#title Gegen die Übernahme der Produktion!
#author SwitchOFF!
#date 2010
#source Eine Broschüre von ca. 2010.
#lang de
#pubdate 2025-04-02T23:00:00
#authors SwitchOFF!
#topics Produktionsmittel, Produktion, Arbeiterkontrolle, 2010–2019, Verdinglichung, Angriff, Industrialismus


*** <strong>Prolog</strong> oder so ähnlich

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Anarchistische Analyse und Praxis — dies sind unsere Mittel zur Abschaffung der herrschenden, lebensverachtenden Zustände. Wie diese genau auszusehen haben, darüber gibt es glücklicherweise viele Meinungen, denn dies ist eine wichtige Wesensart anarchistischen Denkens und Handelns — dass wir uns nicht auf eine Stossrichtung festlegen, weil wir nicht in autoritäre Fallen tappen wollen. Trotzdem und auch gerade deshalb ist es wichtig, gesunden Austausch und produktive(!) Kritik untereinander aufrecht zu erhalten.

Eis ist oftmals zu bemerken, dass Analysen und Kritiken, die nicht verbreitet oder allgemein akzeptiert sind, allzu leicht mit stumpfsinnigen Scheinargumenten oder schlichtem Desinteresse verworfen oder ignoriert werden. Dies entspricht nicht der angestrebten freigeistigen Offenheit. Während einflussreiche AnarchistInnen immer wieder betont haben, dass die gegenwärtige Situation die anarchistische Theorie und Praxis bestimmt und nicht irgendein versteinertes Kredo, weigern sich viele ihrer AnhängerInnen, auf Fragen einzugehen, die von ihren Vorbildern nicht gestellt wurden oder gewisse althergebrachte Ansichten nochmals neu zu überdenken, obwohl sich seither viel verändert hat. Sie verharren lieber auf der Sicherheit zitierter Seiten und glauben an ihre Richtigkeit in alle Ewigkeit so wie die ChristInnen sich verzweifelt an der Bibel und ihren Geboten festkrallen.

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Eine der wichtigsten Stützen praxisbezogenen anarchistischen Denkens ist die Übernahme der Produktion. Es gibt verschiedene, jedoch allesamt ziemlich alte und aus heutiger Sicht aufgrund der rasenden Veränderungen der Moderne mangelhafte Analysen, wie und vor allem weshalb dies anzustreben sei. Ich möchte mit diesem Text jedoch keine neue Methode der Organisierung der Produktion von unten definieren, sondern vielmehr die Einrichtung an sich kritisch betrachten.

Um keine Verirrung zu stiften und Unklarheiten vorzubeugen, werde ich mit einer gängigen Definition der Produktion beginnen:

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„<em><strong>Produktion</strong> (...) ist der vom Menschen bewirkte Transformations-Prozess, der aus natürlichen wie bereits produzierten Ausgangsstoffen unter Einsatz von Energie, Arbeitskraft und bestimmten Produktionsmitteln lagerbare Wirtschafts- oder Gebrauchsgüter erzeugt.“</em>

<em>(http://de.wikipedia.org/wiki/Produktion)</em>

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„<em>Produktion ist simpel die Umwandlung von Inputs zu Outputs.“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Production_theory_basics)</em>

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Mein Verständnis der zweiten Definition werde ich später genauer erläutern. Zu Beginn ist ist mir der Fakt wichtig, der den Definitionen allgemein innewohnt: dass mittels der Produktion Güter produziert werden, die dem Menschen dienen, seine/ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

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Es ist ein zentrales Ziel der Produktion, die Bedürfnisse der Gesellschaft und ihrer Individuen zu befriedigen. Die Ironie, dass der Mensch aber einen riesengrossen Teil seines/ihres Lebens durch Lohn-Sklaverei zwangsabarbeiten muss, damit diese Bedürfnisse befriedigt werden können (je nach dem wie viel Geld mensch kriegt), ist bekannt und wir finden auch gute Kritiken und Analysen zur Lohnarbeit. Doch wie gesagt wurde die Produktion selbst (abgesehen von einigen anarchistischen Kreisen in den USA und in England) noch viel zu wenig kritisch beleuchtet.

