#title Stein für Stein #subtitle Kämpfen gegen das Gefängnis und seine Welt [Belgien 2006-2011] #author Anonym #SORTauthors - #SORTtopics Gefängnis, Revolte, Aufstand, Spezifischer Kampf, Perspektive, Methode, Ethik, Delinquenz, Belgien #date 2012 #source [[http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2012/09/03/provisorische-broschure-stein-fur-stein-kampfen-gegen-das-gefangnis-und-seine-welt-belgien-2006-2011/][http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2012/09/03/provisorische-broschure-stein-fur-stein-kampfen-gegen-das-gefangnis-und-seine-welt-belgien-2006-2011/]] #lang de #pubdate 2015-01-12T20:33:33 #notes Originaltitel des Buches: Brique par brique, se battre contre la prison et son monde [Belgique 2006-2011]. Erschienen bei: Tumult Editions, Brüssel. Diese „provisorische Broschüre“ erschien im September 2012 in Zürich. Der Druck einer umfassenderen Übersetzung des Buches ist geplant. Das Buch „Brique par Brique, se battre contre la prison et son monde [Belgique 2006-2011]“, das im Jahr 2012 bei „Tumult Editions“ erschien, und dem die hier übersetzten Texte entnommen wurden, fasst auf mehr als 300 Seiten Flugblätter, Plakattexte, Briefe von Gefangenen, Berichte über Revolten und Ereignischronologien zusammen. Die verschiedenen Jahre, in die das Buch unterteilt ist, werden jeweils von einer Einleitung begleitet, während sich im Anhang noch einige allgemeinere Texte rund um die Fragestellung des Gefängnisses befinden. Die vorliegende „provisorische Broschüre“ enthält die Einleitungen zum Buch und zu den jeweiligen Jahren, sowie ein Text mit allgemeineren Reflexionen. Diese „Einleitungen“ sind im ursprünglichen Buch in die oben genannte Sammlung von Dokumenten eingebettet, was sie hiermit etwas aus Zusammenhang reisst. Dennoch hielten wir es für sinnvoll, sie vorerst alleinestehend in dieser „provisorischen Broschüre“ zu veröffentlichen, um die Zeit bis zum geplanten Druck einer umfassenderen Übersetzung dieses Buches zu überbrücken. Schliesslich denken wir, dass die Entwicklungen und Reflexionen, welche diese Jahre des Kampfes begleiten, in diesen Einleitungen durchaus gut genug zusammengefasst und wiedergegeben werden, um auch ohne die „Dokumente“, die ihren Einfluss und ihren praktischen Niederschlag besser veranschaulichen, ihre Wirkung zu tun. ** Stein für Stein Diese paar Worte zur Einleitung haben keinen anderen Zweck, als die Intentionen dieses Buches offen darzulegen. Dies ist nicht die Arbeit irgendeines Universitären auf der Suche nach Zahlen und Statistiken, und auch nicht der Blick irgendeines Aasgeiers von Journalisten im Dienste der Macht. Dieses Buch entstand schlicht und einfach aus den lebendigen Parcours von Individuen, die gegen das Gefängnis und seine Welt revoltieren, von Indivduen, die sich innerhalb der Knäste befanden oder sich noch immer dort befinden, und von Individuen, die sich auf der anderen Seite der Mauer befinden, in dem Gefängnis unter offenem Himmel, das die heutige Gesellschaft ist. Es bietet also nur die Spuren, welche diese Individuen hinterlassen haben, Spuren, die zusammen ein wahres Kaleidoskop der Revolte ergeben, das in seiner Gesamtheit unmöglich in den Seiten eines Buches erfasst werden kann. Diese Spuren sind es, die den roten Faden dieses Buches bilden. Jenen gleichen Faden, der im Laufe der Jahre fähig war, Solidaritäten und Komplizenschaften unter den revoltierenden Individuen zu knüpfen; der die Ablehnung dieser Gefängnis-Welt und das Verlangen nach Freiheit in eine attraktive und explosive Mischung verwandelt hat. Fünf Jahre Unruhen in den belgischen Gefängnissen. Fünf Jahre Revolten, Meutereien und Ausbrüche. Fünf Jahre Agitation, Aktionen und Angriffe gegen das Gefängnis und seine Welt. Fünf Jahre Schmerzen, Isolierung, Strafen, Prügel und auch Tote. Fünf Jahre Worte, die auf die Freiheit hindeuten und die notwendige Zerstörung von allem, was ihr im Weg steht, als Konsequenz aufstellen. Fünf Jahre ohne geradlinige Flugbahn, ohne andere Logik, ohne anderen Rhythmus als die Pulsierungen des Lebens selbst und des Kampfes für die Freiheit, zu dem es anregt. Dieses Buch wird also zwangsläufig nur ein Versuch sein, die lebendige Kraft zu teilen, diese aus Fleisch und Knochen gebildete Kraft. Sie, die so viele Gefangene von drinnen wie draussen, so viele Gefährten, so viele Unbekannte und Anonyme ermutigt hat, gegen die Gefängnisbestie anzukämpfen. Während wir diese Linien niederschreiben, fliegen unsere Gedanken bereits woanders hin, entfliehen diesen Seiten, zu jenen, mit denen wir den Kampf geteilt haben, zu jenen, die noch immer drinnen sind, zu anderen Projekten des Angriffs und des Kampfes. Dem Himmel entgegen fliegend, dem Horizont der Freiheit entgegen. Dies einmal gesagt, Akademiker, Journalisten und Politiker, legt dieses Buch beiseite. Letztere werden darin so oder so nicht ein einziges Wort finden, das ihnen gefallen könnte, und das ist gewollt. Sie, die stets zu Diensten der Macht stehen (der heutigen oder der morgigen). Sie, die schon immer auf die Rebellen und Revoltierenden gespuckt haben, ob sie nun in den Knästen verbannt sind oder sich eingesperrt im sozialen Gefängnis befinden. Sie, die vielleicht die brutalen Aspekte des Gefängnisses denunziert haben, um sich anschliessend um den Tisch zu setzen, um die Knastbestie zu perfektionieren. Nein, dieses Buch gehört auf ewig jenen, die gegen das kämpfen, was aus dieser Welt ein grosses Gefängnis unter offenem Himmel macht. Sie sind im Übrigen seine Autoren. Der Kampf gegen das Gefängnis kann die Verteidiger des Gefängnisses gewiss nicht verschonen, ebenso wie er nicht mit seinen falschen Kritiker haushalten kann, die nur einige Aspekte von ihm kritisieren. Wenn wir von den Verwüstungen angewidert sind, die das Gefängnis bei den Menschen verursacht, dann weil wir überzeugt sind, dass jede Form von Einschliessung mit dem Ziel konzipiert wurde, die Persönlichkeit der Individuen zu brechen, sie in gehorsame und fügsame Wesen zu verwandeln. Wenn wir mit den Aufruhren und Meutereien in den Gefängnissen solidarisch sind, dann weil wir für die Zerstörung von jeglicher Autorität sind. Wenn wir das Verbrechen gegen das Eigentum verteidigen, dann weil wir für die allgemeine Enteignung sind, für eine Welt ohne Geld, ohne Sklaven und ohne Bosse. Wenn wir schliesslich gegen die Richter, die Polizei und die Gerichte kämpfen, dann nicht weil wir sie für ungerecht halten, sondern weil wir sie ohne Ausnahme als die Verteidiger der etablierten Ordnung betrachten, mit der wir reinen Tisch machen wollen. Was wir wollen, ist die Freiheit, und dafür ist die Zerstörung der Gefängnisse, der Justiz und des Staates notwendig. Wir glauben nicht, dass mit dem Verschwinden der Herrschaft auch die Konflikte unter den Menschen verschwinden werden, wir denken bloss, dass diesen Konflikten unter den betroffenen Individuen entgegengetreten werden muss. So haben wir, um gegen das Gefängnis zu kämpfen, nie das Bedürfnis verspürt, glauben zu machen, dass die Gefangenen Engel seien, und auch nicht, dass jene draussen besser oder schlechter seien; denn darum geht es nicht. Die Frage des Gefängnisses ist die Frage nach dem Leben, das wir wollen. Wollen wir in einer Welt leben, in der das Geld und die Autorität regieren. Eine Welt von Sklaven und Meistern. Eine Welt unterteilt in Arme und Reiche. Eine Welt, die für ihre eigene Aufrechterhaltung mittels Kriegen, Repression, Massakern und Einsperrung einen erbarmungslosen Kampf gegen alles führt, was sich nicht in ihre Ordnung einfügt. Oder wollen wir im Gegenteil lieber in einer Welt von freien Individuen leben. Ausgehend davon ist es unmöglich, das Gefängnis zu verbessern. Ein vergoldeter Käfig wird immer ein Käfig bleiben, ein nachsichtiges Gesetz wird immer ein Gesetz sein. Sicherlich, der Kampf im Alltag, drinnen wie draussen, kann uns in Richtung Freiheit voranbringen, und tatsächlich ist er eine Lebensnotwendigkeit. Aber wir betonen stets vielmehr die Tatsache, dass jede befreiende Idee, die im Herzen und im Kopf eines Individuums entsteht, jede individuelle oder kollektive Geste der Revolte, jeder Versuch, das Band abzureissen, das uns die Autorität um den Hals gelegt hat, uns verändert, uns einen Vorgeschmack von Freiheit gibt, uns auf den aufregenden Weg der Eroberung des Lebens, unseres Lebens stellt. Uns auf Messers Schneide stellt, in diesem offenen Kampf gegen diese Welt. Somit ist die Revolte nicht etwas „strategisches“ oder „funktionales“, um dieses oder jenes von Seiten der Herrschaft zu erlangen, um einige zusätzliche Krümel zu erhalten. Vielmehr ist sie ein Lebensschrei, eine Pulsierung, die ebenso notwendig ist, wie zu atmen. Was die Revolten in den belgischen Gefängnissen dieser letzten Jahre „gegeben“ haben, kann nicht auf die Berechnung der gewonnenen Meter oder Zentimeter reduziert werden, und auch nicht auf eine kalte Bilanz von „Siegen“ und „Niederlagen“. Sie haben vor allem das gegeben, was jeder Zählbarkeit, jedem Quantifizierungsversuch entgeht: Das Verlangen, zuleben, den Enthusiasmus, den Mut, die Entschlossenheit, die Wechselbeziehung unter revoltierenden Individuen, den Traum einer freien Welt, die greifbare Möglichkeit, ohne Burgfrieden und ohne Kompromisse zu kämpfen und anzugreifen. Kurzum, sie haben das gegeben, wovor sich alle Autoritäten fürchten. Wir können nur hoffen, dass die Seiten dieses Buches diesen Elan der Revolte und der Freiheit durchblicken lassen, während wir im Hinterkopf behalten, dass keine der Schriften oder Gesten, die hier reproduziert werden, geschrieben oder getan wurden, um sich eines Tages in einem Buch wiederzufinden. Daraus folgt logischerweise, dass dieses Buch nicht danach strebt, vollständig zu sein, weder bezüglich der Texte, Briefe, Flugblätter und Plakate dieser letzten fünf Jahre, noch bezüglich der Aktionen, Angriffe, Revolten oder Meutereien. Gewisse Dinge werden zwangsläufig im Schatten bleiben, aber es ist der ewige Schatten der Individuen, die in Richtung Freiheit streben, dieser Schatten, der die etablierte Ordnung und die Autorität auf ewig weiter bedrohen wird. Ein Gefecht mag manchmal hoffnungslos, der Kampf zu hart und die Freiheit zu fern scheinen. Niemand wird uns jemals irgendeine Garantie, irgendeine Sicherheit geben können, dass alles zum Besten enden wird. Sich dessen Bewusst zu werden, mag uns gewiss traurig machen, es enthüllt aber gleichzeitig die Waffe, die nie blockiert ist. Kein Wort könnte diese Waffe umfassen, kein Buch könnte mehr als eine schwache Suggestion von ihr enthüllen, keine Tat könnte etwas anderes als einen leichten Duft von ihr verbreiten. Nur diejenigen, die nach der Freiheit verlangen und voller Hingabe [frz.: à corps perdu] kämpfen, können sie kennen und in ihre Haut eingravieren. ** 2006 DIE REVOLTE BAHNT SICH EINEN WEG Es ist gewiss keine einfache Aufgabe, auf die Keime einer Geschichte, auf ihren Ursprung zurückzukommen, um ihre Wurzeln auszugraben und freizulegen. Keine Entwicklung kann auf ein banales Ursache-Wirkung-Verhältnis hinunter gebrochen werden. Das unerwartete Zusammenlaufen von Umständen und anwesenden Verlangen kann auf neue Pfade führen, die in der Summe der Umstände noch nicht – und sei es auch nur heimlich – enthalten waren. Die Lupe, mit der man gewisse Dinge im Detail untersucht, bedingt zwangsläufig auch die Schlussfolgerungen und verkleinert im Allgemeinen die Wichtigkeit der individuellen Entscheidungen, der Begegnung zwischen verschiedenen Triebkräften und des Willens der Akteure der Geschichte. Es ist hier gewiss nicht unser Ziel, einen soziologischen Blick auf die Unruhen und Revolten zu richten, die seit Jahren in den belgischen Gefängnissen wüten. Ein solches Vorhaben, die Aktivität par excellence der Akademiker und Journalisten, würde unvermeidlich den Ort trüben, an dem für viele Leute alles begann: sich in einer unhaltbaren und unerträglichen Umgebung dennoch für das Unwahrscheinliche, das Unfassbare und das Unmögliche entscheiden. Die Verweigerung einer journalistischen Herangehensweise befreit uns dennoch nicht von der Verpflichtung, zu versuchen, den komplexen und vielfältigen Kontext aufzuzeichnen, in dem sich der Kampf entwickelte. Und sei es nur, um die Vernunft zufriedenzustellen, die in unserem Innersten danach schreit, die Gründe und Umstände zu kennen. Wie das soziale Panorama in den belgischen Gefängnissen von 2006 beschreiben? Man könnte zunächst auf den völligen Verfallszustand der ganzen Einsperrungsmaschinerie verweisen. Viele Gefängnisse, die in den 70er Jahren gebaut wurden, sind nie renoviert worden. Einige Gefängnisse standen wortwörtlich kurz vor dem Zusammensturz. Während in anderen die Bedingungen kaum dem Bild entsprachen, dasdie Demokratie gerne von sich selber gibt. Die belgischen Gefängnisse schienen vielmehr die Funktion von Kloaken zu haben, in denen man die Abfälle stapelt, um den Verwesungsprozess zu beschleunigen, als jene, die der „modernen“ Konzeption der Einschliessung entspricht, das heisst, der zeitweiligen Isolierung der Individuen, ihrer Dressierung und ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Diese faktische Situation, kombiniert mit einem exponentiellen Wachstum der Häftlingszahl, hat zu überbelegten, schlecht unterhaltenen und nicht-funktionieren den Gefängnissen geführt. Die kleine Anzahl neuer Gefängnisse, die inden 90er Jahren gebaut wurden, schaffte es kaum, dem