Titel: Nietzsche und Anarchie
Untertitel: Eine Psychologie für freie Geister, eine Ontologie für den sozialen Krieg
AutorIn: Shahin
Datum: Oktober 2016
Quelle: Entommen aus dem Skript, das von den Übersetztenden zugeschickt wurde, in dem Rechtschreibfehler ausgebessert sind, die im gedruckten Buch von 2021 zu finden waren.
Bemerkungen: Original als Nietzsche and Anarchy 2016 erschienen bei Elephant Editions und Aktive Distribution.

    1. Kapitel. Einführung: to live free

      Struktur des Buches

      Psychologie für freie Geister

      Ontologie für den Sozialen Krieg

      Anmerkungen zur Übersetzung

      Von Nietzsche publizierte Bücher:

  Teil 1: Psychologie für Freigeister

    Kapitel 2. Körper und Triebe

      (i) Skeptizismus: Unsere Ignoranz

      (ii) Materialismus: Wir sind Leib

      (iii) Triebe

      (iv) Perspektivismus: Alles ist Bewertung

      (v) Dividualismus: Wir sind viele

      (vi) Wandlungsfähigkeit: Alles kann sich änder

    Kapitel 3. Einverleibung

      Mimesis

      Forschung der jüngeren Psychologie

      Performativität

      Gedächtnis, Wiederholung und Skripte

    Kapitel 4. Die Herde und die Normen

      Die Enthüllung der Moral

      Sittlichkeit der Sitte

      Normen

      Stränge des Herdeninstinkts

      Die Herde

    Kapitel 5. Individuum werden

      Das souveräne Individuum

      Das Recht Versprechen zu geben

      Ordnungsprozess

      Selbst-Bewusstsein und Sprache

      Interventionen

      Selbst-Transformation

      Praktiken des Selbst

      Kapitel 6. Sklavenmoral

      Nietzsches Geschichte des Staates

      Internalisierung

      Sklavische Werte

      Priester*innen: Das Management der Sklavenrevolte

      Sklavenmoral heute

    Kapitel 7. Freie Geister

      Kreativität der Schwachen

      Selbst-Erschaffung

      Allein?