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*** Bedürfnis-Konflikt

Ein grosser Teil dessen, was wir heute als menschliche Bedürfnisse definieren würden, ist relativ neu. Es sind einerseits solche, die durch die veränderte („zivilisierte“) und sich immer schneller wandelnde Umgebung und Lebenssituation hervorgerufen werden (zum Beispiel Schutz vor psychischen und physischen Krankheiten wie Stress und Krebs) und andererseits solche, die uns vom System und dem herrschenden Denken eingeimpft werden. Ich möchte erst einmal aufzeigen, dass all diese jedoch zweitrangig sind gegenüber anderen, viel grundlegenderen Bedürfnissen.

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Was sind denn unsere primären Bedürfnisse? Diese Frage sollte eigentlich zu einem Schmunzeln anregen, aber ich glaube nicht, dass wir uns dessen wirklich genügend bewusst sind. Und falls doch, dann weiss ich nicht wie es möglich war, ein System aufzubauen, das genau diese wichtigsten Dinge zerstört: Luft, Wasser, Bäume. Vielfalt. Wilde Freiheit. Beziehungen, die über den Zweck von Prestige, Sex, Vorteil oder Macht und über rationale Zwecke an sich hinausgehen. Und nicht zuletzt die ganze Erde, welche sich einem Kollaps wenn nicht gar der vollständigen Zerstörung nähert, weil uns Schnelligkeit, Unterhaltung und Shopping wichtiger sind als alles andere. Dies hat natürlich nicht bloss mit der Produktion zu tun, sondern vielmehr noch mit dem ganzen Machtapparat und Ausbeutungssystem, doch eben weil dieses Problem noch ungenügend betrachtet wurde und eine grundlegende Rolle spielt, möchte ich in dieser Perspektive verbleiben.

Ich hoffe, niemand bestreitet die sekundäre Wichtigkeit von Computern, Pillen, Elektrizität u.s.w. Und ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass alle spezifisch der Zivilisation entstammenden Bedürfnisse sekundär sind. Menschen, die sich darüber im Klaren sind, was sie zum Leben wirklich brauchen und symbiotisch mit ihrer Umwelt verkehren, kämen nie auf die Idee, sich gegenteilig zu erhalten. Nur Gewalt konnte sie von diesem Weg abbringen, durch den Glauben an zornige und eifersüchtige Götter, die angeblich von ihnen eingesetzten Gottkönige und den von dieser Ordnung aufgebauten, maschinengleich funktionierenden Herrschaftsapparat, der von seiner Auferstehung bis heute grundsätzlich gleich funktioniert:

„<em>Imperialismus gegen aussen und Repression gegen innen“</em>

<em>(Stanley Diamond).</em>

Dass der Kapitalismus sich teilweise auf eine „grüne“ Politik einstellt, heisst aber nicht, dass er dies kapiert und davon gelernt hätte. Und genauso wenig trifft dies auf die grünen AktivistInnen der Linken, den WWF oder Greenpeace zu. Diese klammern sich bloss an ihren Standard und ihre kranke Welt und versuchen mit politischer und wirtschaftlicher Kosmetik ihre Hoffnungen am Leben zu erhalten. Dies ist beim Kapitalismus nicht anders, bloss dass hier mit dem Ökologie-Gedanken ein grosser, viel sersprechender Markt aufgetaucht ist.

