Titel: Das Netzwerk der Herrschaft
Datum: 2005
Bemerkungen: Original auf Englisch, Originaltitel: "The Network of Domination", 2005.
Ins deutsche übersetzt durch die eule (dieeule a-im-kreis riseup punkt net).

Einführung

Die folgende Abhandlung untersucht einige der zahlreichen Institutionen, Strukturen, Systeme und Beziehungen der Herrschaft und Ausbeutung, welche unsere gegenwärtige Existenz bestimmen. Diese Aufsätze beabsichtigen weder, umfassende oder letzte Antworten zu geben, sondern vielmehr Teil einer Diskussion zu sein, von welcher ich hoffe, dass sie in anarchistischen Kreisen auf die Entwicklung einer spezifisch anarchistischen, theoretischen Erforschung unserer Realität zielt. Ein grosser Teil der gegenwärtigen Analysen anarchistischer Kreise ist von marxistischen und postmodernen Kategorien und Konzepten abhängig. Diese mögen nützlich sein, sie jedoch a priori zu akzeptieren, ohne die soziale Realität in Beziehung zu unseren spezifisch anarchistischen, revolutionären Projekten zu erforschen, zeigt intellektuelle Faulheit. So hoffe ich, dass wir damit beginnen können, die Welt in Beziehung zu unseren eigenen Projekten, Träumen und Wünschen zu diskutieren, dabei sicherlich alle Analysen verwendend, die uns nützlich erscheinen, um damit unser eigenes theoretisches und praktisches, revolutionäres Projekt zu erschaffen.

Die Macht des Staates

Es ist heutzutage, selbst in anarchistischen Kreisen, nichts Ungewöhnliches, den Staat als reinen Diener von Multinationalen, dem IWF, der Weltbank und anderen internationalen wirtschaftlichen Institutionen zu beschreiben. Dieser Perspektive folgend ist der Staat nicht im Besitze der Macht, sondern vielmehr der Koordinator der Institutionen der sozialen Kontrolle, durch welche Firmenmächte ihre Macht aufrechterhalten. Hiervon ausgehend ist es möglich, zur Entwicklung eines revolutionären, anarchistischen Projekts ziemlich nachteilig stehende Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn der Staat eine hauptsächlich politische Struktur zur Aufrechterhaltung der Stabilität wäre, die dann ihrerseits vielmehr im Dienste der grossen wirtschaftlichen Mächte stehen würde als eine Macht in eigenem Recht und mit eigenen durch Herrschaft und Repression aufrecht erhaltenen Interessen zu sein, dann könnte er in Form einer institutionellen Opposition zur Macht der Multinationalen demokratisch reformiert werden. Es würde bloss eine Sache des „Volkes“ sein, eine Gegenmacht zu werden und die Kontrolle über den Staat zu übernehmen. Eine solche Idee scheint der absurden Vorstellung gewisser zeitgenössischer Antikapitalisten zugrunde zu liegen, dass wir die Interessen von Nationalstaaten gegen die internationalen ökonomischen Institutionen unterstützen sollten. Ein klareres Verständnis des Staates ist nötig, um diesem Trend entgegen zu wirken.

Der Staat könnte nicht existieren, wenn uns unsere Fähigkeit, die Bedingungen unserer Existenz als Individuen in freien Gemeinschaften untereinander zu bestimmen, nicht weggenommen worden wäre. Diese Enteignung ist die fundamentale soziale Entfremdung, welche die Basis für jegliche Herrschaft und Ausbeutung darstellt. Diese Entfremdung kann richtigerweise mit dem Anstieg von Eigentum (ich sage Eigentum als solches und nicht nur Privateigentum, weil schon sehr früh ein grosser Teil des Eigentums institutionell war – in Staatsbesitz) festgestellt werden. Eigentum kann als der exklusive Anspruch gewisser Individuen und Institutionen an Hilfsmitteln, Räumen und Materialien, die existenziell notwendig sind, definiert werden, womit sie für andere unzugänglich werden. Dieser Anspruch wird durch explizite oder implizite Gewalt durchgesetzt. Nicht länger frei, zu nehmen was immer nötig ist um das eigene Leben zu leben, sind die Enteigneten dazu gezwungen, sich den Bedingungen der selbst-bestimmten Besitzern von Eigentum anzupassen um ihre Existenz aufrecht zu erhalten, welche somit eine Existenz in Knechtschaft darstellt. Der Staat ist die Institutionalisierung dieses Prozesses, welcher die Entfremdung der Fähigkeit von Individuen, die Bedingungen ihrer eigenen Existenz zu bestimmen, zur Anhäufung von Macht in den Händen von wenigen verwandelt.

Der Versuch zu bestimmen, ob die Anhäufung von Macht oder die Anhäufung von Wohlstand den Vorrang hatte, als der Staat entstand, ist nichtig und unnötig. Jetzt sind sie sicherlich beide gründlich integriert. Es scheint nicht wahrscheinlich, dass der Staat die erste Institution war, die Eigentum angehäuft hat um unter seiner Kontrolle Überschüsse zu erschaffen, Überschusse, die ihm wirkliche Macht über die sozialen Bedingungen geben, unter denen seine Subjekte existieren mussten. Diese Überschusse erlaubten es ihm, verschiedene Institutionen zu entwickeln, die seine Macht verstärkten: militärische Institutionen, religiöse/ideologische Institutionen, bürokratische Institutionen, polizeiliche Institutionen und so weiter. Somit kann der Staat von seinen Ursprüngen her, als Kapitalist in eigenem Recht gesehen werden, mit eigenen spezifischen wirtschaftlichen Interessen, die präzise dazu dienen, seine Macht über die Bedingungen der sozialen Existenz zu garantieren.

Wie jeder Kapitalist versieht der Staat einen spezifischen Dienst mit einem Preis. Oder genauer, der Staat erbringt zwei wesentlich verbundene Dienste: den Schutz von Eigentum und den sozialen Frieden. Er bietet den Schutz von Privateigentum durch ein System von Gesetzen, welche dieses definieren und limitieren, und durch Waffengewalt werden diese Gesetze durchgesetzt. Eigentlich kann gesagt werden, dass Privateigentum nur dann wirklich existieren kann, wenn staatliche Einrichtungen vorhanden sind, um es vor denen zu beschützen, die sich einfach nehmen, was sie wollen – ohne diesen institutionellen Schutz gibt es einen klaren Konflikt von individuellen Interessen. Das ist der Grund, warum Stirner Privateigentum als eine Form von sozialem oder staatlichem Eigentum beschrieben hat, das von einzelnen jedoch verachtet wird. Der Staat besorgt auch den Schutz der „Gewöhnlichen“ vor externen Dieben und vor seitens des Staates als Missbrauch bestimmtes Verhalten durch Gesetz und Waffengewalt. Als einziger Beschützer jeglichen Eigentums innerhalb seiner Grenzen – eine Rolle, welche durch das staatliche Gewaltmonopol aufrechterhalten wird - , etabliert er eine konkrete Kontrolle über all dieses Eigentum (natürlich auf seine reellen Möglichkeiten bezogen, diese Kontrolle auszuüben). Daher besteht der Preis für diesen Schutz nicht nur aus Steuern und verschieden Formen obligatorischer Dienste, sondern auch aus der Übereinstimmung der Rollen, die notwendig ist für den sozialen Apparat, der den Staat aufrechterhält und die Akzeptanz von, im besten Falle, einer Beziehung von Vasallentum zum Staat, welcher jegliches Eigentum oder jeden öffentlichen Raum „in öffentlichem Interesse“ jederzeit beanspruchen kann. Die Existenz von Eigentum verlangt den Schutz des Staates, und die Existenz des Staates erhält Eigentum, aber letztlich immer als Staatseigentum, egal wie „privat“ es angeblich ist.

Der Staat beschützt das Eigentum durch die dem Gesetz innewohnende, implizite Gewalt und durch die explizite Gewalt von Militär und Polizei, und dies sind dieselben Mittel, wodurch er den sozialen Frieden aufrecht erhält. Die Gewalt, wodurch die Menschen ihrer Möglichkeiten, das Leben nach eigenen Bedingungen zu gestalten, enteignet werden, ist nichts geringeres als ein sozialer Krieg, welcher sich durch die soziale Ordnung täglich manifestiert, und zwar in einem meist schrittweise (aber manchmal auch so schnell wie eine Polizeikugel) vor sich gehenden Gemetzel derjenigen, die ausgebeutet, ausgeschlossen und marginalisiert werden. Wenn angegriffene Menschen beginnen, ihren Feind zu erkennen, reagieren sie häufig mit einem Gegenangriff. Die staatliche Aufgabe, den sozialen Frieden zu gewährleisten, ist also ein Akt des sozialen Krieges der Regierenden gegen die Regierten – die Unterdrückung und Vorbeugung von jeglichen solchen Gegenangriffen. Die Gewalt der Regierenden gegen die Regierten ist sozialem Frieden innewohnend. Aber ein sozialer Friede, welcher einzig auf brutaler Gewalt gründet, ist immer unsicher. Für den Staat ist es notwendig, den Menschen die Idee in den Kopf zu setzen, dass sie in der fortwährenden Existenz des Staates und in der sozialen Ordnung, die er gewährleistet, Anteil haben. Dies mag wie im alten Ägypten geschehen, wo religiöse Propaganda den Gottesstatus des Pharaos gewährleistete, um die Erpressung zu rechtfertigen, dass er vom ganzen überschüssigen Getreide Besitz ergreifen konnte und damit die Population in Zeiten des Hungers absolut von seinem guten Willen abhängig machte. Oder es mag in der Form von staatlichen Institutionen für demokratische Teilnahme stattfinden, welche eine feinere Form der Erpressung darstellt, wodurch wir verpflichtet sind teilzunehmen, wenn wir uns beklagen wollen, wo wir aber auch verpflichtet sind, den „Willen des Volkes“ zu akzeptieren. Hinter all diesen Formen der Erpressung - ob fein oder offensichtlich – stehen aber trotzdem immer Waffen, Gefängnisse, Soldaten und Polizisten, und dies ist die Essenz des Staates und des sozialen Friedens. Der Rest ist bloss Furnier.

Obwohl der Staat als Kapitalist betrachtet werden kann (in dem Sinne, dass er Macht in einem dialektischen Prozess durch die Anhäufung von überschüssigem Wohlstand vergrössert), ist der Kapitalismus, wie wir ihn mit seinen „privaten“ wirtschaftlichen Situationen kennen, eine relativ neue Entwicklung, die mit dem Beginn der modernen Ära verbunden werden kann. Diese Entwicklung hat sicherlich einige bedeutende Veränderungen in den Dynamiken der Macht produziert, seit ein bedeutender Teil der regierenden Klasse jetzt nicht mehr direkter Teil des Staatsapparates sind (abgesehen davon, dass sie BürgerInnen sind wie all diejenigen, die sie ausbeuten). Aber diese Veränderungen bedeuten nicht, dass der Staat von den zahlreichen globalen wirtschaftlichen Einrichtungen unterworfen, oder dass er für das Funktionieren der Macht zweitrangig wurde.

Wenn der Staat selbst ein Kapitalist ist, mit seinen eigenen ökonomischen Interessen, welche es zu verfolgen und aufrecht zu erhalten gilt, dann besteht der Grund für eine funktionierende Gewährleistung des Kapitalismus nicht darin, dass er den anderen kapitalistischen Institutionen untergeordnet ist, sondern er muss seine wirtschaftliche Stärke gegenüber anderen Kapitalisten aufrecht erhalten, um die eigene Macht zu gewährleisten. Vor allem schwächere Staaten enden damit, den globalen Interessen untergeordnet zu werden, und dies aus dem selben Grund wie mit kleineren Firmen dasselbe passiert, weil sie nicht die Stärke besitzen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Die grossen Staaten spielen eine mindestens so bedeutende Rolle in der Bestimmung der globalen wirtschaftlichen Politik wie die grossen Unternehmen. Es sind also eigentlich die Waffen des Staates, welche diese Politik erzwingen.

Die Macht des Staates liegt in seinen legalen und institutionellen Monopolen auf Gewalt. Dies gibt dem Staat eine sehr konkrete materielle Macht, wovon die globalen wirtschaftlichen Institutionen abhängig sind. Institutionen wie die Weltbank und der IWF beherbergen nicht nur Abgeordnete von allen bedeutenden Staatsmächten in allen entscheidungstragenden Prozessen; sie sind ebenfalls von der militärischen Macht der mächtigsten Staaten abhängig, um ihre Politik aufzubürden - die Bedrohung von physischer Gewalt muss immer hinter wirtschaftlicher Erpressung stehen, wenn sie denn funktionieren soll. Mit der realen Macht der Gewalt in ihren Händen werden die grossen Staaten kaum als Diener der globalen wirtschaftlichen Institutionen funktionieren. Eher ist ihre Beziehung in reiner kapitalistischer Manier eine von gegenseitiger Erpressung, welche zum Wohle der ganzen regierenden Klasse akzeptiert wird.