abzuhelfen. Die Problematik der „Überbelegung“ ist in diesen letzten Jahren unablässig immer dringender geworden. In den meisten Gefängnissen liegt die Zahl der Häftlinge leicht 30 Prozent über der „wirklichen Kapazität“. Aber es würde von wenig Intelligenz zeugen, es hierbei zu belassen. Denn die Überbelegung, die geringe Hoffnung, eine bedingte Freilassung zu erreichen und die skandalösen Bedingungen der Einschliessung können nicht als „Gründe“ betrachtet werden, sondern bloss als Umstände, welche die Unruhen begünstigen werden. In vielen Ländern ist die Situation in jeglicher Hinsicht ähnlich, man sieht dort aber nicht, dass ständig Revolten ausbrechen. Zunächst müsste die Verbindung zwischen den Umständen in den Gefängnissen und gewissen Umständen draussen gemacht werden. Denken wir beispielsweise an die wachsenden Spannungen in gewissen Quartieren der grossen Städte, wo die Illusion einer möglichen „Integration in den Sozialstaat“ zusehends an Boden verliert; wo der Traum einer „fixen Arbeit“ nicht mehr mit derselben Gier ersehnt wird. Fügen wir dem noch die grosse soziale Explosion vom November 2005 an, die zuerst die Banlieues entflammte, um sich dann über ganz Frankreich auszubreiten... Es gewitterte bei den Nachbarn, und einige Schauer haben auch Belgien erreicht. Man darf die Inspiration und den Mut, welche die Explosion vom November 2005 verleihen konnte, nicht a posteriori unterschätzen. In jenem selben Novembermonat waren in mehreren belgischen Gefängnissen bereits Revolten ausgebrochen. Und einige Monate später, im Februar-März 2006, werden die Unruhen im Gefängnis von Ittre den Ton dessen angeben, was für die nächsten Jahre zu erwarten war. Diese Referenz auf die Unruhen, die in Ittre unerwartet ausbrachen, lässt das schwierige Vorhaben dieser Aufzeichnung der Revolten in den belgischen Gefängnissen teilweise erkennen. Wir brauchen nicht um den heissen Brei zu reden: die ganze Geschichte von Meutereien und Revolten, die in diesem Buch erfasst werden, wird stets von der bescheidenen, aber konstanten und aktiven Präsenz von Anarchisten und Antiautoritären durchdrungen sein. Die ganze Erzählung wird, wie es gerade kommt, zwischen den sozialen Umständen, den Revolten innerhalb der Mauern und der Entwicklung dieser subversiven Präsenz draussen hin und her springen. Im Übrigen sei betont, dass diese Spannungen innerhalb der Mauern schon vor dem Auftauchen dieser Präsenz existierten. Bereits im Verlaufe der vergangenen Jahre, ja sogar Jahrzehnte, gab es Meutereien und auch Wellen von Meutereien. Denken wir beispielsweise an die zerstörerische Meuterei von 2003 im Brüsseler Gefängnis von Saint-Gilles. Das einzige, was wir hier tun können, besteht im Grunde darin, dem Leser möglichst viele Werkzeuge, Analysen und einige Entwürfe anzubieten, damit er oder sie eigene Schlussfolgerungen ziehen kann. Dieses Buch wird also eine gegenseitige Anstrengung erfordern . Wie bereits gesagt wurde, wäre es eine Sisyphusarbeit, zu den „Ursprüngen“ dieser anarchistischen Präsenz hinab zu tauchen. Und sei es nur, weil sie zuallernächst das Ergebnis von individuellen Entscheidungen und Kampfparcours ist. Dennoch würden wir nicht vergessen wollen, die Diskussionen unter Anarchisten zu erwähnen, die infolge der Verhaftung von drei Gefährten in Aix-la-Chapelle stattfanden, nur einen Steinwurf von der belgischen Grenze entfernt. Im Juni 2004, nach einer Schiesserei mit der deutschen Polizei und einer langen Verfolgungsjagd, wurden diese drei Gefährten verhaftet und schliesslich für den Versuch, den Klauen der Justiz zu entfliehen, zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Ihre Verhaftungen, ihre Parcours und ihre kämpferische Haltung haben Fragen auf den Tisch gebracht, die nicht nur zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber der Solidarität mit verhafteten Gefährten und gegen die Repression führen werden, sondern vor allem gegenüber dem Kampf für die Zerstörung der Gefängnisse. Innert einiger Monate (von März bis Mai 2006) brechen in verschiedenen Gefängnissen Meutereien aus. In Nivelles geht ein ganzer Gefängnisflügel in Flammen auf. Der Aufbau von Verbindungen zwischen rebellischen Gefangenen und Gefährten draussen führt zu einer Vervielfachung der Initiativen: Flugblätterverteilungen vor den Toren der Gefängnisse, Plakate und Sprayereien in den Strassen der Städte oder in den kleinen Städtchen rund um die abgelegenen Gefängnisse. Diese Agitation greift hauptsächlich konkrete Missbräuche innerhalb der Mauern an: die Anprangerung der Verprügelungen, der Misshandlungen, der Folter, etc. Auch wenn das Gefängnis in seiner Gesamtheit auf eine ziemlich rudimentäre Weise in Frage gestellt wird, scheint der Kampf, den die Gefährten draussen zu führen versuchen, vor allem in Richtung eines solidarischen Verfolgens der Ereignisse drinnen zu gehen, mit der Durchbrechung der Stille als Hauptansetzpunkt. Es schien also nicht unlogisch – durch die zahlreichen enthusiastischen Kontaktaufnahmen und die guten Begegnungen vor den Toren der Gefängnisse ermutigt – zu einem Moment der Versammlung aufzurufen, zu einer nationalen Demonstration in Solidarität mit dem Kampf der Gefangenen. Während Wochen wurden tausende Flugblätter vor den Gefängnissen verteilt, ausgehend von der Vorstellung, dass es zunächst die Angehörigen und Freunde der Gefangenen sind, die sich an Protesten gegen das Gefängnis beteiligen könnten. Auch wenn die Zahl sicherlich nicht der beste Ratgeber ist, um gewisse Aktivitäten einzuschätzen, drängte die spärliche Beteiligung an der Demonstration (abgesehen von den Anarchisten und Antiautoritären) eine kritische Kursänderung auf. Wie es ein Rückblick auf diese Periode darstellte: «Es wurde notwendig, mit einigen Illusionen über die Familien und Freunde von Gefangenen Schluss zu machen, um in der Entwicklung einer antiautoritären Perspektive gegen das Gefängnis weiterzukommen. Dass ein Gefangener revoltiert, bedeutet nicht zwingend, dass ihn seine Familie dabei unterstützt, indem sie ebenfalls revoltiert. Und weil sich Menschen mit den düsteren Seiten der Demokratie (mit ihren Kerkern) konfrontiert sehen, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie diese in Frage stellen. In den Kontakten mit den Angehörigen der Gefangenen kommt man ausserdem oft ziemlich schnell zu Bruchpunkten. Zum Beispiel würden viele alles dafür tun, ihre Geschichte einem beliebigen Schreiberling erzählen zu können, während wir die Journalisten lieber vor ihre Verantwortung als Lakaien der Herrschaft stellen. Und während die meisten Eltern ständig auf der Unschuld ihres Kindes beharren, um davon zu überzeugen, dass es unsere Unterstützung verdient, würden wir den Schwerpunkt lieber auf die der Delinquenz zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse legen und würden wir den Aufbau von Verbindungen mit bestimmten Gefangenen sicherlich nicht auf der «Schuld» oder «Unschuld» begründen. Einen Kampf gegen das Gefängnis zu führen, indem man dem Schema von Familien und Angehörigen der Gefangenen folgt, hat sich von da an als Sackgasse herausgestellt, es sei denn, man hat, wie so viele klassische Abolitionisten, lediglich die Ambition, einer ‘kritischen Stimme’ über die Missbräuche in der Gefängnisinstitution Gehör zu verschaffen. Zweitens wurde es notwendig, der immer währenden Frage der Forderungen ein Ende zu setzen. Auf dem Plakat, das zur nationalen Demonstration aufrief, wurden einige Forderungspunkte wieder aufgegriffen, die von den Gefangenen vorangestellt wurden. Die damalige Argumentation war, dass diese Forderungen, durch ihren Inhalt, innerhalb der Mauern mehr Raum öffnen könnten und einer Schwächung dieser Institution entgegen gehen würden. Es versteht sich von selbst, dass die Abschaffung der Isolation zu fordern, dem, was wir anstreben, näher steht, als einen Fernseher pro Zelle zu fordern. Doch selbst die wichtigsten Verbesserungen können, im Sinne von unmittelbaren Resultaten, nur durch eine Perfektionierung des Gefängnisses entrissen werden. So würde die Abschaffung der Isolation in Praxis zweifelsohne die Verwandlung des ganzen Gefängnisses in einen riesigen Isolationstrakt bedeuten. Aber es geht nicht so sehr darum, über den Inhalt der Forderungen zu debattieren, die aus dem Gefängnis heraus vorangestellt werden. Die Diskussion sollte vor allem darum gehen, was wir mit diesen Forderungen und den Spannungen anfangen, die sie begleiten. Man könnte die Entscheidung treffen, sie trotz allem zu unterstützen, während man die notwendigen Kommentare dazu abgibt, in der Hoffnung, einen Raum zu öffnen, um eine allgemeinere Perspektive voranzutragen, oder aber, wie dies in Belgien infolge der Reflexionen nach der Demonstration geschah, für nichts geringeres als die Zerstörung der Gefängnisse zu kämpfen und den Kampf nicht zu einer Unterstützung von etwaigen Forderungen zu machen. Konkret wird dies zweifellos die eventuellen Kontakte mit Gefangenen erschweren, denn die Grundlage für eine gegenseitige Verbindung ist folglich nicht mehr eine partielle Missbilligung der Einschliessung, sondern eine umfassende Kritik der ganzen Maschinerie. Im Verlaufe der drei Jahre Agitation in den belgischen Gefängnissen hat es, abgesehen von einigen spezifischen Situationen, nie Forderungsplattformen gegeben – weder drinnen noch draussen. Die Entscheidung für einen Kampf ohne Forderungen und die tatsächliche Situation haben also ermöglicht – wie ein kritischer Text über die Gefahren einer eventuellen assistenzialistischen Tendenz und über die Zwiespältigkeit, die damals in den Beziehungen mit Gefangenen bestand, dazumals betonte – die Möglichkeit geschaffen, „Brücken zu anderen Fronten zu schlagen, vom Partiellen zum Allgemeinen zu springen. Dies sind einige Wege, um die gegenwärtigen Schwächen zu verlassen, in denen die Begeisterung dafür, voran zu rennen, oft untergeht. Denn, wenn man für weniger kämpfen will, dann bietet uns der Staat in seinem Angebot bereits genug Parteien, Gewerkschaften, NGO`s, soziale Einrichtungen, engagierte Intellektuelle, solidarische Künstler, Arrivisten, Psychologen, Statistiker, Pädagogen... [1]“ Es ist gewiss nicht nötig, sich in den Schatten der Mauern zu stellen, um einen Kampf gegen das Gefängnis anzugehen. Es versteht sich von selbst, dass die echte Kommunikation in jedem Kampf ihre Wichtigkeit hat, umso mehr, wenn sie neben den alltäglichen demokratischen Mystifizierungen noch durch die Zensur, die Mauern und den Stacheldraht behindert wird. Aber es gibt tausend-und-eine Art, die Kommunikation aufzufassen. Eine Korrespondenz mit Gefangenen aufrechtzuerhalten, erschöpfende Verbindungen mit den Familien aufzubauen, Woche für Woche vor die Tore der Knäste zurückzukehren, kann Sinn machen, kann aber nicht die Grundlage des Kampfes bilden. Über die Mauern hinaus zu kommunizieren, kann auch durch die gemeinsame Revolte passieren, wo auch immer man sich befindet, durch die Sprayereien und Plakate auf der Strasse, indem man seine eigene Perspektive voranträgt, die die anderen einlädt, sie aber nicht zum Referenzpunkt macht. Der Kampf, den wir führen wollen, wird somit zum einzigen Referenzpunkt, unabhängig von den soziologisierenden Analysen über potentielle « Subjekte », denen man sich anschliessen kann.“[2] Der Sommer, der auf die Demonstration folgte, war von zahlreichen Ausbrüchen gezeichnet; vor allem vom kollektiven Ausbruch von 28 Gefangenen in Termonde. Dort hatten einige Gefangene über Nacht die anwesenden Wärter überwältigt und anschliessend alle Zellen der Sektion geöffnet (130 Häftlinge). In so manchen Gefängnissen wurde dieser Ausbruch mit viel Freude gefeiert, umso mehr, da er, sowohl drinnen wie draussen, jenen eine unschätzbare Dosis Mut gab, denen es in den Fingern juckte. Aber auch die Wärter begannen, sich zu regen und sich neu zu organisieren. Während der vergangenen Monate sind die Wärter in mehreren Gefängnissen in Streik getreten. Den Wärtergewerkschaften gelang es, eine gemeinsame Front zu bilden. Durch ihre Aktionsmethode (den Streik mit den Gefangenen als Tauschobjekt), haben sie ihre Bosse oft zum Nachgeben gezwungen. Umso leichter, da sich ihre jeweiligen Interessen in Wirklichkeit sehr gut deckten (mehr Sicherheit, mehr Personal, mehr Repression). Durch die Streiks zeichneten sich die Konturen eines Konfliktes ab, der sich als ebenso konstant erweisen wird, wie die Revolte der Gefangenen: die Bildung einer gemeinsamen Front durch die Wärter, um auf der einen Seite den Gefangenen und auf der anderen dem Staat entgegenzutreten. Der Zusammenhalt innerhalb der Gewerkschaften ermöglichte ihnen auch, die unangenehmen Affären zu decken, auch wenn jedermann die Wahrheit wusste. Ein „suspekter Todesfall“ im Gefängnis? Wärterstreik, um die Untersuchung zu behindern. Anprangerung der von den Wärtern verwalteten Regime oder Dealereien? Streik, um sich gegen die „Bedrohungen“ und die „Unsicherheit“ zu schützen. Die Wärter haben die Revolten und die Unruhen im Gefängnis mittels Streiks und Arbeitsniederlegungen bekämpft, während sie die föderale Polizei dazu zwangen, für sie ihre Aufgabe zu übernehmen, und somit die Gefangenen einer Art „kollektiven Bestrafung“ unterzogen. Während die Achtung gegenüber dem Beruf des Gefängniswärters in gewissen Quartieren leicht unter Null herab fiel und Anlass für zahlreiche Agressionen gegenüber Wärtern gab, die auf der Strasse wiedererkannt