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Die offensichtliche Unvereinbarkeit unserer grundlegenden und ‚zivilisierten“ Bedürfnisse ist jedoch nicht der einzige Grund, warum ich auf die primären Dinge zu sprechen komme. Wollen wir nämlich wirklich eine neue Welt erleben, die von unserer heutigen so verschieden ist, so müssen wir alles, was von hier nach da mitgebracht werden soll, sehr bewusst gewählt werden. Sonst wird es uns wie den Siedlern in der Neuen Welt (Amerika) gehen, welche dort ohne Könige, Abgaben und Zwänge neu anfangen wollten, ihr ganzes Vorhaben jedoch auf die Waffen, Moral und Geisteshaltung der Alten Welt stützten und somit bloss eine weitere Transformation des Systems in Richtung umfassender Mechanisierung und Kontrolle des Lebens bewerkstelligten, genauso wie es die Französische oder die Industrielle Revolution getan haben. Alle Errungenschaften der Zivilisation, mögen sie teilweise noch so positiv verwendbar sein, wurzeln in ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext. Ihre Transferierung in eine „andere Welt“ würde unvermeidbar Teile dieses Kontexts mit sich bringen, physischer wie auch psychischer Art.

Nochmals: Kritisches Hinterfragen ist unentbehrlich, auch wenn es dem ersten Anschein nach oftmals schwerfällig und dumm daherkommen mag. Wir müssen für alle Fragen offen und allen Antworten gegenüber kritisch sein. Solange wir uns dadurch nicht am handeln hindern oder Angst vor der Initiative kriegen (die andere Seite der Medaille, die eigentlich auch eine Diskussion Wert wäre), können wir nur weiterkommen.

*** Grundlagen der Produktion

Die Produktion von Gütern baut auf mehreren Aspekten auf, ohne die sie entweder unnötig oder unmöglich wäre und denen ich mich der Reihe nach widmen möchte. Diese sind einerseits das Vorhandensein unbefriedigter Bedürfnisse (hierbei werde ich auf dem vorhergehenden Teil aufbauen), eine gut strukturierte Organisation sowie die täglich bestätigte Philosophie, dass tote Materie – sofern sie Profit bringt – grösseren Wert hat als das Leben an sich.

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Bevor ich hiermit weiterfahre ist es jedoch unumgänglich, mein Verständnis von Produktion genauer zu erläutern. Es ist in unserer Gesellschaft üblich, viele stufenweise auf sich aufbauende Prozesse unter einem allgemeinen Begriff zusammenzufassen. Dies ist ein wichtiges Merkmal der Sprache und erleichtert die tägliche Kommunikation, es hat jedoch oftmals einen negativen Einfluss, wenn eine differenziertere Perspektive angebracht wäre. Nehmen wir die Technologie zum Beispiel. Kritische Analysen der Technologie werden stets damit konfrontiert, dass diese zum Wesen des Menschen gehöre, weil sie vom Computer bis zur steinzeitlichen Holzkeule reiche. Es ist sehr verbreitet, bei solchen Fragen den Teil fürs Ganze zu nehmen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Stufen ungenügend zu beachten und zu gewichten. So ist es auch mit der Definition der Produktion.

Gilt eine Holzschale, die von einem Einsiedler für den persönlichen Gebrauch angefertigt wird, genauso als Produkt wie ein Auto, das Bestandteile aus verschiedenen Kontinenten hat, wo ArbeiterInnen der ganzen Welt Teilprodukte beisteuerten und zahlreiche kleine und grosse Unternehmen beteiligt sind? Wenn ich hier von Produktion spreche, dann meine ich damit einen Prozess, der im grossen Rahmen stattfindet, d.h. wo viele Menschen an der Herstellung eines bestimmten Produkts beteiligt sind (dieses Produkt ist oftmals bloss Teil einer weiteren Kette von Dingen, die zur Produktion von etwas weiterem benötigt werden). Um die Abgrenzung, die ich unmöglich genau festlegen kann, etwas klarer zu machen, sage ich, dass ich mit Produktion alle Vorgänge zur Herstellung von Ressourcen und Gütern verstehe, die nicht von einem kleinen Dorf selbständig und von Grund auf hergestellt werden können, weil sie das Wissen von SpezialistInnen, spezielle, oftmals endliche Ressourcen sowie eine bürokratische Organisation benötigen.