Zusätzlich zu seinem Gewaltmonopol kontrolliert der Staat viele der Netzwerke und Institutionen, welche für das Geschäft und die Produktion notwendig sind. Autobahn- und Eisenbahn-Systeme, Häfen, Flugplätze, Satelliten- und Glasfaser-Systeme, die für Kommunikations- und Informations-Netzwerke notwendig sind, sind allgemein staatlich betrieben und stets Subjekt staatlicher Kontrolle. Wissenschaftliche und technologische Forschung, die für neue Entwicklungen in der Produktion notwendig sind, sind äusserst abhängig von den Erleichterungen staatlich geführter Universitäten und des Militärs.

Folglich ist die Macht von Unternehmen abhängig von staatlicher Macht, um sich selbst zu erhalten. Es ist nicht eine Frage, ob mensch sich der einen zur anderen Art Macht unterordnet, aber die Entwicklung eines wesentlichen Machtsystems, das sich selbst als eine zwei-köpfige Hydra des Kapitals und des Staates manifestiert, nämlich einem System, das als Ganzes funktioniert, um Herrschaft, Ausbeutung und die Bedingungen, die die herrschende Klasse uns zur Aufrechterhaltung unserer Existenz aufzwingt, zu gewährleisten. In diesem Kontext werden Institutionen wie der IWF und die Weltbank am besten als die Mittel verstanden, wodurch die verschiedenen staatlichen und privaten Mächte ihre Aktivitäten koordinieren, um die Einheit der Herrschaft über die ausgebeuteten Klassen inmitten des Wettbewerbs wirtschaftlicher und politischer Interessen zu gewährleisten. Also dient der Staat nicht diesen Institutionen, sondern vielmehr dienen diese Institutionen den mächtigsten Staaten und KapitalistInnen.

Für diejenigen unter uns, die die Zerstörung der sozialen Ordnung suchen, ist es also nicht möglich, den Nationalstaat gegen die KapitalistInnen auszuspielen und dabei irgendetwas zu erreichen. Ihr grösstes Interesse ist dasselbe, nämlich die gegenwärtige Ordnung der Dinge aufrecht zu erhalten. Für uns ist es notwendig, den Staat und den Kapitalismus mit all unserer Macht anzugreifen, sie als die zwei-köpfige Hydra der Herrschaft und Unterdrückung zu erkennen, die wir zerstören müssen, wenn wir die Möglichkeit, unsere Lebensbedingungen selbst zu gestalten, jemals zurückgewinnen wollen.

Der Preis des Überlebens

Alles hat seinen Preis, und die Messung seines Wertes ist eine in Anbetracht von etwas allgemein Gleichwertigem bestimmte Menge. Nichts hat in sich einen Wert. Jeglicher Wert ist in Beziehung zum Markt bestimmt – und der beinhaltet den Wert unseres Lebens, unseren Wert. Unser Leben wurde in Einheiten von gemessener Zeit getrennt, in denen wir gezwungen sind zu verkaufen, um danach unser Überleben in der Form von Stücken gestohlener Leben anderer zurückzukaufen, welche die Produktion in zu verkaufende Ware verwandelt hat. Dies ist wirtschaftliche Realität.

Diese unglaubliche Entfremdung hat seine Basis in der Verflechtung der drei grundsätzlichsten Einrichtungen dieser Gesellschaft: Eigentum, Warenaustausch und Arbeit. Die diesen dreien innewohnende Beziehung bildet das System, womit die herrschende Klasse den Wohlstand, der für die Aufrechterhaltung der Macht notwendig ist, produziert. Ich spreche hier von der Wirtschaft.

Die soziale Ordnung der Herrschaft und Ausbeutung hat ihren Ursprung in einer grundsätzlichen, sozialen Entfremdung – der Ursprung mag Spekulationen provozieren, aber seine Beschaffenheit ist ziemlich klar. Die gewaltige Mehrheit der Menschen wurden ihrer Fähigkeit beraubt, ihre eigenen Lebensbedingungen zu bestimmen, ihr Leben und ihre Beziehungen nach eigenen Wünschen auszurichten, und dies damit die Wenigen an der Spitze Macht und Wohlstand anhäufen können und die Gesamtheit der sozialen Existenz zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können. Um dies zu garantieren, müssen die Menschen ihrer Mittel beraubt werden, derer sie zum Stillen ihrer Bedürfnisse und Wünsche, ihrer Träume und ihres Strebens bedürfen. Dies konnte nur durch die Schliessung gewisser Gebiete und mit der Anhäufung gewisser Dinge erreicht werden, so dass diese nicht mehr für alle zugänglich waren. Aber solche Schliessungen und Anhäufungen würden sinnlos sein, wenn niemand die Mittel hätte, sie vor Raub zu schützen – eine Macht, die andere davon abhält, sich etwas nehmen zu wollen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Es ist folglich diese Form der Anhäufung, die es notwendig macht, einen Apparat zu dessen Schutz zu erschaffen. Einmal etabliert, lässt dieses System die Mehrheit in einer Position der Abhängigkeit der Wenigen, die diese Aneignung von Wohlstand und Macht durchgeführt haben. Um zu diesem angehäuften Wohlstand Zugang zu erhalten, sind die meisten gezwungen, einen Grossteil der von ihnen produzierten Güter dafür auszutauschen. Also muss ein Teil der Aktivität, die sie ursprünglich für sich selbst ausgeführt haben, nun für ihre HerrscherInnen tun, und dies lediglich, um ihr Überleben abzusichern. Wenn die Macht der Wenigen wächst, erhalten sie die Kontrolle über mehr und mehr Ressourcen und Arbeitsprodukte, bis die Aktivität der Ausgebeuteten schliesslich nichts weiter darstellt, als Güter zu produzieren, die im Gegenzug mit ihrem Lohn wieder zurückgekauft werden. Selbstverständlich ist die Entwicklung dieses Prozesses teilweise langsam, weil sie bei jedem Schritt mit Widerstand konfrontiert wird. Es existieren noch immer Teile der Erde und des Lebens, die noch nicht durch Staat und Wirtschaft erschlossen worden sind, aber der Grossteil unserer Existenz wurde mit einem Preis-Stempel versehen, und sein Preis ist in zehn tausend Jahren geometrisch gestiegen.

So sind also der Staat und die Wirtschaft als Aspekte der oben beschriebenen Entfremdung gemeinsam entstanden. Sie bilden ein zwei-köpfiges Monster, welches uns eine verarmte Existenz aufzwingt, in der unser Leben in einen Kampf ums Überleben verwandelt wird. Dies ist in den wohlhabenden Staaten ebenso wahr wie in denjenigen, welche durch die kapitalistische Enteignung verarmten. Was das Leben als reines Überleben definiert, ist weder die Teuerung der zu einem bestimmten Preis erhältlichen Güter noch das Fehlen der Mittel, um diese zu kaufen. Vielmehr ist es, dass wir dazu gezwungen werden, unser Leben zu verkaufen, unsere Energie in ein Projekt zu stecken, das wir nicht selbst gewählt haben, das aber denjenigen nützt, die uns sagen, was wir zu tun haben, und zwar für eine magere Kompensation, die uns erlaubt, einige wenige Notwendigkeiten und Freuden zu kaufen – dies meint vielmehr Überleben, egal wie viele Dinge mensch zu kaufen in der Lage sein mag. Das Leben ist nicht eine Anhäufung von Dingen, es ist eine qualitative Beziehung zur Welt.

Dieses erzwungene Verkaufen des eigenen Lebens, diese Lohn-Sklaverei, reduziert das Leben zu einer Ware, zu einer Existenz, welche in messbare Teile geteilt wurde, die für so viel pro Teil verkauft werden. Natürlich nicht der/die ArbeiterIn selbst, welcheR dazu erpresst wird, sein/ihr Leben zu verkaufen – auf diesem Wege würde sein/ihr Leben niemals ausreichen. Wie kann es sein, dass dasjenige, was wirklich verloren wurde, nicht so sehr die zugewiesenen Zeiteinheiten sind, sondern die Lebensqualität selbst? In einer Welt, wo das Leben gekauft und verkauft wird, um es gegen das Überleben auszutauschen, wo die Lebewesen und Dinge, die die natürliche Welt ausmachen, als blosse Verkaufsgüter angesehen werden, um in der Produktion anderer Verkaufsgüter ausgebeutet zu werden, da verkommt der Wert der Dinge und der Wert des Lebens zu einer Nummer, einem Mass, und dieses Mass ist immer in Dollars oder Pesos oder Euro oder Yen definiert – das heisst in Geld. Aber kein Geldbetrag und keine Menge an Gütern, die mit Geld gekauft werden kann, kann die Leere einer solchen Existenz kompensieren, weil diese Art der Wertgebung nur durch den Entzug der Qualität, der Energie und des Wunders vom Leben existieren kann.

Der Kampf gegen die Herrschaft der Wirtschaft – die mit dem Kampf gegen den Staat Hand in Hand gehen muss – muss mit der Verweigerung dieser Quantifizierung der Existenz einhergehen, die nur dann vorkommen kann, wenn uns unser Leben gestohlen wurde. Es ist ein Kampf für die Zerstörung der Institutionen der Armut, des Warenaustausches und der Arbeit – nicht, um die Menschen von neuen Institutionen abhängig zu machen, in der die Regel des Überlebens ein milderes Gesicht trägt, aber damit wir alle unser Leben wieder als unser eigenes aneignen können und unsere Bedürfnisse, Wünsche, Träume und unser Streben in all ihrer unmessbaren Einzigartigkeit verfolgen können.

Von Proletarisch zu Iindividuell: Für ein anarchistisches Verständnis des Begriffes der Klasse

Die sozialen Beziehungen von Klasse und Ausbeutung sind nicht einfach. Die Vorstellungen der ArbeiterInnen, die auf der Idee einer objektiv revolutionären Klasse gründen, die in Anbetracht ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln definiert ist, ignorieren die Masse derjenigen, deren Leben durch die gegenwärtige soziale Ordnung auf der ganzen Welt gestohlen wurden, die aber in ihrem Produktionsapparat keinen Platz finden können. Diese Vorstellungen enden also mit der Präsentation eines beschränkten und vereinfachenden Verständnisses von Ausbeutung und revolutionärer Veränderung. Um einen revolutionären Kampf gegen die Ausbeutung zu führen, müssen wir ein solches Klassen-Verständnis entwickeln, wie sie momentan in der Welt auch existiert, und dies ohne irgendwelche Bürgschaften zu suchen.

Ganz grundsätzlich besteht die Klassengesellschaft aus denjenigen, die herrschen und denjenigen, die beherrscht werden, denjenigen die ausbeuten, und denjenigen die ausgebeutet werden. Eine derartige Gesellschaft kann nur entstehen, wenn die Menschen ihre Fähigkeit, ihre Lebensbedingungen selbst zu bestimmen, verloren haben. Die essentielle Eigenschaft, die die Ausgebeuteten miteinander teilen, ist also ihre Enteignung, ihre mangelnde Fähigkeit, die grundsätzlichen Entscheidungen über ihr Leben zu fällen und auszuführen.

Die herrschende Klasse ist in Beziehung zu ihrem eigenen Projekt der Anhäufung von Macht und Wohlstand definiert. Während innerhalb der herrschenden Klasse bezüglich spezifischen Interessen und dem realen Wettkampf um die Kontrolle der Ressourcen und Gebiete sicherlich bedeutende Konflikte herrschen, versieht das allumfassende Projekt, welches auf die Kontrolle des sozialen Wohlstandes und der Macht, und somit des Lebens und der Beziehungen eines jeden Lebewesens, diese Klasse mit einer vereinend positiven Aufgabe.

Die ausgebeutete Klasse hat keine solche positive Aufgabe, um sich zu definieren. Vielmehr wird sie dadurch definiert, was ihr angetan, was ihr weggenommen wird. Von den Lebensarten, die die Menschen dieser Klasse kannten und mit den ihnen Nahestehenden erschufen, entwurzelt, wird die einzige Gemeinschaft, welche den Menschen dieser heterogenen Klasse bleibt, von Kapital und Staat gegeben ? die von Arbeit und Warenaustausch bestimmte Gemeinschaft, nach belieben mit nationalistischen, religiösen, ethnischen, rassischen oder subkulturellen ideologischen Konstrukten geschmückt, womit die herrschende Klasse Identitäten kreiert, wodurch Individualität und Revolte kanalisiert werden. Das Konzept einer positiven proletarischen Identität hat in der Wirklichkeit keine Basis, weil die jemanden als ProletarierIn definierende Identität genau die Tatsache ist, dass ihnen ihr Leben gestohlen wurde und sie zu einem Pfand in den Projekten ihrer HerrscherInnen gemacht worden sind.