wurden, formierten die Wärter weiterhin eine gemeinsame Front, indem sie sich gegenseitig durch „solidarische Streiks mit Kollegen“ unterstützten. Diese „Wärtereinheit“ zu durchbrechen und zu zerstören wird sich als eine ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe im Kampf gegen das Gefängnis erweisen. So manche Male war die Feindseligkeit ihnen gegenüber sehr greifbar. Eine Veranschaulichung dieser Spannung kann man in den Aufruhren finden, die infolge der Ermordung von Fayçal im Brüsseler Gefängnis von Forest ausgebrochen sind. Der junge Fayçal wurde in provisorische Haft genommen. Er wurde von den Wärtern und den Ärzten mittels Injektionen des Beruhigungsmittels Haldol ermordet, als er in die Isolationszelle gesteckt werden sollte. Während mehrerer Tage brachen auf den Strassen von Brüssel Aufruhre aus, welche auf die Polizei, offizielle Gebäude und Läden abzielten. Ein Versammlungs- und Ausgangsverbot wurde erlassen und Hunderte Jugendliche wurden präventiv in mehreren Polizeikommissariaten und in der Kaserne der föderalen Polizei festgehalten. Eine Woche nach dem Mord fand auf Aufruf der Familie von Fayçal ein einheitlicher Gedenkmarsch statt. Die Familie rief zur Ruhe auf. Ein Aufruf zur Ruhe, den sie später öffentlich bereuen wird, nachdem sie verstand, dass sie „von den Institutionen gefickt“ worden ist. Im weiteren Verlauf häufen sich die Aufruhre, die Beschimpfungen, die Bedrohungen und Aggressionen gegenüber Wärtern, die von ihrer Arbeit zurückkehren. Es wird sogar entschieden, die Wärter von Saint-Gilles, Forest und Berkendael während ihrer Fahrt vom Bahnhof zum Gefängnis polizeilich eskortieren zu lassen. Gleichzeitig erleiden die Büros der Wärtergewerkschaften mehrere Angriffe und praktisch simultan finden in mehreren Gefängnissen (Forest, Saint-Gilles, Ittre) Protestbewegungen von Gefangenen statt. Diese Ereignisse haben das Pulverfass in Brand gesteckt. Im Oktober 2006 zählt man nicht weniger als fünf Meutereien in fünf verschiedenen Gefängnissen. Manchmal waren die Schäden sehr beträchtlich (wie bei der vollständigen Zerstörung des alten Isolationsblocks im Gefängnis von Lantin oder der Brandstiftung eines Teils des Gefängnisses von Ittre). Das, was schon seit ziemlich langer Zeit in den Gefängnissen brütete, zeigte sich nun auf explosive Weise. Diese Revolten haben beträchtliche Brüche in den Kräfteverhältnissen drinnen verursacht, Brüche, die sich nie auf Forderungslisten, auf politische Verhandlungen, auf Dialoge zwischen Vertretern der Gefangenen und den Gefängnisdirektionen beschränkt haben. Nein, die Revolte war direkt, ohne Dialog, und zielte darauf ab, ein Höchstmass an Schaden an der Gefängnisinfrastruktur anzurichten. Einige werden vielleicht sagen, dass eben dies eine Schwäche war. Sie hätten geordnete Forderungsplattformen, formelle Häftlingsvereine und einen politischen Kampf bevorzugt. Doch diese Revolten konnten nicht in die Zwangsjacke der Politik und ihrer Sprache gezwängt werden; sie gründeten im sozialen Gärungsprozess und in den individuellen Entscheidungen, während sie sich wenig Illusionen darüber machten, von ihren Kerkermeistern irgendetwas positives zu erhoffen. Der explosive Charakter dieser Revolten machte ein politisches Übersetzen (oder besser, Verraten) unmöglich. Sie suchten nicht nach der Eröffnung eines politischen Dialogs über mögliche Verbesserungen der Gefängnisse. Es wäre hier angebracht, auch die Vielfalt der Vorwände zu betonen, die den Revolten Anlass gaben. Manchmal brütete die Idee einer Meuterei während Wochen innerhalb beschränkter Kreise von rebellischen Gefangenen, zu anderen Zeiten brach sie quasi „spontan“, infolge spezifischer Vorwände aus. Aber weil eine Meuterei als Antwort auf – beispielsweise – eine Durchsuchung während den Besuchszeiten, eine Besuchsverweigerung, den Tod eines Häftlings, einen Wärterstreik, die unerträgliche Überbelegung,... beginnt, bedeutet das noch nicht, dass alles gesagt ist. Sei es innerhalb oder ausserhalb der Mauern, „die kleinen Taten und die unbedeutenden Zwischenfälle sind oft die Verabredung der Insurrektionen und der Revolutionen mit der Geschichte“. Aber dies könnte uns nicht vergessen lassen, dass die Revolte auch Ideen braucht, dass die Wut alleine nur eine Zeit lang dauert und Gefahr läuft, sich anschliessend zu verlieren. Bis zu einem gewissen Punkt könnte man sagen, dass im Laufe der Jahre zwischen einigen Gefangenen selbst ein sehr bescheidener informeller Raum der Diskussion und des Austausches von Ideen entstanden ist. Zwischen Gefangenen und Gefährten draussen. Und zwischen Gefangenen und Ex-Gefangenen und deren jeweiligen Milieus. Die unzähligen Flugblätter, die verteilt und nach drinnen geschickt wurden, haben neben anderem dazu beigetra gen. Ebenso wie das regelmässige Erscheinen der Zeitschrift La Cavale, die während Jahren vor allem in Belgien, aber auch in anderen Ländern die Funktion einer „Korrespondenz des Kampfes gegen das Gefängnis“ übernehmen wird; und sich als der „Zement“ zwischen gewissen rebellischen Gefangenen und Anarchisten draussen erweisen wird. Dennoch kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass dieser informelle Raum der Diskussion immer zu beschränkt blieb. Vielleicht, weil er von der Dringlichkeit der Revolte absorbiert wurde. Vielleicht, weil es an langfristigen Perspektiven mangelte. Vielleicht, weil die Hindernisse, welche die Gefängnisse aufstellen, um die Wechselbeziehung und die Kommunikation zu verhindern, sich als zu gross erwiesen. Vielleicht aus Mangel an Auslösern, um diesen Raum auszuarbeiten (beispielsweise durch eine Koordination von einer Anzahl Diskussionen, Initiativen und Aktivitäten). Abgesehen von diesem Raum, zeigte sich die Zirkulation der Ideen und der Erfahrungen vor allem in der Praxis der Revolte, und es schien so, dass die Kampfdynamiken durch die Taten in Gang gebracht wurden, mit allen positiven und negativen Seiten, die daraus abgeleitet werden können. Abgesehen davon, könnten wir nicht ignorieren, dass das Terrain des Kampfes gegen das Gefängnis nicht gerade das „sympathischste“ ist, in dem Sinne, dass es praktisch unmittelbar die Infragestellung der Welt in ihrer Gesamtheit erfordert. Ansonsten wird man bald von den institutionellen Maskenbildnern der Unterdrückung und Einsperrung eingefangen und eingegliedert. Die Frage, die sich folglich aufdrängt, besteht darin, zu wissen, wie einem Kampf Sauerstoff gegeben werden kann, der sich dennoch auf dieses Terrain wagt, und worin die beständige Suche nach einer angemessenen Mischung zwischen Begegnungen, Aktionen, Diskussionen und Perspektiven den Rhythmus angibt. Was die anarchistische Präsenz im Kampf gegen die Gefängnisse in Belgien betrifft, so kann man sagen, dass diese Suche stattgefunden hat, was jedoch nicht heissen will, dass immer Antworten gefunden wurden. ** 2007 ÜBER DEN SCHATTEN DER MAUERN HINAUS Der Zerstörungsfaden, den die Revolten vom Oktober 2006 durch mehrere Gefängnisse gewebt haben, setzte seinen Lauf ab Januar 2007 fort, als die Gefangenen von Merksplas in Aufstand traten und das Gefängnis für Stunden „übernahmen“. Diese beeindruckende Meuterei, welche die Wärter wortwörtlich aus dem Gefängnis verjagte, gab sowohl den Leitungen wie den Wärtergewerkschaften zu verstehen, dass etwas Feuerlöscher hier und da nicht ausreicht, um die Unruhen zu ersticken. Aber sie brauchten noch viel Zeit, um zu realisieren, dass die Taktik der Verlegung der widerspenstigen Häftlinge jedes Mal Gefahr lief, auch die Erfahrungen der Revolte in das nächste Gefängnis zu verlegen... Auf rechtlicher Ebene trat 2007 ein Teil des berühmten „Dupont Gesetzes“ in Kraft. Es wurden Strafanwendungsgerichte gegründet, um die Entscheidungen über alles zu treffen, was die Urlaubszeiten, die Anfragen auf bedingte Freilassung und die Bedingungen betrifft, die mit den Anfragen für eine solche Freilassung einhergehen. In Anbetracht des vorherrschenden Sicherheitsdiskurses wurden diese Gerichte vor allem als Einrichtungen präsentiert, die dafür gedacht sind, den „Missbräuchen“ und den „falschen Einschätzungen“ bei der Gewährung der bedingten Freilassungen entgegenzuwirken. In Wahrheit werden diese Gerichte eine Tendenz bestätigen, die sich schon seit einigen Jahren abzeichnete: die Reduzierung der Anzahl bedingter Freilassungen, und gewiss keine bedingte Freilassung für diejenigen, die für Delikte im Bereich Überfälle und Banditentum verurteilt wurden. Auch wenn sich hinter einer solchen Politik offensichtlich Gründe von politischem und ideologischem Charakter befinden (der Schutz des heiligen Privateigentums), lässt sie keinen Zweifel darüber aufkommen, dass weder die Justiz noch die Polizei Lust hatten, zuzusehen, wie ein Teil der „Banditen“ mit freien Händen da steht, in einer Periode, in der die Zahl der Überfälle und der gewaltsamen Diebstähle unablässig anstieg. Das Gefängnis zeigt sich hier deutlich als ein Werkzeug zur „Verwaltung“ der Delinquenz: während sich der Staat keine Hoffnungen mehr machte, gewissen illegalen Praktiken mittels Gefängnisstrafen ein Ende setzen oder gewisse Individuen „umzuerziehen“ zu können, entschied er sich, die Delinquenz zu verwalten, sie mit dem Gefängnis und einer flexiblen Verwaltung der abzusitzenden Zeit zu dosieren. Diejenigen, die um die Jahrhundertwende infolge eines Aufflammens von bewaffneten Angriffen verurteilt wurden, werden keine bedingte Freilassung erhalten und erst am Ende ihrer Strafe rauskommen. Trotz dieser „flexiblen“ Verwaltung der Strafdauer, kann dennoch nicht jede Verurteilung unendlich lange ausgedehnt werden. In den Jahren, die auf das Jahr 2007 folgen, befindet sich eine grosse Anzahl Personen, die ihre ganze Strafe abgesessen haben (oft zwischen 5 und 9 Jahren), wieder draussen und begegnet auf der Strasse einer immer grösseren Verbreitung der Praxis von bewaffneten Angriffen und Diebstählen. Die Statistiken von 2009 zeigten einen Höchstwert in Brüssel mit im Durchschnitt fünf bewaffneten Überfällen pro Tag, mit insgesamt mehr als 70 Prozent der Händler in Brüssel (von den Kleinhändlern bis zu den Supermärkten, ohne die Juweliere und Banken zu vergessen), die im Laufe der letzten fünf Jahre mindestens einmal überfallen wurden... Drinnen ermutigten die Meutereien, die bewiesen, dass es möglich war, wichtige Veränderungen in der Haltung von zahlreichen Gefangenen. Auf der einen Seite blieb diese unumgängliche Tatsache bestehen, dass viele es bevorzugen, auf „den grossen Moment“ zu „warten“, in dem sich eine grosse Anzahl Häftlinge auflehnt. Auf der anderen Seite aber regten die Revolten zur Verbreitung einer Verweigerungs-, Widerstandshaltung in allen möglichen Formen an. Dieses Zusammenspiel zwischen den grossen offensiven Momenten und einer latenten Widerstandshaltung hat viel dazu beigetragen, dass die Unruhen im Laufe der Jahre weitergingen. Umso mehr, da eine steigende Anzahl Gefangener, durch Kontakte, die zwischen den kämpfenden Gefangenen drinnen und den Gefährten draussen aufrechterhalten wurden, mit einer gewissen Zirkulation von libertären Ideen innerhalb der Mauern Bekanntschaft machten. Obwohl die „Kommunikation mit Gefangenen“ sicherlich nicht die Grundlage für einen antiautoritären Kampf gegen das Gefängnis bilden kann (denn wäre dies der Fall, würde sie unvermeidlich dazu führen, „die Gefangenen“ als Kategorie und Subjekt eines Kampfes hinzustellen, der alle betreffen könnte und sollte), gibt es keinen Zweifel daran, dass wir die Verbreitung von anarchistischen Ideen gegen das Gefängnis, sowohl drinnen wie draussen, für extrem Wichtig halten. Vergessen wir auch nicht den Kontext einer programmierten Verdummung (denken wir nur an die verallgemeinerte Einführung des Fernsehers und der Play-Station in jede Zelle) und eines „ideologischen Gefechts“, in dem nicht nur Sozialarbeiter und Psychologen darauf versessen sind, „brave Bürger“ zu rekrutieren, sonder es auch eine gewisse Präsenz von reaktionären Ideologien gibt – wie vor allem der Islamismus –, die den Gesetzesübertretern, im Tausch gegen ein Beitritt in die religiösen Ränge, eine neue Chance anbieten. Der Bekehrungseifer von dieser Seite ist drinnen sehr präsent, was aber nicht heissen will, dass der Islamismus viel Erfolg davonträgt. Im Jahr 2007 begannen sich starke Verbindungen zwischen der anarchistischen Präsenz und einigen rebellischen Individuen drinnen zu schmieden, Verbindungen, die dem Prüfstein der Zeit standhielten. Der Anlass für diese Begegnungen waren keine „militanten“ Vorstellungen, die Beziehungen aufzufassen. Diese Verbindungen stellten den Gefährten draussen gleichzeitig die komplexe Frage, wie Kampfinitiativen entwickelt werden könnten, die diesen kameradschaftlichen und komplizenhaften Beziehungen über die Mauern hinaus Leib und Seele geben. Denn natürlich, einige von ihnen sind drinnen besonders oft konfrontiert mit direkter Repression (Isolierung, Bunker, restriktive Massnahmen, etc.) und versuchen, sich zu verteidigen. Umso besser, wenn dies mit „Unterstützung“ von draussen geschieht. Aber eine Dynamik von „kämpferischer Unterstützung“ gegenüber einer Anzahl kämpfender Gefangener reduziert – zunächst auf kaum wahrnehmbare, dann auf fatale Weise – die Autonomie und das Aktionsspektrum von jedem und jeder, der oder die versucht, einem Kampf gegen das Gefängnis Gewicht zu verleihen. Dennoch kann man nicht behaupten, dass es die direkte „Unterstützung“ unter allen Umständen zu verweigern gilt, um diese Autonomie nicht zu kompromittieren. Die Erfahrungen, die von der anarchistischen Präsenz in Belgien gemacht wurden, sind gleichzeitig vielfältig und widersprüchlich im Bezug auf diese Fragen. Die Kritik an einer Art „Assistenzialismus“ gegenüber den Häftlingen war sehr präsent, und zu Recht. Abgesehen davon schlugen wenige Initiativen diese Richtung ein. Doch ein „Kampf“, dem es nicht gelingt, gegenüber den „Kämpfenden“ Solidarität und Unterstützung zu beweisen, auch wenn sie sich drinnen befinden, ist dazu verurteilt, im Stillstand und im Groll zugrundezugehen. Denn der Kampf gegen das Gefängnis spielt sich auf einem Terrain ab, auf dem sich die Repression konzentriert und auf direktem Weg den Geist und den Körper der eingesperrten Individuen angreift. Aus dem schwankenden Parcours der anarchistischen Präsenz betreffend dieser Frage, können zwei Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens, je mehr sich der Einfallswinkel um eine spezifische Situation oder Frage „beschränkt“, desto mehr zeichnen sich Grenzen ab was die Autonomie und die mögliche Tragweite der fraglichen Kampfinitiative betrifft. Wenn zum Beispiel eine Platzierung unter Isolation angegriffen wird, indem „interne Gründe“ als Ausgangspunkt genommen werden (die gesetzlichen Fristen der Isolierung, die „Legitimität“ der Entscheidung der Platzierung unter Isolation), und wenn sich die Kritik nicht ausweitet, um sie mit der Isolation eines jeden in dieser Gesellschaft zu verbinden, dann läuft die Initiative ernsthaft Gefahr, entweder vor den Toren des Gefängnisses oder in einem Duell zwischen einigen Individuen und der ganzen staatlichen Maschinerie zu enden. Ein Duell, in dem die anderen vor allem dazu neigen würden, die Rolle von Zuschauern zu übernehmen. Dies schmälert selbstverständlich nicht die Tatsache, dass es notwendig und wichtig ist, auf Veränderungen der Kräfteverhältnisse im Innern (worauf eine Platzierung unter Isolation beispielsweise hindeutet) direkt zu reagieren, aber indem man eben davon profitiert, den Einfallswinkel möglichst weit zu vergrössern. Die Spannung zwischen den Anforderungen einer spezifischen Situation und dem Bedürfnis, ein möglichst breites Aktionsspektrum zu entfalten, kann jedenfalls nicht auf ideologische Weise abgelegt werden. Diese Spannung muss schlichtwegs ein kritischer Drehpunkt der Kampfdynamik in ihrer Gesamtheit sein. Zweitens, je mehr die Kampfperspektiven vertieft sind, desto weniger Panik und Inkohärenz taucht auf, wenn sich gewisse dringende Situationen zeigen (wie zum Beispiel eine Platzierung unter Isolation oder auch ein kurzentschlossener Hungerstreik [3]). Eines der wichtigsten Elemente, um zu verhindern, vom Teufelskreis „Revolte, Repression, Revolte gegen die Repression, wieder Repression und so weiter“ verschluckt zu werden, ist, eine Initiative zu bewahren, die uns eigen ist. Die Knastwelt funktioniert auf der Grundlage der Routine und versucht den Häftlingen (und ihren Kampfgefährten draussen) immer und überall ihren eigenen Rhythmus aufzuzwingen. Diese Routine bewusst zu durchbrechen, bringt diesen Mechanismus durcheinander und kreiert die Verwirrung, die die Kräfteverhältnisse, und sei es auch nur aus diesem Grund, stets für die Gefangenen begünstigt. Wenn der Kampf gegen das Gefängnis in „der Reaktion auf die Dringlichkeiten“ versinkt, nimmt uns der Staat den Kampf wieder weg. Es ist sicher, dass eine Armada von „Anwälten, Journalisten und kritischen Akademikern“ dem Staat gelegentlich Beistand leistet in der Rekuperation von der Wut gegen die Einsperrung, aber letztendlich gibt es wenig auszuschmücken und schönzureden, wenn diese Wut in ihrem Innern ein rudimentäres Verlangen nach Freiheit hegt. Für den Staat war es viel interessanter, auf Versuche zu setzen, dieses Knurren auf eine falsche Fährte zu führen und dem Kampf seine Initiativefähigkeit zu nehmen. Um den Faden unserer Geschichte wieder aufzunehmen, sollten wir noch eine wichtige Entwicklung betonen. Ab dem Jahr 2007, als der Staat gerade Pläne für eine ausgefeiltere „Aufteilung“ der Knastbevölkerung skizzierte, eine Aufteilung in verschiedene Kategorien mit verschiedenen Regimen, übersprang die Agitation diese bereits bestehenden Barrieren leicht. Es gab keine spezifischen Kategorien (wie die Langzeitstrafen beispielsweise), die sich als Hauptprotagonisten profilierten. Der Virus der Revolte erreichte viele Gefangene, jenseits aller Kategorien. Sei es in den Haftanstalten, in denen sich vor allem Personen in Präventivhaft befanden, oder in den Sektionen für Langzeitstrafen. Sowohl in der psychiatrischen Sektion, wie in den „normalen“ Sektionen brechen Revolten aus. Zusätzlich zeichnet sich während des ganzen Jahres 2007 eine besonders interessante Tendenz ab: die Revolten in den Gefängnissen scheinen auch die Revolten in den geschlossenen Zentren für illegale Migranten zu schüren. Diese Tendenz wird sich im Laufe der folgenden Jahre noch mehr hervorheben und die Gefährten draussen dazu ermutigen, auf der Verweigerung zu beharren, prinzipielle Trennungen zwischen den unterschiedlichen Formen der Einsperrung zu machen. Übrigens dürfen wir nicht vergessen, dass viele Gefangene, da sie über keine gültigen Papiere verfügen, in die geschlossenen Zentren verlegt werden, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben. Wie wir bereits weiter vorne darlegten, ermöglichten diese Verlegungen auch, Erfahrungen der Revolte zirkulieren zu lassen. Und die physische Infrastruktur der geschlossenen Zentren (viele kollektive Aktivitäten, Schlafsäle, weniger „durchtrainierte“ Wärter und mehr Ausbruchsmöglichkeiten) lässt den Meutereien mehr „Raum“ als das Gefängnis. Es ist übrigens auch um diese Zeit, dass die Politiker beginnen, ein spezielles geschlossenes Zentrum für Ex-Häftlinge und Widerspenstige zu erwähnen, was später zu einem spezifischen Kampf gegen den Bau dieses Zentrums (der „Caricole“) in Steenokkerzeel Anlass geben wird.[4] Während sie die Erfahrungen rund um die Aufruhre noch immer in Erinnerung haben, die in den Quartieren von Brüssel ausbrachen, nachdem Fayçal im Gefängnis von Forest ermordet wurde, machen die Gefährten draussen, vorsichtig aber konkret, ihre ersten Schritte, um den Kampf gegen die Gefängnisse aus dem Schatten der Mauern herauszuholen. Sie richten sich hauptsächlich den tumultreichen Quartieren zu, in denen sie schnell Bekanntschaft mit der latenten Feindschaft machen werden, die viele Personen gegenüber dem Gefängnis, der Justiz und natürlich der Polizei hegen. Diese Begegnung wird diese Tendenz, auf die Strasse zuzugehen, noch mehr ermutigen. Die Frage der Entwicklung von Projektualitäten wird auf den Tisch gebracht. Mit dem beständigen Aufbau eines Kontaktnetzes drinnen, dem Beitragen zu diesem bescheidenen, aber tatsächlich existierenden informellen Raum und den Erfahrungen von Solidarität mit den Meutereien, wird die Frage ambitiöser: Wie wollen wir, hier auf der Strasse, als Gefangene einer Welt der Autorität und des Geldes, einen Kampf gegen das Gefängnis und seine Welt aufbauen? Abgesehen von der Vertiefung und Verbreitung von anarchistischen Ideen, welche Kampfvorschläge können gemacht werden, um die Revolte auch auf der Strasse zu verbreiten und unsere Aktivität nicht auf die Solidarität und Unterstützung der Revolten drinnen zu beschränken? Ausgehend von diesen Fragen hat eine lange Suche ohne Ende begonnen, auf der einige Fährten ausprobiert wurden und andere unerkundet geblieben sind. Diese Suche, und hier stossen wir uns erneut an der Schwierigkeit unserer Geschichte, bezog sich nicht nur auf den Kampf gegen das Gefängnis, sondern auch auf die Perspektiven, die Methoden und die Ideen einer anarchistischen Präsenz („Bewegung“ zu sagen, wäre wirklich übertrieben), die dabei war, neue Wege zu erforschen. Der Hauptvorschlag, so könnte man sagen, war die oft genannte Verbreitung der Revolte, was im Verlaufe der Jahre viele Farben erhalten und weiter vertieft werden wird: die Verteidigung einer rebellischen Haltung gegenüber jeglicher Autorität, die Identifizierung und Belichtung der Strukturen und Menschen des Gefängnisses und seiner Welt als mögliche Angriffsziele, die Häufung von simplen, einfachen und reproduzierbaren direkten Aktionen und Angriffen gegen diese Strukturen. Man könnte einige Bereiche grob unterscheiden, die von dieser feindlichen Identifizierung durchleuchtet wurden, wenn wir im Hinterkopf behalten, dass diese Unterscheidungen in dem Sinne „abstrakt“ sind, dass wir sie hier im Nachhinein machen, während sie auf ganz natürliche Weise unter den von den eigentlichen Kampfererfahrungen und den damit einhergehenden Diskussionen gegebenen Impulsen erkundet wurden. Oder, um noch deutlicher zu sein: es handelt sich damit nicht im Geringsten um einen vorher festgelegten oder vorher konzipierten Angriffsplan, dem im Laufe der Jahre wortgetreu gefolgt wurde, sondern vielmehr schlicht um Parcours von Revolte und Kritik, die sich entwickeln, genährt durch die Erfahrungen, die libertären Ideen und das Vorstellungsvermögen, während sie zur logischen Schlussfolgerung des Angriffs gelangen. Wenn wir die Bereiche der Sabotagen, der Angriffe, der Aufruhre, der Aktionen, etc. überfliegen, könnten wir also folgendes unterscheiden: – Die repressiven Strukturen (Institutionen der Justiz, Polizeidienste, Gefängniswärtergewerkschaften, Strafvollzugspersonal und -direktion, Sicherheitsindustrie, soziale Kontrolle (beispielsweise durch die Videoüberwachung, die öffentlichen Transporte, die neuen „Dienstleistungen“ wie die Friedensbewahrer [frz.: Gardiens de la paix], die alle nicht polizeilichen öffentlichen Sicherheitsaufgaben ausüben, etc.) – Das ökonomische Netz rund um die Gefängnisse (Unternehmen, welche den Gefängnissen Dienstleistungen erbringen, welche die Arbeit im Gefängnis organisieren, die an der Renovierung oder am Bau der Gefängnisse beteiligt sind. Institutionen, die direkt in die Verwaltung des Gefängnisses eingreifen, wie die Universitäten, die Arbeitsvermittlungsbehörden, die Temporärarbeitsagenturen, die Ausbildungs- und Rekrutierungsdienste) – Alles, was dafür sorgt, dass diese Welt ein Gefängnis unter offenem Himmel bleibt (Schulen, Verwaltungseinrichtungen, Lohnarbeit, Urbanismus). Als Perspektive lud eine solche Art und Weise, den Kampf zu leben und zu teilen, jeden und jede dazu ein, die Feindseligkeiten dort aufzunehmen, wo er oder sie sich befindet. Es ging also nicht darum, grosse Organisationen zu bilden, die Kräfte derjenigen zu „konzentrieren“, die gegen das Gefängnis kämpfen wollten, eine „Gegenmacht“ zu werden, die dem Knastmastodon gleich kommt. Nein, es ging um die Verstreuung im sozialen Gewebe von Ideen gegen das Gefängnis und seine Welt und von Gesten der Revolte. Nicht, „eine Heerschar“ gegen das Gefängnis zu formieren, die leicht kontrollierbar ist und in ihrem Innern zwangsläufig autoritäre Beziehungen reproduziert, sonder dazu anzuspornen, als „verstreute Haufen“ zu kämpfen, jeder und jede nach den eigenen Verlangen, den eigenen Geschmäckern und den eigenen Ansprüchen. Letztendlich war es ein Versuch, der manchmal mit Erfolg gekrönt war, manchmal weniger, den Schwerpunkt nicht mehr innerhalb der Mauern zu platzieren, sondern ihn, in einer Dynamik von Revolten und ihren Beziehungen und Komplizenschaften, überall zu verstreuen. Draussen, anstatt die Verteilung von Flugblättern vor den Gefängnistoren zu konzentrieren, gingen die Gefährten direkt in die Quartiere, in denen sich die Frage des Gefängnisses letztendlich ebenso sehr jeden Tag stellt. Diese Flugblätter sprachen nie nur von der Solidarität mit den Meutereien, sondern versuchten, die Frage des Gefängnisses mit all jenen zu verbinden, die in den Quartieren existierten, die mit der täglichen Realität der Ausbeutung, mit der Bewahrung der Ordnung zu tun haben... Auch die Vorstellung von «Solidarität» wurde ausgefeilt. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen einer Solidarität mit den Taten oder mit ihren angeblichen Autoren. Der weit bekannte Slogan «Solidarität mit allen kämpfenden Gefangenen» lässt zweifelsohne ausser Acht, wer denn «all diese Gefangenen» sein sollen und vor allem, worauf unsere Solidarität eigentlich basieren sollte. Wenn wir uns auf ein leicht rhetorisches Spiel einlassen, könnten wir den Slogan in «Solidarität mit dem Kampf der Gefangenen» umwenden. Die Betonung wird somit auf die Revolte gelegt, in der wir uns sicherlich einfacher wiedererkennen können, als in diesem oder jenem Gefangenen. Abgesehen von der Tatsache, dass es uns wenig Perspektiven bietet, ist das Herbeieilen bei jeder Revolte mit einer Verherrlichung der Gefangenen im Mund oder im Schreiber oft eine Verkennung der Realität. Denn das Gefängnis ist nichts als die Wiederspiegelung der elenden Gesellschaft draussen. Natürlich, es ist gewiss möglich einige Komplizen unter den Gefangenen zu finden – einige verabscheuen nicht nur das Gefängnis, sondern stellen auch die Herrschaft im Allgemeinen in Frage –, aber alle Gefangenen als soziale Rebellen durchgehen zu lassen, erweist sich nur als angenehmer Zeitvertreib für jene, die si ch damit zufriedengeben, vorgefertigte Ideologien zu fabrizieren.»