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Kommen wir also wieder auf die Bedürfnisse zu sprechen. Wie ich erwähnt habe, ist die Existenz von unbefriedigten Bedürfnissen eine Voraussetzung für die Aufnahme wie auch für die Steigerung der Produktion – dies leuchtet ein. Ich habe bereits erklärt, dass ich mich für ein grösseres Bewusstsein gegenüber der grundlegenden Bedürfnissen stark mache. Menschen lassen sich jedoch nicht bloss auf Grundlagen reduzieren. Vielmehr verschafft es uns Genugtuung, etwas herzustellen, sei es bloss aus Freude an der Tätigkeit oder aus der Schönheit oder Nützlichkeit des Hergestellten (ich vermeide bewusst das Wort Produkt, um das Verständnis zu erleichtern). Wir haben also mehr als nur Primär-Bedürfnisse. Diese variieren von Mensch zu Mensch wie auch zwischen Kulturen und geografischen Standorten, haben jedoch die Gemeinsamkeit, die individuelle wie auch gemeinschaftliche Lebensqualität zu erhöhen, sei dies durch Musik, Kunst, Spiel oder praktische Dinge wie z.B. eine Wassermühle. Wie ist es aber möglich, dass diese Bedürfnisse heute unser Leben und das des gesamten Ökosystems gefährden? Sind es denn überhaupt dieselben? Und wieso herrscht eine so grosse Unzufriedenheit in den Industrienationen des Westens, obwohl wir die umfangreichste Produktion haben und mehr „Bedürfnisse“ befriedigen können als wir uns überhaupt nur vorstellen können? Die Geschichte der Zivilisation hat uns nicht nur in eine Gegenwart versetzt, die ohne rasende Abwechslung, ohne zu kaufen und wegzuwerfen und ohne tägliche Sinnüberflutung tödlich wäre, weil dann die ganze Totenstille der Stadt, die Armut an Wärme, Farbe, Beziehung, Gemeinschaft und Leben an sich, die krankhafte Beschäftigung bzw. Ablenkung der Massen etc. offensichtlich werden würde. Sie hat uns nicht nur an den Rand des psychischen Zerfalls, sondern auch an den Rand des physischen Kollapses gebracht — uns, die Tier- und Pflanzenwelt, die Erde an sich. Dessen sind sich unzählige Menschen bewusst, doch anstatt nach der Einsicht dieses altbewährten Prinzips von Brot und Spiele einen Schritt nach vorne zu machen, flüchten sie sich noch mehr in die Zivilisations-Therapie! Und je tiefer diese Menschen in das schwarze Loch fallen, desto mehr benötigen sie, um sich von der Realität ihres Falles abzulenken. Und falls sie sich nicht mehr „im Griff“ haben und die Unumstösslichkeit dieser Situation nicht mehr länger anerkennen, landen sie hinter Gittern oder handeln sich zumindest Ärger mit den Behörden ein. Ich glaube, wir können viel von der unvermittelten Zufriedenheit der naturverbundenen Stämme lernen…

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Die zweite Säule, worauf die Produktion aufbaut, ist die Organisation. Diese wiederum funktioniert mittels Arbeitsteilung und Spezialisierung sowie hierarchischer Bürokratie. Die Herstellurig von Produkten wie Computern, Autos, Solarzellen, Elektrizität etc. wäre ohne diese Organisationsform unmöglich, und doch gibt es AnarchistInnen, die sich kein Utopia ohne diese Dinge vorstellen wollen. Ich würde diese Individuen gerne in einer nachrevolutionären Situation sehen, wie sie diesen Standard mit ihrer Überzeugung unter einen Hut bringen.