Die Vorstellung der ArbeiterInnen eines proletarischen Projektes hat seine Ursprünge in den revolutionären Theorien Europas und der Vereinigten Staaten (hauptsächlich gewisse marxistische und syndikalistische Theorien). Im späten 19. Jahrhundert waren beide, das westliche Europa und der Osten der Vereinigten Staaten, auf dem besten Wege, vollkommen industrialisiert zu werden, und die dominante Ideologie des Fortschritts stellte die technologische Entwicklung mit sozialer Befreiung gleich. Diese Ideologie manifestierte sich in der revolutionären Theorie als die Idee, dass die industrielle ArbeiterInnenklasse offensichtlich revolutionär war, weil sie in der Position stand, die unter dem Kapitalismus entwickelten Produktionsgüter (die als Produkte des Fortschritts Inbegriffen der Freiheit gleichkamen) zu übernehmen und sie in den Dienst der menschlichen Gemeinschaft zu setzen. Den grössten Teil der Welt ignorierend (zusammen mit einem bedeutenden Teil der Ausgebeuteten der industrialisierten Gebiete), waren die revolutionären TheoretikerInnen nun in der Lage, ein positives Projekt für das Proletariat zu erschaffen, eine offensichtlich historische Mission. Die Tatsache, dass sie auf der bourgeoisen Ideologie des Fortschritts basierte, wurde ignoriert. Meiner Meinung nach hatten die LuddistInnen eine viel klarere Perspektive, indem sie den Industrialismus als ein weiteres Werkzeug der/des MeisterIn zu ihrer Enteignung erkannten. Mit guten Gründen attackierten sie die Maschinen der Massenproduktion.

Der Prozess der Enteignung wurde im Westen unterdessen schon lange vollendet (obwohl es natürlich ein Prozess ist, der sogar hier immer weiter vor sich geht), aber in grossen Teilen der südlichen Welt steckt er noch immer in seinen frühen Stadien. Seit der Prozess im Westen gestartet ist, gingen im Funktionieren des Produktionsapparates einige wesentliche Wechsel vor sich. Fabrikstellen für Fachkräfte sind grösstenteils verschwunden, und was von einem/einer ArbeiterIn benötigt wird ist Flexibilität, die Fähigkeit sich anzupassen ? mit anderen Worten die Fähigkeit, ein austauschbares Zahnrad in der Maschine des Kapitals zu sein. Zusätzlich tendieren Fabriken dazu, im Produktionsprozess viel weniger ArbeiterInnen zu benötigen, weil einerseits die Entwicklungen in der Technologie und den Management-Techniken einen stärker dezentralisierten Produktionsprozess ermöglicht haben und andererseits, weil die mehr und mehr gefragte Fabrik-Arbeit bloss aus der Betreuung von Maschinen besteht.

Auf einem praktischen Level bedeutet dies, dass wir als Individuen im Produktionsprozess alle verbrauchbar, weil auch ersetzbar, sind ? dieser liebenswürdige kapitalistische Egalitarismus, in welchem wir alle gleich Null sind! In der Ersten Welt hat dies den Effekt, dass eine stets wachsende Zahl von Ausgebeuteten zu stets unsicherer werdenden Positionen gedrängt wird: Tagesarbeit, Temporär-Arbeit, Stellen im Dienst-Sektor, chronische Arbeitslosigkeit, Schwarzmarkt und weitere Formen der Illegalität, Obdachlosigkeit und Gefängnis. Die gleichmässige Arbeit mit ihrer Garantie eines irgendwie stabilen Lebens ? selbst wenn das eigene Leben nicht einem selbst gehört ? macht den Weg frei für einen Mangel an Garantien, wo die durch einen gemässigten, komfortablen Konsum besorgten Illusionen nicht mehr länger verbergen können, dass ein Leben unter dem Kapitalismus immer am Rande der Katastrophe verbracht wird.

In der Dritten Welt, wo die Menschen ihr ? wenn auch manchmal schwieriges ? Leben selbst in der Hand hatten, finden sie ihr Land und die anderen Mittel, derer sie bedürfen, unter den Füssen weggerissen, wenn die Maschinen des Kapitals im wahrsten Sinne des Wortes in ihr Zuhause eindringen und ihnen jegliche Möglichkeit, weiter direkt von den eigenen Aktivitäten zu leben, wegfressen. Von ihrem Leben und Land weggerissen, sind sie gezwungen, in die Städte zu ziehen, wo nur wenig Arbeit auf sie wartet. Shantytowns entstehen rings um die Städte, oftmals mit einer grösseren Bevölkerung als der eigentlichen Stadt. Ohne jegliche Möglichkeit einer geregelten Arbeit, sind die BewohnerInnen dieser Shantytowns zur Bildung einer Schwarzmarkt-Wirtschaft gezwungen, um zu überleben, doch dies dient noch immer den Interessen des Kapitals. Andere entscheiden sich in ihrer Verzweiflung zur Auswanderung und riskieren die Gefangenschaft in Flüchtlingslagern und Zentren für Fremde ohne Ausweis in der Hoffnung, ihre Situation zu verbessern.

Somit sind Unsicherheit und Verausgabung mit der Enteignung zusammen die in zunehmendem Masse geteilten Merkmale derjenigen, die weltweit die ausgebeutete Klasse ausmachen. Wenn dies einerseits bedeutet, dass diese Waren-Zivilisation in ihrer Mitte eine Klasse von Barbaren kreiert, die wirklich nichts dabei zu verlieren hat, sie nieder zu reissen (und dies nicht auf dem Wege, wie es sich die alten Proletariats-IdeologInnen vorgestellt hatten), dann tragen diese Merkmale auch keine Basis für ein positives Projekt der Lebensveränderung in sich. Die durch die von der Gesellschaft aufgebürdeten miserablen Lebensbedingungen schüren eine Wut, die einfach in Projekte kanalisiert werden kann, welche der herrschenden Ordnung oder zumindest den spezifischen Interessen der/des einen oder anderen HerrscherIn dient. Die Beispiele von Situationen der letzten Dekaden, wo die Wut der Ausgebeuteten geschürt wurde, um den nationalistischen, rassischen oder religiösen Projekten Auftrieb zu geben, die ihrerseits aber bloss wieder die Herrschaft verstärken, sind zu zahlreich, um sie alle zu nennen. Die Möglichkeit eines Endes der gegenwärtigen sozialen Ordnung ist grösser denn je, aber der Glaube an dessen Unvermeidbarkeit kann nicht mehr länger vorgeben, eine objektive Basis zu haben.

Aber um das revolutionäre Projekt wahrlich zu verstehen und herauszufinden, wie es auszuführen ist (und eine Analyse zu entwickeln, wie die herrschende Klasse es schafft, die Wut der Unterdrückten in ihre eigene Projekte zu lenken), ist es nötig zu erkennen, dass Ausbeutung nicht nur bei der Produktion von Wohlstand auftritt, sondern auch in der Reproduktion der sozialen Beziehungen. Der Position jedes/r einzelnen ProletarierIn innerhalb des Produktionsapparates zum Trotz, ist es im Interesse der herrschenden Klasse, dass jedeR eine Rolle, eine soziale Identität hat, welche der Reproduktion der sozialen Beziehungen dient. Rasse, Geschlecht, Volkszugehörigkeit, Religion, sexuelle Vorlieben, Subkultur ? all diese Dinge mögen in der Tat sehr reale und bedeutende Unterschiede reflektieren, aber alle stellen soziale Konstrukte dar, um diese Unterschiede in für die Beibehaltung der gegenwärtigen sozialen Ordnung nützliche Rollen zu kanalisieren. In den fortgeschrittensten Gebieten der gegenwärtigen Gesellschaft, wo der Markt die meisten Beziehungen definiert, werden Identitäten grösstenteils in Bezug auf die sie symbolisierenden Waren definiert, und Austauschbarkeit wird zur Tagesordnung der sozialen Reproduktion, genau wie es in der wirtschaftlichen Produktion der Fall ist. Und dies genau, weil die Identität eine soziale Konstruktion ist, und sie verkommt immer mehr zu einer verkaufbaren Ware, die von RevolutionärInnen in ihrer Komplexität ernsthaft gehandhabt werden muss mit dem präzisen Ziel, über diese Kategorien hinaus zu dem Punkt zu gelangen, dass unsere Unterschiede (einschliesslich derjenigen, die unsere Gesellschaft in Bezug zu Rasse, Geschlecht, Volkszugehörigkeit etc. definieren würde) aus unseren Überlegungen bestehen, die uns als einzelne Individuen ausmachen.

Weil in unserer Lage als ProletarierInnen ? als Ausgebeutete und Enteignete - kein gemeinsames positives Projekt gefunden werden kann, muss unser Projekt der Kampf zur Zerstörung unserer proletarischen Situation sein, um unserer Enteignung ein Ende zu bereiten. Was wir wesentlich verloren haben ist nicht die Kontrolle über die Produktionsgüter oder materiellen Wohlstand; es ist unser Leben, unsere Fähigkeit, unsere Existenz in Beziehung zu unseren Bedürfnissen und Wünschen zu führen. Folglich findet unser Kampf überall statt, zu jeder Zeit. Unser Ziel ist es, alles, was uns von unserem Leben trennt, zu zerstören: das Kapital, den Staat, den industriellen und post-industriellen technologischen Apparat, die Arbeit, das Aufopfern, die Ideologie, jede Organisation, die unseren Kampf aufzusaugen versucht, kurz: alle Systeme der Kontrolle.

Noch im Prozess, diesen Kampf auf dem einzigen uns möglichen Weg zu führen ? ausserhalb aller und gegen jegliche Formalität und Institutionalisierung -, werden wir beginnen, neue Wege zu entwickeln, welche sich auf Selbstorganisation beziehen, auf eine Gemeinschaftlichkeit, die auf den einzigartigen Unterschieden basiert, welche uns als Individuen definieren, deren Freiheit sich mit der Freiheit der anderen ausbreitet. Es ist hier, in der Revolte gegen unsere proletarischen Bedingungen, wo wir dieses gemeinsame, positive Projekt finden, das für jedenN von uns unterschiedlich ist: den gemeinsamen Kampf für die individuelle Verwirklichung.

Arbeit: Raub des Lebens

„Was ist der Bombenanschlag auf einen Richter, die Entführung eines Industriellen, das Hängen eines Politikers, das Erschiessen eines Polizisten, das Plündern eines Supermarktes, die Brandstiftung am Büro eines Bevollmächtigten, die Steinigung eines Journalisten, das Erpressen eines Intellektuellen, das Plündern eines Künstlers angesichts der tödlichen Entfremdung unserer Existenz, dem viel zu frühen Lärm des Weckers, dem Verkehrsstau auf der Schnellstrasse, den aneinandergereihten Gütern auf den Regalen?“

Der Wecker unterbricht deinen Schlaf erneut – wie immer viel zu früh. Du schleppst dich von deinem warmen Bett zum Badezimmer, um eine Dusche zu nehmen, dich zu rasieren und zu kacken, dann rennst du zur Küche runter, wo du Pasteten machst oder, wenn du Zeit hast, ein bisschen Toast mit Eiern und einer Tasse Kaffee. Dann eilst du zur Tür raus, um gegen den Verkehrsstau oder die vielen Menschen in der Metro anzukämpfen, bis du endlich ankommst... bei deiner Arbeit, wo du deinen Tag mit Aufgaben verbringst, die du dir nicht selbst ausgesucht hast, in aufgezwungener Gemeinschaft mit anderen, die mit damit zusammenhängenden Aufgaben beschäftigt sind, da ist die fortwährende Reproduktion der sozialen Beziehungen das wichtigste Ziel, was dich dazu zwingt, auf diese Art und Weise zu überleben.

Aber das ist nicht alles. Als Ausgleich erhältst du einen Lohn, eine Summe von Geld, die du (nach Bezahlen der Miete und der Rechnungen) in die Einkaufszentren tragen musst, um Nahrung, Kleider, verschiedene Notwendigkeiten und Unterhaltungswaren zu kaufen. Obwohl dies als deine „freie Zeit“ angesehen wird, ist auch sie eine obligatorische Aktivität, welche dein Überleben nur sekundär garantiert, sein primärer Grund ist wiederum die Reproduktion der sozialen Ordnung. Und für die meisten Menschen sind von diesen Zwängen freie Momente immer seltener.

Nach der herrschenden Ideologie dieser Gesellschaft ist diese Existenz das Resultat eines sozialen Vertrages zwischen Gleichen – gleich vor dem herrschenden Gesetz. Der /die ArbeiterIn, heisst es, ist damit einverstanden, seine/ihre Arbeit dem/der ChefIn für ein gegenseitiges Einverständnis über den Lohn zu verkaufen. Aber kann ein solcher Vertrag als frei und gleich angesehen werden, wenn die eine Seite die ganze Macht in Händen hält?