      Transformation und Kampf

  Teil 2. Eine Ontologie für den Sozialen Krieg

    Kapitel 8. Individuen gegen Herrschaft

      Eine Neuformulierung des Problems

      Handlungsfelder

    Kapitel 9. Soziale Ontologie für den sozialen Krieg

      1. Die Drei Ökologien

      2. Assemblagen

      3. Begegnungen

      4. Skripte

      5. Projekte und Kräfte

      6. Freudige und traurige Begegnungen

      7. Feinde und Verbündete

      8. Kulturen: Lebensformen und Kultur-Assemblagen

      9. Ansteckende Begierden

      10. Kreativität

      11. Identitätspraktiken

      12. Herrschaft und Widerstand

      13. Einige Technologien des Krieges

        Schockstrategie

        Schleichende Eroberung

        In den Untergrund gehen

        Flucht

        Ansteckung

        Seelsorge

        Division und Inklusion

      14. Rebellionen

      15. Bedrohung und Macht

      16. Rebellische Allianzen

      17. Anarchie

    Kapitel 10. Macht und Herrschaft

      Soziale Macht

      Ressourcen und Beziehungen

      Herrschaft

      Technologien der Herrschaft

      Foucault vs. Marxismus

      Herrschaft und herrschen

    Kapitel 11. Kapitalismus als Kultur der Herrschaft

      Kapitalismus: Jenseits der Ökonomie

      Kapitalismus als Herrschaftssystem

      Kapitalismus als eine invasive Kultur

      Einige Technologien der Herrschaft im Kapitalismus

        Eroberung

        Care

        Ansteckung

        Herrschaft und Widerstand

    Kapitel 12. Gegen die freiwillige Knechtschaft

      Tiefe Herrschaft und Einverleibung

      In der dunklen Werkstatt: James Scott und die Kunst des Widerstands

      Resilienz: Judith Herman über den Widerstand gegen Traumata

      Die Tiefe der kapitalistischen Herrschaft

    Kapitel 13. Rudel vs. Herde

      Herden

      Utilitaristische Koalitionen

      Beziehung der Liebe, des Begehrens und der Freude

      Rudel

      Rudel freier Geister

    Kapitel 14. Anarchie verbreiten

      Alles unrein

      Nicht unter dem Banner der Wahrheit

    Über Propaganda

    Propaganda als Verführung

    Kapitel 15. Projektuelles Leben

      Projektualität

      Amor fati

      Nietzscheanische Selbst-Transformation

      Interventionen

      Projekte mit offenem Ende

    Appendix: Nietzsche vs. Anarchismus

      Was Nietzsche über den Anarchismus dachte

      Was Nietzsches vom Anarchismus wusste

      Warnung an Rebell*innen

      Anarchismus ohne Grundsätze

      Nietzsche und die Individualist*innen

      Post-Millenaristischer Anarchismus

    Bibliografie

      Friedrich Nietzsche

      Michel Foucault

      Andere Autor*innen

1. Kapitel. Einführung: to live free

Mein Ausgangspunkt ist ein Begehren nach einem freien und glücklichen Leben.
Was ist Anarchie? Eine Idee, die hilft dieses Verlangen zu leiten. Anarchie heißt: Keine Herrschaft. Keine Herrschenden. Niemand befiehlt und niemand gehorcht.[1]

Wir leben jedoch in einer Welt der Herrschaft: Die erdrückende Macht des Staates, die durchdringende Kraft des Marktes, die allgegenwärtige Unterdrückung durch Race, Gender, Klasse, Religion, Spezies, bis hin zu den kleinsten Hierarchien und Erniedrigungen, die sich durch unseren Alltag und unsere persönlichen Beziehungen ziehen. Die sozialen Normen unserer gesellschaftlichen Stellung, Unterwerfung und Isolation dringen tief in unsere Körper ein. Alles in allem: Ein Scheißsystem.

Also wie kann ich in dieser Welt überhaupt frei leben? Wenn Freiheit mit der Utopie einer Welt frei von Herrschaft gleichzusetzen ist, dann ist das Streben nach Freiheit hoffnungslos. Mittlerweile wissen wir, dass keine Gottheit und keine große Revolution erscheinen wird, um uns in das gelobte Land zu führen.

Stattdessen kann frei zu leben, nur bedeuten kämpfend zu leben. Das bedeutet für mich, jeden sich mir bietenden Moment und jeden Ausbruch der Freiheit zu ergreifen. Es bedeutet auch, dass ich so stark wie möglich, die Macht der Herrschaft um mich herum und in mir selbst, anzugreifen und zu entwurzeln probiere.

Und noch einmal: Ich möchte glücklich leben. Ich habe die Nase voll von Traurigkeit, Angst und Verzweiflung.

Klingt das wie ein Widerspruch? Aufgewachsen in dieser sogenannten liberalen Demokratie [EU], versuchte man mir beizubringen, dass Kämpfen etwas Bitteres ist. Bestenfalls seien Konflikte etwas Unangenehmes, dem man manchmal begegnen müsse, während man von einer Welt mit immerwährendem Frieden träumt.

Diese Denkweise kann für uns nicht mehr funktionieren, wenn sie denn überhaupt jemals funktioniert hatte. Es ist kein Ende in Sicht; keine neue Welt im Anmarsch. Es gibt nur diese Welt mit ihrem Schmerz und ihrer Grausamkeit und ihrer Einsamkeit. Aber auch mit ihren Genüssen, mit all ihren Sensationen, Begegnungen, Freundschaften, Liebschaften, Entdeckungen, Zärtlichkeiten, Wildheiten, Schönheiten und Möglichkeiten.

Der Kerngedanke von Nietzsches Philosophie ist: Bekräftige das Leben, sag ja zum Leben, jetzt und hier. Versuche nicht dich vor Auseinandersetzungen und Kämpfen in Phantasiewelten und imaginären Versionen der Zukunft zu verstecken. Nimm die Konflikte des Lebens an und du kannst tatsächlich frei und glücklich leben.

Das ist selbstverständlich nicht einfach, es ist gefährlich und bedeutet harte Arbeit. Wir treten jeden Tag Feind*innen, Institutionen und Individuen entgegen, die uns zu unterdrücken und auszubeuten anstreben. Wir begegnen Kräften in uns selbst, die uns passiv, konformistisch, ängstlich, traurig, selbstzerstörerisch und schwach machen.

