Regierung von Stadtstaaten, als auch der auf Geld basierende Handel. Aber die antike griechische Perspektive unterschied sich beachtlich von derjenigen der moderner Wissenschaft. Die universellen Naturgesetze der griechischen Philosophie waren grundsätzlich relational, parallel zu dem politischen und ökonomischen Institutionen der antiken griechischen Gesellschaft. Deswegen tendierte dieses Konzept dazu, Mäßigung - Aristoteles „goldene Mitte“ - und eine Vermeidung von Überheblichkeit zu fördern, Eigenschaften, die ganz klar keine Äquivalente in der modernen wissenschaftlichen Perspektive finden.

Zwischen der Zeit der antiken griechischen Philosophen und dem Ursprung der modernen Wissenschaft beeinflussten zwei bedeutende Ereignisse die westliche Sicht der Welt. Das erste war der Aufstieg der christlichen Religion als zentraler beherrschender Faktor im westlichen Denken. Diese Weltanschauung ersetzte das Konzept einer Vielzahl an Göttern, die Teil der Welt sind, mit dem eines einzelnen Gottes außerhalb des Universums, der dieses geschaffen hat und es kontrolliert. Darüber hinaus wurde verkündet, dass die Welt zum Nutzen von Gottes bevorzugter Kreatur, dem Menschen, geschaffen wurde, der sie bändigen und beherrschen sollte. Das zweite signifikante Ereignis war die Erfindung der ersten automatischen Maschine, die eine bedeutende Rolle im öffentlichen sozialen Leben spielte: Der Uhr. Die ganze Bedeutung der Erfindung der Uhr in der Entwicklung des Kapitalismus, besonders in seiner industriellen Form, ist eine Geschichte an sich, aber mein Anliegen hier ist spezifischer. Durch die Materialisierung des Konzeptes einer nicht-lebendigen Sache, die sich nichtsdestotrotz selbst bewegen konnte, gab die Uhr der breiten Masse der Bevölkerung eine verständliche Grundlage für eine neue Konzeption des Universums. Zusammen mit der Idee eines externen Schöpfers des Universums lieferte sie die Grundlage um die Einigkeit des Universums als ein vom großen Uhrmacher geschaffenes Uhrwerk aufzufassen. In anderen Worten, diese Konzeption war essentiell mechanisch.

Somit legten Religion und technologische Entwicklung die Basis für die Entwicklung einer mechanistischen Sicht auf das Universum und so die der modernen Wissenschaft. Wenn man die Bedeutung der Religion im zur Verfügung stellen dieses ideologischen Rahmens erkennt, sollte es keine Überraschung sein, dass die meisten frühen Wissenschaftler Geistliche waren, und dass die Leiden des Galileo und Kopernikus Ausnahmen zum Regelfall waren, nützlich in der Entwicklung einer Mythologie der Wissenschaft als eine Kraft der Wahrheit, welche gegen die Aufklärungsfeindlichkeit des Aberglaubens und des Dogmas kämpft. In Wirklichkeit arbeiteten die frühen Wissenschaftler gewöhnlich für die eine oder andere der verschiedenen Staatsmächte als vollständige Teile der Machtstruktur, indem sie dem selben Weg folgten, wie einer der bekanntesten unter ihnen, Francis Bacon, der kein Problem damit hatte, Leute wie Giordano Bruno, der „ketzerische“ Ideen ausdrückte, den Autoritäten der Kirche zu melden.

Aber die Skandale der Wissenschaft, wie die der Kirche, des Staates oder des Kapitals, sind nicht der Kern des Problems. Der Kern liegt in den ideologischen Grundlagen der Wissenschaft. Im Grunde relationale Weltanschauungen - wie die legalistische der antiken Griechen oder die veränderlicheren Anschauungen der Leute, die außerhalb der Zivilisation lebten - implizieren, dass ein Verständnis des Universums vom Versuch kommen würde, es als so ganzheitlich wie möglich zu sehen, um die Beziehungen zwischen Dingen zu beobachten, die Verbindungen und Interaktionen. Solch ein Standpunkt eignet sich gut für die, die kein Verlangen danach haben, das Universum zu beherrschen, sondern viel eher das Interagieren mit ihrer Umwelt bestimmen wollen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen und ihre Leben zu kreieren. Aber der kapitalistische Bedarf für industrielle Entwicklung bedurfte einer anderen Weltanschauung.

