Vorschlag für eine internationale Debatte betreffend der repressiven Restrukturierung
Für eine internationale aufständische Perspektive
Analytische Elemente der laufenden repressiven Restrukturierung
Es ist zweifellos falsch noch immer von einer „Krise“ des Kapitalismus oder der Verwaltungsweise des Staates zu sprechen. Denn wir wohnen einer breiten Restrukturierung bei, die alle Bereiche der Gesellschaft betrifft. In Europa hat das sozialdemokratische Model, welches Jahrzehnte lang dafür gedacht war den sozialen Frieden auf dem europäischen Kontitent zu garantieren, sein Verfallsdatum überschritten. Dieses Modell diente der gesamten reformistischen und rekuperierenden Bewegung als Horziont. Sein Ende kündigt das Ende einer Epoche an und den Anbeginn einer neuen Ära. Einer Ära in der sich die revolutionäre Konfrontation auf immer feindlicherem und kontrollierteren Terrains wiederfinden wird. Denn der Staat und das Kapital dringen, mittels massiver Verbreitung der Technologien, immer tiefer in alle sozialen Beziehungen ein. Das verheißt keine einfachen Zeiten, wenn auch nicht ohne aufständischem Potential.
Die Wegweiser des Kurses, den diese Restrukturierung in Europa verfolgen wird, sind bereits gesteckt: es ist die gegenwärtige Situation des sozialem Kannibalismus in Griechenland, zusammen mit der Intensivierung der Ausbeutung, der „Rückkehr“ des Hungers und der Krankheit und der Auslöschung der kleinen Träume eines garantierten Konsums, der durch die berühmte im verschwinden begriffene Mittelklasse unterhalten wurde. Diese ökonomische Restrukturierung nimmt nicht überall dieselbe Form an und verfolgt auch nicht denselben Rhythmus, aber ihre Logik, ist für die gesamten Staaten der EU dieselbe. Das Wiederaufkommen des Hinterhofnationalismus und des Patriotismus verschleiern die latente Möglichkeit, dass der soziale Krieg entflammt. So beklagen sich die Leute über das Schicksal, welches dieses oder jenes Land erleidet. Dies kann in den Ländern des europäischen Süden, den ersten Betroffenen beobachtet werden („es ist die Schuld der Länder des Nordens“). Es kann aber auch in den nördlichen Ländern beobachtet werden („nicht wie die Länder des Südens werden“), hier und dort, bis in die Diskurse der Anarchisten und Revolutionäre durchsickernd.
Jedes System, das eine Restrukturierung durchmacht, durchläuft eine Periode von relativer Instabilität. Um zu heilen, lässt der menschliche Körper die Temperatur ansteigen. Er geht durch eine Periode des Fiebers, wodurch er die Bakterien tötet. Die soziale Temperatur ist im Anstieg, aufgrund von Gründen, die zweifellos mit einem Fuss, ja sogar mit beiden, innerhalb der durch die Ingenieure des Kapitals vorgesehenen und geplanten Restrukturierung bleiben. Aber jeder Temperaturanstieg ist, für revolutionäre Anarchistinnen, auch eine Möglichkeit. Nicht, um diese Instabilität auf ein Programm auszurichten und zu orientieren, wie es die sterbende Linke vorschlägt. Auch nicht, um sie zu beruhigen und sie in etwas „Positives“ zu verwandeln, wie es die Erbauer von Alternativen vorschlagen. Auch nicht, um alle Revoltierenden in einer grossen anarchistischen Massenorganisation zu föderieren. Eine Massenorganisation, die fatal dazu geneigt ist, die Initiative zu bremsen, die Autonomie zu zerstören, die bürokratischen und politikerhaften Makel zu reproduzieren. Sondern, um Öl ins Feuer zu gießen, um dafür zu sorgen, dass der Konflikt einen gewissen Punkt übersteigt, nach welchem die Dinge ausser Kontrolle geraten.