Um diese Kräfte effektiv zu bekämpfen, müssen wir uns stärken, sowohl als Individuen, wie auch als Gruppen von Gefährt*innen, Freund*innen und Verbündeten. Ein Aspekt darin ist das Streben, uns und die sozialen Welten besser zu verstehen. Ideen [wie die Anarchie] sind Werkzeuge - oder Waffen. Aber viele Ideen, die wir in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft kennenlernen sind stumpf und kaputt oder halten uns aktiv zurück. Wir brauchen neue Denkweisen. Um diese zu entwickeln, können wir die Werke früherer Denker*innen erkunden – nicht um sie als heilige Schriften zu betrachten, sondern als Arsenale, die geplündert werden können.[2]

Eine Quelle für solche Waffen, welche ich als sehr hilfreich empfunden habe, ist das Werk Nietzsches. Ich schreibe dieses Buch um einige Ideen von Nietzsche zu erläutern, so wie ich sie verstehe, um einerseits meine eigenen Überlegungen zu verdeutlichen und sie anderseits mit Anderen zu teilen.

Struktur des Buches

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil handelt von Nietzsches Gedanken und Ansätzen zur Psychologie, sprich, der Funktionsweise des menschlichen Geistes oder der ›Psyche‹. Es geht um Fragen wie: Was sind Menschen? Wie entwickeln sie sich und werden zum denen die sie sind? Welche psychologischen Beziehungen binden sie an die Normen und Lebensgewohnheiten der konformistischen ›Herde‹? Wie können sie zu ›freien Geistern‹ werden?

Der zweite Teil des Buches bewegt sich von der Psyche in die sozialen Welten. Es werden einige Ideen von Nietzsche zu folgenden Aspekten betrachtet: Wie Menschen interagieren, kämpfen, herrschen, lieben, Allianzen und Gruppen bilden und im Verlauf dessen soziale Institutionen und Systeme erschaffen, zerstören und verändern. In diesem Kapitel wird versucht, einige der Mechanismen der Macht zu verstehen und damit auch, wie wir Projekte zum Kampf gegen die Herrschaft entwickeln können.

Ich bin dabei bemüht, mich nicht allzu sehr in wissenschaftlichen Details zu verzetteln. Ich verwende Ideen von Nietzsche, aber auch von anderen, die ich modelliere, mit anderen verbinde und weiterentwickle. Dabei ist es hilfreich zu versuchen, das Denken Nietzsches und den Kontext seines Werkes etwas eingehender zu verstehen. Während der erste Teil des Buches sehr eng mit Nietzsches eigenen Texten und Ideen verknüpft ist, nimmt der zweite Teil des Buches diese, verknüpft sie mit Anregungen anderer Autor*innen… und läuft mit ihnen davon. Die Fußnoten enthalten einige wissenschaftliche Bemerkungen über meinen Zugang zu Nietzsche und weitere Literaturempfehlungen für diejenigen, die seine Texte und die Themen dieses Buches weiter erforschen wollen.

Im Anhang dieses Buches betrachte ich kurz das historische Wechselspiel zwischen Nietzsche und den Anarchist*innen: Was wusste und dachte Nietzsche über den Anarchismus seiner Zeit und in wie weit haben Anarchist*innen seine Ideen aufgegriffen. Dies soll nur einen einführenden Umriss darstellen. Eine angemessene Analyse über die Wechselwirkungen zwischen Nietzsches Ideen und dem anarchistischem Denken und Handeln in den vergangenen 120 Jahren zu ermitteln und darzustellen, wäre ein eigenes und großes Unterfangen an sich.

Im Folgenden Teil dieses einführenden Kapitels wird ein kurzer Überblick über die Inhalte der Kapitel und Kerngedanken dieses Buches gegeben: Falls du nicht das Ganze Buch lesen willst, bekommst du hier einen ersten Eindruck.

Psychologie für freie Geister

Kratzt man an der Oberfläche eines politischen Ideals kommt die ihm zugrundeliegende Vorstellung der menschlichen Natur zum Vorschein. Im mittelalterlichen Europa rechtfertigten die Vertreter*innen der katholischen Kirche das Feudalsystem durch den Glauben daran, dass Menschen geboren werden, um eine feste Rolle in einer gottgegebenen Hierarchie zu spielen. In der Moderne, als der Kapitalismus an Fahrt gewann, haben Philosoph*innen neben neuen Institutionen, neue Bilder der menschlichen Natur entwickelt. Die Größen der modernen Philosophie, von Hobbes über Locke und Hume, Machiavelli, Rousseau und Kant, bis hin zu den Utilitarist*innen [Utilitarismus: Ethik des Nutzens] oder Hegelianer*innen des 19. Jahrhunderts, verankerten ihre politischen Forderungen in ihren Theorien über die Grundstruktur der menschlichen Wahrnehmung, Motivation und Handlungen und erfanden damit die neuen Wissenschaft der Psychologie.