Wenn das Universum eine Maschine und nicht eine Wechselbeziehung zwischen einer Myriade an Wesen ist, dann erlangt man kein Verständnis von ihm durch bloße Beobachtung und direktes Experimentieren, sondern durch eine spezialisierte Form des Experimentierens. Man kann nicht verstehen, wie eine Maschine funktioniert, indem man bloß beobachtet, wie sie in ihrer Umgebung funktioniert. Man muss sie in ihre Teile zerlegen - in ihre Zahnräder, Reifen, Kabel, Hebel, etc. - um heraus zu finden, was jedes Teil macht. Deswegen ist ein grundlegender Aspekt der Methode der modernen Wissenschaft die Notwendigkeit, alles in seine Teile zu zerlegen, mit dem Ziel die wesentlichsten Elemente zu erreichen. In diesem Sinne kann man verstehen, warum Wissenschaftler denken, dass es durch das Aufschneiden eines Frosches im Labor möglich ist, mehr über das Leben zu lernen, als dadurch neben einem Teich zu sitzen und Frösche und Fische und Mücken und Seerosen tatsächlich zusammen lebend zu beobachten. Das Wissen, welchem die Wissenschaft nachgeht, ist quantitatives Wissen, mathematisches Wissen, utilitaristisches Wissen - ein Typ des Wissens, welches die Welt in die Maschine verwandelt, welche die Welt angeblich sein soll. Diese Sorte Wissen kann nicht aus der freien Beobachtung innerhalb der Welt gezogen werden. Sie benötigt die Sphäre des Labors, wo mit Teilen außerhalb des Kontextes des Ganzen und innerhalb des Rahmens der ideologischen Grundlagen der Mathematik und der mechanistischen Weltanschauung experimentiert werden kann. Nur Teile, die auf diese Art separiert wurden, können rekonstruiert werden, um die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die herrschen.

Natürlich sind die ersten Bestandteile, die von diesem mechanischen Ganzen getrennt werden müssen, die Wissenschaftler selbst. Der Faktor, der die Experimente mit Tieren, Kindern, nicht-zivilisierten Leuten und ungeübten Menschen innerhalb der modernen Welt unwissenschaftlich macht, ist unser Mangel an sogenannter Objektivität; wir sind zu involviert, noch in intimen Beziehungen mit dem, womit wir experimentieren. Der Wissenschaftler wurde andererseits dazu trainiert sich selbst außerhalb von dem zu setzen, womit er experimentiert, und dazu die kalte Rationalität der Mathematik zu benutzen. Aber diese Objektivität ist wahrlich nichts anderes als die Trennung zwischen einem König, einem Kaiser oder einem Diktator und den Leuten, die beherrscht werden. Der Wissenschaftler kann nicht aus der natürlichen Welt in irgendeinem buchstäblichen Sinne heraus steigen, was ihm erlauben würde sie von jenseits ihrer Grenzen zu betrachten (trotz all den praktischen Vorsätzen und Absichten hat dieses Universum keine Grenzen). Gleich einem Kaiser von der Anhöhe seines Thrones, verkündet der Wissenschaftler dem Universum vom Labor aus: „Du wirst dich meinen Befehlen unterwerfen.“ Die wissenschaftliche Weltanschauung kann tatsächlich nur in diesen Begriffen verstanden werden. Die Konzeption des Ursprungs des Universums, die von der modernen Wissenschaft vorgebracht wurde, war viel weniger beschreibend als eher vorschreibend - Erlasse, die verkünden, was die natürliche Welt zwangsweise werden muss zu: Mechanische Bestandteile mit regelmäßigen, voraussehbaren Bewegungen, die entsprechend der Vorstellungen der herrschenden Klasse, die die wissenschaftliche Untersuchung finanziert, funktionieren. Es sollte keine Überraschung sein, dass die Sprache der Wissenschaft die selbe ist, wie die Sprache der Ökonomie und Bürokratie, eine Sprache ohne Leidenschaft und irgendeiner konkreten Verbindung zum Leben - die Sprache der Mathematik. Welch bessere Sprache könnte man finden, um das Universum zu beherrschen - eine Sprache die zugleich vollkommen willkürlich als auch vollkommen rational ist?