[5] ** 2008 DIE REVOLTEN GEHEN WEITER Unterdessen sind es bereits zwei Jahre, in denen Revolten, Meutereien und Ausbrüche in einem konstanten Rhythmus in den Gefängnissen aufeinanderfolgen. Die Funken haben sich bereits auf die geschlossenen Zentren ausgebreitet, die nun eine sehr intensive Periode der Revolte kennen. Aber sie haben auch die Strasse erreicht. Durch die Entfaltung einer permanenten Agitationsaktivität in einer gewissen Anzahl unruhiger Quartiere, hauptsächlich in Brüssel (im Speziellen Molenbeek, Saint-Gilles, Anderlecht und Forest), wurde es für die anarchistische Präsenz draussen möglich, bis zu einem gewissen Punkt, „losgelöst“ von den Bedingungen drinnen und vom Aufeinanderfolgen der Ereignisse, ihren eigenen Rhythmus innerhalb des Kampfes zu finden. Während die Politiker zum ersten Mail die Worte „Bau von neuen Gefängnissen“ zu nuscheln beginnen, verstärkt der Staat spürbar die Repression gegen die Bewegungen der Sans-Papiers. Gruppen von Sans-Papiers organisierten seit kurzem Gebäudebesetzungen; etwa nach dem Muster von dem, was 2005 und 2006 geschah, als insgesamt mehr als 100 Gebäude von Sans-Papiers besetzt waren, die eine allgemeine Regularisierung forderten. Vielleicht aus Angst vor einem möglichen erneuten Aufkommen einer solchen Besetzungswelle griff der Staat ziemlich schnell auf den Schlagstock zurück. Gleichzeitig war in den warmen Quartieren von Brüssel die Revolte am brüten. Es gab viele „kleine“ Unruhen, bei denen Gruppen von einigen dutzend Personen zum Beispiel eine Polizeipatrouille angriffen, ein Kommissariat besetzten, einige Läden verwüsteten, etc. Natürlich machen solche Ausbrüche der Revolte, genauso wie die Praxis, Autos in Brand zu stecken, in den ärmeren Quartieren der Städte seit langem Teil des Panoramas aus, aber man kann sagen, dass sie 2008 spürbar angestiegen sind, und diese Tendenz wird sich weiterhin während mehr als zwei Jahren bekräftigen. In gewissen Bereichen der Gesellschaft schien die soziale Temperatur anzusteigen und die Dynamik, welche die Gefährten gegen die Gefängnisse und die geschlossenen Zentren am entwickeln waren, schien gut damit übereinzustimmen. Innerhalb der Mauern wuchs die Verbreitung von Texten, von Flugblättern und Publikationen unablässig an. Auf der einen Seite gab es die Verlegungen von Gefangenen, die in Kontakt mit Gefährten draussen waren, was dazu führte, dass es schlussendlich, in einer grossen Anzahl Gefängnisse, mindestens einen oder zwei Gefangene gab, die solche subversiven Lektüren verbreiteten. Auf der anderen Seite sind die Verbindungen mit gewissen Gefangenen derart vertieft und durch die von beiden Seiten der Mauern aus laufende Agitation gestärkt gewesen, dass wahre libertäre Kameradschaften das Tageslicht erblickten. Im Übrigen wurde immer deutlicher, dass es ein Fehler ist, zu denken, dass man mit Gefangenen nur vom Gefängnis sprechen kann und muss. Wie gross auch die Kraft ist, mit der die Revolte hochgehen kann, sie neigt dazu, sich ziemlich schnell niederschlagen zu lassen, wenn sie im Innern der Mauern isoliert wird, sowohl auf konkrete und praktische Weise, wie auf inhaltlicher Ebene. Es geht darum, Brücken zwischen den Revolten zu schlagen, die sich auf verschiedenen Terrains der Gesellschaft befinden, sie miteinander sprechen zu lassen. Die Situationen korrespondieren zu lassen, in welchen sich Leute mit zumindest einigen Aspekten der Herrschaft und der Macht konfrontieren, auf eine anti-politische und anti-institutionelle Weise. Umso mehr, da das Gefängnis ganz und gar kein isoliertes Universum ist, sondern eben gerade ein fundamentales Element der autoritären Verhältnisse, welche diese Gesellschaft regeln. Dort, wo die Macht versucht, Trennungen aufzuzwingen, um die Konflikte zu isolieren oder sie demokratisch zu lösen, indem ein einzelner Aspekt ihres Regimes etwas verbessert wird, müssen willentlich Brücken geschlagen werden. Die Revolte von Gefangenen innerhalb der Mauern mit der Revolte von Gefangenen ausserhalb der Mauern kommunizieren, in Dialog treten lassen. Den Kampf gegen das Gefängnis nicht auf den Kampf gegen einzig diese Institution mit ihren Stacheldrähten und ihren Mauern reduzieren, sondern ihn auf alle Formen der Einsperrung ausweiten, auf alles, was aus dieser Welt ein grosses Strafvollzugslager unter offenem Himmel macht. Dem fügt sich an, dass die Umstände, die sich ab 2008 abzeichnen, diese Aufgabe nur vereinfachen werden: De facto brütete es an verschiedenen Orten und in verschiedenen Bereichen. De facto drückte sich ein immer grösser anwachsender Teil dieser Unzufriedenheit durch eine anti-institutionelle Revolte aus (was, lasst uns darin klar sein, nicht heissen will, dass es sich um eine „anarchistische“ oder „revolutionäre“ Revolte handelt). De Facto inspirierten sich diese Revolten gegenseitig, oft auf indirekte Weise, aber manchmal auch auf sehr direkte und konkrete Weise. Jeder Akt der Rebellion erhöhte den Druck, sowohl auf der Strasse wie in den Gefängnissen und geschlossenen Zentren, und liess die Kräfteverhältnisse kippen, eröffnete neue Horizonte für die Diskussion und den Austausch von Ideen und gab denjenigen Kraft und Mut, die der Versiegelung ihres Herzes und der Abschaltung ihres Hirns nahe waren. Die Spannung stieg an, weil die verschiedenen Revolten einander kreuzten, weil man sich nicht entwaffnet vor einer intensiven Situation wieder fand, sowohl auf praktischer wie theoretischer Ebene. Sicher gab es Illusionen, aber zumindest hatten diese Illusionen den süssen Geschmack der Freiheit. Mitte 2008 wird im Gefängnis von Brugge ein Isolationsmodul eröffnet, ein anderes in jenem von Lantin. Ebenso wie in Frankreich (QHS), in Spanien (FIES) und vor allem in den Niederlande (EBI)[6], verfügt der belgische Staat heute über eine angepasste Infrastruktur, um zu versuchen, die schwierigen, widerspenstigen oder „zur Flucht neigenden“ Gefangenen lebendig zu begraben. Ebenso wie in anderen Ländern liefen diese Isolationsmodule auf dem Grat ihrer eigenen Legalität. Das Regime wird während einer „Versuchs“-Periode durch Experimentierungen an den Gefangenen in der Praxis verfeinert werden. Einige Jahre später wird ihm eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Gegen Ende des Jahres scheint sich die Spannung in den Gefängnissen zu verringern. Einerseits schien es dem Staat zu gelingen, die Initiative durch eine energischere und entschiedenere Repression bis zu einem gewissen Grad wieder in die Hand zu nehmen. Andererseits, einmal abgesehen von der Eröffnung der Isolationsmodule, kamen auch die ersten juridischen (und somit nicht mehr „nur“ disziplinären) Strafmassnahmen gegen Gefangene auf, die sich an Revolten beteiligten. Neben den üblichen disizplinären Massnahmen (Bunker, striktes Zellenregime, Aufhebung der Besuche und Aktivitäten, etc.), vertelen die Gerichte Gefängnisstrafen (oft zwischen 9 und 14 Monaten – später werden die Strafen härter und bis zu einigen zusätzlichen Jahren gehen). Schliesslich muss man sagen, dass eine Anzahl Gefangener, die zu Beginn der Unruhen dem Ende ihrer Strafen bereits näher kamen und sich aktiv an der Agitation beteiligten, auf die Strasse hinaus kommt. Es sollte angemerkt werden, dass, wie wir bereits gesagt haben, von bedingten Freilassungen nicht die Rede war. Der Grossteil der rebellischen Gefangenen kam bei Strafende raus. Dennoch wäre es schwer übertrieben, zu behaupten, die Agitation habe der Resignation Platz gemacht. Die Zahl der individuellen Revolten (die Zelle in Brand stecken, die Wärter angreifen und ausbrechen) stieg sichtbar an. Aber es scheint durchaus, dass gewisse “Reflexe“ von gegenseitiger Unterstützung und Solidarität, die viele Gefangene in diesen letzten Jahren wiederentdeckt haben, immer mehr verschwinden. Die Erschöpfung spielt darin gewiss eine Rolle. Und dort, wo sich die Solidarität und die latente Rebellion zurückziehen, zeigen sich praktisch unmittelbar einige verhängnisvolle Mentalitäten, wie beispielsweise „ethnische“ Raufereien unter Häftlingsgruppen. Es ist hier vielleicht passend, etwas bei der „Denunziations-Mentalität“ zu bleiben. Das Gefängnis, ebenso wie die Justiz und allgemeiner die Gesamtheit der sozialen Ordnung, setzt für einen Grossteil seiner alltäglichen Verwaltung des Widerstands, auf die Denunziation im Tausch gegen Reduzierungen der Strafe, finanzielle Vorteile, Begünstigungen, eine hierarchische Position im „delinquenten Milieu“, etc. Das Netz von Spitzeln und Verrätern innerhalb der „delinquenten“ Milieus erlaubt dem Staat, die Delinquenz zu verwalten, ja sie sogar bis zu einem gewissen Grad zu steuern. Laut den offiziellen Zahlen der föderalen Polizei sind die Spitzel die entscheidenden Elemente in 40 bis 60 Prozent der Untersuchungen, bei denen es sich um Akte von „Banditentum“ handelt. Innerhalb der Mauern geht dieses kleine Spiel weiter. Letztendlich geht es vielleicht nicht so sehr darum, zu wissen, wie man jegliche „Denunziation“ ausradieren kann (was auf die Zerstörung der Repression und des Staates hinauslaufen würde), sondern darum, inwiefern und wie die Mentalität der Denunziation bekämpft wird. Wird ein notorischer Denunziant angegriffen oder kann er ruhig auf den Hof hinaus gehen? Werden die Verbindungen mit jemandem, der denunziert, entschieden abgebrochen, oder werden sie aufrechterhalten, um „Begünstigungen“ zu erhalten (Drogen, Informationen, Schutz), die ein Denunziant liefern könnte? Es wurde schon fast zu einer Nebenbemerkung, zu sagen, dass die Intoleranz gegenüber der Denunziation viel an Boden verloren hat, und dass das Prinzip „nichts gesehen, nichts gehört, nichts zu deklarieren“ oft ausgetauscht wird mit taktischen Spielen mit Richtern, Untersuchungsbeamten, Polizisten, Wärtern,... Aber es ist vor allem die Revolte, die den Verrat und die Denunzianten schwinden lässt, wie sie es in jenen Jahren in zahlreichen belgischen Gefängnissen getan hat. Ebenso wie die Revolten auch ein frontaler und spürbarer Angriff gegen die Händlermentalität gewesen sind, die tief in die Gesellschaft und die Delinquenz vorgedrungen ist. Eine Mentalität, die denkt, dass alles käuflich, aushandelbar, dealbar ist, selbst die eigene Person. Während jegliche Ethik, jegliches Bewusstsein in den Hintergrund gedrängt wird. Drinnen wie draussen kann diese Mentalität, die grosse Schäden anrichtet, nur dadurch bekämpft werden, dass man sich für etwas anderes auflehnt. ** 2009 NICHTS WIRD OHNE ANTWORT BLEIBEN Zur gleichen Zeit, wie die Intensität des Konfliktes in und um die Gefängnisse abzunehmen scheint, und sich viele Aktivitäten der anarchistischen Präsenz eher um die geschlossenen Zentren fokussieren, geschah, was sich niemand zu erhoffen traute. Innerhalb von weniger als zwei Monaten werden die beiden neuen Isolationsmodule (von Lantin und von Brugge) durch Meutereien zerstört. Es ist nicht nur, dass diese Revolten die Module verwüstet haben (was sie für lange Zeit unbrauchbar machte, jenes von Lantin wird erst 2011 seine Tore wieder öffnen). Sie durchbrachen auch die ganze Logik, die hinter diesen Modulen steckt, ihren Bestehensgrund. In Lantin gelang es der Gefängnisdirektion und der Presse mehr als einen Monat lang, die Zerstörung zu verschweigen. Die Gefangenen, die etwas mit der Revolte zu tun hatten, werden in den Bunker von Brugge verlegt. Jeglicher Kontakt mit der Aussenwelt wird abgebrochen. In Brugge war es nicht möglich, die Revolte zu verbergen. Umso mehr, da das dortige Isolationsmodul, dank der unerbittlichen Kritik und dem Widerstand von gewissen Gefangenen, die sich dort befanden, in den Medien bereits für Skandal gesorgt hat . Dem Justizminister De Clerck gelang es 2009, etwas zu erlangen, was noch nie gesehen wurde. Um der Überbelegung kurzfristig entgegenzuwirken, ohne gezwungen zu sein, auch nur einen Gefangenen eine Sekunde zu früh herauszulassen, hat der Minister beschlossen, ein Gefängnis in den Niederlanden zu mieten. Belgische Gefangene wurden also nach Tilburg deportiert, wo sie unter einem belgischen Regime gefangen gehalten, aber von holländischen Wärtern überwacht wurden. Zuerst sagte der Minister, es würde sich um „freiwillige Verlegungen“ handeln, aber schnell wurde klar, dass Tilburg mit Gefangenen gefüllt werden wird, die gegen ihren Willen deportiert wurden. Ausserdem hoffte der Minister, dass das ferne Gefängnis von Tilburg die ideale Strafkolonie werden könnte, um die Hitzköpfe etwas abzukühlen. Damit war nichts. Trotz allen Versuchen, den Widerstand und die Revolten abzuschirmen, und sie somit von der Aussenwelt zu isolieren, sind in Tilburg regelmässig Aufruhre ausgebrochen. Das, was sich die Feinde des Gefängnisses erwünschten, wurde Realität: die Revolte übersprang nicht nur die Gefängnismauern, sondern schaffte es auch, eine Grenze zu überspringen. In dieser selben Periode veröffentlichte der Minister seinen „Masterplan“ für den Bau von mindestens 7 neuen Gefängnissen und, zusätzlich zum Ausbau der bereits bestehenden geschlossenen Zentren für Minderjährige, die Eröffnung eines Jugendgefängnisses im alten Gefängnis von Tongeren (welches bereits in ein „Gefängnismuseum“ verwandelt wurde). Zu dieser selben Zeit schienen die in diesem Buch bereits erwähnte „Identifizierung des Feindes“ und die „verstreuten Angriffe“ gut geschliffen. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen wurden durch die Agitation und durch zahlreiche anonyme Sabotagen gebrandmarkt. Nach dem Vorbild des Staates, könnte man versuchen, herauszufinden, wer die Verantwortlichen dieser beträchtlichen Verbreitung sind. Oder auch, ob diese denn wirklich „sozial“ ist. Aber der Staat kann nur gemäss seiner eigenen Logik überlegen und, in wirklichen und konkreten Begriffen, ist es ihm völlig unverständlich, dass sich Individuen in der Revolte von anderen wiedererkennen und sich daraufhin selbst auflehnen können. Sicher hat die anarchistische Präsenz diese Verbreitung der Revolte immer vor allen verteidigt und allen vorgeschlagen, die gegen das Gefängnis kämpfen wollten. Aber es hat weder Hand noch Fuss, den Anarchisten alleine die Fähigkeit zuzuschreiben, sich für die direkte Aktion und den Angriff zu entscheiden. Eine solche Argumentation ist bloss ein miserabler Versuch, diejenigen zu isolieren, die kämpfen. Die Anarchisten waren nie die einzigen, die gegen das Gefängnis revoltieren. Das Gegenteil zu behaupten, zeugt nur von Blindheit und von der Unfähigkeit, den diffusen sozialen Charakter der Feindlichkeit gegenüber den Gefängnissen und der Justiz zu verstehen, der zumindest im Kontext von Städten wie Brüssel oder Charleroi mehr als deutlich vorhanden ist. Jene, die nach „unwiderlegbaren Beweisen“ für diese soziale Verbreitung suchen, werden eher enttäuscht sein, wenn sie sich in die Annalen der offiziellen Presse vertiefen, einer Presse, die deutlich nie die Absicht hat, zur Revolte zu ermutigen. Aber sprechen wir lieber über eine Episode, die sich gegen Ende des Jahres 2009 abspielte, um unseren Vorschlag zu veranschaulichen. Während ein Kampf, der spezifisch gegen den Bau eines neuen geschlossenen Zentrums ausgerichtet war, das eigens konzipiert ist, um die widerspenstigen Häftlinge darin einzuschliessen, begann, Leib und Seele anzunehmen, geben die Misshandlungen, die während eines Wärterstreiks im Gefängnis von Forest durch Polizisten verübt wurden, Anlass für eine ganze Reihe von verstreuten Feindlichkeiten. In Andenne lehnen sich Gefangene auf, in Brüssel brennen einige Autos von Europarlamentariern, in Anderlecht zieht eine Gruppe von vermummten Personen durch mehrere Strassen, widmet sich dem Einschlagen von Scheiben und steckt das lokale Polizeikommissariat in Brand (dasjenige der Polizeizone, welche die Wärter während ihres Streiks ersetzte). Am Folgetag zog eine von Antiautoritären organisierte und seit einigen Wochen vorgesehene Demonstration gegen die geschlossenen Zentren und die Gefängnisse durch Anderlecht und Molenbeek. Wähernddessen flammten weiterhin Fahrzeuge von Unternehmen auf, die mit der Verwaltung der Gefängnisse oder anderem in Verbindung stehen, während zu Neujahr die Fassade des Gefängnisses von Forest mit Kalaschnikovs beschossen wurde. Wie in den vorhergehenden Jahren, schienen die Sommermonate die idealen Umstände für Ausbrüche zu bieten. Diese folgen rasch aufeinander (man spricht von mehreren dutzend). Ausserdem verbreitete sich, zum Schrecken der Gefängnisdirektionen, der Wärtergewerkschaften und der braven Bürger, eine neue Ausbruchsmethode: die Geiselnahme von Gefängnispersonal, um die Öffnung der Tore des Gefängnisses zu erzwingen. Nach einigen erfolgreichen Ausbrüchen mit Geiselnahmen, hat sich die Methode ausgebreitet. Umso mehr, da es eine Methode ist, die in Reichweite von allen liegt: man braucht kein Netzwerk von Komplizen draussen, man braucht weder allzu viele Pläne noch schwierige und komplizierte Vorbereitungen zu machen, man braucht nichts aussergewöhnliches (ein spitzer Gegenstand reicht aus),... [7] Der verzweifelte Versuch der Wärter, dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem sie selbst die Verfolgung der Ausbrecher aufnehmen, wird daran nichts ändern. Schliesslich ist es nicht überraschend, dass in einer Welt, in der die Sicherheits- und Kontrollmassnahmen immer mehr verstärkt werden, auch die Revolte in einem gewissen Sinne „brutaler“ wird. Dies gesagt, versteht sich von selbst, dass natürlich jeder lieber auf eine „sanftere“ Weise, durch beispielsweise das Überklettern der Mauer ausbrechen würde, anstatt ein Messer unter die Kehle eines Wärters legen zu müssen. Aber dies ändert nichts an der Tatasche, dass diese Verbreitung der Methode der Geiselnahme eine logische Antwort auf die Verstärkung Sicherheitsmassnahmen und auf die rohere Repression ist. Ab diesem Sommer haben zahlreiche Wärterstreiks eine bessere Bewaffnung der Wärter gefordert (Schilder, Helme, Taser, Tränengas, etc.). Im Jahr 2011 wird im Gefängnis von Saint-Gilles zum ersten Mal offiziell eine Interventionstruppe gebildet (offiziös war dies bereits der Fall), die ausgebildet und bewaffnet ist, um während Unruhen, Aufruhren, Geiselnahmen, etc. zu intervenieren. Dies bewahrheitete sich im Übrigen auch auf der Strasse. Von Brüssel bis Charleroi wuchs die Anzahl der bewaffneten Angriffe weiter an und alles deutete darauf hin, dass es sich um eine soziale Tendenz handelte: die Überfälle waren immer weniger das Werk von, um es so zu sagen, „professionellen Banditen“. Zeitgleich nahmen gewisse Überfälle, angesichts der verstärkten Sicherheitsmassnahmen und der steigenden Anzahl Polizisten „mit lockerem Abzug“, einen brutaleren Charakter an. Man zögerte nicht mehr, mit automatischen Waffen das Feuer gegen die Polizeipatrouillen zu eröffnen, die ziemlich überrascht dasteht angesichts der überlegenen Feuerkraft beispielsweise einer Kalaschnikov. Angesichts der besseren Sicherung der Banken und anderer Tempel des Geldes, ging man die Direktoren bei sich zu Hause aufsuchen, um sie zu zwingen, die Koffer zu öffnen. Andererseits stieg die Zahl der Unruhen und Aufruhre weiter an, und nicht alles waren einfache „Aufwallungen“, bei Weitem nicht. Nehmen wir das Beispiel von mehreren Quartieren in Brüssel, vor allem Anderlecht, in denen es zur Gewohnheit geworden ist, vor einem Aufruhr die Elektrizität und die öffentliche Beleuchtung zu kappen; oder auch grosse Mengen Öl über die öffentliche Strasse auszuschütten, um die Polizeifahrzeuge ausrutschen zu lassen. Regelmässig wurden der Polizei Hinterhalte gestellt und noch häufiger entdeckte diese, dass es hier und da für sie vorbereitete Überraschungen gab (Verstecke von Molotovcocktails, von Pneus, um die Strasse mit brennenden Barrikaden zu blockieren, von Steinehaufen, von Eisenstangen, etc.). In einem solchen Kontext gibt es nichts zu zögern: Öl ins Feuer werfen und möglichst klar über unsere eigenen Absichten, unsere Ideen, unsere Gründe, unsere Verlangen sein, dies ist die Herausforderung, die sich gegenüber der anarchistischen Präsenz in diesem Moment abzeichnete. Aufgrund der Intention dieses Buches haben wir beschlossen, keine Dokumente und Texte bezüglich des Kampfes einzufügen, der Ende Sommer 2009 gegen den Bau eines neuen geschlossenen Zentrums für widerspenstige illegale Migranten, die „Caricole“ in Steenokkerzeel beginnen wird. Lasst uns dennoch anmerken, dass dieser Kampf, trotz seines spezifischen Ansetzwinkels, stets entschieden hat, alle Formen der Einsperrung ohne Unterscheidungen oder Abstufungen zu bekämpfen. Die Agitation der anarchistischen Präsenz, die spezifisch von den Revolten in den Gefängnissen ausging, hat sich zugunsten dieses spezifischen Kampfes etwas verringert. Doch die theoretischen und praktischen Verbindungen, Verbindungen, die im Feuer des Gefechts geschmiedet wurden, sind nicht durchtrennt worden. ** 2010 & 2011 NICHTS IST VORBEI, ALLES GEHT WEITER Wie wäre es möglich, einer Geschichte ein Ende zu stricken, die sich weiterhin fortwebt? Dynamiken verändern sich, die Angriffswinkel wechseln, die Bedingungen wandeln sich... aber die Ideen bleiben. Vertieft vielleicht, aber das Fundament der Frage bleibt unveränderlich: die Revolte gegen das Gefängnis und die Welt, die damit einhergeht. Aus diesem Blickwinkel wehren wir uns nicht gegen die Idee, in dieses Buch auch noch einige jüngere Texte einzufügen. Texte von 2010 und 2011. Es liegt uns auch daran, zu erwähnen, dass die Publikation La Cavale etwa um diese Zeit aufgehört hat, was aber nicht verhindern wird, dass die Korrespondenz zwischen drinnen und draussen über andere Kanäle und Zeitungen mit einem breiteren Winkel fortbesteht. Die Unmöglichkeit eines Endes der Geschichte in Betracht ziehen. Vielleicht aus Angst, eine Art definitive Bilanz aus einem Kampfes ziehen zu müssen, der keiner geradlinigen Flugbahn gefolgt ist, sonder vielmehr den Pfaden der Verlangen und Revolten, launisch wie die Freiheit selbst. Vielleicht, weil eine Bilanz immer nur provisorisch sein kann und die Erfahrungen nicht in beschränkte Rahmen gezwängt werden können. Oder eben gerade weil man, insbesondere auf dem Gebiet der Gefängnisse, nicht von einer fruchtbaren „Befreidigung“ sprechen kann, die „den Kampf“ ersetzt hätte. Die Spannungen drinnen bleiben bestehen. Die Frage ist nicht so sehr, zu wissen, ob die Situation explodieren wird, sondern schlicht und einfach die Art und Weisen der Explosion. Die Frage, die sich am Ende jedes Buches stellt, diese schreckliche Frage: „Und wie hat es geendet?“, „Wieso hört es da auf?“, müsste vielleicht umgekehrt werden. Ab hier beginnen neue Geschichten. Ab 2010 ruft der Staat tatsächlich alle Mann an Deck, um seinen Gefängnisapparat zu modernisieren und die latenten Unruhen zu begraben. Die Pläne der neuen Gefängnisse sind gezeichnet, die Unternehmen wurden gewählt und ein Jahr später, in Marche-en-Famenne, legt man den ersten Stein eines neuen Gefängnisses. In einem Versuch, die Wärtergewerkschaften miteinzubeziehen, Gewerkschaften, die ziemlich streitsüchtig sind, willigt man systematisch in all ihre Forderungen ein. Diese Forderungen haben stets mit der Verstärkung der Position der Wärter gegenüber den Gefangenen und gegenüber den Gefängnisdirektionen zu tun (die nicht immer mit der mafiösen und clanhaften Verwaltung einverstanden sind, welche von den Wärtern gewollt oder durchgesetzt wird). Es versteht sich von selbst, dass sich die Interessen der Wärter und der Direktion stets decken (die effiziente Einsperrung der Gefangenen), doch es scheint, dass die „gemeinsame Front der Wärter“ einen breiten Raum von Autonomie gegenüber der Direktionen erhalten hat. Gleichzeitig befinden sich diese Direktionen oft in einem Kräftemessen mit dem Justizministerium und selbst mit dem Generalkommando der belgischen Gefängnisse, das von Hans Meurisse geleitet wird. Unter dem ausdrücklichen Befehl des Staates, reduzieren die Medien, als gute Wortführer der Macht, die Anzahl Neuigkeiten über das, was drinnen passiert. Im Speziellen was die Revolten und Meutereien betrifft, die weiterhin stattfinden. Man versucht, sie so gut wie möglich zu verschweigen, um den Modernisierungsprozess der Gefängnisse nicht zu behindern. Wenn jedoch etwas in den Medien herauskommt, dann ist das immer aus dem Blickwinkel, das bestehende Regime, den Bau von neuen Gefängnissen, die Reduzierung der Möglichkeiten auf bedingte Freilassung, etc. zu legitimieren. Es ist wichtig, das Licht auf die Entwicklungen drinnen und die soziale Ordnung in ihrer Gesamtheit zu richten: Es versteht sich von selbst, dass der Staat, mit immer instabileren sozialen Bedingungen, nicht ohne einen gut funktionierenden Repressionsapparat auskommen kann. In einem solchen Kontext ist der Bau von neuen Gefängnissen sicher ein Schlüsselmoment, ein Drehmoment. Während die Spannungen sowohl auf der Strasse wie innerhalb der Mauern nicht zur Ruhe kommen, sondern weiter ansteigen, gibt es keinen Zweifel darüber, was die Tatsache betrifft, dass sich uns die Frage stellen müsste, mit der wir dieses Buch gerne schliessen würden: Wie diesen Drehmoment in den allgemeinen sozialen Kontext stellen? Wie einen Kampf ins Auge fassen, der diesem Drehmoment Einhalt gebieten würde? Wie dafür sorgen, dass dieser Modernisierungsmoment, dieser fragile Moment, mindestens ein grosses Chaos für die staatliche Verwaltung, ja sogar ein wahres Debakel wird? ** EINIGE ANMERKUNGEN ÜBER DEN KAMPF GEGEN DAS GEFÄNGNIS Die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Wesens übersteigt jede Vorstellung. Man kann einen Menschen unter fast alle möglichen Bedingungen stellen, selbst unter Bedingungen, in denen es nur den Tod als roten Faden der Geschichte gibt, und es wird ihm noch immer gelingen, sich anzupassen, sein Verhalten mit der Stimmgabel des feindlichen Milieus in Einklang zu bringen. Diese Fähigkeit ist einerseits aussergewöhnlich und macht aus dem Menschen seine Eigenart als Mensch. Andererseits ist sie unendlich tragisch, denn die Macht begegnet darin nicht nur unerbittlichen Gegnern, sondern auch der Resignation, die im Grunde genommen der Lebenshauch, sei er auch faulig, der Macht selbst ist. Einige werden sagen, es handelt sich hierbei um den Überlebensinstinkt, andere werden auf die unerschöpfliche Kreativität verweisen, die der Mensch im Verlaufe der Geschichte darin bewiesen hat, seinen Nächsten in die Knie zu zwingen und in Ketten zu legen. Wieder andere werden aus der Standfestigkeit, die die Revolte der Menschen gegen die unerträglichen Bedingungen auszeichnet, Mut schöpfen. Wie dem auch sein, im Gefängnis findet man das alles auf konzentrierte Weise. Aber ist es möglich, das Gefängnis zu kritisieren, ohne unmittelbar von dieser Gesellschaft zu sprechen, die auf der Autorität und der Macht basiert? Nichts auf dieser Welt kann für sich betrachtet werden. Unser ganzes Leben ist mit demjenigen von anderen verbunden (auch, ja sogar vor allem auf einer konfliktuellen Ebene), genauso wie alle Strukturen der Gesellschaft, die im