Viele der Erzählungen, die die Philosoph*innen der Aufklärung entwarfen, sind nun tief eingebettet im ›Commonsense‹ der kapitalistischen Kultur. Etwa die Annahme das Menschen ›Wirtschaftssubjekte‹ seien; ›Bürger*innen und Konsument*innen‹ die ihrem ›Eigeninteresse‹ folgend Komfort, Wohlstand und Profit anstreben.

Noch grundlegender ist die Idee, dass wir überhaupt ›rationale Subjekte‹ sind. Individuen die Entscheidungen treffen können – oder zumindest sollten – indem wir aus einer Reihe von Optionen bewusst wählen. Entscheidungen für die wir verantwortlich gemacht werden können - wenn nötig im Gerichtssaal. Vor einigen hundert Jahren waren das wilde und merkwürdige Ideen. Es ist nicht so, dass diese Vorstellungen vom Menschen heute komplett unangefochten sind, aber sie haben sich weit in unserem alltäglichen Denken ausgebreitet und spielen eine dominante Rolle in Wirtschaft, Recht, Politik, Psychiatrie, Bildung und anderen Disziplinen.

Auch revolutionäre Bewegungen gegen den Kapitalismus haben diese aufklärerischen Ansichten der Psychologie benutzt und sie in ihrer eigenen Weise weiterentwickelt. Marxistische Stränge des Sozialismus zum Beispiel, nahmen eben diese Idee des wirtschaftlichen Eigeninteresses, also das Arbeit bzw. Produktion uns etwas fundamental wesensgemäßes sei, auf. Das anarchistischen Denken im 19. Jahrhundert hingegen, baute stark auf Ansichten, die bekanntermaßen nahe an Rousseaus waren, dem Philosophen der Französischen Revolution. Seine Perspektive ist, dass Menschen eine grundlegend friedliebende und kooperative Natur teilen, die lediglich von der künstlichen Korruption staatlicher Herrschaft befreit werden muss.

Nietzsches psychologische Untersuchungen attackieren viele dieser konventionellen Mythen. Er sagt: Wenn wir genau hinschauen und ehrlich darauf achten, wie wir sind, sehen wir, dass wir weit davon entfernt sind kohärente rationale Subjekte zu sein, die sich dem Streben nach Glück, Frieden und ökonomischer Akkumulation widmen.

Kapitel 2 stellt die wichtigsten Aspekte aus Nietzsches radikaler Perspektive vor. Sein grundlegendes Bild des Menschen, ist nicht das eines Individuums, sondern das, eines ›Dividuums‹. Das heißt ein komplexer Leib mit multiplen Motivationen, die uns mitunter in verschiedenen Kontexten in sehr verschiedene Richtungen ziehen können. Nietzsche verwendet manchmal den Begriff ›Trieb‹ für die unzähligen Muster des Bewertens, Begehrens und Handelns, die uns bewegen. Diese Muster sind oftmals unbewusst und tief verinnerlicht – Nietzsche attackiert das aufklärerische ›Körper-Geist-Problem‹, indem er alles als Leib, als ›Physiologie‹ begreift.[3]

Wir könnten Nietzsches Psycho-Physiologie zusammenfassen, indem wir sagen: Es ist eine Idee radikaler Differenz. Die Werte und Begehren, die uns antreiben, sind nicht universell; sie können zwischen verschiedenen Individuen und Kulturen stark variieren. Tatsächlich können sie sogar innerhalb eines Individuums sehr unterschiedlich sein. Auch im Verlauf unseres Lebens verändert sich unser psychologisches Selbstbild; es ist niemals endgültig festgeschrieben, sondern immer wandelbar und offen für Veränderungen.

Das bedeutet nicht, dass die menschliche Psyche nur zufälliges Chaos ist. Vielleicht ist der entscheidende Punkt folgender: Unser Leib ist nicht bestimmt durch zeitlose Universalismen, sondern wird durch kontingente Prozesse geformt. Das heißt, dass sie in gewisser Weise durch bestimmte Verknüpfungen und Überschneidungen von Ereignissen geformt worden sind, die auch ganz anders hätten passieren können.