Wenn wir diesen Vertrag etwas genauer betrachten, wird es klar, dass es überhaupt kein Vertrag ist, sondern die extremste und gewalttätigste Erpressung. Am offensichtlichsten tritt dies am Rande der kapitalistischen Gesellschaft auf, wo Menschen, die für Jahrhunderte (oder, in einigen Fällen, Jahrtausende) nach eigenen Bedingungen gelebt haben, plötzlich ihre Möglichkeiten zur Selbstbestimmung ihrer Lebensbedingungen vernichtet, und dies als das Werk von Bulldozern, Kettensägen, Bergbaumaschinen etc. der Herrschenden dieser Welt. Aber es ist ein Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte, von offensichtlichem und grossflächigem Raub von Land und Leben, der durch die herrschende Klasse erzwungen und ausgeführt wurde. Der Mittel beraubt, ihre Lebensbedingungen selbst zu bestimmen, kann nicht mehr ernsthaft behauptet werden, dass die Ausgebeuteten frei und gleich mit ihren AusbeuterInnen Verträge abschliessen können. Es ist ein klarer Fall von Erpressung.

Und was sind die Bedingungen dieser Erpressung? Die Ausgebeuteten werden gezwungen, Zeit ihres Lebens an ihre AusbeuterInnen im Austausch für das Überleben zu verkaufen. Und dies ist die wirkliche Tragödie der Arbeit. Die soziale Ordnung der Arbeit gründet auf dem auferlegten Gegensatz von Leben und Überleben. Die Frage, wie jemand überleben wird, unterdrückt die Art, wie jemand leben will, und mit der Zeit scheint dies alles natürlich und mensch beschränkt die eigenen Träume und Wünsche auf die Dinge, die mit Geld gekauft werden können.

Wie auch immer, die Bedingungen der Arbeitswelt lassen sich nicht nur auf diejenigen anwenden, die eine Arbeit haben. Es ist leicht zu sehen, wie die Arbeitslosen voller Angst vor Obdachlosigkeit und Hunger von der Arbeitswelt ergriffen sind. Aber dieselben sind Empfänger von Staatshilfe, dessen Überleben auf der Beistands-Bürokratie basiert... sogar diejenigen, für die die Vermeidung einer Arbeit eine solche Priorität bekommen hat, dass die eigenen Entscheidungen um Betrug, Ladendiebstahl, Müll kreisen – eben all den verschiedenen Wegen, um ohne einen Job durchzukommen -, sind davon ergriffen. Mit anderen Worten werden Aktivitäten, die gute Mittel zur Unterstützung eines Lebensprojekts sein könnten, selbst zu abgeschlossenen Aufgaben oder Zielen, indem das reine Überleben zum Lebensprojekt wird. Inwiefern unterscheidet sich dies denn wirklich von einem Job?

Aber was ist denn die wirkliche Basis der Macht hinter dieser Erpressung, welche die Arbeitswelt darstellt? Natürlich gibt es Gesetze und Gerichte, Polizei und Militär, Geldstrafen und Gefängnisse, die Angst vor Hunger und Obdachlosigkeit – all die sehr realen und bedeutenden Aspekte der Herrschaft. Aber sogar die staatliche Waffengewalt kann nur dann ihre Aufgaben erfolgreich durchführen, wenn die Menschen sich unterwerfen. Und hier finden wir die wirkliche Basis jeglicher Herrschaft – die Unterwerfung der Sklaven, ihre Entscheidung, die Sicherheit der bekannten Not und Dienerschaft zu akzeptieren, statt das Risiko der ungekannten Freiheit einzugehen, also ihre Einwilligung, ein garantiertes, aber farbloses Überleben zu akzeptieren im Austausch für die Möglichkeit eines wirklichen Lebens, das eben keine Garantien bietet.

Um also der eigenen Sklaverei ein Ende zu setzen, um über die Grenzen des blossen Überlebens hinaus zu gelangen, ist es notwendig, sich für die Verweigerung der Unterwerfung zu entscheiden; es ist notwendig damit zu beginnen, sich das eigene Leben hier und jetzt wieder anzueignen. Durch ein solches Projekt gerät mensch unvermeidlich in einen Konflikt mit der gesamten sozialen Ordnung der Arbeit; also muss das Projekt der Rückeroberung der eigenen Existenz auch das Projekt der Zerstörung der Arbeit sein. Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich „Arbeit“ sage, meine ich damit nicht die Aktivität, wodurch die Mittel der eigenen Existenz geschaffen werden (welche idealerweise niemals vom einfachen Leben getrennt sein würden), sondern eine soziale Beziehung, welche diese Aktivität in eine vom eigenen Leben getrennte Sphäre transformiert und sie in den Dienst der herrschenden Ordnung setzt, so dass die Aktivität eigentlich aufhört, irgend eine direkte Beziehung zur Bildung der eigenen Existenz zu haben, sondern sie bloss im Reich des Überlebens aufrecht erhält (unabhängig vom Grad des Konsums) durch eine Serie von Entfremdungen, von welchen Eigentum, Geld und Warenaustausch zu den wichtigsten gehören. Dies ist die Welt, welche wir zerstören müssen im Prozess der Rückeroberung unserer Leben, und die Notwendigkeit dieser Zerstörung macht das Projekt der Wiederaneignung unseres Lebens eins mit dem Projekt des Aufstands und der sozialen Revolution.

Die Maschinerie der Kontrolle: Ein kritischer Blick auf die Technologie

„Technologie zu kritisieren (...) bedeutet, ihren allgemeinen Aufbau zu betrachten, sie nicht nur als eine simple Maschinerie-Assemblage, sondern als eine soziale Beziehung, ein System zu sehen; es bedeutet zu verstehen, dass ein technologisches Instrument die Gesellschaft, welche es produziert, wiederspiegelt, und dass ihre Einführung die Beziehungen zwischen Individuen verändert. Technologie nicht zu kritisieren bedeutet, die Unterordnung menschlicher Aktivität gegenüber dem Profit zu verweigern.“ -aus At Daggers Drawn

Technologie entfaltet sich nicht in einem Vakuum, unabhängig der sozialen Beziehungen der Ordnung, die sie entwickelt. Sie ist das Produkt eines Kontextes, und spiegelt somit unvermeidlich diesen Kontext wieder. Die Aussage, dass Technologie neutral sei, hat also somit keine Basis. Es ist nicht möglich, dass sie neutraler als die anderen Systeme ist, welche die Reproduktion der gegenwärtigen sozialen Ordnung garantieren – Regierung, Warenaustausch, Heirat und Familie, Privateigentum... Eine ernsthaft revolutionäre Analyse muss folglich eine kritische Einschätzung der Technologie beinhalten.

Mit Technologie meine ich nicht einfache Werkzeuge, Maschinen oder sogar „eine Maschinerie-Assemblage“ als individuelles Dasein, sondern ein integriertes System von Techniken, Maschinerie, Menschen und Materialien, die entworfen wurden, um diejenigen sozialen Beziehungen zu reproduzieren, die ihre Existenz verlängern und verbessern. Um von Beginn an Missverständnisse zu vermeiden: Ich sage nicht, dass Technologie soziale Beziehungen produziert, aber dass sie dafür entworfen ist, sie in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des herrschenden Systems zu reproduzieren.

Bevor der Kapitalismus dazu kam, soziale Beziehungen zu dominieren, wurden Werkzeuge, Techniken und sogar eine Anzahl von Maschinen für spezifische Aufgaben geschaffen und angewendet. Es gab sogar einige systematische Anwendungen von Techniken und Maschinerien, welche im wahrsten Sinne des Wortes als technologisch betrachtet werden können. Es ist interessant zu erwähnen, dass sie dort am präzisesten eingesetzt wurden, wo die Macht strikte Ordnung verlangte – in Klöstern, in Folterkammern der Inquisition, in Galeeren, bei der Erschaffung von Monumenten der Macht, in den bürokratischen, militärischen und polizeilichen Strukturen der mächtigen Reiche wie der chinesischen Dynastie. Aber sie blieben grösstenteils nebensächlich für das tägliche Leben der Mehrheit der Menschen, welche dazu neigten, Werkzeuge und Techniken zu nützen, die sie selbst als Individuen oder in ihren kleinen Gemeinschaften erschufen.

Mit dem Erstarken des Kapitalismus führte die Notwendigkeit der grossangelegten Gewinnung und der Entwicklung von Ressourcen zu blutigen und unbarmherzigen Enteignungen von allem, was bisher gemeinschaftlich geteilt wurde. Diese wurden von der sich neu entwickelten, herrschenden kapitalistischen Klasse (ein Prozess, der sich durch das Errichten kolonialer Reiche international ausdehnte) und der Entwicklung eines mehr und mehr integrierten technologischen Systems, welches eine maximale Effizienz im Gebrauch der Ressourcen - Arbeitskräfte inbegriffen – ermöglichte, durchgeführt. Die Ziele dieses Systems waren gesteigerte Effizienz in der Gewinnung und Entwicklung von Ressourcen sowie verstärkte Kontrolle über die Ausgebeuteten.

Die frühesten Anwendungen industrieller Techniken fanden an Bord von kaufmännischen und Flotte-Schiffen sowie auf den Pflanzungen statt. Letzteres war eigentlich ein neues System von im grossen Stil auf Profit angelegter Landwirtschaft, die sich mit der Zeit auf Grund der Enteignung der Bauern in Europa – insbesondere in England – entwickeln konnte, eine Vielzahl von unter Vertrag stehenden Dienern und zu harter Arbeit verurteilter Krimineller mit sich brachte und die Entwicklung des afrikanischen Sklavenhandels, der die Menschen aus ihrem Zuhause riss und sie zur Dienerschaft zwang, ankurbelte. Ersteres basierte auch grösstenteils auf der Enteignung der ausgebeuteten Klassen – viele fanden sich entführt und zur Arbeit auf einem Schiff gezwungen. Das in diesen Fällen aufgezwungene industrielle System hatte seine Basis nicht so sehr in einer Assemblage von verarbeitenden Maschinen, wie dies bei der Methode der Koordination der Arbeit der Fall ist, wo die ArbeiterInnen die Räder der Maschine darstellen und wo das Versagen einer Einzelperson die gesamte Arbeitsstruktur gefährdet. Aber es gab auch gewisse spezifische Aspekte, welche dieses System bedrohten. Das System der Pflanzungen, wo verschiedene enteignete Gruppen mit unterschiedlichem Wissen und Erfahrung zusammen kamen, erlaubte eine gegenseitige Beeinflussung, die ihrerseits die Basis für illegale Vereinigungen/Verbände und geteilte Revolten darstellte. Seemänner, die auf dem Schiff unter sklaven-ähnlichen Verhältnissen lebten, beschafften die Mittel der Kommunikation zwischen den verschiedenen Orten, wodurch sie eine Art von Internationalismus der Enteigneten kreierten. Die Höchstleistungen der illegalen Vereinigungen und Aufstände um die nordatlantische Küste vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, wobei alle Rassen der Enteigneten kaum Hinweise auf Rassismus vorweisen, sind inspirierend, aber sie zwangen den Kapitalismus auch zur Weiterentwicklung seiner Techniken. Eine Kombination von rassischer Ideologie und Arbeitsteilung wurde benützt, um die schwarzen Sklaven und die vertraglichen Diener europäischer Ahnen zu spalten. Zusätzlich, weil das Kapital ohne den Transport von Waren und Ressourcen zu nichts fähig ist, begann es sich aus wirtschaftlichen wie auch sozialen Gründen mit Nachdruck auf die Bearbeitung von Ressourcen zu verschieben, um sie im grossen Stil zu Verkaufsgütern zu verarbeiten.

Die Abhängigkeit von kleinen Handwerkern für die Güterverarbeitung war für das Kapital auf unterschiedlichen Ebenen gefährlich. Wirtschaftlich gesehen war es langsam und ineffektiv und brachte nicht genügend Profit in die Taschen der herrschenden Klasse. Aber ausschlaggebender war, dass die Handwerker durch ihre relative Unabhängigkeit schwierig zu kontrollieren waren. Sie bestimmten ihre Arbeitszeiten, ihr Tempo selbst u.s.w. Also wurde das Fabriksystem, welches sich auf Schiffen und Pflanzungen bereits als ziemlich effizient erwiesen hatte, auch auf die Herstellung von Gütern übertragen.

Das industrielle System war also nicht nur (oder sogar hauptsächlich) deshalb entwickelt worden, weil es zur Güterverarbeitung ein effektiverer Weg ist. KapitalistInnen sind an der Verarbeitung von Gütern nicht sonderlich interessiert. Sie sehen dies vielmehr als einen unabdingbaren Teil des Prozesses der Ausbreitung des Kapitals, des Schaffens von Profit und der Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle über Wohlstand und Macht. Das Fabriksystem – die Vereinigung von Techniken, Maschinen, Werkzeugen, Menschen und Ressourcen zur Technologie, wie wir sie kennen - wurde also als Mittel zur Kontrolle des unbeständigsten Teils des Produktions-Prozesses entwickelt – des menschlichen Arbeiters. Die Fabrik ist eigentlich wie eine riesige Maschine ausgebaut, wo jeder Teil – die menschlichen Teile inbegriffen – mit jedem anderen Teil vollkommen vernetzt ist. Obwohl dieser Prozess weiter perfektioniert wurde, weil der Klassenkampf über die Zeit die Schwächen des Systems aufzeigte, war das grundsätzliche Ziel in der industriellen Technologie von Beginn an innewohnend. Die LudditInnen bemerkten dies, und dies war denn auch der Grund ihres Kampfes.