Ich möchte hier keineswegs eine Utopie formulieren. Mir geht es nur darum, die Unvereinbarkeit der Produktion mit freiheitlichem Denken aufzuzeigen, denn die kritische Analyse der Gegenwart ermöglicht erst die anarchistische Aktion. Und wenn wir grundlegende Institutionen der Macht der Bequemlichkeit wegen nicht ablehnen, dann wird dies in der Zukunft nicht bloss all unsere Bemühungen zunichte machen, sondern wir büssen auch zahlreiche, Äusserst wichtige Angriffsziele zur Zerstörung des Systems und somit an eigener Stärke ein.

Wer jemals gelesen hat, was es alles benötigt, um einen Computer herzustellen, der weiss, wovon ich rede. Wir brauchen Erdöl für Energie und für Plastik. Wir brauchen ArbeiterInnen, die spezialisiert sind, Erdöl zu finden, solche, die wissen, wie man es gewinnen kann, solche, die schliesslich die Arbeit erledigen, dazu benötigen sie Maschinen, Werkzeug etc. Die umwelttechnische Problematik kennt ihr selber. Dann braucht man unzählige weitere Stoffe für die Herstellung der Drähte, Chips etc. Rohstoffe aus der ganzen Welt. Wir brauchen Leute, die sich auskennen. Leute, die diese sinnvoll arbeiten lassen und alles koordinieren. Ich könnte hier 10 Seiten damit füllen, doch ich glaube es ist offensichtlich, worauf ich hinaus möchte.

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Die Einführung der Arbeitsteilung bzw. Spezialisierung war historisch wahrscheinlich der Geburtsmoment der Klassengesellschaft. Die Spezialisierung ermöglichte es dem System, uns der Möglichkeit zu berauben, unser Leben selbst zu führen, selbst für uns zu sorgen. Wir wurden schrittweise unseres Wissens und unserer Fähigkeiten beraubt, die Jahrtausende lang zu jedem Menschen gehörten und einen wichtigen Teil seines/ihres Selbst ausmachten. Mit diesem Einschnitt wurden wir von den Produkten und Dienstleistungen des Systems abhängig gemacht. Dem Konzept der Spezialisierung an sich wohnt eine Machtdynamik inne und zerstört horizontale, egalitäre Gesellschaftsformen und Beziehungen, weil sie sich ausschliesslich auf Unterschiede konzentriert und diese allein gewichtet.

Die Bürokratie ist seit dem alten Ägypten die erste und einzige bewährte Methode, um grosse Menschenmassen zu organisieren resp. zu disziplinieren. Sie ermöglicht es, Befehle von oben auf- und einzuteilen und an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten, wo dieselbe Prozedur wieder vonstatten geht, bis die Instruktionen schliesslich alle Bosse, PlanerInnen,SpezialistInnen, ArbeiterInnen, etc. erreicht hat. Damit dieses Gebilde funktionieren kann, ist unabdingbare Unterwerfung notwendig, eine automatische und unreflektierte Befehlsausführung. Die Bürokratie schaffte es unter der Leitung einer totalen Macht (ob dies jetzt ein menschlicher Gottkönig oder eine abstrakte Idee wie der Staat sei spielt keine Rolle), die Menschen als Bestandteile einer grossen, unsichtbaren Maschine zu organisieren.

„<em>Diese außergewöhnliche Erfindung erwies sich tatsächlich als das früheste Arbeitsmodell für alle späteren komplexen Maschinen, obwohl sich der Schwerpunkt mit der Zeit von den menschlichen Bestandteilen auf die verläßlicheren mechanischen verschob. Die einzigartige Leistung des Königtums bestand darin, das Menschenpotential zu konzentrieren und die Organisation zu disziplinieren, was die Ausführung von Arbeiten in nie zuvor dagewesenem Ausmaß ermöglichte.“ (Lewis Mumford, Mythos der Maschine)</em>

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Der dritte und letzte Punkt ist die unausgesprochene aber täglich bestätigte Philosophie, die den Tod über das Leben stellt, wenn er nur Profit bringt. Die Wurzeln dieser Philosophie reichen von den Anfängen der Naturwissenschaften über die Geburt der Weltreligionen tief in unsere Vergangenheit.