Also entwickelte sich die moderne Wissenschaft mit einer spezifischen Absicht. Die Absicht war nicht das Streben nach Wahrheit oder sogar Wissen, außer im aller funktionalistischsten Sinne, sondern die Atomisierung und Rationalisierung der natürlichen Welt. So konnte diese in ihre Bestandteile zerlegt werden, welche dann in neue, standardisierte, abgemessene Beziehungen gezwungen werden konnten, welche nützlich für die Entwicklung von technologischen Systemen sind und welche wiederum mehr und mehr Komponenten für die Reproduktion dieser Systeme herausziehen könnten. Schließlich war es dies, was die Herrschenden wollten, und sie waren die Geldgeber (und somit finanzielle Gründer) der modernen Wissenschaft.

Mit der Mathematisierung aller Dinge verschwindet dasjenige, was in jeder Sache einzigartig ist, denn das, was einzigartig ist, liegt jenseits von Abstraktion und deswegen jenseits von Mathematik. Wenn das, was einzigartig in Wesen und Dingen ist, verschwindet, verschwindet ebenso die Grundlage für leidenschaftliche Beziehungen, Beziehungen des Verlangens. Denn, wie bemisst man schließlich Leidenschaft? Wie kalkuliert man Verlangen? Die Herrschaft des instrumentalen Verstandes hat wenig Platz für irgendeine Leidenschaft, außer der deformierten Gier, die danach strebt mehr und mehr der auf dem Markt verfügbaren standardisierten, warenförmigen Artikel und jenem Geld anzuhäufen, welches sie im striktesten mathematischen Sinn alle gleich macht.

Die verschiedenen Klassifikationssysteme der Wissenschaft:

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welche von Staatsbürokratien benutzten Systemen ähneln - spielten sicherlich eine bedeutende Rolle im Ausschließen des Einzigartigen aus dem Bereich der Wissenschaft. Aber die Wissenschaft benutzt eine andere heimtückischere und irreparablere Methode zur Zerstörung des Einzigartigen. Sie versucht alles in die kleinst möglichen Bestandteile aufzugliedern - erst die Elemente, die von jeder Einheit eines bestimmten Typs geteilt werden, dann jene, die von jeder existierenden Einheit geteilt werden

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denn Mathematik kann nur an homogenen Elementen angewandt werden, an Elementen, die äquivalent sein können. Wenn frühe Wissenschaftler eine Tendenz dazu hatten, regelmäßig mit toten Tieren als auch Menschen zu experimentieren, war dies so, da ein Hund, ein Affe oder ein Mensch sich im Tode sehr ähneln. Wenn sie mit aufgeschnittenen Körpern an ein Brett in einem Labor genagelt sind, sind dann nicht alle Frösche äquivalent geworden? Aber das zerlegt die Dinge noch nicht ausreichend. Gewiss erlaubten solche Experimente, entweder mit toten Organismen oder mit nicht-organischer Materie, der Wissenschaft die Welt in Bestandteile aufzugliedern, die sie passend zu ihrer gut abgemessenen, kalkulierten, mechanistischen Perspektive formen konnte, was ein notwendiger Schritt in der Entwicklung industrieller Technologie war. Aber Mathematik und die korrespondierende mechanistische Weltanschauung waren immer noch ziemlich offensichtlich Ideen, welche einer unwilligen und widerständigen Welt auferlegt wurden - besonders (oder vielleicht nur am bemerkbarsten) der menschlichen Welt, der Welt der Ausgebeuteten, die ihre Leben nicht von der industriell perfektionierten Uhr des Bosses in Arbeitsstunden ausmessen lassen wollten. Die Ausgebeuteten, die nicht jeden Tag mit der selben monotonen Arbeit verbringen wollten, die ebenso von hunderten - oder vielleicht tausenden - anderen im selben Gebäude ausgeführt wird, um mit dieser oder mit identischen Arbeiten das allgemeine Äquivalent zum Erkaufen des Überlebens zu verdienen.