Namen ihres Wohls errichtet wurden – wir sprechen wohlgemerkt vom Wohl „der Gesellschaft“, was wir von jenem der Individuen unterscheiden, die Teil von ihr ausmachen –, unter einander verbunden sind. Die physische Struktur eines Spitals, einer Schule, eines Sanatoriums oder einer Fabrik gleicht jener des Gefängnisses. Die Mechanismen, die sich in ihr abspielen, und die ihre Form ausmachen, befinden sich im Einklang und in permanentem Dialog untereinander. Das Gefängnis als eine getrennte Frage zu betrachten, seine Problematik von der Gesamtheit der sozialen Frage loszulösen, würde darauf hinaus laufen, daran vorbeizugehen, was sich uns stellt. Oder schlimmer noch, das Spiel der Macht zu spielen, die ihre Strukturen nie als eine Gesamtheit präsentiert, sondern als Elemente, die voneinander getrennt (und somit zu eventuellen Verbesserungen fähig) sind. Wenn diese Elemente zwar durchaus ihr Fundament bilden, so ist die Macht der Zement, der sie in die Mauer der Autorität verwandelt. Die Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit sind nicht diese getrennten Elemente, die sogar relativ einfach zu bekämpfen wären, sondern diese Mauer, die aus diesen Elementen und dem scheinbar unerschütterlichen Zement der Macht gebildet ist. *** Das Gefängnis und die Gesellschaft als Lager unter offenem Himmel Obwohl der Kampf gegen das Gefängnis nicht eine Frage von Statistiken, von Nummern und Zahlen ist – was gerade der ihm zugrundeliegenden Logik entsprechen würde, alle Menschen auf Inhaftierungsnummern und auf richterliche Dossiers zu reduzieren –, kommt man nicht umhin, die Feststellung zu machen, dass sich niemals zuvor so viele Leute in einer der verschiedenartigen Einschliessungsstrukturen des Staates eingesperrt gefunden haben. Die Konzentrations- und Internierungslogik ist nach den Nazilagern nicht begraben worden. Ganz im Gegenteil wurde sie ausgefeilt und auf die Gesamtheit der Gesellschaft ausgeweitet. Die steigende Anzahl Gefangener – im Sinne von Personen, denen die Freiheit, die ihnen der Staat zugestand, weggenommen wurde – geht mit einer Diversifizierung der Einschliessung einher: Gefängnisse, geschlossene Zentren für illegale Migranten, Erziehungsanstalten, geschlossene Zentren für Minderjährige, psychiatrische Einrichtungen und seit kurzem das eigene Haus (verwandelt in ein Käfig durch die Einführung der elektronischen Fussfessel). Aber ausschliesslich diese Tendenz zu betrachten und sie von der Gesamtheit der Richtung loszulösen, die von der Gesellschaft eingeschlagen wird, würde uns bloss dazu führen, die falschen Fragen zu stellen. Es handelt sich nämlich um eine doppelte Bewegung. Einerseits der Ausbau der Einschliessungsstrukturen. Andererseits der viel ausgereiftere Ausbau der sozialen Kontrolle, vor allem durch die neuen Technologien. Die Zahl der Gefängnisse steigt weiter an, genauso wie die Zahl der Personen, die darin eingeschlossen sind. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ist es, die sich Stück für Stück in ein grosses Lager unter offenem Himmel verwandelt. Man könnte sogar sagen, dass der Ausbau der Einschliessungsfähigkeit im Vergleich zur viel „effizienteren“ präventiven Repression gewissermassen ein Archaismus darstellt. Das Gefängnis beschränkt sich nicht nur auf die vier Mauern, und nicht einmal im weiteren Sinne auf die technologische Kontrolle oder auf die Psychiatrisierung des Menschen. Die Einschliessung – verstanden als Umzäunung, Restriktion oder Abschaffung der Möglichkeiten, die ein Mensch in Freiheit erfassen könnte – operiert in jeder sozialen Unterdrückung. Es wäre fast schon grotesk, mittels Kraftausdrücken und autoritären Mechanismen von ihr zu sprechen, während man doch nur ein Auge darauf zu werfen braucht, wie die Einschliessung in der Familie oder in einem religiösen Kontext Gestalt annimmt. In diesem Sinne kann das Gefängnis als nichts anderes betrachtet werden, als die Konsequenz aller autoritären Beziehungen, die aus dem, was man „unsere Welt“ nennt, die Schweinerei macht, die sie ist. Und umgekehrt. Denn die Herrschaft in ihrer Gesamtheit siedelt sich nach dem Abbild des Gefängnisses im Körper und Geist der Menschen an. Das Gefängnis ist die offenkundige, sichtbare und greifbare Verkörperung jeder autoritären Logik; ebenso wie die Autorität nie etwas anderes aufbauen kann, als Gefängnisse, auch wenn diese viele Formen und viele Farben annehmen können. Lasst uns also gleich auf den Punkt kommen: innerhalb des gegenwärtigen sozialen Kontextes ist es unmöglich, das Gefängnis abzuschaffen. Selbst wenn die Mauern in die Luft gesprengt und die Türen der Zellen aufgebrochen würden, solange das Autoritätsprinzip nicht den Todesstoss erhalten hat, würde es unter einer anderen Form wieder auftauchen. Schlimmer noch: man kann sich darauf gefasst machen, dass, solange es Staaten geben wird (egal welche Form sie annehmen), eine hypothetische Reduzierung der physischen Einschliessung nur durch eine wirkliche Reduzierung der Freiheit möglich ist, das heisst, indem man sich darum kümmert, dass wir alle zu Wärtern und Gefangenen im grossen Gefängnis der Gesellschaft geworden sind. Hierin liegt die traurige Tragödie beispielsweise der Kämpfe gegen die Isolationstrakte... Sie können nicht anders, als auf die Zerstörung aller Gefängnisse (das heisst, auf eine soziale Revolution, die das Autoritätsprinzip zugunsten der Experimentierungen mit der Freiheit vertreibt), oder aber auf die Verallgemeinerung in allen Gefängnissen und in allen Bereichen von gewissen Massnahmen hinauslaufen, die den Isolationsregimes eigen sind. Die entscheidende Zerstörung der Gefängnisse wird eine Konsequenz, besser gesagt, eine Lebensnotwendigkeit der sozialen Revolution sein, die sich jeglicher Autorität entledigen will. Muss man daraus nun schliessen, dass heute, in einer Zeit, da der revolutionäre und freiheitliche Elan gewiss nicht so stark umgeht wie die Herrschaft und ihre falschen autoritären Kritiker, ein Kampf gegen das Gefängnis keinen Sinn macht? Muss man daraus schliessen, dass er von Anfang an zum Scheitern und zur Niederlage verurteilt wäre? Wenn wir dazu kämen, diese Frage mit Ja zu beantworten, dann würden wir nie mehr einen Kampf angehen. Denn dasselbe könnte man gewissermassen über jeden beliebigen Konflikt, jeden beliebigen Kampf, jeden beliebigen Versuch sagen, sich aufzulehnen und der Revolte freien Lauf zu lassen – nicht für eine einfache Verbesserung, nicht für einige zusätzliche Krümel, sondern, um die Autorität zu zerstören. Aber bei der Subversion und somit der sozialen Revolution geht es nicht um Teilsiege oder um Resultate, die mit den Massstäben der Herrschaft messbar sind. Die Zerstörung der Gefängnisse beginnt nirgends anders – genauso wie die radikale Umwälzung aller bestehenden sozialen Verhältnisse –, als im jetztigen Konflikt, in der Entscheidung, die Resignation in tausend Stücke zu brechen und an der Revolte Geschmack zu finden. Jede Weigerung, dem Gefängnisregime und seinen Dienern zu gehorchen, jeder Akt der Revolte, jeder Moment, in dem das Verlangen nach Freiheit Überhand nimmt über die Tragödie der Anpassung an die Umstände, untergräbt die so sehr gehassten Mauern. *** Delinquenz und Rebellion Das romantische Bild des Banditen, der mit allen Gesetzen bricht, der letzte heroische Kampf des Gesetzlosen mit den Verteidigern des Staates, die volkstümlichen Geschichten der zahlreichen Robin Hoods... sind sehr schöne Geschichten. Sie geben Hoffnung und schliesslich geht es nicht so sehr darum, zu wissen, ob sie „wahr“ sind oder nicht; sind Vorstellung und Traum „wahr“? Dennoch inspirieren, ermutigen und leiten sie zahlreiche Schritte, zahlreiche Abenteuer, zahlreiche Parcours von Menschen. Man sollte aber diese bezaubernde Kraft der Vorstellung, die wahre Essenz der Revolte, und das delinquente Milieu, so wie es heute existiert, nicht miteinander verwechseln. Es ist ziemlich einfach: einer der Stützpfeiler dieser Welt ist das Geld. Und es gibt legale und illegale Wege, es sich zu verschaffen. So gibt es beispielsweise die legale Plünderung und den legalen Diebstahl, der von den Bossen, den Reichen, den Mächtigen, und zugunsten von ihnen ausgeübt wird. Für Gewöhnlich nennt man dies „Lohnarbeit“ (den Körper, die Energie und den Geist des Arbeiters plündern), „Abbau von natürlichen Ressourcen“ (die Erde plündern), „Handel“ (mit Geld Geld machen, die Bedürfnisse der Leute in Geld umwandeln, von ihren Verlangen und Träumen schmarotzen, indem sie in käufliche Waren umgewandelt werden). Die illegalen Wege, wohl wissend, das dieser Begriff denjenigen gehört, die von ihm profitieren, sind also die Plünderung (Waren nehmen, ohne zu bezahlen), der Drogenhandel (die Drogenabhängigkeit in Geld umwandeln), der Diebstahl und der Überfall (mit Gewalt das Eigentum eines anderen in Beschlag nehmen) und so weiter. Es ist also deutlich, dass die Tatsache, dass jemand die Grenzen der Legalität überschreitet, nicht bedeutet, dass er dabei ist, die Grundlagen dieser Welt umzuwälzen. Aber man kann das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Gehen wir die Frage aus einem anderen Blickwinkel an. Unser Kampf gegen diese Welt der Autorität und des Geldes kann im wahren Sinn des Wortes nur delinquent sein: vom rechten Weg abkommen und mit den herrschenden Normen brechen. Es ist nicht unvorstellbar, einer Welt, die in eine Minderheit von Reichen und eine überwiegende Mehrheit von Armen unterteilt ist, ein Ende zu setzen, ohne deswegen dafür zu sorgen, dass das heilige Eigentum von seinem Podest fällt. Der unmögliche und unausstehliche Moralismus des Privateigentums hat mit irgendeinem „Respekt vor dem Wohl des anderen“ nichts zu tun, sondern hat vor allem dafür gesorgt, dass die Armen weniger moralische Bedenken haben, sich gegenseitig zu bestehlen oder sich den Reichen zu verkaufen, anstatt das Geld bei jenen holen zu gehen, die sich oben auf der sozialen Leiter befinden. Es ist nicht möglich, die delinquente Spannung bei den Armen durch die Moral, die Religion, die Ideologie und die Repression auszuradieren. Anstatt zu versuchen, diese Spannung auszuradieren, hat sich der Staat für einen anderen Weg entschieden: die Delinquenz nicht mehr zu beseitigen, sondern sie zu verwalten, sie einzubinden und sich ihr zu bedienen. Das beste Beispiel dafür ist eine der einfachsten Arten, welche die Gesellschaft offeriert, um rasch ziemlich viel Geld anzusammeln (oder zumindest die Illusion davon zu umarmen): der Drogenhandel. Dadurch, dass er sie illegal macht, lässt der Staat den Preis der Drogen auf dem Markt aufblähen, und gleichzeitig profitiert er von den Konsequenzen, die ihm zugute kommen: Schwarzhandel, Stimulierung der Umwandlung der Delinquenz in Unternehmertum, Dämpfung der sozialen Spannungen durch eine breite soziale Betäubung, und so weiter. Durch den Justizapparat – und somit die Gefängnisstrafe – verwaltet und leitet der Staat ein Teil dieser Branche der Delinquenz. Mittels der Drohung mit Verfolgungen und Gefängnisstrafen sichert er sich zusätzlich ein breites Netz von Denunzianten und Spitzeln. Und vergessen wir auch nicht die zahlreichen historischen Beispiele, in denen der Staat jene rekrutiert, die nicht zögern, die Gesetze zu übertreten, um die Revolutionäre und die aufständischen Massen zu massakrieren. Kurz gefasst: das delinquente Milieu oder die Delinquenz kann sicher nicht als eine Art Gegenpol der staatlichen oder sonstigen Macht betrachtet werden. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Innerhalb der Delinquenz gibt es auch solche, die die Regeln des Spiels nicht akzeptieren und mit ihnen brechen wie sie mit den staatlichen Gesetzen brechen. Solche, die das Geld dort suchen gehen werden, wo es sich im Überfluss befindet, und die nicht wie Soldaten den Befehlen irgendeines Mafia- oder Clanchefs gehorchen. Es liegt uns fern, hier irgendeine Kategorie von „sozialen Rebellen“ konstruieren zu wollen, aber dies beseitigt nicht die Anwesenheit des rebellischen Aspektes. Genau dieser Aspekt ist es, den viele Personen gerne bereitwillig verbergen würden. Der Staat, ebenso wie seine linken oder rechten Gegenspieler, will brave und folgsame Arme. Wenn der Arme mit seiner Resignation bricht und sich auf die Suche nach Mitteln macht, um die notwendige Enteignung anzugehen, dann liegt da der Anfang eines möglichen Parcours von Rebellion und Subversion, ein Parcours, der von keiner politischen Tendenz anerkannt wird, eben weil seine letzte Konsequenz logischerweise die Zurückweisung der Politik als eine Verwaltungsweise der Individuen ist. Diese historische Spannung lebendig zu halten und sie zu vertiefen, ist von fundamentalem Interesse für jegliches subversive Projekt. Fern von einer Verherrlichung des Verbrechens an sich, geht es hier um die a-legale Aneignung der Mittel, um das Privateigentum zu bekämpfen. *** Die Rechte der Macht Wie in den meisten sozialen Konflikten beziehen sich die Protagonisten des Kampfes in und gegen das Gefängnis oft auf ein Dokument, das einige Jahrhunderte alt ist: die Menschenrechte. Man könnte in der Tat sagen, dass alle Gefängnisregime im Widerspruch mit den Menschenrechten stehen, aber dies gilt im Grunde genommen für alles auf dieser Welt. Aber es ist kein Zufall, dass sowohl die Mächtigen wie ihre Kritiker so oft von den Menschenrechten sprechen. Im Namen eben dieser Rechte ist es, dass unmögliche Allianzen geschlossen werden. Dass man sich um den Tisch setzt, um zu verhandeln, um einen Kompromiss zu finden. Der Diskurs, der sich auf die Rechte bezieht, führt nur zu einem Resultat: er nähert uns dem Staat an, denn er ist derjenige, der alle Rechte vergibt und schützt. Und wenn eines der zugestandenen Rechte verletzt wird, so ist es der Staat, oder eine seiner Branchen, der über die Schwere dieser Verletzung, über etwaige Lösungen oder über den Beschluss, die Existenz dieser Verletzung zu negieren, entscheiden wird. Die Rechte sind immer die Rechte des Staates. Nehmen wir beispielsweise die Rechte der Gefangenen. Diese Recht wurden vom Staat oder den Gefängnisdirektion formuliert und vergeben. Sie können also in jedem beliebigen Moment zurückgenommen oder ausser Kraft gesetzt werden. Der Bunker oder die Platzierung unter Isolation ist im Grunde genommen die „legale“ Suspendierung jeglichen Rechts. Alles, was die Gefangenen in Sachen Spielraum erhalten haben, haben sie durch den Kampf erhalten. Jeder Spielraum, der nicht das Ziel eines Kampfes gewesen ist, kann, ebenso wie im Rest der Gesellschaft, morgen wieder abgeschafft werden, falls es der Staat als wünschenswert erachtet. All die schönen Worte über die Rechte der Gefangenen schliessen die eventuellen kommenden Konflikte in einer Zwangsjacke ein, eine Zwangsjacke, die dafür sorgt, dass die Ergebnisse immer für das Gefängnis selbst profitabel sind. Dies zeigt sich deutlich in den zahlreichen Versuchen der Direktionen, die Gefangenen formell in die Verwaltung der Einschliessung miteinzubeziehen, indem man sie an ihrer eigenen Unterdrückung teilhaben lässt. Innerhalb des gegebenen Rahmens können die Gefangenen also „ihrer Stimme“ Gehör verschaffen. Und anstatt zu kämpfen, werden Umgestaltungen ausgehandelt. Damit wollen wir nicht sagen, dass diese Umgestaltungen nicht einen wirklichen Unterschied bewirken können, aber die Frage liegt immer darin, wie sie erreicht wurden. Nehmen wir ein konkretes Beispiel, um unseren Vorschlag besser zu veranschaulichen. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen einerseits Gefangenen, die sich weigern, nach dem Hofgang in ihre Zellen zurückzukehren, um mehr Stunden des Spaziergangs zu fodern; und andererseits Gefangenen, die versuchen, über den Weg der Gerichte, ihre „Rechte“ auf mehr Spaziergang gelten zu machen, oder die mit der Direktion über mögliche Verlängerungen verhandeln werden. Im ersten Fall wird die Direktion entweder die Revolte niederschlagen, oder die Verlängerung akzeptieren müssen... und falls sie dieses Zugeständnis wieder zurücknehmen würde, so wüsste sie, dass sie sich auf erneute Weigerungen, in die Zellen zurückzukehren, gefasst machen kann. Im zweiten Fall wird es für die Direktion ausreichen, einige gesetzliche Einwände zu nennen oder den klagenden Gefangenen eine Verlegung in ein anderes Gefängnis anzubieten. Selbst im Falle, dass es ihnen gelingen würde, eine Verbesserung zu erhalten, würde die Direktion nichts daran hindern, sie im gewünschten Moment wieder zurückzunehmen, denn die einzige Bedrohung wäre dann eine erneute Verhandlung und gewiss nicht ein Gefängnis in Aufruhr. Die Frage liegt also nicht so sehr in einer Opposition zwischen Reformismus (die progressive Reform des Gefängnissystems) und Revolution (die unmittelbare Zerstörung des Gefängnisses); sondern vielmehr in der Entwicklung eines Kampfparcours, im Aufbau einer widerspenstigen Spannung und in der Möglichkeit, in der geteilten Revolte Komplizenschaften zu schmieden. Alles andere wird immer ein Zeichen von Schwäche sein, während man nichts anderes als inszenierte Resultate erhält, die nur auf dem Papier von Wert sind. Die Wärter und die individuelle Verantwortung Auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass derjenige, der eine Uniform trägt, einen Teil seiner Menschlichkeit beseite legt, hat es keinen Nutzen, die Wärter als unmenschliche Monster darzustellen, die zu jeder beliebigen Form von Folter und Missbrauch fähig sind. Dies würde zu sehr einer Umkehrung des Bildes gleichen, dass die Gesellschaft von „den Gefangenen“ aufstellt, um subversiv zu sein. Es stimmt gewiss, dass die Mehrheit, ja sogar die Gesamtheit der Wärter, nach Jahren der Abstumpfung und der Gewöhnung daran, Autorität und Gewalt auszuüben, nicht mehr fähig ist, sich anders zu verhalten. Aber es stimmt auch, dass es, wie wir damals gesagt haben, „menschliche“ Wärter gibt, die sich von Zeit zu Zeit um das Schicksal eines Häftlings sorgen oder die Augen dort verschliessen, wo die allzu wörtliche Anwendung des Regimes den Tod bedeuten würde. Kann man von diesen sagen, dass sie „unmenschlich“ sind? Zudem, wo liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem „unerbittlichen Wärter“, der von seiner Macht berauscht ist, und dem Direktor – ohne Uniform und im Allgemeinen nicht persönlich in die Folter- und Gewaltakte verwickelt? Aus diesem Grund sprechen wir, wenn wir in diesem Text von „Wärtern“ sprechen, von all denjenigen, die das alltägliche Funktionieren des Gefängnisses formell möglich machen: Wärter, Psychiater, Gefängnissozialarbeiter, Direktoren, Stellvertreter, Ärzte,... Vielleicht sollten wir anders vorgehen. Anstatt die Wärter nach ihrem Grad von „Menschlichkeit“ einzuklassieren – während wir damit verschweigen, dass sich das System ebenso sehr auf die Brutalität wie auf die Barmherzigkeit und das Wohlwollen, oder, besser noch, auf deren unerträgliche Kombination stützt –, würden wir besser daran tun, von der Tatsache auszugehen, dass die Wärter durchaus „menschliche Wesen“ sind, mit allen Widersprüchen und aller Komplexität, die das impliziert. Selbst im Folterer fährt das menschliche Wesen fort, zu existieren. Es geht also nicht mehr darum, zu wissen, „wer sich auf akzeptierbare Weise verhält und wer die Grenzen überschreitet und infolgedessen bestraft werden wird“, was uns zwangsläufig zu einer reformistischen Vorstellung des Kampfes führen würde (selbst wenn dieser bewaffnet ist), sondern vielmehr darum, auf welche Weisen man die Wärter bezwingen kann, die – wie die Mauern, die Schranken, die Justiz und die herrschende Moral – Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit sind. Ein Angriff gegen die Wärter wird dann nicht mehr „nur“ eine Frage von Repressalie, sondern eine Frage danach, wie ein Hindernis für unser Verlangen nach Freiheit beseitigt werden kann. Wenn es Tote gibt, werden wir uns also nicht hinter der Bemerkung verstecken, „auf Uniformen gezielt zu haben“, sondern in vollem Bewusstsein auf uns nehmen, auf einen Menschen gezielt zu haben, der, aufgrund seiner individuellen Verantwortung und seiner Entscheidung, die Funktion der Verteidigung der bestehenden Ordnung auszuüben, ein Hindernis für unsere Freiheit ist. Selbstverständlich pfeifft die Macht füstlich auf diese Art von ethischen Überlegungen und von Suche nach Kohärzen in dem, was wir wollen, und darin, wie wir kämpfen. Auf Seiten der Mächtigen wird nie mit Grausamkeiten gespart. Aber wir sind nicht wie sie. Wir wollen nicht wie sie werden. Wir sind keine Rächer, die Schaffotte errichten, um die Schuldigen zu bestrafen. Wir kämpfen schlicht mit allen Mitteln, die wir für angebracht halten, damit es nie wieder weder Schaffotte noch Henker geben wird. Wir brauchen daher nicht das Bild von Monstern auf die Wärter zurückzuwerfen, das sie uns anhängen – während sie sich damit in die lange Tradition von denjenigen einschreiben, die ganze Bevölkerungen als Untermenschen, Ungeziefer, Nationsverräter, Treulose, Niederwertige hinstellen, um sie auslöschen zu können. Wir betrachten sie als das, was sie sind: Menschen, die sich Tag für Tag entscheiden, den Schlüssel in den Schlössern der Zellen umzudrehen. Weil wir nicht denken, dass es möglich ist, die Henker zu „bekehren“ oder zu „überzeugen“, bedeutet das nicht, dass wir ihnen ihre Menschlichkeit abstreiten. Es ist diese Spannung, diese ethische Spannung nach der Freiheit, die nicht eine andere Version der „Justiz“ mit ihren Gesetzen und Bestrafungen sein will, die uns so verschieden macht und in der wir unsere Kraft und unseren Mut schöpfen, um die Autorität weiterhin mit den Waffen der Antiautorität zu bekämpfen. Dies ermöglicht uns im Übrigen, ohne Missverständnisse zum Angriff überzugehen. Denn selbst wenn das Gefängnis eine Maschinerie ist, der es gelingt, die Verantwortung der Folter, die die Einschliessung in Wirklichkeit ist, ins Endlose zu verteilen, und somit das verschwommene Gesicht eines tentakligen und anonymen Monsters annimmt, so tragen gewisse Personen paradoxerweise spezifische Verantwortungen. Sie zu identifizieren ist eine Lebensnotwendigkeit für jedes Projekt des Kampfes gegen das Gefängnis. Verstehen, wer, wo und wie die Fäden zieht. Wer entscheidet über die Platzierung unter Isolation von widerspenstigen Gefangenen. Wer ermöglicht es den Wärtern, sich zu decken. Wer ist verantwortlich für die Entscheidung der Internierungen, etc. Diese individuellen Verantwortungen zu erkennen ist eine unumgängliche Aufgabe der Feinde des Gefängnisses. *** Das Gefängnis und seine Mentalität Innerhalb der Mauern sind die Wärter nicht die einzigen, die sich in Sachen Herrschaftstechnik bilden. Die Beziehungen unter Häftlingen sind genauso geprägt von Autorität wie jene der Leute draussen. Einerseits formalisiert das Gefängnisregime diese hierarchischen Verhältnisse, indem es Privilegien gewährt, indem es einen Teil der Gefangenen direkt in die Verwaltung des Gefängnisses miteinbezieht und gewisse störende Elemente vom Rest der Gefängnisbevölkerung isoliert. Andererseits werden die Gefangenen von allem im Gefängnis ermutigt, sich die Herrschaftstechniken anzueignen und sich darin zu bilden. Die Verhältnisse unter Gefangenen sind weniger durch ein Gefühl von „Brüderlichkeit“ aufgrund der geteilten Bedingung bestimmt, als vielmehr durch die herrschende Moral dieser Gesellschaft: Konkurrenz, Erpressung, Betrug, Verrat, Spaltung, Ausschluss, Handel, Resignation, Akzeptierung, Betäubung, Hierarchie. Die Momente, in denen die Gefangenen in Aufstand treten, sind daher fast immer Unterbrüche, ja sogar Überwindungen dieser Verhältnisse. Die Insurrektion gegen das Gefängnis beginnt dort, wo der Verrat dem Vertrauen, die Konkurrenz der Solidarität, die Resignation dem Kampf Platz macht. Das Gefängnis unternimmt alles, was in seiner Macht steht, um aufzuzeigen, dass sich diese Unterbrüche oder diese Überwindungen für die aufständischen Gefangenen immer zum Schlechten wenden. Es sorgt dafür durch den Bunker, die Isolierung, die Verprügelungen, die Aufhebung der „Rechte“, die Beseitigung einer Perspektive auf bedingte Freilassung, aber auch durch die Mitteilung, die es seinen Geiseln konstant zukommen lässt: wenn du dich ruhig verhältst, wird alles schnell gehen. Der Akt des Sich-Auflehnens erweist sich somit, drinnen wie draussen, als eine Lebensnotwendigkeit, und nicht als schlichte Formalität, um etwas zu erreichen. Wir werden nie aufhören, allem voran die intim menschliche und lebendige Seite der Revolte zu betonen, die Wichtigkeit, die sie für das revoltierende Individuum an sich hat. [1] „La prison et nous, ses ennemis irreconciliables“, auf Seite 289 im Original des Buches. [2] Einige Steine in unruhiges Wasser, Rückblick auf drei Jahre Agitation in und um die belgischen Gefängnisse, in „A Corps Perdu“, internationale anarchistische Zeitschrift, 2. Ausgabe, Juli 2009, Paris, Frankreich. [3] Trotz der Tatsache, dass es während dieser letzten Jahren selbstverständlich individuelle Hungerstreiks gegeben hat, wurde dieses Mittel niemals als allgemeiner Kampfvorschlag vorangestellt (im Gegensatz zu den geschlossenen Zentren für illegale Migranten, in denen die Hungerstreiks ziemlich häufig sind). Wenn man einen Hungersteik beginnt, stellt man sich zwangsläufig in eine Position der „Schwäche“ gegenüber der Gefängnisdirektion, während man darauf hofft, durch den „moralischen Druck“ einige Verbesserungen zu erhalten. Es besteht kein Zweifel an der Tatsache, dass man gelegentlich einige Erfolge erreichen kann, insbesondere wenn es um eine individuelle Situation geht. Doch wenn der Hungerstreik als eine kollektive Kampfmethode präsentiert wird, läuft er Gefahr, schnell auf jenem Terrain zu enden, auf dem es nie etwas „zu gewinnen“ gibt: auf dem Terrain der Politik; mit ihren Verhandlungen, ihren kleinen Anpassungen und anderen Zugeständnissen, um die Wirbelsäule der Rebellion zu brechen. [4] Weiter hinten in diesem Buch, im Kapital über 2009, werden wir kurz auf diesen spezifischen Kampf zurückkommen. [5] Einige Steine in unruhiges Wasser, Rückblick auf drei Jahre Agitation in und um die belgischen Gefängnisse, in „A Corps Perdu“, internationale anarchistische Zeitschrift, 2. Ausgabe, Juli 2009, Paris, Frankreich. [6] EBI, Intitution Extra Sécurisée. Vor dem Bau und der Eröffnung der Isolationsmodule von Brugge und Lantin, haben Spezialisten der Einsperrung und Gefängnisdirektoren effektiv mehrere Besuche im Isolationsmodul EBI im holländischen Gefängnis von Vught gemacht. [7] Es ist anzumerken, dass die Wärter in den belgischen Gefängnisse keine Feuerwaffen haben. Es scheint, dass die Direktoren in ihren Büros über einen Tresor mit einigen Waffen darin verfügen, aber diese sind nur dafür gedacht, in extremen Fällen gebraucht zu werden. Es gibt also keine Wachtürme mit Schiessern wie in den meisten anderen europäischen Ländern.