Wenn wir feststellen, dass die im Kapitalismus entwickelte Technologie genau zur Aufrechterhaltung und Verstärkung der Kontrolle der herrschenden Klasse über unser Leben entwickelt wurde, ist es nicht mehr überraschend, dass die technischen Fortschritte, die nicht spezifische Antworten auf den Klassenkampf der Arbeitsplätze waren, meist für militärische und polizeiliche Zwecke verwendet wurden. Kybernetik und Elektronik besorgen die Mittel, um Informationen auf bisher unbekanntem Level zu sammeln und zu speichern, was eine weitaus umfassendere Überwachung über eine immer ärmer werdende und potentiell rebellische Weltbevölkerung zulässt. Sie ermöglichen auch die Dezentralisation der Macht, ohne jegliche Herrschafts-Kontrolle einzubüssen – die Kontrolle sitzt genau in den entwickelten technologischen Systemen. Natürlich bedeutet diese Streckung des Kontroll-Netzwerkes auch, dass es sehr zerbrechlich ist. Zerbrechliche Verbindungen sind überall, und kreative Rebellen finden sie auch. Aber die Notwendigkeit einer Kontrolle, welche so umfassend wie möglich ist, zwingt die Herrscher dieser Ordnung dazu, diese Risiken zu akzeptieren, in der Hoffnung, dass schwache Verbindungen schnell genug repariert werden können.

Technologie wie wir sie kennen, dieses industrielle System integrierter Techniken von Maschinerie, Menschen und Ressourcen, ist folglich nicht neutral. Es ist ein spezifisches Werkzeug, welches gemäss den Interessen der herrschenden Klasse erschaffen wurde und das niemals dafür gedacht war, unsere Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, sondern um die Kontrolle der herrschenden Ordnung zu erhalten und auszuweiten. Die meisten AnarchistInnen erkennen, dass der Staat, Privateigentum, das Warensystem, die patriarchale Familie und organisierte Religion grundsätzlich dominante Institutionen und Systeme sind, welche zerstört werden müssen, wenn wir eine Welt erschaffen wollen, wo wir alle frei sind, um unser Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Es ist deshalb merkwürdig, dass für das industrielle technologische System nicht dasselbe Verständnis angewendet wird. Sogar in dieser Zeit, wo Fabriken keinen Platz für jegliche Art individueller Initiative mehr zulassen, wo Kommunikation von riesigen Systemen und Netzwerken, die für jede polizeiliche Geschäftsstelle einsehbar ist, dominiert werden, und die bestimmen, wie mensch sie nutzen kann, wenn das technologische System als Ganzes vom Menschen nur ein bisschen mehr als Hände und Augen benötigt, ArbeiterInnen und Kontroll-InspektorInnen erhält, gibt es noch immer AnarchistInnen, die zur „Übernahme der Produktionsmittel“ rufen. Aber das technologische System, wie wir es kennen, ist selbst Teil der Herrschafts-Struktur. Es wurde kreiert, um die durch das Kapital ausgebeuteten Menschen effizienter zu kontrollieren. Wie der Staat, wie das Kapital selbst, muss dieses technologische System zerstört werden, damit wir unsere Leben zurückgewinnen können. Was dies im Hinblick auf spezifische Werkzeuge und Techniken bedeutet, wird im Laufe unseres Kampfes gegen die Welt der Herrschaft klar werden. Aber genau um den Weg für die Möglichkeit der Realisierung unserer freien Wünsche zu ebnen, muss die Maschinerie der Kontrolle zerstört werden.

Eigentum: Die einschliessenden Zäune des Kapitals

Zwischen den zahlreichen Lügen, die die Herrschaft des Kapitals aufrechterhalten, steht die Idee, dass Eigentum Freiheit bedeuten soll. Die aufstrebende Bourgeoisie machte dieses Versprechen, als sie die Erde mit Zäunen jeglicher Art teilte – physikalische Zäune, gesetzliche Zäune, moralische Zäune, soziale Zäune, militärische Zäune... was immer sie als notwendig erachteten, um den ermordeten Wohlstand der Erde einzuschliessen und die grosse Masse, die, als Arbeitskraft ausgenommen, unerwünscht war, auszuschliessen. Diese von ihrem Land „befreite“ Masse war frei zu wählen zwischen dem Hungern und dem Verkauf ihrer Zeit an den/die MeisterIn, der/die sie kaufen würde. „Freie ArbeiterInnen“ wurden sie von ihren Meistern genannt, seit die MeisterInnen es anders als bei ihren Sklaven nicht nötig hatten, sich für ihr Leben verantwortlich zu fühlen. Es war vielmehr ihre Arbeitskraft, die die MeisterInnen kauften. Ihr Leben gehöre ihnen selbst, wurde ihnen gesagt, obwohl diese ihnen eigentlich gestohlen wurden, seit die kapitalistischen Meister das Land einschlossen und diese „freien ArbeiterInnen“ auf die Suche nach Überlebensmöglichkeiten schickten. Dieser Prozess der Enteignung, welcher dem Kapitalismus seine Entwicklung ermöglichte, setzt sich an seinem Rande fort, aber ein anderer Trick erhält die bourgeoise Illusion im Zentrum.

Uns wird gesagt, dass Eigentum eine Sache ist, die mit Geld zu erstehen sei. Der Lüge nach ist die Freiheit in den Dingen, die wir kaufen, und wächst folglich mit deren Anhäufung. Im Streben nach dieser Freiheit, die nie ganz erreicht wird, ketten sich die Menschen an Aktivitäten, welche sie nicht wählten, geben jegliche Spur einer realen Wahl auf, um das Geld zu verdienen, das zum Erstehen der Freiheit gedacht ist. Und wenn ihr Leben im Dienste der Projekte, die niemals ihre eigenen waren, konsumiert ist, geben sie ihre Einkünfte für Spielwaren und Unterhaltung her, für Therapien und Drogen, diesen Betäubungsmitteln, die garantieren, dass sie die Lüge nicht durchschauen.

Eigentum ist eigentlich nicht das Ding, das besessen wird. Es sind die Zäune – die Zäune, die uns drin behalten, die Zäune, die uns draussen halten, all die Einzäunungen, wodurch uns unsere Leben gestohlen werden. Eigentum ist also hauptsächlich eine Einschränkung, eine Grenze von solcher Wichtigkeit, dass sie garantiert, dass niemensch sich vollständig verwirklichen kann, solange sie existiert.

Um dies vollkommen zu verstehen, müssen wir Eigentum als eine soziale Beziehung zwischen Dingen und Menschen sehen, die durch den Staat und den Markt vermittelt wird. Die Institution des Eigentums könnte ohne den Staat, der die Macht in Institutionen der Herrschaft konzentriert, nicht existieren. Ohne Gesetze, Waffen, Polizei und Gerichte würde das Eigentum keine reale Basis und keine es unterstützende Kraft haben.

Es kann eigentlich gesagt werden, dass der Staat selbst der Gründer von Eigentum ist. Was ist denn der Staat, wenn nicht ein Netzwerk von Einrichtungen, wodurch Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet und seine Ressourcen behauptet und aufrechterhalten wird? Schliesslich ist jegliches Eigentum staatlich, weil es nur auf Erlaubnis und unter dem Schutze des Staates existiert. Abhängig von der realen Macht des Staates, kann diese Erlaubnis und der Schutz jederzeit aus jeglichen Gründen widerrufen werden und das Eigentum geht zurück an den Staat. Dies soll nicht heissen, dass der Staat mächtiger sei als das Kapital, sondern dass die zwei genug miteinander verschlungen sind, um eine einzige soziale Ordnung der Herrschaft und Ausbeutung zu errichten. Und das Eigentum ist diejenige Einrichtung, die dieser Ordnung in unserem täglichen Leben seine Macht verleiht und uns zwecks ihrer eigenen Reproduktion zur Arbeit und zum Bezahlen zwingt. Das Eigentum ist also die Rasierklinge, das „Kein Durchgang“-Signal, die Preis-Etikette, der Bulle und die Sicherheitskamera. Die Aussage, die sie alle in sich tragen, ist dieselbe: mensch kann ohne Erlaubnis nichts benützen oder geniessen, und die Erlaubnis muss durch den Staat gewährleistet und mit Geld bezahlt werden.

Es ist nun keine Überraschung mehr, dass die Welt des Eigentums, die durch den Markt und den Staat beherrscht wird, eine verarmte Welt ist, wo statt Zufriedenheit Mangel herrscht. Das Streben nach individueller Verwirklichung, die bei jeder Wende durch einen anderen Zaun gestoppt wird, ist durch den homogenisierenden, atomisierenden Wettbewerb um die Anhäufung von mehr Dingen ersetzt, weil das „Individuum“ in dieser Welt bloss in Bezug auf seinen/ihren Besitz gewertet wird, und die unmenschliche Gesellschaft der Preismarken strebt nach der Beerdigung der Singularität unter den in Shops gefundenen Identitäten. Das Eigentum der HerrscherInnen dieser Welt anzugreifen – Fensterscheiben von Banken einzuschmeissen, Polizeifahrzeuge abzubrennen, das Arbeitsamt zu sprengen oder Maschinerie zu zerstören - hat sicherlich seinen Wert. Wenn nichts anderes, dann verschafft es zumindest etwas Spass, und einige Aktionen dieser Art mögen sogar spezifische Projekte der herrschenden Ordnung hindern. Aber schliesslich müssen wir die Institutionen der Herrschaft angreifen, jeden psychischen, gesetzlichen, moralischen oder sozialen Zaun einreissen. Dieser Angriff beginnt beim Wunsch eines jeden Menschen, sein/ihr Leben zurückzuholen und es nach eigenen Bedingungen zu gestalten. Jeder Moment und jeder Raum, den wir von der Produktions- und Konsumgesellschaft zurück stehlen, gibt uns eine Waffe, um diesen Kampf auszuweiten. Aber, wie ein Genosse geschrieben hat: „...dieser Kampf muss breit gestreut sein, oder er ist nichts wert. Nur wenn Diebstahl eine breit angewandte Praxis wird, wenn sich das Geschenk gegen den Warenaustausch bewaffnet, wenn Beziehungen nicht mehr länger durch Gebrauchsartikel vermittelt werden und Individuen den Dingen ihren eigenen Wert geben, nur dann besitzt die Zerstörung des Marktes und des Geldes – dies ist alles eins mit der Zerstörung des Staates und aller Hierarchie – eine reale Chance. Die individuelle Revolte gegen die Eigentumswelt muss sich zu einer sozialen Revolution ausweiten, die alle Zäune herunterreissen und jede Möglichkeit zur individuellen Verwirklichung öffnen wird.

Religion: Wenn das Heilige das Wunderbare einkerkert

Es ist wahrscheinlich, dass die menschlichen Wesen schon immer Begegnungen mit der Welt um sie herum und Ausschweifungen ihrer eigenen Vorstellungskraft hatten, die einen wachsenden Sinn für das Wunderbare geweckt haben. Den Ozean zu lieben, den eisigen, minze-farbenen Mond zu verschlingen, in einem verrückten, entzückten Tanz gegen die Sterne zu springen ? dies sind die bösen Vorstellungen, welche die mechanistische Betrachtungsweise der Welt so öde und traurig erscheinen lassen. In dieser Zeit aber hat der Gifthauch des Industrialismus mit seiner seichten, mechanistischen Logik, die der buchhalterischen Weltsicht des Kapitals entspringt, leider viele Köpfe geschädigt und dazu geführt, dass die Vernunft von der Leidenschaft und die Leidenschaft von der Möglichkeit, eine eigene Form von Vernunft zu bilden und ihre eigenen Bedeutungen in der Erfahrung und Erschaffung des Wunderbaren zu finden, getrennt wurde. Deshalb wenden sich viele auf ihrer Suche nach dem Sinn der Freude und des Wunders zu den Heiligen, und vergessen dabei, dass das Heilige selbst der Kerker des Wunderbaren darstellt.