Physik war immer schon an vorderster Front die Wissenschaft bei der Anstrengung die Mathematik zur inhärenten Grundlage der Realität zu machen. Wenn man dem Mythos Glauben schenken will, war es der Apfel, welcher Newton am Kopf traf, der ihn angeblich dazu führte mit Gleichungen anzukommen um mathematisch die Anziehungskraft und Abstoßungskraft von Objekten zu erklären. Aus irgendeinem Grund sollen wir ihn deshalb als ein Genie anstatt einem kleinkariert denkenden, kalkulierenden Geschäftsmann bzw. Wissenschaftler betrachten. (Er war Aktionär in der berühmten East India Company, welche die finanzielle Grundlage für sehr viele von Großbritanniens imperialistischen Unternehmungen bot, und zeitweise auch Kopf der Bank of England.) Aber Newtons Gesetz der Schwerkraft, Galileos Gesetz der Trägheit, die Gesetze der Thermodynamik etc. kommen als mathematische Konstrukte des menschlichen Geistes zum Ausdruck, die dem Universum auferlegt werden, so wie ihre technologischen Resultate - das industrielle System des Kapitalismus - eine Einführung dieser rationalisierten Weltanschauung in die täglichen Leben der ausgebeuteten Klassen war.

Daraus sollte klar werden, dass die wissenschaftliche Methode niemals die empirische Methode war. Die letztere basierte nur auf Erfahrung, Beobachtung und Experimenten innerhalb der Welt ohne mathematische oder andere vorgefertigte Konzepte. Die wissenschaftliche Methode beginnt andererseits bei der Notwendigkeit des Aufzwingens mathematischer, instrumenteller Rationalität auf das Universum. Um diese Aufgabe auszuführen, musste sie, wie gesagt, spezifische Komponenten von ihrer Umwelt trennen, sie in die Sterilität des Labors räumen und dort mit ihnen experimentieren, um herauszufinden, wie man sie in diese instrumentelle, mathematische Logik einfügt. Weit entfernt von einer sinnlichen Erkundung der Erde, die eine wirklich empirische Untersuchung bilden würde.

Die moderne Wissenschaft war nicht fähig, sich stetig fortzuentwickeln, weil sie den Weg zu wachsendem Wissen eröffnete, sondern weil sie erfolgreich darin war, die Aufgabe auszuführen, für die der Staat und die herrschende Klasse sie finanzierten. Die moderne Wissenschaft beabsichtigte nie, wirkliches Wissen über die Welt zu liefern - das hätte das Eintauchen in die Welt benötigt, nicht die Trennung von ihr - sondern eine bestimmte Perspektive auf das Universum aufzuzwingen, die es in eine für die herrschende Klasse nützliche Maschine verwandelt. Das industrielle System ist der Beweis des Erfolges der Wissenschaft im Ausführen dieser Aufgabe, aber nicht der Beweis der Wahrheit ihrer Weltanschauung. In diesem Sinne können wir die Fortschritte untersuchen, die die Neue Physik konstituieren - Relativitätsphysik, Atomphysik und Quantenphysik - denn es ist diese post-Newton‘sche Physik, die erfolgreich darin war, die mathematische Konzeption dem Universum zu solch einem Grad aufzuerlegen, dass die zwei als eines angesehen werden.

In Newton‘scher Physik ist das Universum eine materielle Realität, eine aus Teilen zusammengesetzte Maschine, deren Interaktionen mathematisch erklärt werden können (obwohl tatsächlich nichts wirklich erklärt wird). In der Neuen Physik ist das Universum ein mathematisches Konstrukt - Materie schlicht als Teil der Gleichung - zusammengestellt aus Informationsstücken. In anderen Worten hat die Neue Physik eine kybernetische Sicht auf das Universum.

Relativitätsphysik mathematisiert das Universum auf makrokosmischer Stufe. Ihren Theorien zur Folge ist das Universum ein „Raum-Zeit Kontinuum“. Aber was hat das zu bedeuten? Das Raum-Zeit Kontinuum ist tatsächlich eine rein mathematisches Konstrukt, das multi-dimensionale Diagramm einer komplexen Gleichung. Deswegen ist es absolut jenseits empirischer Beobachtung - merkwürdig, wie Cyberspace. Oder auch nicht so merkwürdig, wenn man ersteres als ein Modell für letzteres betrachtet. Wieder einmal tut es wenig zur Sache, ob dieses Bild des Universums wahr ist. Es funktioniert auf einer technologischen und ökonomischen Ebene und dies war immer schon die Wahrheit für die Wissenschaft.

