THE LAW
zu deutsch: das recht, gesetz, rechtssystem, gericht, die bullen, vorschrift
dies ist eine kritik am flyer [1] „die libertäre aktion winterthur; deine ansprechpartnerin für anarchistische theorie und praxis“ (link: hier [2]). sie soll dazu anregen, die „anarchistischen“ strukturen, gruppierungen und ideologien zu hinterfragen und bereits vorhandene diskussionen zu vertiefen. diesem versuch spaltung vorzuwerfen, wiederspiegelt nur den kritisierten massenglauben und wiederholt die aufrechterhaltung des linken einheitsbreis, die der erhaltung des sozialen friedens dient. hier wird nicht behauptet, dass dieser text eine umfassende und kritikfreie analyse ist, falls so etwas überhaupt möglich sein sollte. es geht darum, neue gedankengänge zu provozieren und mit der vorherrschenden vagheit zu brechen.
die grundstruktur des genannten flyers ist fogende: die libertäre aktion winterthur (LAW) möchte eine ansprechpartnerin für an anarchistischer theorie und praxis interessierte darstellen. es wird klargestellt, wie auf dieses angebot zugegriffen werden kann und was dabei zu erwarten ist. zu diesem zweck wird versucht eine komplette theorie auf einem knapp zwei A4 seiten langen flyer darzulegen. zum abschluss wird die umsetzung der theorie in die praxis mit einigen wenigen beispielen in klaren grenzen gehalten.
die LAW scheint davon auszugehen, dass die menschen, die immerhin selbstständig genug denken können, um zu erkennen, dass sie sich mit anarchistischer theorie auseinandersetzen und diese auch ausleben wollen, noch stets einer starken führung bedürfen. eine überlegung, die uns nur allzu bekannt vorkommt. seien es die jetzigen zustände in der politik, die durch medien vorgefertigten meinungen (egal ob links oder rechts), die nur noch übernommen und als die eigenen vermarktet werden müssen, die ökonomischen strukturen oder die propagandierung reformistischer, sozialistischer, kommunistischer oder moralischer parolen - überall ist die idee der starken, bewussten, aufgeklärten, zivilisierten, bemittelteren, hierarchisch höher gestellten, die den schwachen, unbewussten, unaufgeklärten, unzivilisierten, minderbemittelten, unterdrückten zeigen wo‘s lang geht vorhanden. wer in dieser umgebung gross geworden ist, hat das freie, selbstbestimmte denken nie gelernt und es ist auch besser, es dabei zu belassen: nur so kann sicher gestellt werden, dass die revolution so verläuft, wie sich die aufgeklärten vorreiterinnen das vorstellen.
der gesamte text ist so geschrieben, dass er möglichst „die massen“ ansprechen soll und für diese einfach zu verarbeiten ist. ein beispiel ist die folgende textstelle: „selbstverständlich bevorzugen wir ein leben im relativen wohlstand in der schweiz, und auch wir sehen die vorteile, die eine so genannte demokratie gegenüber einer diktatur bietet.“ diese populistische und zugleich reformistische aussage kann nur so verstanden werden, dass jene menschen nicht abgeschreckt werden sollen, die zwar eine änderung wollen, aber es eigentlich auch ganz bequem finden, weiterhin von ihren privilegien zu profitieren. es wird nur die relativität des fortschritts, jedoch nicht sein vorhandensein an sich in frage gestellt. ein weiteres beispiel dafür: „auch werden die typischen probleme unserer heutigen gesellschaft -rassismus, und antisemitismus, sexismus und homophobie, konkurrenzdenken und krieg- ihrer ökonomischen grundlagen beraubt und damit realistischerweise aufhebbar.“ damit wird eine komplizierte realität auf eine oberflächliche kritik herunter gebrochen, um sie für alle zugänglich und konsumierbar zu machen. sich darauf einzulassen heisst einerseits, eine stark vereinfachte und somit zu kurz greifende systemkritik zu verbreiten. anderseits wird deutlich, dass durch das bereitstellen von einfachen „antworten“ die eigeninitiative zu einer tiefgründigen auseinandersetzung mit sich selbst, dem herrschenden und revolutionären perspektiven nicht angestrebt wird. die möglichkeit zur freien entfaltung und vereinigung von individuen wird nicht nur nicht in betracht gezogen, sondern für angeblich übergeordnete notwendigkeiten aufgeopfert. solche populistische, vereinfachte, ja sogar manipulative propaganda kann nur darauf ausgelegt sein, dass grundlegende veränderungen allein durch von avantgardistinnen geführte massen passieren sollen. in einer anarchistischen analyse, die schon durch den namen herrschaftsfrei zu sein hat, hat eine solche ansicht nichts verloren.