Die Geschichte der Religion ist in der Tat die Geschichte der Armut und des Staates. Diese Einrichtungen gründen alle auf Enteignung und ergeben zusammen eine soziale Entfremdung, die Entfremdung der Individuen von ihrer Möglichkeit, ihr Leben nach eigenen Bedingungen zu führen. Das Eigentum raubt den Individuen der Welt den Zugriff zur materiellen Unabhängigkeit, indem alles in die Hände von wenigen gelegt wird, die es einzäunen und ihm einen Preis setzen. Der Staat raubt den Individuen die Möglichkeit, ihr Leben und ihre Beziehungen nach eigenen Bedingungen zu leben, indem sie durch die Macht, die Leben von anderen zu kontrollieren, in die Hände von wenigen gelegt wird, wodurch ihr Tun in die zur Reproduktion der Ordnung notwendigen Arbeitskraft umgewandelt wird. Auf die selbe Weise ist die Religion (und ihre gegenwärtigen Manifestationen Ideologie und die Psychiatrie) diejenige Institution, die den Menschen seiner/ihrer Möglichkeiten beraubt, die Wechselwirkungen mit der sie umgebenden und mit der ihnen innewohnenden Welt zu interpretieren, indem sie in die Hände einiger weniger SpezialistInnen gelegt wird, die Interpretationen erstellen, die den Interessen der Macht dienen. Die Prozesse, die der Ausführung dieser Enteignungen dienen, sind nicht wirklich geteilt, sondern vielmehr vollkommen miteinander verbunden und bilden ein eingebautes Netzwerk der Herrschaft, aber ich denke, dass in dieser Zeit, wo viele AnarchistInnen am Heiligen interessiert zu sein scheinen, es nützlich ist, die Religion als spezifische Einrichtung der Unterdrückung zu sehen. Seit die Verbindung zwischen Religion und Staat zumindest in westlichen Demokratien seit kurzem relativ zart ist, wenn wir in den dogmatischen Ausbrüchen eines Ashcroft oder den gelegentlichen Segnungen des Papstes verbleiben, so waren Staat und Religion ursprünglich aber zwei Gesichter eines einzelnen Wesens. Wenn die HerrscherInnen selbst keine GötterHeiten oder HohepriesterInnen waren, dann waren sie doch durch eineN GottHeit oder HohepriesterInnen angeordnet, speziell zur Vertretung Gottes auf Erden geweiht, um in seinem oder ihrem Namen zu herrschen. Die Gesetze der HerrscherInnen waren also die Gesetze Gottes, ihre Worte waren die Worte Gottes. Es stimmt, dass sich möglicherweise Religionen entwickelten, die die Gesetze Gottes von denen des Staates unterschieden. Diese Religionen entwickelten sich allgemein bei jungen, Verfolgung erduldenden Leuten, die aufgrund dessen das Bedürfnis hatten, sich an eine höhere Macht als die des Staates zu wenden. Diese Religionen unterstützten also das Konzept der Herrschaft, eines Gesetzes, das über die Menschen wie auch über die irdischen Staaten herrschte. Wenn also die antiken Hebräer "göttliche" von "nicht göttlichen" HerrscherInnen zu unterscheiden vermochten, und wenn die frühen Christen sagen konnten: "Wir sollten Gott mehr gehorchen als den Menschen", dann waren solche Aussagen keine Aufrufe zur Rebellion, sondern zum Gehorsam gegenüber einer höheren Autorität. Die christliche Bibel wird ausdrücklich, wenn sie sagt: "Gib Cesar, was Cesar gebührt" und "Unterwerft euch den existierenden Mächten, denn sie sind durch Gott verordnet". Wenn selektives Lesen von Teilen der jüdisch-christlichen Schriften eine Revolte inspirieren könnte, dann würde dies kaum eine Revolte der Individuen gegen alles, was ihnen ihr Leben wegstiehlt, darstellen. Vielmehr würde es eine Revolte gegen einen bestimmten Staat sein mit dem Ziel, diesen mit einem auf den "Gesetzen Gottes" basierenden Staat zu ersetzen.

Aber Religion ist viel mehr als nur die jüdisch-christliche Tradition. Deshalb ist es notwendig, das Konzept des Heiligen an sich, die Idee, welche das Herz der Religion auszumachen scheint, zu untersuchen. Diese Tage höre ich häufig, dass Menschen den Verlust des Heiligen beklagen. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. In dieser Welt, wo Grenzen, Schranken, Zäune, Rasierklingen, Gesetze und Verbote jeglicher Art reichlich vorhanden sind, was ist hier denn nicht heilig? was gibt es noch, das wir berühren können, womit wir und frei aufeinander wirken und uns vergnügen können? Aber natürlich, ich verstehe es falsch. Die Menschen vermissen eigentlich den Mangel des Wundervollen, von Freude, von diesem ausgedehnten Gefühl, ein vibrierendes, lebendes Universum zu verzehren und davon verschlungen zu werden. Aber wenn ihnen dies fehlt, warum sprechen sie von einem Mangel an Heiligem, wenn das Konzept des Heiligen doch selbst das Wunder und die Freude von der Welt getrennt und in eigenes Reich gesteckt hat?

Das Heilige meinte nie wirklich das, was wundervoll, Ehrfurcht erweckend oder Freude bereitend war. Es meinte das, was geweiht war. Die Weihung ist genau der Prozess, der etwas vom normalen Leben - d.h. frei und gleichwertig für alle verfügbar zu sein, um so genutzt zu werden, wie es als sinnvoll erachtet wird ? entfremdet, um es für eine spezialisierte Aufgabe zu behalten. Dieser Prozess beginnt mit dem Aufkommen von SpezialistInnen, die den Sinn der Realität interpretieren. Diese SpezialistInnen sind selbst geweiht, von den Aufgaben eines normalen Lebens entfremdet und durch die Opfer und Gaben derjenigen, die die Realität interpretieren, genährt. Natürlich impliziert das Konzept, dass es Menschen mit einer speziellen Verbindung zum Sinn der Realität gibt, dass bloss ein Sinn existiert, der universell ist und deshalb spezieller Aufmerksamkeit und dem Verständnis seiner Möglichkeiten bedarf. Diese heiligen Personen haben, erst als Schamanen und später als Priester, das Individuum seiner/ihrer Fähigkeit, einen eigenen Sinn zu finden, enteignet. Die eigenen poetischen Begegnungen mit der Welt werden unwichtig und die Orte, Dinge und Lebewesen werden zur reinen Laune ohne eine soziale Bedeutung reduziert. Sie werden durch heilige Orte, Dinge und Einrichtungen ersetzt, welche durch den Priester bestimmt werden und sie werden von nicht-geweihten Laien und Frauen ferngehalten, nur durch die saubere Vermittlung der Rituale präsentiert, um zu garantieren, dass der Verstand der Herde benebelt bleibt, damit sie die gegenwärtige Banalität des Heiligen nicht erkennt.

Es ist exakt die Natur des Heiligen, dass die Vermittlung den Göttern das Leben schenkt. Bei genauer Prüfung muss gefragt werden, was ein Gott denn ist, wenn nicht das Symbol einer verdrängten menschlichen Möglichkeit, einen eigenen Willen zu haben, für sich selbst handeln zu wollen und das Leben und seinen Sinn nach eigenen Massstäben zu gestalten. Die Religion dient durch das Erschaffen von Göttern eigentlich der herrschenden Klasse auf dem wichtigsten Wege. Sie blendet die Ausgebeuteten, so dass sie den wirklichen Grund ihrer Trennung von der Möglichkeit, die Bedingungen ihrer Existenz selbst zu bestimmen, nicht erkennen. Es ist nicht eine Frage der Enteignung oder sozialen Entfremdung, sondern der Trennung, die der Natur der Dinge innewohnt. Die gesamte Macht sei in den Händen der Götter, und wir könnten ihren Willen bloss akzeptieren und danach streben, sie so gut wie möglich zu beglücken. Alles andere sei Selbstüberschätzung. Deshalb verschwindet die aktuelle Enteignung der Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, hinter einem göttlich vorbestimmten Schicksal, das nicht bekämpft werden kann. Und seit der Staat den Willen Gottes auf Erden verkörpert, kann auch er nicht bekämpft werden, sondern muss vielmehr ausgehalten werden. Die einzige Verbindung, die zu dieser heiligen Macht geknüpft werden kann, ist diejenige, die durch die Vermittlung eines religiösen Rituals geboten wird, einer ?Verbindung?, die eigentlich das Andauern der Vermittlung auf jedem praktischen Level garantiert. Das Ende dieser Vermittlung würde das Ende des Heiligen und der Religion bedeuten.

Wenn wir einmal erkennen, dass es das Geweihte ? sprich die Trennung - ist, welches das Heilige definiert, wird klar, warum Autorität, Eigentum und all die Einrichtungen der Herrschaft heilig sind. Sie sind allesamt soziale Formen der Trennung, die Weihung der Möglichkeiten und des Wohlstandes, die einmal für uns alle für einen spezialisierten Gebrauch zugänglich waren und die wir nun nicht mehr nutzen können, es sei denn durch die entsprechenden Rituale, die die Trennung aufrecht erhalten. Es ist im literarischen Sinne also genau zutreffend, von Eigentum als etwas heiligem und von Waren als Fetischen zu sprechen. Der Kapitalismus ist tief religiös.

Die Geschichte der westlichen Religion war nicht eine von einfacher Akzeptanz des Heiligen und von Gott (ich besitze nicht genug Wissen, um diesbezüglich von nicht-westlichen Religionen zu sprechen). Während des gesamten Mittelalters und sogar darüber hinaus gab es ketzerische Bewegungen, die so weit gingen, die Existenz Gottes und des Heiligen anzuzweifeln. In der Sprache ihrer Zeit ausgedrückt, verneinten diese Bewegungen ? die freien Geister, die Adamiten, die Kanzelpauker und viele andere ? die Trennung, die die Heiligkeit definierte, beanspruchten Göttlichkeit für sich selbst und eigneten sich so ihren Willen und die Möglichkeit, nach eigenen Bedingungen zu handeln und ihr Leben selbst zu gestalten, wieder an. Dies setzte sie natürlich in eine Aussenseiter-Position mit der sie umgebenden Gesellschaft, der Gesellschaft des Staates, der Wirtschaft und der Religion.

Als der Kapitalismus in der westlichen Welt aufkam und sich durch kolonialen Imperialismus verbreitete, entstand eine Bewegung der Revolte gegen diesen Prozess. Weit davon entfernt, eine Bewegung für die Rückkehr zu einer idyllisch geträumten Vergangenheit zu sein, trug sie in sich die Samen der Anarchie und des wahren Kommunismus. Diese revolutionäre Saat spross mit grösster Wahrscheinlichkeit durch die Wechselwirkungen von Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft, die auf verschiedene Arten enteignet worden sind ? die Armen von Europa, die ihr Land ?eingeschlossen? fanden (oder sollen wir sagen geweiht, was ja seltsamerweise ein Synonym für gestohlen ist?) und die auf die Strassen und die Weltmeere gezwungen wurden, AfrikanerInnen, die von ihrem Heimatland entführt, von ihren Familien und Kulturen getrennt und in die Sklaverei gezwungen wurden und die indigenen Völker, die noch im Herkunftsort kolonialisiert wurden, sie alle fanden sich enteignet und oftmals niedergemetzelt wieder. Aufstände entland der Atlantischen Küste (in Europa, Afrika und Amerika) waren keine Seltenheit im 16. und Anfangs des 17. Jahrhunderts und beinhalteten üblicherweise eine egalitäre Zusammenarbeit zwischen all diesen Gruppen der Enteigneten und Ausgebeuteten.

Aber meiner Meinung nach besteht eine der grössten Schwächen dieser revoltären Bewegung darin, dass sie sich von der religiösen Sicht der Welt niemals vollständig zu befreien schien. Während die kapitalistische Klasse mehr und mehr Aspekte der Welt und des Lebens aus den Händen der Individuen enteignete, um sie für den eigenen Gebrauch bereit zu halten, und die nur durch die angemessene Vermittlung der Rituale der Lohnarbeit und des Warenaustausches zugänglich wurden, konnten die meisten Rebellen den letzten Schritt der totalen Rebellion gegen das Heilige nicht machen. Sie setzten also vielmehr das eine Konzept des Heiligen gegen das andere, die eine Moral gegen die andere, und beliessen somit die soziale Entfremdung. Dies machte es möglich, dass sich diese Revolte für Demokratie und humanitären Kapitalismus oder Sozialismus wieder erholen konnte, wo "das Volk", die "Gesellschaft" oder "die menschliche Rasse" die Rolle Gottes übernahm.

Religion, Eigentum, der Staat und all die anderen Institutionen der Herrschaft basieren auf fundamentalen Trennungen, die die soziale Entfremdung bedingen. Als solche errichten sie das Heilige. Wenn wir wieder fähig sein wollen, das Wunderbare für uns zurückzunehmen, Wunder und Freude direkt nach unseren eigenen Bedingungen zu erfahren, mit Ozeanen Liebe zu machen oder mit Sternen zu tanzen, ohne Götter oder Priester, die einschreiten, um uns dessen Bedeutung aufzuzwingen - oder einfacher gesagt, wenn wir unser Leben als unser eigenes zurück nehmen, es nach unserem Willen gestalten wollen - dann müssen wir das Heilige in all seinen Formen angreifen. Wir müssen die Heiligkeit von Eigentum und Autorität, von Ideologien und Institutionen, von allen Göttern, Tempeln und Fetischen, gleichgültig worauf sie gründen, entweihen. Nur auf diesem Wege können wir all die inneren und äusseren Welten als unsere eigenen erfahren, auf der Basis der einzigen Gleichheit, die uns interessieren kann: der gleichen Erkennung dessen, was an unser aller Einzigartigkeit so wundervoll ist. Nur auf diesem Weg können wir das Wunderbare mit all seiner Schönheit und seinen Wundern erfahren und gestalten.