Zum Beispiel ist es kapitalistischen Gesellschaften zu einem gewissen Grad gelungen Individuen hervorzubringen, die von dem obsessiven Verlangen angetrieben sind, Profite und Konsumgüter anzuhäufen. Jedoch geschieht dies nicht, weil Menschen ›natürlicherweise‹ so sind: Es bedurfte historischer Prozesse wie Kriege, Kolonialisierung, Hunger, Folter, das Polizeiwesen, Verschulung, Werbung und vieler anderer Dinge, die mit hineinspielten, um uns zu dem zu machen, was wir heute sind.

Daher geht es in Nietzsches Psychologie im Wesentlichen darum Prozesse aufzudecken, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, um somit zu verstehen, wie wir uns verändern können. Kapitel 3 beginnt damit, einige grundlegende Prozesse anzuschauen, die unsere Psyche formen. Nietzsche geht davon aus, dass unsere Werte, Begehren und Praktiken größtenteils von der uns umgebenen sozialen Welt ›adoptiert‹ werden. Diese Übernahmen finden weitestgehend unbewusst statt. Es gibt eine starke menschliche Neigung zu unbewusster Imitation – ›Mimesis‹ – die im Säuglingsalter beginnt und uns unser ganzes Leben lang begleitet. Dann, nach der Imitation oder anderweitigen Übernahme sozialer Muster, ›verinnerlichen‹ wir sie und machen sie durch Wiederholung, Gewöhnung und Performance zu ›unserer eigenen Natur‹. In diesem Kapitel werden auch einige Ansätze aus der jüngsten Forschung im Bereich der Entwicklungspsychologie eingebracht, die Nietzsches frühe Erkenntnisse bekräftigen.

Diesen Prozessen liegt zugrunde, was Nietzsche den ›Herdentrieb‹ [oder Herdeninstinct] nennt: Der starke Hang der Menschen dazu, sich zu konformistischen Gruppen zusammenzuschließen. All dies wird im Kapitel 4 thematisiert. »Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen gibt, auch Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen)« (JGB199). Innerhalb von Gruppen wirken auch noch andere Kräfte: Muster von Angst, Scham, Bestrafung oder der Wunsch nach Behaglichkeit. Auch wenn wir das Potential für radikale Differenz haben, gibt es dennoch starke Neigungen, die uns zu uniformen, an die Normen der uns umgebenden sozialen Gruppen gebundenen Tieren machen.

Wir können aber auch Individuen sein: Relativ kohärente Wesen, die beginnen können, über sich selbst nachzudenken, sich selbst zu formen und neu zu gestalten, indem sie ihre eigenen Projekte in Angriff nehmen. Wie wir in Kapitel 5 sehen, ist es ein Schlüsselaspekt bei Nietzsche, dass ein Individuum nicht geboren, sondern gemacht wird: Wir werden zu Individuen. Und, so paradox es auch erscheinen mag, ein Individuum zu werden, ist nichts, was wir alleine tun können, denn es umfasst auch soziale Prozesse.

Kapitel 6 betrachtet ein Leiden von dem Nietzsche denkt, das es die menschliche Psyche seit Generationen infiziert hat: Die Symptomatik des Ressentiments und der Sklavenmoral. Der Staat und die systematische Herrschaft im Allgemeinen traumatisieren uns und verdrehen unsere Werte und Begehren zu Mustern, die uns noch mehr schwächen und quälen. Diese Werte nehmen im Laufe der Geschichte verschiedene Formen an. Nietzsche analysiert insbesondere die religiöse Unterwerfung im Christentum und auch ihr Erbe in der Demokratie, dem Sozialismus und sogar in anarchistischen Praxen.

In Kapitel 7, kommen wir zu Nietzsches Ideal des ›Freigeistes‹: Einem Individuum, das sich von dem starren Herdenleben und den Normen loszusagen beginnt und die kranken Muster der Sklavenmoral herausfordert, und so beginnt, neue Möglichkeiten des Lebens zu erschaffen. Aber wie bei allen Figuren Nietzsches, ist auch diese nicht eine einfache Held*innenfigur, vielmehr ist der freie Geist ein komplexes Bild. Wie ist es möglich frei, flexibel und offen für neue Möglichkeiten und Experimente zu sein, aber zur selben Zeit stark und beständig genug, um nicht kaputt gemacht zu werden und sich selbst zu verlieren?