Die höchste Realität - das „Raum-Zeit Kontinuum“ - diese Realität jenseits unserer Sinne, von der die Experten erzählen, sie sei realer als unsere tägliche Erfahrung (und wer zweifelt noch an ihnen in dieser entfremdeten Welt?) - ist aus Informationsteilen konstruiert, sogenannten Quanten. Das ist der Mikrokosmos der totalen Mathematisierung des Universums, das Reich der Quantenphysik. Quantenphysik ist besonders interessant in der Art, in der sie das Projekt der modernen Wissenschaft offenbart. Quantenphysik soll die Wissenschaft der subatomaren Partikel sein. Zu erst gab es nur drei: Das Proton, das Elektron und das Neutron. Diese erklärten atomares Gewicht, Elektrizität etc. und erlaubten die Entwicklung von Nukleartechnologie und moderner Elektrizität. Aber zu viele mathematische Diskrepanzen tauchten auf. Die Quantenphysik behandelte diese Diskrepanzen durch die Benutzung der gleich bleibenden wissenschaftlichen Methode; sie formulierte neue Gleichungen, um die Diskrepanzen weg zu kalkulieren und nannte die mathematischen Konstrukte neu entdeckte subatomare Partikel. Wiedereinmal gibt es nichts, das wir durch unsere Sinne beobachten können - nicht einmal mit der Hilfe von Werkzeugen wie Mikroskopen. Wir sind abhängig von den Behauptungen von Experten. Aber Experten in was? Zweifellos sind sie Experten im Konstruieren von Überbrückungsgleichungen, die die mathematische Konzeption des Universums aufrechterhalten, bis sich neue Diskrepanzen ergeben - und letztendlich in einer Art funktionieren, die dem Kapitalismus selbst ähnelt.

Relativitätsphysik und Quantenphysik werden oft als „reine Wissenschaft“ abgetan (als ob so etwas jemals existiert hätte), als theoretische Untersuchungen ohne instrumentelle Überlegungen. Ohne auch nur die Rolle zu betrachten, die diese Zweige der Wissenschaft im Entwickeln von Nuklearwaffen und -energie, Kybernetik, Elektronik und so weiter spielen, wird diese Behauptung auch von den ideologischen Interessen der Macht, der sie dienen, widerlegt. Gemeinsam stellen diese wissenschaftlichen Perspektiven eine Konzeption der Realität dar, die komplett außerhalb der Sphäre der empirischen Beobachtung liegt. Die letztliche Realität liegt vollkommen jenseits von dem, was wir spüren können, und existiert komplett innerhalb der Sphäre der komplexen mathematischen Gleichungen, die nur diejenigen mit Zeit und Bildung - also die Experten - fähig sind zu lernen und zu manipulieren. Deswegen befördert die Neue Physik - wie die alte, aber entschiedener - die Notwendigkeit des Expertenglaubens, der Akzeptanz ihres Wortes über unserer eigenen Wahrnehmung. Darüber hinaus fördert sie die Idee, dass die Realität aus Informationsteilen besteht, die mathematisch verbunden sind und willentlich von denen manipuliert werden können, die die Geheimnisse kennen, den Zauberern unserer Epoche, den Wissenschaftlern und Technikern.

Relativitäts- und Quantenphysik waren erfolgreich in dem, was jeder Zweig der Wissenschaft gerne tun würde; sie haben ihre Sphäre des Wissens vollkommen von dem Bereich der Sinne separiert. Wenn die Realität nur eine aus Informationsteilen zusammengestellte komplizierte Gleichung ist, dann sind Gedankenexperimente sicherlich mindestens so verlässlich wie Experimente an materiellen Objekten. Es sollte von nun an klar sein, dass dies von Beginn an ein Ideal der modernen Wissenschaft war. Die Trennung des Wissenschaftlers von der Sphäre des Alltags, das sterile Labor als Reich des Experimentierens, die unverhohlene Verachtung der frühen Wissenschaftler für alltägliche Erfahrung und das, was allein durch die Sinne gelernt wird, sind klare Anzeichen der Attitüde und Richtung der Wissenschaft. Für Bacon, für Newton, für die moderne Wissenschaft als Ganzes, sind die Sinne - wie die natürliche Welt von der sie Teil sind - Hindernisse, die im Streben nach Herrschaft über das Universum überwunden werden müssen. Bei der Interaktion mit der Welt auf sinnlicher Ebene ist es wahrscheinlich Leidenschaft zu erregen, aber der Verstand der Wissenschaft ist ein kalter, kalkulierender Verstand, nicht der leidenschaftliche Verstand des Verlangens. Also passt die von der Neuen Physik eröffnete Welt des nicht-materiellen Experimentierens gut in die Flugbahn der Wissenschaft.