Der Staat ist nicht blind und ist sich dieser Möglichkeit bewusst. Im Wissen, dass die klassischen Formen von politischer Mediation immer weniger tauglich werden, um die etablierte Ordnung zu bewahren, findet er sich in der Pflicht, sein repressives Arsenal auszuweiten und zu verstärken. Innerhalb des europäischen Raumes ist dieselbe Logik am Werke, die sich, je nach lokalem Kontext ausdrückt, durch die breiten Programme zum Bau von neuen Gefängnissen, Internierungszentren, spezifischen Einsperrungsstrukturen wie die psychiatrischen Gefängnisse, durch die Renovierung und die Ausweitung der bestehenden Gefängnisse, durch die massive Einführung der verstreuten Einsperrung in Form von elektronischer und technologischer Kontrolle. Aber, wenn die Masseneinsperrung immer eine wichtige Waffe der Staaten gewesen ist, um die sozialen Unruhen innerhalb einer Gesellschaft von industrieller Ausbeutung zu verwalten, so ist sie fern davon, die einzige zu sein. Die repressive Restrukturierung ist auch spürbar in der Ausweitung der Kontroll- und Überwachungsmassnahmen, der immer breiteren Anwendung der Technologien, um die menschliche Masse zu verwalten, zu kontrollieren und zu unterdrücken. Weiters ist sie erkennbar in der Militarisierung der Grenzen, den breiten Investitionen in die, private und öffentliche, an die Sicherheit und die Verteidigung gebundene Forschung, die Neudefinition des juridischen und polizeilichen Apparates, oder auch die Bildung einer europäischen Gendarmerie, die dazu gedacht ist, den lokalen Ordnungskräften im Fall von Unruhen unter die Arme zu greifen und das Aufstandsbekämpfungstraining der Polizeikräfte. So scheint diese Restrukturierung in Richtung eines Ineinandergreifens der verschiedenen Aspekte der Repression und der Kontrolle voranzuschreiten. Ebenso wie die Grenze zwischen einem Drinnen und einem Draussen immer verschwommener wird, so verblassen die Unterschiede zwischen militärischer Verwaltung und polizeilicher Repression, zwischen Aufstandsbekämpfungstaktik und zeitgenössischem Urbanismus, zwischen der Kontrolle an den Grenzen und der Kontrolle der Transportachsen. Es versteht sich von selbst, dass diese Restrukturierung die Feinde der Autorität nicht schonend behandeln wird. Indem sie feinmaschige Überwachungsnetzte um die Revolutionärinnen strickt. Indem sie Spezialregime in den Gefängnissen einführt, die für Revolutionäre vorgesehen sind und indem sie das revolutionäre Handeln auf alle erdenklichen Weisen erschwert. Damit hat die Restrukturierung gleichzeitig alle Ausgebeuteten und Unterdrückten im Fadenkreuz.
Aus diesen Gründen halten wir es für angebracht, einen internationalen Vorschlag zu lancieren. Da die laufende Restrukturierung alle Terrains der Gesellschaft betrifft (ökonomisches, politisches, soziales, kulturelles), sind wir der Ansicht, dass die Fortschritte auf dem repressiven Terrain wichtige revolutionäre Interventionsmöglichkeiten bieten. Diese Fortschritte sind im Grunde sinnbildlich für den Weg, den die Herrschaft dabei ist, zu gehen. Sie werden gemäss einer Aufstandsbekämpfungslogik programmiert und realisiert, die den Interessen des Kapitals und des Staates angepasst sind: dem Modell der Sozialdemokratie, welches den subversiven und wilden Elan unterwarf, folgt das Modell der Gesellschaft als Gefängnis unter offenem Himmel.