Ontologie für den Sozialen Krieg

Der zweite Teil dieses Buches bewegt sich vom Individuum zur Gesellschaft. Wenn wir Nietzsches Idee des freigeistigen Individuums als einen Ausgangspunkt für die Projekte in unserem Leben nehmen, was bedeutet dies dann für unser Zusammenleben mit anderen? Kapitel 8 legt einige Fragen bezüglich verschiedener Arten sozialer Begegnungen dar: Beziehungen, die auf Affinität und Allianzen beruhen; Beziehungen mit Fremden; und mit Feind*innen. Wie formen wir Gruppen, die keine konformistischen Herden sind? Wie kämpfen wir ohne grausam oder kaltherzig zu werden? Wie sorgen wir uns um andere, ohne Priester*innen oder Wohltätige zu werden? Wie verbreiten wir anarchistisches Begehren, ohne Werbeleute oder Missionierende zu werden?

Um mit der Beantwortung dieser Fragen zu beginnen, brauchen wir zunächst eine bessere Bewaffnung mit Ideen, um über die sozialen Welten nachzudenken. Ontologie (vom griechischen Ontos, Sein) ist die Wissenschaft von dem, was ist, von den Formen des Lebens, die die Welt ausmachen. Es ist genau wie bei der Psychologie, wenn wir unsere Ideen über soziale Ontologie nicht überprüfen, riskieren wir, in den vorherrschenden Modellen zu verharren.

Beispielsweise schließen gängige Theorien der sozialen und ökologischen Welten in der kapitalistischen Kultur, eine unausgesprochene soziale Ontologie mit ein, die in etwa lautet: Die Welt besteht aus zwei grundlegenden Arten von Lebewesen. Auf der einen Seite, menschliche Individuen, auf der anderen bloß Dinge, egal ob sie lebendig oder unbelebt sind. Menschliche Individuen sind ›Subjekte‹, die freie Entscheidungen treffen. Nicht-menschliche Dinge sind ›Objekte‹ die produziert, besessen, gehortet, getauscht oder zerstört werden können. Menschliche Subjekte sind alle unterschiedlich, aber auch alle gleichartig, weil sie die selbe grundlegende Natur teilen, die selbe grundlegende Struktur der Vernunft und die selben Bedürfnisse und ›Interessen‹. Diese geteilten Beweggründe und Interessen führen sie zusammen und formen beständige soziale Institutionen. Diesen grundlegenden ontologischen Strukturen begegnen wir nicht nur in der liberalen Theorien – z.B. den Annahmen der orthodoxen Ökonomie – sondern auch in einigen marxistischen und anderen ›radikalen‹ theoretischen Modellen.

Kapitel 9 ist das umfangreichste Kapitel in diesem Buch und skizziert einige Hauptlinien der Sozial-Ontologie Nietzsches. Die darauf folgenden Kapitel ergänzen diese Hauptlinien mit weiteren Details und Ansätzen. Die hier erwähnten Ideen kommen dabei nicht nur von Nietzsche, sondern plündern bei jüngeren Denker*innen, inklusive der Poststrukturalist*innen wie Gilles Deleuze, Felix Guattari und Michel Foucault – die alle nietzscheanischen Pfaden folgen – ich beziehe mich aber auch auf andere Ansätze, die recht unterschiedlichen Traditionen folgen.

Eine nietzscheanische Sozial-Ontologie entwickelte sich aus dem Kerngedanke der Psycho-Physiologie Nietzsches: Unser Leib ist divers, multipel und wandelbar. Der Fokus liegt hierbei darauf, was geschieht, wenn diese Leiber sich treffen: Ihre Konflikte und Allianzen, die Gruppen und Institutionen und andere Beziehungen, die sie formen, die Kriege, die sie kämpfen und wie diese sie erneut verändern.

