Titel: Die liebe Zeit
AutorIn: SHITSTORM
Datum: Januar 2018
Quelle: SHITSTORM – Anarchistische Zeitung – Berlin, Januar 2018 - #2

Im reichen globalen Norden treiben uns die „Vereinfachungen des Lebens“ dazu, dass wir auf der Suche nach Glück und Wohlbefinden Unmengen von Energie und Zeit für's Geld verdienen und ausgeben aufbringen. Seien es die Fließbänder von Ford in der Vergangenheit oder die Chips der Cyborgwelt der Zukunft. Uns wird vorgegaukelt, dass uns durch die gigantischen technologischen Fortschritte weitere grandiose Möglichkeiten und Zeitgewinn beschert werden. Doch scheint uns dieses Diktat im gleichen Moment die Gewinne wieder abzuschwatzen. Denn wir sind die ganze Zeit damit beschäftigt, Zeit einzusparen und vertreiben sie uns zusehends, indem wir stundenlang im Netz surfen, Serien suchten oder ein Youtube-Video nach dem anderen glotzen.

(MOMO hat uns gewarnt vor den grauen Männern)! Wir rüsten uns mit Schnellkochtöpfen, Hochleistungsautos, Smartphones und Internet aus und produzieren nur noch auf Hochleistungsstraßen. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer die Nonstopp-Aktivitäten behindert werden könnten. Wir arbeiten rund um die Uhr, konsumieren was das Zeug hält und die Ladenöffnungszeiten verlängern sich. Es gibt schon Schokoweihnachtsmänner im Sommer und die Osterhasen im Winter. Wir machen im Winter Sommerurlaube und im Sommer Winterurlaube. Wir essen während des Serienglotzens, telefonieren während des Autofahrens. Wir tun einfach viele Dinge gleichzeitig. Wir werden simultan mit den Computern. Bei aller Einsparung von Zeit fragen wir uns, wo sie bleibt. Der meist gesagte Satz „Ich habe kein Zeit.“, bedeutet für uns Ausfälle, Stress, Depression. Der Raubbau an unseren Körpern serviert uns jetzt schon die Rechnungen: Rückenschmerzen, Haltungsschäden vom Computer oder Smartphone, Stress und Depression.

Dem Jagen und Hetzen von Menschen, Tieren und Pflanzen und der Missachtung ökologischer Kreisläufe und ihrer Konsequenzen kann nur Einhalt geboten werden, indem wir uns mehr Zeit lassen. Also nicht Verzicht ist angesagt. Wir sollten mit dem Verzichten endlich aufhören. Holen wir unsere Lebendigkeit wieder zurück.

Denn letztendlich bleibt von der rastlosen Suche nach kostspieligen Genussquellen nicht mal mehr die Zeit und Nutzung von Eigenschaften, die wir gratis mitbekommen haben und uns wahrscheinlich am ehesten gesund halten. Nämlich das, was mir wirklich lieb und teuer ist: lesen, miteinander kommunizieren und diskutieren, Freunde besuchen, sich lieben und chillen, sich streiten und das Leben organisieren, das Lebendige auf diesem Planeten und die Menschen um uns herum wahrzunehmen oder den großen Fragen des woher und warum nachzugehen.