Eine Familienangelegenheit

Im Kampf um die Rückeroberung unseres Lebens ist es notwendig, jede Institution zu hinterfragen, selbst diejenigen, die in die intimsten Teile unseres Lebens reichen. Tatsächlich ist es besonders wichtig, diese Einrichtungen herauszufordern, weil ihre Nähe zu uns, ihre Intimität, sie uns so erscheinen lässt, als sei sie gar keine Institution, sondern vielmehr die natürlichste Art der Beziehung. Und dann können ihre inneren Täuschungen und Listen die Arbeit verrichten und Herrschaft somit als natürlich erscheinen lassen.

Familiäre Beziehungen werden als gegeben akzeptiert, sogar bei den meisten AnarchistInnen. Es ist genau die Intimität dieser Beziehungen, die sie so natürlich erscheinen lassen. Und die Familie wie wir sie kennen – die Kernfamilie, die ideale Einheit für den Warenaustausch - ist bloss ein wenig mehr als ein halbes Jahrhundert alt und bereits in einem Zustand der Zersetzung. Frühere Formen von familiären Beziehungen scheinen die Bedürfnisse der ökonomischen Notwendigkeit oder sozialer Geschlossenheit vielmehr wiederzuspiegeln als jegliche natürliche Neigung.

Die Einrichtung der Familie geht Hand in Hand mit der Einrichtung der Heirat. Wenn die Heirat in nicht-staatlichen Gesellschaften zu einem losen Band tendiert hat, die hauptsächlich im Aufrechterhalten gewisser Beziehungen von nahen Verwandten bestand, veränderte sie sich mit dem Aufkommen des Staates und des Eigentums zu einer viel engeren Beziehung, eigentlich einer besitzdefinierten Beziehung. Genauer wurde die Heirat zur derjenigen Einrichtung, in welcher der Vater - als Besitzer seiner Familie - seine Tochter einem anderen Mann gab, der dann wiederum als ihr Ehemann zu ihrem neuen Besitzer wurde. Die Familie ist also die Saat der Unterdrückung der Frau, die sich von dort auf die ganze Gesellschaft verteilt.

Innerhalb der Familie besteht noch eine weitere Hierarchie. Der Hauptzweck der Familie ist die Vervielfältigung der menschlichen Wesen. Von der Frau wird also das Gebären von Kindern verlangt, und die Kinder, obwohl letztlich noch im Besitze des Mannes, stehen unter der direkten Autorität ihrer Mutter. Dies ist der Grund, warum so viele von uns, die in s.g. „traditionelle“ Geschlechterrollen akzeptierenden Familien aufwuchsen, die Mutter als erste uns beherrschende Autorität erfuhren. Der Vater war eine ferne Gestalt, die in der Woche seine 60 bis 70 Stunden arbeitete (abgesehen vom mutmasslichen Sieg der 40-Stunden-Woche), um seine Familie mit all den Dingen, die von dieser Gesellschaft als für ein gutes Leben notwendig behauptet wird, zu versorgen. Die Mutter hat uns gescholten, uns den Hintern versohlt, uns unsere Grenzen gesetzt, sich bemüht, unser Leben zu definieren – wie der Manager auf dem Arbeitsplatz, der das tägliche Gesicht des Chefs darstellt, während die Besitzerin beinahe unsichtbar bleibt.

Der wirkliche soziale Zweck der Familie liegt also in der Vervielfältigung der menschlichen Wesen. Dies bedeutet nicht bloss das Gebären von Kindern, sondern auch dieses rohe menschliche Material in ein für die Gesellschaft nützliches Wesen zu verwandeln – ein loyales Subjekt, eineN guteN StaatsbürgerIn, eineN fleissigeN ArbeiterIn, eineN leidenschaftlicheN KonsumentIn. Somit wird es notwendig, dass Mutter und Vater ihr Kind vom Moment der Geburt an zu trainieren beginnen. Es ist auf diesem Level, wo wir den plötzlichen Ausruf „Es ist ein Junge!“ oder „Es ist ein Mädchen!“ hören. Das Geschlecht ist diejenige soziale Rolle, die nach der Geburt biologisch eingeschätzt werden kann, und deshalb ist sie die erste, die durch eine Vielzahl von Symbolen aufgezwungen wird – die Farben der Kinderzimmer-Wände und der Decken, der Kleiderstil, die zum Spielen angebotenen Spielsachen, die Art Spiel, wozu sie ermuntert werden u.s.w.

Aber dies geschieht auch in Verbindung mit der Kindlichkeit. Statt Unabhängigkeit, Selbstvertrauen und der Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln, zu fördern, werden die Kinder dazu ermuntert, naiv und albern zu sein, ohne Vernunft und die Fähigkeit, sensibel zu handeln. All das wird als „niedlich“ erachtet, und „Niedlichkeit“ gilt als erste Eigenschaft von Kindern. Obwohl die meisten Kinder ihre „Niedlichkeit“ eigentlich ziemlich geschickt einsetzen, um die Anforderungen der Erwachsenen zu umgehen, unterstützt die soziale Stärkung dieser Eigenschaft nicht zuletzt Hilflosigkeit und Abhängigkeit, die lange genug andauert, um die soziale Konditionierung zu bewerkstelligen, damit Unterwürfigkeit zur Gewohnheit wird. Ab diesem Punkt wird „Niedlichkeit“ entmutigt und als Kindlichkeit verspottet.

Seit die normale Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern eine besitzdefinierte und folglich eine von Herrschaft und Unterwerfung auf intimsten Level geprägten Beziehung ist, enden die Listen, die den Kindern überleben helfen, damit, dass sie zu gewohnten Methoden für die Wechselwirkung mit der Welt werden, zu einem Netzwerk von Verteidigungs-Mechanismen, das Willhelm Reich als Charakter-Bewehrung bezeichnet hat. Dies könnte in der Tat der grauenvollste Aspekt der Familie sein – ihre Konditionierung und unsere Versuche, uns dagegen zu wehren, kann uns das ganze Leben lang beängstigen.

Eigentlich tendieren die Ängste, Phobien und Verteidigungen, die durch die Autorität der Familie in uns eingeträufelt wurden, dazu, uns zur Vervielfältigung der Familienstruktur zu bestärken. Die Wege, in denen die Eltern die Unfähigkeit der Kinder verstärken und vergrössern, garantiert die Positionierung ihrer Interessen ausserhalb ihrer eigenen Reichweite, aber unter der Kontrolle der Eltern – d.h. der Autorität. Das trifft sogar für Eltern zu, die ihre Kinder „verwöhnen“, denn solches Verwöhnen führt zur Kanalisierung der Wünsche des Kindes in Richtung des Warenkonsums. Unfähig, die eigenen Wünsche zu erkennen, lernen die Kinder schnell, einen Mangel zu erwarten und Ärsche zu küssen in der Hoffnung, zumindest ein wenig dessen, was sie wollen, abzukriegen. Die wirtschaftliche Ideologie von Arbeit und Warenkonsum ist also durch die uns in unserer Kindheit aufgezwungenen Beziehungen tief in uns eingebettet. Wenn wir die Pubertät erreichen und unser Sexualtrieb stärker wird, führt der Mangel, der uns zu erwarten beigebracht wurde, zu ökonomisierten Auffassungen von Liebe und Sex. Wenn wir in eine Beziehung treten, tendieren wir dazu, sie als eine Eigentums-Beziehung zu sehen, oftmals mit symbolischen Zeichen bewehrt. Diejenigen, die ihr sexuelles Verlangen nicht angemessen ausleben, sind gebrandmarkt, vor allem wenn es Mädchen sind. Wir klammern uns an Beziehungen mit einer Verzweiflung, die die reale Seltenheit der Liebe und des Vergnügens in dieser Welt reflektiert. Und diejenigen, die so gut gelernt haben, dass sie der wahrhaften Realisierung ihrer eigenen Wünsche unfähig sind, akzeptieren schlussendlich, dass, wenn sie diese Wünsche schon nicht besitzen oder gar wirklich erkennen können, sie immerhin die Grenzen der Wünsche der/des anderen definieren können, der/die dann im Gegenzug die Grenzen der/des anderen definiert. Es ist sicher. Und es ist elend. Es ist das Paar, die Vorstufe der Familie.

Die verzweifelte Angst vor der Armut der Liebe vervielfältigt also die Bedingungen, die diese Armut aufrechterhalten. Der Versuch, mit anderen Möglichkeiten der Liebe, die der Institutionalisierung der Liebe und der Wünsche im Paar, in der Familie, in der Heirat entfliehen, zu experimentieren und diese zu erkunden, gehen dauernd gegen die ökonomisierte Liebe an. Dies sollte keine Überraschung sein, weil es in einer durch die Wirtschaft dominierten Gesellschaft sicherlich die geeignete Form der Liebe ist.

Der wirtschaftliche Nutzen der Familie deckt auch ihre Armut auf. In vor-industriellen Gesellschaften (und in gewissem Masse auch in industriellen Gesellschaften vor dem Aufkommen der Verbrauchsgesellschaft), bestand die wirtschaftliche Realität der Familie hauptsächlich im Nutzen eines jeden Familienmitglieds im Bewerkstelligen essentieller Aufgaben für das Überleben der Familie. Die Einheit der Familie diente also einem Zweck, der zu den Grundbedürfnissen in Beziehung stand und dazu tendierte, über die Einheit der nuklearen Familie hinaus zu gehen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich im Westen die wirtschaftliche Rolle der Familie aufgrund des ansteigenden Konsums. Ihr Zweck verschob sich nun auf die Vervielfältigung von KonsumentInnen, die die verschiedenen Zielmärkte repräsentierten. Die Familie wurden also zur Fabrik, um Hausfrauen, Teenager, und Schulkinder zu produzieren, also all jene Wesen, denen die Möglichkeit, ihre Wünsche zu realisieren, zerstört wurde, so dass sie zum Warenkonsum kanalisiert werden konnten. Die Familie selbst bleibt als Mittel zur Vervielfältigung dieser Rollen innerhalb der individuellen menschlichen Wesen, aber seit die Familie selbst nicht mehr länger die Grenzen der verarmten Wünsche festsetzt – die Rolle, die jetzt von Gebrauchsartikeln ausgeübt wird -, gibt es für den Zusammenhalt der Familie keine wirkliche Basis mehr. Folglich sehen wir den gegenwärtigen Horror des Zusammenbruchs der Familie ohne deren Zerstörung. Und nur wenige Menschen sind fähig, sich ohne sie ein vollkommenes Leben mit Intimität und Liebe vorzustellen.

Wenn wir wirklich unser Leben in all seiner Vollkommenheit zurückholen wollen, wenn wir wirklich unsere Wünsche von den Ketten der Angst und den Gebrauchsgütern befreien wollen, dann müssen wir nach dem Verständnis von allem, was uns ankettet, streben und wir müssen beginnen, all dies anzugreifen und zu zerstören. Beim Angriff auf die Einrichtungen, die uns versklaven, dürfen wir also nicht die vertrauteste und intimste Quelle unserer Sklaverei, die Familie, vergessen.

Warum wir alle im Gefängnis Leben: Knast, Gesetz und soziale Kontrolle

Es gibt einen Ort in dieser Gesellschaft, wo mensch sich unter ständiger Kontrolle befindet, wo jede Bewegung überwacht und kontrolliert wird, wo jedeR unter Verdacht steht ausser die Polizei und ihre AuftraggeberInnen, wo allen unterstellt wird, kriminell zu sein. Ich spreche natürlich vom Gefängnis... Aber diese Beschreibung trifft mit ständig beschleunigender Geschwindigkeit auch mehr und mehr für öffentliche Räume zu. Einkaufszentren und die Geschäftsviertel von Grossstädten werden videoüberwacht. Bewaffnete Wächter patroullieren in Schulen, Bibliotheken, Spitälern und Museen. Mensch wird an Flughäfen und Busstationen durchsucht. Polizei-Helikopter fliegen auf der Jagd nach Verbrechen über Städten und sogar Wälder. Die Methodik der Gefangenschaft, die eins ist mit der Methodik der Polizei, wird allmählich der ganzen sozialen Landschaft aufgezwungen.

Dieser Prozess wird durch Angst ermöglicht, und die Autoritäten rechtfertigen ihn mit unserem Bedürfnis nach Schutz ? vor Kriminellen, TerroristInnen, Drogen und Gewalt. Aber wer sind diese Kriminellen und TerroristInnen, wer sind diese Monster, die unsere von Angst erfüllten Leben stets bedrohen? Ein kurzes, vorsichtiges Nachdenken genügt, um diese Frage zu beantworten. In den Augen der HerrscherInnen dieser Welt sind wir die Kriminellen, wir sind die Monster ? zumindest potentiell. Schliesslich sind wir diejenigen, die überwacht und kontrolliert werden. Wir sind diejenigen, welche von den Video-Kameras verfolgt und auf Bus-Stationen durchsucht werden. Wir können uns bloss fragen, ob es die Tatsache der so leuchtenden Offensichtlichkeit ist, die die Leute so blind macht.