Während manche versuchten, die Konzepte der Relativitätsund Quantenphysik als einen Bruch mit der von der Wissenschaft bis zu dieser Zeit hochgehaltenen mechanistischen Weltanschauung zu porträtieren, war diese sogenannte neue Anschauung der Welt als rein mathematisches Konstrukt, zusammengestellt aus Informationsteilen, tatsächlich haargenau das Ziel der Wissenschaft. Sie entwickelte ihre materielle Manifestation in kybernetischer Technologie. Die industrielle mechanistische Weltanschauung öffnete den Weg für die weitaus totalisierendere kybernetische mechanistische Weltanschauung, denn letztere dient den Absichten der Wissenschaft und ihren Meistern besser als erstere. Die Entwicklung kybernetischer Technologie und besonders von virtueller Realität öffnete die Tür für die Möglichkeit von nicht-materiellem Experimentieren für die Zweige der Wissenschaft, für welche dies davor unmöglich war, genauer den Bio- und Sozialwissenschaften. Diese Welt stellt nicht nur Mittel zum Speichern, Organisieren, Kategorisieren und Manipulieren von während dem Experimentieren und Untersuchen in der physischen Welt gesammelten Informationen zur Verfügung; sie liefert auch eine virtuelle Welt in der man mit virtuellen organischen Wesen und Systemen, mit virtuellen Gesellschaften und Kulturen experimentieren kann. Und wenn das Universum nichts anderes ist als austauschbare Informationsteile in mathematischer Beziehung zueinander, dann sind solche Experimente auf der selben Ebene wie die, die in der physischen Welt ausgeführt werden. Tatsächlich sind sie verlässlicher, da die Hindernisse der Sinne und die mögliche Entwicklung sympathischer Emotionen gegenüber jenen, mit denen der Wissenschaftler experimentiert, nicht ins Spiel kommen. Kein Grund sich über die Tatsache Sorgen zu machen, dass alles mathematisch Kalkulierbare und somit Programmierbare im virtuellen Reich passieren kann - das zeigt bloß die unendlichen technologischen Möglichkeiten, die durch die Manipulation von Informationsteilen gefunden werden können.

Es lohnt sich davon Notiz zu nehmen, dass die Entdeckung der DNA nur ein paar Jahre vor dem Beginn von dem geschah, was manche Informationszeitalter nannten. Natürlich existierten kybernetische und Informationstechnologien schon seit einiger Zeit, aber erst in den frühen 1970ern begannen diese Technologien in einem ausreichenden Maß in die allgemeine soziale Sphäre einzudringen, um sich darauf auswirken zu können, wie Leute die Welt sehen. Da wir dank den Anforderungen des industriellen Systems bereits von jeglicher tiefen, direkten Beziehung mit der natürlichen Welt weggerissen wurden, kommt das meiste unseres Wissens über die Welt indirekt zu uns. Es ist nicht wirkliches Wissen, sondern gläubig entgegengenommene Informationsfetzen. Es ist deswegen tatsächlich nicht so schwer Leute zu überzeugen, dass Wissen wirklich nichts anderes ist, als die Anhäufung dieser Fetzen und dass die Realität einfach eine komplexe mathematische Gleichung ist, die diese umfasst. Von dort aus ist es ein kurzer Weg zu der genetischen Perspektive, dass das Leben einfach eine Beziehung zwischen Teilen mit kodierten Informationen ist. DNA stellt die präzisen, austauschbaren Teile dar, welche die notwendige Basis dafür sind und ermöglicht so auch die Basis für die Digitalisierung des Lebens. Wie wir gesehen haben, war Wissenschaft noch nie einfach nur ein Versuch zu beschreiben, was existiert. Stattdessen strebt sie danach, die Realität zu dominieren und sie passend für die Ziele derjenigen zu machen, die die Macht inne haben. Deswegen hat die Digitalisierung des Lebens und des Universums die ausdrückliche Absicht, alles in austauschbare Teile zu zerlegen, welche von den in diesen komplexen Techniken Geübten manipuliert und verstellt werden können, um die spezifischen Bedürfnisse der herrschenden Ordnung zu erfüllen. In dieser Perspektive ist kein Platz für eine Konzeption der Individualität, die aus jemandes Körper und Geist, seinen Leidenschaften, Verlangen und Beziehungen im unnachahmlichen Tanz durch die Welt besteht. Stattdessen sind wir nichts anderes als eine Abfolge verstellbarer Bio-Teile. Diese Konzeption ist nicht ohne gesellschaftliche Grundlage. Kapitalistische Entwicklungen, besonders in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts, veränderten Bürger (bereits Teile im Apparat des Nationalstaats) in Produzenten-Konsumenten, austauschbar mit allen anderen im Sinne der Aufgabe innerhalb der sozialen Maschine. Als die Integrität des Individuums bereits zertrümmert war, war es kein großer Schritt, jedes Lebewesen in eine bloße Samenbank nützlicher genetischer Teile zu verwandeln - eine Ressource für die Entwicklung der Biotechnologie.