Ja, darin, was die Möglichkeit selbst von einer revolutionären Vorstellungswelt und von einem anarchistischen Handeln betrifft, bringt jeder Fortschritt der Herrschaft, anstatt Widersprüche zu produzieren, die ihn in Richtung eines unweigerlichen Zusammenbruchs führen würden, mehr Kontrolle, mehr Massaker, mehr Genozid und mehr Terror mit sich. Deshalb sollte keine Gelegenheit vernachlässigt werden den Ansturm zu lancieren. Das Warten arbeitet nur zu Gunsten unseres Feindes, der, in seinen Laboren und seinen Forschungszentren, eine immer domestiziertere und unterworfenere Zukunft programmiert. Nun, es ist sicherlich vorstellbarer, ein Gefängnis zu zerstören, das sich im Bau befindet, als ein Gefängnis zu zerstören, das in voller Funktion ist, und dies gilt für die Gesamtheit der Fortschritte der Herrschaft.
Ein internationaler Vorschlag
Wie wir sagten unterscheiden sich die Details der Restrukturierung je nach Kontext. Während sie folglich die Internventionsachsen verändert, so ist die Logik, die am Werk ist, überall dieselbe. Damit sind die Bedingungen gegeben, um sich Kämpfe und Interventionen vorzustellen, die eben diese Logik, an verschiedenen Orten und gemäß verschiedener Modalitäten, angreifen.
Dennoch, diesen internationalen Kampfvorschlag gegen die repressive Restrukturierung zu lancieren, erfordert, jenseits der Bedingungen, ein noch viel wichtigeres Element, nämlich Spezifizierungen darüber, was die Charakteristiken der Kampfinitiativen betrifft.
Die Charakteristiken von diesem internationalen Vorschlag sind die folgenden:
Aufständisch
Wir sind der Ansicht, dass die Kämpfe gegen den Bau von neuen Gefängnissen, die Sicherheits- und Militärindustrie, die Installation der Kontroll- und Überwachungssysteme, die wachsenden wissenschaftlichen Forschungen in Hinsicht darauf, die etablierte Ordnung zu schützen, die internationalen Zusammenarbeiten zwischen den Staaten in Sachen Repression, von aufständischer Natur sein sollten.
-
Die Restrukturierung ist eine soziale Frage. Sie ist ein Problem, das die bestehenden sozialen Beziehungen, die auf Autorität und Ausbeutung basieren, betrifft. Deshalb schreiben sich die aufständischen Initiativen in eine Perspektive der Subversion dieser sozialen Beziehungen ein, die zur selben Zeit die Grundlage und das Ziel dieser Restrukturierung sind.
-
Die Kampfinitiativen setzen die aufständische Methode in die Praxis um, das heisst, die Selbstorganisation, den Angriff und die permanente Konflikthaltung. Dies begreifen sie als die beste Weise, um die materiellen und mentalen Bedingungen zu schaffen, um die Realisierungen des Feindes zu zerstören. Die aufständische Methode beruht auf der Vielseitigkeit der anarchistischen Praxis. Sie stellt die Aktionsautonomie und die freie Initiative als Katalysatorelemente von jeder Kampfdynamik in den Vordergrund.
-
Diese Methode ist nicht einheitlich und sie ist auch kein Rezept. Sie kann die Perspektive eines spezifischen Kampfes gegen den Bau eines neuen Gefängnises annehmen. Ebenso kann sie die Form der praktischen und unmittelbaren Kritik der Strukturen und Menschen annehmen, welche die repressive Restrukturierung ermöglichen. Jedoch zielt sie stets auf die Zerstörung ab, und nicht auf die Reform, die graduelle Veränderung oder die Umwandlung des Raumes in alternative Inseln im Ozean des staatlichen Horrors.
-
Anstatt zu warten und auf die quantitative Illusion zu setzen, setzt die aufständische Methode auf die Qualität des Kampfes oder der revolutionären Intervention. Das heisst, sie setzt auf ihre theoretische und praktische Fähigkeit, die Fundamente des Feindes zu untergraben und ihn anzugreifen. Dies unterscheidet die aufständische Methode von der – unserer Ansicht nach obsoleten – syndikalistischen Methode oder von Stellvertreterpolitik, welche prinzipiell auf der Verteidigung der Interessen einer gewissen sozialen Kategorie oder Klasse basieren.