Die Angst ist so mächtig, dass die soziale Ordnung sogar um unsere Hilfe in unserer eigenen Überwachung bittet. Eltern registrieren die Fingerabdrücke ihrer Kleinkinder bei Polizei-Büros, die mit dem FBI verbunden sind. Ein in Florida ansässiges Unternehmen namens Applied Digital Solutions (ADS, zu deutsch ?Angewendete Digitale Lösungen?) erschuf den ?Veri-Chip? (aka ?Digital Angel?, zu deutsch ?Digital-Engel?), der persönliche, medizinische und andere Informationen enthalten kann, und ist zur Implantierung unter der Haut gedacht ist. Ihre Idee ist, für die freiwillige Nutzung dieses Chips zu werben, natürlich für Ihre eigene Sicherheit. Er mag bald mit dem Netzwerk des Satelliten des Globalen Positionierungs-Systems (GPS) verbunden sein, so dass alle, die ein solches Implantat besitzen, konstant überwacht werden könnten.* Zusätzlich gibt es Dutzende von Programmen, die Verrat und das Verpfeifen ermutigen ? ein ebenfalls an Gefängnisse erinnernder Faktor, wo die Autoritäten VerräterInnen aussuchen und belohnen. Natürlich haben die anderen Häftlinge diesem Abschaum gegenüber eine ziemlich andere Haltung.

Aber all dies ist nur beschreibend, ein Bild des sozialen Gefängnisses, das um uns herum aufgebaut wird. Ein wirkliches Verständnis dieser Situation, das wir zum Kampf gegen diesen Prozess nutzen können, benötigt eine tiefer gehende Analyse. Eigentlich basieren der Knast und die Polizei auf der Idee, dass Verbrechen geschehen, und diese Idee basiert auf dem Gesetz. Das Gesetz wird als eine objektive Realität porträtiert, wodurch die Handlungen der BürgerInnen eines Staates gerichtet werden können. Das Gesetz kreiert eine Art Gleichheit. Anatole France hat dies ironisch ausgedrückt, indem er darauf hinwies, dass es nach dem Gesetz Bettlern und Königen gleichermassen verboten ist, Brot zu stehlen und unter Brücken zu übernachten. Hierbei wird deutlich, dass wir vor dem Gesetz alle gleich werden, und zwar nur weil wir alle StatistInnen werden, Nicht-Seiende ohne eigene Gefühle, Beziehungen, Wünsche und Bedürfnisse. Die Objektivität des Gesetzes dient der Regulierung der Gesellschaft. Die Notwendigkeit einer solchen Regulierung bedeutet, dass in ihr die Bedürfnisse aller nach der Erfüllung ihrer Wünsche nicht befriedigt werden. Sie existiert vielmehr als eine Bürde der Mehrheit. Natürlich kann eine solche Situation nur dort existieren, wo Ungleichheit der signifikantesten Art herrscht ? die Ungleichheit im Zugang zu den Mitteln, um das eigene Leben nach eigenen Bedingungen zu gestalten. Für diejenigen, die die Oberhand besitzen, hat dieser Staat der sozialen Ungleichheit den doppelten Namen Eigentum und Macht. Für diejenigen, die unten sind, heisst er Armut und Unterwerfung/Abhängigkeit. Das Gesetz ist die Lüge, die diese Ungleichheit in eine Gleichheit verwandelt, die den HerrscherInnen dieser Gesellschaft dient.

In einer Situation, wo alle vollen und gleichen Zugang zu allem, was zur eigenen Erfüllung und zur Gestaltung ihres Lebens nach eigenen Bedingungen notwendig ist, besitzen würden, würde eine Fülle an individuellen Unterschieden blühen. Ein weites Feld von Träumen und Wünschen würde sich ausdrücken und ein scheinbar unendliches Spektrum von Leidenschaft, Liebe und Hass, Konflikten und gemeinsamen Neigungen schaffen. Diese Ungleichheit, wo weder Eigentum noch Macht existieren würden, würde also beängstigende und wunderschön unhierarchische Ungleichheit der Individualität zum Ausdruck bringen.

Im Gegensatz dazu werden dort, wo ein ungleicher Zugang zu den Gütern existiert, die zum Aufbauen eines eigenen Lebens notwendig sind ? d.h. wo die weite Mehrheit der Menschen ihres eigenen Lebens enteignet wurde -, alle gleichwertig, weil jedeR ein Nichts wird. Dies trifft sogar auf diejenigen zu, die Eigentum und Macht besitzen, denn ihr Status basiert nicht darauf, was sie sind, sondern darauf, was sie haben. Eigentum und Macht (die immer einer Rolle und nicht einem Individuum zueigen sind) sind alles, was in dieser Gesellschaft Wert besitzt. Die Gleichheit vor dem Gesetz dient den HerrscherInnen, weil ihr Ziel die Bewahrung der von ihnen beherrschten Ordnung ist. Die Gleichheit vor dem Gesetz versteckt soziale Ungleichheit hinter dem, was sie aufrechterhält.

Aber das Gesetz erhält die soziale Ordnung natürlich nicht durch das Wort. Das Wort des Gesetzes würde ohne die physische Kraft dahinter bedeutungslos sein. Und diese physische Kraft existiert in den Zwangs- und Bestrafungssystemen: Polizei, Gerichts- und Gefängnissysteme. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist eigentlich ein sehr dünnes Furnier, um die Ungleichheit beim Zugang zu den Existenz-Bedingungen, den Mitteln, um unser Leben nach eigenen Bedingungen zu gestalten, zu verstecken. Die Realität bricht konstant durch dieses Furnier, und seine Kontrolle kann nur durch Zwang und Angst aufrechterhalten werden.

Aus der Perspektive der HerrscherInnen dieser Welt sind wir in der Tat alles (zumindest potentielle) Kriminelle, alles Monster, die ihren ruhigen Schlaf gefährden, weil wir alle potentiell fähig sind, durch den Schleier des Gesetzes durchzusehen und uns zu entscheiden, es zu ignorieren und die Momente unseres Lebens nach eigenen Bedingungen zurückzuholen, wann auch immer wir es können. Das Gesetz selbst (und die soziale Ordnung von Eigentum und Macht, die seiner bedürfen) ist es also, das uns durch unsere Kriminalisierung gleich macht. Es ist also eine logische Auswirkung des Gesetzes und der sozialen Ordnung, die es produziert, dass Inhaftierung und Überwachung universell werden, Hand in Hand mit der Entwicklung des globalen Supermarktes.

In diesem Licht sollte es klar sein, dass kein Sinn darin besteht, Gesetze gerechter zu gestalten. Es macht keinen Sinn, die Überwachung der Polizei zu ersuchen, weil jede Reform unweigerlich dem System wiedergegeben würde mit zahlenmässig ansteigenden Gesetzen, ansteigendem Level von Überwachung und Kontrolle, was die Welt noch mehr wie ein Gefängnis gestalten würde. Es gibt nur einen einzigen Weg, auf diese Situation zu reagieren, wenn wir unser Leben wieder für uns selbst haben wollen. Diese Gesellschaft anzugreifen, um sie zu zerstören.

Nachwort: Die Zivilisation zerstören?

Ich vermute, dass alle AnarchistInnen damit einverstanden wären, dass wir jeder Institution, jeder Struktur und jedem System der Herrschaft und Ausbeutung ein Ende bereiten wollen. Die Ablehnung all dieser Dinge ist schliesslich die Grundbedeutung der Anarchie. Die meisten würden sich also damit einverstanden erklären, dass diese Institutionen, Strukturen und Systeme die folgenden sind: der Staat, Privateigentum, Religion, das Gesetz, die patriarchale Familie, Klassenherrschaft u.s.w.

In den letzten Jahren haben einige AnarchistInnen damit begonnen, über scheinbar nähere Begriffe der Notwendigkeit der Zerstörung der Zivilisation zu diskutieren. Dies führte natürlich zu einer Verteidigung der Zivilisation. Unglücklicherweise war dies eine grösstenteils sehr scharfe Debatte, die vielmehr aus Beschimpfungen, gegenseitig ungenauen Darstellungen und territorialen Streitigkeiten über das Eigentum des Labels ?anarchistisch? bestand als einer wirklichen Argumentation. Eines der Probleme (obwohl wahrscheinlich nicht das gewichtigste) hinter dieser Unfähigkeit, die Frage richtig zu debattieren, ist wohl, dass von beiden Seiten nur sehr wenige Individuen versucht haben, ihr Verständnis von ?Zivilisation? genauer zu erläutern. Stattdessen bleibt es ein schwammiger Begriff, der für die eine Seite alles Gute und für die andere Seite alles Schlechte verkörpert.

Um eine präzisere Definition der Zivilisation zu entwickeln ist es der Mühe wert, zu untersuchen, wann und wo gesagt wird, dass die Zivilisation entstanden ist und welche Differenzen momentan zwischen den als zivilisiert geltenden und den als unzivilisiert erachteten Gesellschaften existieren. Eine solche Untersuchung zeigt, dass die Existenz von Viehwirtschaft, Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Verfeinerung der Künste, Gewerbe und Techniken oder sogar die simplen Formen des Schmelzens von Metall nicht genügen, eine Gesellschaft als zivilisiert zu definieren (obwohl sie die nötige materielle Basis für das Entstehen einer Zivilisation enthalten). Vielmehr ist das, was vor ungefähr zehntausend Jahren in der ?Wiege der Zivilisation? entstand und von allen zivilisierten Gesellschaften geteilt wird, den als ?unzivilisiert? geltenden aber fehlt, ein Netzwerk von Institutionen, Strukturen und Systemen, die soziale Beziehungen der Herrschaft und Ausbeutung aufzwingen. Mit anderen Worten ist die zivilisierte Gesellschaft eine, die aus folgendem besteht: Staat, Eigentum, Religion (oder in modernen Gesellschaften: Ideologie), Gesetz, der patriarchalen Familie, Warenaustausch, Klassenherrschaft ? kurz alldem, wogegen wir AnarchistInnen uns stemmen.

Um es anders auszudrücken ? was alle zivilisierten Gesellschaften gemeinsam haben, ist die systematische Enteignung der Leben derjenigen, die darin leben. Die (von jeglichen moralischen Untermauerungen entfernte) Kritik der Domestizierung/Zähmung bietet ein nützliches Werkzeug zu diesem Verständnis. Was ist Domestizierung, wenn nicht die Enteignung des Lebens durch ein zweites Wesen, welches dieses Leben danach für eigene Zwecke ausbeutet? Die Zivilisation ist also die systematische und institutionalisierte Domestizierung der breiten Mehrheit der Menschen einer Gesellschaft (und der Tier- und Pflanzenwelt, Anm. die eule) durch die wenigen, die durch das Netzwerk der Herrschaft bedient werden.

Der revolutionäre Prozess der Wiederaneignung unseres Lebens ist also der Prozess unserer Entzivilisierung, des Abwerfens unserer eigenen Domestizierung. Dies bedeutet nicht, passive Sklaven unserer Instinkte zu werden (falls dies überhaupt existiert) oder uns in der angeblichen Einheit der Natur aufzulösen. Es bedeutet, unkontrollierbare Individuen zu werden, die Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, in freier Verbindung mit anderen selbst fällen und ausführen können. Daher sollte es offensichtlich sein, dass ich jegliche Modelle einer idealen Welt verwerfe (und jeder allzu perfekten Vision misstraue ? ich vermute, dass dort das Individuelle verschwunden ist). Seit die Wiederaneignung des Lebens durch Individuen, die ausgebeutet, enteignet und beherrscht wurden, die Essenz des anarchistische Ideale tragenden revolutionären Kampfes ist, würde es während des Prozesses dieses Kampfes sein, dass Menschen entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen, was sie von dieser Welt verwenden wollen, um ihre Freiheit zu vergrössern, Möglichkeiten zu öffnen und zu ihrem Gefallen zuzufügen, und was würde es nur für eine Last sein, Lebensfreude zu stehlen und die Ausbreitung der Freiheit zu untergraben. Ich sehe keine Möglichkeit, dass ein solcher Prozess ein alleiniges, universelles soziales Modell bilden könnte. Vielmehr entstünden mit der Zeit unzählige, von Ort zu Ort drastisch variierende Experimente und Veränderungen, die die einzelnen Bedürfnisse, Wünsche, Träume und Aspirationen von allen Individuen reflektieren würden.

So lasst uns also tatsächlich die Zivilisation zerstören, dieses Netzwerk der Herrschaft, aber nicht im Namen irgend eines Modells, einer asketischen Moral der Aufopferung oder einer mystischen Zersetzung in eine vermeintlich nicht-entfremdete Einheit mit der Natur, sondern vielmehr für die Wiederaneignung unseres Lebens, der kollektiven Wieder-Erschaffung von uns selbst als unkontrollierbaren und einzigartigen Individuen ? deshalb müssen wie die Zivilisation zerstören, dieses zehntausend Jahre alte Netzwerk der Herrschaft, das sich selbst über den Globus verbreitet hat - und einen wunderbaren und beängstigenden Ausflug in die Ungewissheit namens Freiheit einleiten.