Nanotechnologie wendet dieselbe Digitalisierung auf unorganische Materie an. Chemie- und Atomphysiker lieferten die Konzeption von Materie, welche aus Molekülen konstruiert ist, welche dann aus Atomen konstruiert, welche wiederum aus subatomaren Partikeln konstruiert sind. Das Ziel der Nanotechnologie ist die Konstruktion mikroskopischer Maschinen auf molekularer Ebene, die perfekt programmiert werden, um sich selbst durch die Manipulation molekularer und atomarer Strukturen reproduzieren zu können. Wenn man die verarmte Konzeption vom Leben akzeptiert, die die genetische Wissenschaft und Biotechnologie bewerben, wären diese Maschinen wohl „lebendig“. Wenn man manche der Ziele untersucht, denen sich die Entwickler nähern wollen, scheint es, dass sie, wie zum Beispiel zusammengeklebte Gene, in der Umwelt ähnlich wie Viren funktionieren könnten. Auf der anderen Seite geben manche der Beschreibungen der selbst-reproduzierbaren Funktion, die in ihnen programmiert werden soll, einem die gruselige Idee von in der Luft befindlichen aktiven Krebszellen.

Sowohl die Biotechnologie als auch die Nanotechnologie erregen entsetzliche Vorstellungen: Große und kleine Monster, komische Krankheiten, totalitäre Genmanipulation, mikroskopische Überwachungsvorrichtungen in der Luft, intelligente Maschinen, die keinen Bedarf mehr an ihren menschlichen Angehörigen haben. Diese Technologien sind Reflexionen einer Anschauung, die die Welt ohne Wunder, Freude, Verlangen, Leidenschaft und Individualität sieht - eine Weltanschauung, die in eine kalkulierende Maschine verwandelt wurde - die Weltanschauung des Kapitalismus.

Die frühesten der modernen Wissenschaftler waren meist ergebene Christen. Ihr mechanisches Universum war eine Maschine, die von Gott mit einem von Gott bestimmten höheren Ziel hergestellt wurde. Dieses Konzept eines höheren Sinns ist aus den wissenschaftlichen Gedanken schon lange verschwunden. Das kybernetische Universum dient keinem anderen Ziel als der Aufrechterhaltung von sich selbst, um den Fluss an Informationen zu erhalten. Auf der sozialen Ebene, wo es unsere Leben betrifft, bedeutet dies, dass jedes Individuum nur ein Werkzeug für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen sozialen Ordnung ist und so angepasst werden kann, wie es nötig ist, um den Informationsfluss aufrechtzuerhalten, welcher der Ordnung erlaubt, sich selbst zu reproduzieren - Informationen die präziser Warenaustausch genannt werden.