Informell
Auf organisatorischer Eben denken wir, dass es die Informalität und die informelle Organisation ist, welche diesem Vorschlag, und allgemeiner dem aufständischen anti-autoritären Kampf am besten entsprechen. Demzufolge: kein Kongress, kein Programm, keine Bürokratie, keine politische Repräsentation, Delegation oder Wortführer. Dieser internationale Vorschlag zielt also nicht auf die Bildung irgendeiner Organisation ab. Sondern er zielt darauf ab, Räume zum Austausch, zur gegenseitigen Kenntnis und zur Diskussion zu öffnen. Wir zweifeln nicht daran, dass es diese Räume erlauben werden, eine bessere Kenntnis von dem zu haben, was anderswo passiert, die Bedingungen für Interventionen zu schaffen, die in einer Optik von internationaler Solidarität und von gemeinsamem Kampf gedacht sind. Sie werden es weiters erlauben, zeitweilige Koordinationen zwischen den verschiedenen Kämpfen, entstehen zu lassen, die Informalität zu vertiefen, aus der, je nach Affinitäten und Projekten, die Initiativen aufkommen werden. Damit zielt dieser internationale Vorschlag, durch die gegenseitige Kenntnis der Kampfprojekte, darauf ab, „organisatorische Gelegenheiten“ zu stimulieren, die zum Ziel nicht das quantitative Anwachsen, sondern die Qualität der revolutionären Intervention haben.
International
Wir denken, dass keine Tat, kein Kampf, kein Gefecht, einzig eine lokale Dimension hat, oder besser gesagt, dass die Staaten alles Interesse daran haben, den Raum zu begrenzen, um ihn besser zu verwalten. Wenn sich die Restrukturierung, im Raum der EU, gemäss derselben Logik und zufolge ähnlicher Modalitäten auswirkt, so sind wir der Ansicht, dass das Gefecht gegen die repressive Restrukturierung auf einer internationalen Ebene geführt werden kann und muss, zweifellos mit verschiedenen Intensitäten und in verschiedenen Formen. Außerdem sind wir von der Tatsache überzeugt, dass die Schaffung von Räumen des internationalen Kampfes, die verschiedenen Kämpfe verstärken wird, die in einem spezifischen Kontext stattfinden.
...um wohin zu gehen?
Jeder und jede wird sicherlich einige Vorstellungen im Kopf darüber haben, was einen solchen Vorschlag, wie wir ihn hier präsentieren, betrifft. Es scheint uns gewiss, dass dies verschiedene Formen annehmen wird, und dass die Grade von Austausch und Kooperation jenseits der Grenzen und zwischen verschiedenen Kämpfen variieren werden. Es geht absolut nicht darum, zu einer einheitlichen Intervention zu gelangen, sondern, ganz im Gegenteil, das Entstehen einer Vielfältigkeit von Reflexions- und Austauschräumen zu fördern. Wir laden die Gefährten und Gefährtinnen, die an diesem Vorschlag interessiert sind, dazu ein, untereinander darüber zu diskutieren, mit präziseren Analysen, mit Reflexionen und Kritiken dazu beizutragen.
In der Vergangenheit hat es andere Versuche und Erfahrungen dieser Art, mit positiven und negativen Aspekten, gegeben. Wir denken, dass angesichts der laufenden Restrukturierung und in Anbetracht dessen, dass in verschiedenen Regionen von Europa Kämpfe auf diesem Terrain (gegen den Bau von neuen Gefängnissen, gegen die Einführung von neuen Regimen, gegen die Kontrolltechnologien, gegen die militär-polizeilichen Stützpunkte, gegen die Internierungszentren...) am Laufen sind, dieser Vorschlag bestehende Kampfdynamiken verstärken wird und dazu beitragen könnte, daraus andere entstehen zu lassen.
Heute liegt uns am Herzen, aufständische Kampfmethoden zu reflektieren, mit ihnen zu experimentieren und sie in die Praxis umzusetzen – und das auf einer internationalen Ebene.