Eine der grundlegendsten Errungenschaften der Zivilisation besteht darin, uns dem Leben entfremdet zu haben. Nicht nur, dass wir nicht mehr fähig sind, selbständig zu leben — wir wurden sogar darauf trainiert, das Leben um uns herum als Dinge, als Ressourcen wahrzunehmen..

Während das Christentum die durch die Domestizierung erschaffene Mauer zwischen dem Menschen und dem restlichen Leben verstärkte und moralisch begründete, war es die Leistung der Aufklärung, dem Menschen die rigorose Rationalisierung und somit totale Objektifizierung der Welt einzuhämmern (wie hätte sonst die Macht des Staates als abstraktes Gebilde die Macht eines realen, von Gott eingesetzten Herrschers um so vieles übertreffen können?). Dies war die Stunde, auf die die Wissenschaft gewartet hatte, nun konnte sie das Reich der absoluten Wahrheit für sich beanspruchen. Das Leben wird in Einzelteile zerlegt, es zählt nur noch die Materie. Gefühle und Emotionen würden den rationalen Geist beeinträchtigen und seien somit schädlich, verkündet sie. Die Erklärung der Welt erfolgt in Zahlen und Kalkulationen. Wohin diese leblose Betrachtungsweise geführt hat, sehen wir heute. Der Mensch hat gelernt, alles ausserhalb seiner selbst als Objekt wahrzunehmen, als Ressource, und seine Beziehungen zur Umwelt zu negieren.

„<em>Unsere Kultur ist eine von zunehmender Abstraktion von direkter persönlicher Erfahrung. Zu unserem Leidwesen manifestiert sich dies in jedem Aspekt unseres Lebens, von unserer Pornographie (und, weitergehend, von unseren intimen Beziehungen) bis zu unserer Ökonomie, die immer und immer wieder Abstraktionen wie Ideologie oder Geld über Lebewesen stellt.“ (Derrick Jensen, The Culture Of Make Believe)</em>

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Jensen erklärt im Buch weiter auf sehr treffende Weise, die Produktion sei im Grunde nichts anderes, als die in der physischen Welt stattfindende Manifestation des psychischen Prozesses der Objektifizierung. Es sei die Umwandlung vom Subjekt (einer Kuh zum Beispiel) zum Objekt („heute gab’s Steak-Aktion!“). So zu handeln, schreibt er weiter, <em>„bedeutet den Tod des Subjekts, zuerst in der Erfahrung des objektifizierenden Menschen, und dann in der physischen Welt“</em>.

Sind wir denn wirklich fähig, täglich Tier- und Pflanzenarten aussterben zu lassen, nur um die Produktion und unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten, und sie trotzdem als eigenständige Lebewesen und nicht vielmehr als unwichtige Opfer auf dem Altar der Produktion anzusehen, als Nummern in Statistiken? Was kann die Erklärung dafür sein, dass Tausende von Japanern jahrelang nicht aus ihren Wohnungen rausgehen, den ganzen Tag vor dem Computer verbringen, mit einer Frau lieber über Internet kommunizieren, als direkt mit ihr Zeit zu verbringen? Was kann die Erklärung für die Leere sein, die so viele von uns fühlen und einige in Irrenanstalten bringt, wenn nicht die unterdrückte Fähigkeit, symbiotische Beziehungen einzugehen?

Nochmals, wir sind nicht nur der Fähigkeit selbständig zu leben beraubt worden, sondern sogar der Fähigkeit, wirklich (damit meine ich auf eine unvermittelte, direkte Art) zu leben, zu fühlen, und uns in Beziehung mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt wahrzunehmen. Diese Situation scheint uns zuerst zu psychischem, emotionalem und schliesslich zu physischem Tod zu leiten.