Und hier wird die wirkliche Funktion der Wissenschaft entblößt. Wissenschaft ist der Versuch, ein System zu kreieren, dass sich selbst als abgeschlossene Berechnung aller Ressourcen des Universums präsentieren kann, um sie dem Kapital verfügbar zu machen. Deswegen muss sie das Universum in seine kleinsten Teile zerlegen, Teile, die einen ausreichenden Grad an Identität und Austauschbarkeit haben, um als allgemeine Äquivalente zu gelten. Deswegen muss die Wissenschaft das Universum zwingen, sich an ein mathematischen Konstrukt anzupassen. Deshalb ist ein kybernetisches Modell letztendlich am besten für das Funktionieren der Wissenschaft. Das wirkliche Ziel moderner Wissenschaft war von Beginn an, das Universum eine große kalkulierende Maschine werden zu lassen, die die Berechnung ihrer eigenen Ressourcen vorlegt. Also war die Funktion von Wissenschaft schon immer, der Ökonomie und ihrer Entwicklung zu dienen als auch nach den effizientesten Mitteln zu suchen, um dies zu tun. Aber die wissenschaftlichen Buchhalter mit ihren Kalkulationen, Graphen, Diagrammen und Rechnungsbüchern werden ständig mit einer widerspenstigen Realität konfrontiert, die aus Einheiten besteht, welche sich keinen Nummern oder Maßen anpassen, aus Individuen, die sich der Austauschbarkeit widersetzen, aus Phänomenen, die nicht wiederholt werden können - in anderen Worten, aus Sachen, die ununterbrochen die Berechnungen aus dem Gleichgewicht bringen. Wissenschaftler versuchen sich vielleicht in das Labor zurückzuziehen, in das Gedankenexperiment, in die virtuelle Realität, aber jenseits ihrer Tür, jenseits ihrer Gedanken, jenseits dem Bereich des Cyperspace wartet stetig die Unberechenbarkeit.

Also wird die Wissenschaft, ebenso wie die kapitalistische soziale Ordnung, welcher sie dient, ein System der lückenfüllenden Maßnahmen, der ständigen Anpassungen im Angesicht des Chaos, welches droht die Ökonomie zu zerstören. Die von der Wissenschaft erträumte Welt - diejenige, von der sie behauptet real zu sein, indem sie versucht, sie durch die entsetzlichste technologische Sklaverei und Folter zu kreieren - ist eine ökonomisierte Welt, und so eine Welt ist eine Welt bar von Wundern, Freude und Leidenschaft, von allem, was nicht messbar ist, von allem, das keine Berechnung von sich selbst abgeben wird.

Deswegen ist der Kampf gegen den Kapitalismus der Kampf gegen die moderne Wissenschaft, der Kampf gegen ein System, welches anstrebt, die Welt bloß durch messbare Ressourcen mit einem Preis zu kennen, als austauschbare Teile mit wirtschaftlichem Wert. Für diejenigen von uns, die danach suchen, die Welt leidenschaftlich zu erfahren, die sie mit Freude und einem Sinn für Wunder kennenlernen wollen, sind verschiedene Wege des Wissen essentiell, Wege die nicht auf Beherrschung abzielen, sondern auf Vergnügen und Abenteuer. Dass es möglich ist, das Universum auf anderen Wegen als denen der modernen Wissenschaft zu studieren und zu erkunden, wurde von dem Denken bestimmter Naturphilosophen des antiken Griechenlands gezeigt, von den polynesischen Navigatoren und ihrem Wissen über das Meer, den Liedzeilen australischer Aborigines und am besten von den Erklärungen bestimmter Alchemisten und Ketzer wie Gior- dano Bruno. Aber ich bin nicht an Modellen interessiert, sondern an dem Eröffnen von Möglichkeiten, dem Eröffnen von Beziehungen mit der uns umgebenden Welt, die maßlos sind - und die Geschichte ist nie ein Eröffnen, sondern höchsten der Beweis, dass das, was existiert, nicht unvermeidlich ist. Eine bewusste Rebellion der Maßlosen könnte eine Welt an Möglichkeiten eröffnen. Ein Risiko, das es wert ist, einzugehen.


Entnommen aus: "Die Smartifizierung der Macht, Beiträge zu einer Offensive gegen das technologische Netz"; Edition Irreversibel; Frühjahr 2018; S.241-256.
Original in: Anarchy – A Journal of desire armed, Nr. 63, 2001, Übersetzung aus dem Englischen.