es gibt noch einige textstellen, die darauf hinweisen, dass die LAW sich als organisation „professioneller aktivistinnen“ sieht und diese position einer organisation auch nach der revolution als unumgehbar und notwendig empfindet: ein technischer fortschritt und möglichst gleichmässige aufteilung von unbeliebter arbeit wird forciert (duden: forcieren: etwas mit nachdruck betreiben, vorantreiben, beschleunigen, steigern. forciert: gewaltsam, erzwungen, gezwungen, unnatürlich); wir werden im „wahrhaft demokratischen wirtschaftsmodell“ leben; entscheide werden von unten nach oben stattfinden; jeder person wird ein möglichst hohes mass an entscheidungen über ihr alltägliches leben in der kommune eingeräumt; bei unzufriedenheit mit beschlüssen steht einem jederzeit die möglichkeit offen, die kommune zu verlassen. wie eine solche (über-)organisation aussehen sollte, wird auch gleich klargestellt: sie wird die verschiedenen kämpfe auf ein allseitig anwendbares ideologisches fundament stellen und eine gesamtheitliche strategie entwickeln, die sicher stellt, dass sich die taktiken nicht im widerspruch zur ideologie und zu sich selbst befinden. um hier noch die angestrebte machtposition und unantastbarkeit der organisation zu verbergen, hilft es auch nichts, wenn weiter hinten im text beteuert wird, dass diese strategie keine unbegrenzte gültigkeit hat und für eine herrschaftslose gesellschaft gekämpft wird. wiederlegt wird diese behauptung spätestens im nächsten abschnitt, in dem „die revolutionäre disziplin den assoziierten menschen verbietet, politische aktivitäten zu betreiben, die im widerspruch zur ideologischen oder strategischen linie der organisation stehen“. kann dies anders verstanden werden, als dass der organisation totaler gehorsam gehört und am besten auch keine fragen gestellt werden sollen? jeder weitere versuch, das eigene programm als anarchistisch darzustellen, scheitert kläglich bei der verwendung der begriffe föderaler aufbau, basis und mitglied, beim eingeständniss, dass die eigene meinung optimalerweise gerade noch dazu berechtigt ist, den endgültigen beschluss mitzuprägen und bei der unterscheidung von „intern“ und „extern“.
alles in allem spricht sich die LAW deutlich über ihre ziele aus. es soll eine gesellschaft entstehen, die zwar nicht in den herkömmlichen ökonomischen strukturen hängenbleibt, aber weiterhin von konsum und einem materiellen bedürfnis, das gestillt werden muss, ausgeht. jegliche individuellen lebensentwürfe werden unter dem deckmantel der herausgeschrieenen freiheit im keim erstickt, in dem alle entscheidungen den filter der organisation (LAW?) durchlaufen müssen. wiedersprüche zu deren ideologie haben keinen platz. erkennen wir hier nicht ein altbekanntes muster? der weg zu dieser neuen gesellschaft führt über die aufklärung und animation der ausgebeuteten zum widerstand von innerhalb einer organisation, über den phantasielosen rückgriff auf angeblich altbewährte methoden, über die beteiligung an kampagnen -welche per se mit forderungen an die herrschenden strukturen verbunden sind- und über weitere konsumierbare, attraktive aktivitäten, die einem publikum angeboten werden.
was die LAW hier propagiert, hat nichts mit einer anarchistischen perspektive zu tun. es ist viel mehr ein weiterer versuch, das system zu renovieren. dies geschieht hier zwar in umfassenderer weise, als es üblich ist, bleibt dabei aber weiterhin dem glauben an verwaltung und zentrierung der bedürfnisse hörig.
wem dies nicht genügt, wer das verlangen nach mehr -so diffus sich dieses auch äussern mag- in sich trägt, kann sich nicht mit den herrschenden verhältnissen und eben so wenig mit deren reformistischen veränderungen zufrieden geben. wer ein unbändiges gefühl, ein drängen und sehnen nach etwas, das wir so vereinfacht „die freiheit“ nennen, in sich spürt, wird sich in einer organisation -unter welchem namen diese auch agiert- niemals wiederfinden, noch vollständig entfalten können.
wenn wir unserer sehnsucht nach leben neue nahrung geben, es ausprobieren und auskosten wollen, müssen wir mit allem bestehenden brechen, können wir keinem weiteren programm folgen und keine kompromisse mehr eingehen, müssen wir uns unserer künstlichen bedürfnisse entledigen und das experiment mit dem unmöglichen wagen. dazu gehört vermeintliche sicherheit und kontrolle loszulassen, sich seinen ängsten zu stellen, genauso, wie die annahme jeglicher hierarchien zu verweigern und die einschränkung oder verletzung unseres selbst nicht zuzulassen .
damit wir unsere leben erfahren und neue ideen sich entfalten können; eine komplett neue perspektive entwickelt werden kann, muss alles was uns davon abhält zerstört werden. widmen wir uns der freude, die in dieser zerstörung wächst.
[1] die kritik ist konkret auf diesen flyer gerichtet. die LAW und ihre strukturen werden nur anhand dieses flyers analysiert, dabei wurde kein vorwissen oder andere bezugspunkte eingebaut. wäre der flyer von einer anderen organisation, sähe die kritik gleich aus. es geht in diesem konkreten fall um das wie und was, nicht um das wer. die kritik konzentriert sich ausserdem nur auf einen teilaspekt der wiederspüchlichkeit des flyers. weitergehende auseinandersetzung mit einem konsequenten bruch mit den herrschenden verhältnissen und den reformistischen strategien „linker organisationen“ werden hoffentlich an einem anderen ort statt finden.
[2] http://www.arachnia.ch/etomite/Joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=309&Itemid=29