Während die Domestizierung erste Schritte unserer Entfremdung von der Umwelt einzuleiten schien (wo der Mensch sich nicht mehr als Teil des Lebensnetzes wahrnimmt, sondern die Welt aus einer losgelösten, unabhängigen Perspektive heraus zu betrachten beginnt) und die Religion den Menschen (oder genauer gesagt den Mann) mit der neuen, moralischen Zutat mehr als deutlich über alles weitere Leben stellte, perfektionierte das abstrakte, dreiköpfige „Alphatier“ namens Staat, Wissenschaft und Technologie (die Materialisierung .des Abstrakten) unsere Trennung vom wilden, unberechenbaren und in direkter Beziehung geführten Leben.

*** Es ist Zeit

Es ist Zeit zur Einsicht. Wir sind Sklaven des Systems. Wir arbeiten für das System und zerstören dabei uns selbst und die Erde. Die Produktion ist der rechte Arm der Zivilisation, die uns versklavt, das Leben aus uns saugt und uns mit Gift wieder vollpumpt. Sie kolonialisiert die Erde und unser Denken und verwandelt den blauen Planeten in eine graue, mechanisierte Scheinwelt.

Wir wurden von unseren vermeintlich befreienden Fortschritten versklavt. Jede angeblich positive Neuerung, jede angebliche Revolution, hat weder unsere Probleme gelöst noch uns mehr Freiheit verschafft, sondern bloss überholte Institutionen der Macht abgeschüttelt, neue, aufwartende Institutionen zugelassen bzw. erfordert und uns die Fesseln damit noch enger gezogen. Und je enger die Fesseln sitzen, desto weniger scheinen wir sie wahrzunehmen, desto mehr glauben wir, frei zu sein. Je stärker das System, desto unauffälliger und anscheinend harmloser seine Kontrollen, da das Volk die Logik des Systems und der Herrschenden verinnerlicht hat, der Feind also sogar in uns selbst zuhause ist. So wird der Geist des Unterdrückten zur stärksten Waffe des Herrschenden. Weil der Herrscher sich vom despotischen Menschen zur despotischen Idee (die sich ironischerweise gross Freiheit auf die Fahne schrieb) gewandelt hat, konnte dieser Prozess relativ unbemerkt vor sich gehen. Nun gehen wir durch unser Leben mit der Freiheit eines Hundes, der nie das Ende seiner Leine erreicht und überzeugt ist, die ganze Realität zu erfassen.

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Es ist allgemein bekannt, dass diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, ihren Feinden am gefährlichsten sind. Ich glaube, dasselbe trifft auch auf diejenigen zu, die alles, was sie zu verlieren haben, nicht wollen, und all das vermissen, was ihnen der Feind vorenthält. Insofern hat die Analyse und Kritik der grundlegenden Institutionen unserer Zeit nicht nur die wichtige Aufgabe, unsere Situation, sowie den Aufbau und die Funktionsweise des Systems zu erklären. Sie ist auch der erste Schritt hin zu einem Angriff auf diese, und ohne diesen Zug werden unsere Bemühungen fruchtlos bleiben. Wenn wir die Wurzeln des Systems als solche erkennen, in ihrer geistigen wie auch physischen Form, dann wird unser Kampf um vieles an Stärke zunehmen, weil wir erkennen, wo wir zuschlagen müssen, um das System ins Wanken zu bringen. Kurz, die totale Ablehnung des Systems in all seinen Facetten ermöglicht erst seine vollständige Zerstörung, wohingegen eine bloss teilweise Ablehnung taktisch eine viel schwierigere Aufgabe darstellt. Nehmen wir Elektrizität als Beispiel: Wollen wir diese nach einer Revolution beibehalten, wird ihre Infrastruktur zwangsläufig geschont, zu welchem Preis auch immer. Aber trotzdem gilt das Kappen des Stroms als einer der wirksamsten Angriffe — um dies zu verstehen, genügt es, sich ein wenig mit moderner Kriegsführung auseinander zu setzen.

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Es ist Zeit zur Einsicht. Es ist Zeit, uns und was uns lieb ist zu verteidigen. Es ist Zeit, das Feuer zu erwidern.