Mein Ausgangspunkt ist, dass ich diese Zusammenstöße innerhalb der ›drei Ökologien denke, der psychischen, sozialen und materiellen. Jede ist eine komplexe, unberechenbare Welt (oder eine Betrachtungsmöglichkeit der Welt), zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Leibern. Wenn diese zusammenkommen, formen sie neue Assemblagen, komplexe kontingente Beziehungen und Strukturen, die mehr oder weniger beständig oder flüchtig sind, während alte Strukturen wieder zerlegt werden. Diese Assemblagen können Feindschaften, lose Allianzen oder enge Affinitäten, Hierarchien und Herrschaftszustände oder Gruppen sein, die durch gemeinsame Lebensformen, Kulturen und Identitätspraktiken zusammengehalten werden. Leiber, sind wiederum selbst Assemblagen und werden durch Begegnungen wechselseitig transformiert; z.B. angespornt neue Werte zu erschaffen, die Begehren und Muster des*der Anderen aufzugreifen und/oder Projekte zu formen. Dabei werden sie in ihrer Macht, diese Projekte zu verwirklichen, durch diese Begegnungen bestärkt oder geschwächt.

Kapitel 10 betrachtet eingehend einen wesentlichen Aspekt dieser Begegnungen: Machtverhältnisse. Hier benutze ich einige Ansätze von Foucault. Nach Foucault ist Macht im weitesten Sinne die Fähigkeit jeglichen Wesens, Veränderungen in der Welt hervorzurufen – bzw. ihnen zu widerstehen oder sie zu blockieren. Spezifischer betrachtet ist soziale Macht die Fähigkeit, durch Beeinflussung der Handlungsmöglichkeiten auf anderer Leiber einzuwirken. Macht ist nicht böse, kann aber in jede Art sozialer Begegnung eingebunden sein, so kann z.B. das kennenlernen eines*r Gefährt*in, das aufbauen einer Freundschaft, das schmieden einer Allianz unsere Macht vergrößern; gleiches gilt auch, wenn wir mit einer Beziehung brechen, die auf Abhängigkeit, Ausbeutung oder Gefangenschaft basiert. Herrschaft ist die Fixierung eines ungleichen Machtgefüges, also das Herauskristallisieren einer Hierarchie, in der einige Herrschende und andere Beherrschte sind. Herrschaft muss nicht mit Gewalt oder Zwang verbunden sein und wir müssen sie – im Gegensatz zu marxistischen ›radikalen‹ Theorien – nicht als Verletzung der vermeintlichen ›wahren Interessen‹ der Menschen verstehen.

In Kapitel 11 wird Kapitalismus als Kultur der Herrschaft analysiert. Bestimmte Individuen und Gruppen verfolgen Formen des Lebens – mit geteilten Werten, Begehren und Praxen – die sie dazu leiten, Andere zu unterdrücken; während Andere darauf trainiert werden, sich zu unterwerfen und zu gehorchen. Da Menschen natürlich komplexe Gefüge sind, existieren oftmals sowohl beherrschende als auch unterwürfige Muster simultan in ein und demselben Leib. Die kapitalistische Kultur entwickelte sich entlang spezieller Praktiken oder Techniken der Herrschaft. Dazu können Techniken der Invasion und Eroberung gehören, z.B. traumatisierende koloniale und geschlechtsbezogene Gewalt oder ökonomische ›Schocktherapie‹; Techniken der Ansteckung, von der nationalistisch-rassistischen Panik bis zur modernen Werbung; oder auch Techniken der Kontrolle wie etwa Fürsorge, Katastrophenmanagement, Bildung und mehr. Obwohl diese sich weiterentwickelt haben, sind sie nicht weit von den klassischen Herrschaftsmustern entfernt, die Nietzsche in der Genealogie bei Herrschenden, Sklav*innen und Priester*innen nachzeichnet.

Kapitel 12 verwendet nietzscheanisches Denken betreffend der alten Frage der ›Freiwilligen Knechtschaft‹. Die ›Logik der Unterwerfung‹ (wie Wolfi Landstreicher sie nennt) bedeutet im Sinne Nietzsches die ›Einverleibung‹ von Werten, Begehren und Praktiken, die Herrschaftszustände unterstützen – bis sie schließlich ›zur eigenen Natur‹ werden. Menschen haben ausgeprägte Tendenzen dazu, sogar Werte der Unterwerfung zu verinnerlichen – aber wir können dem auch widerstehen und an unseren eigenen Werten und Identitäten festhalten und diese stärken. Kapitel 12 bringt auch Ideen der feministischen Traumapsychiaterin Judith Herman, sowie von James Scott mit ein, einem Politikwissenschaftler, der die ›Kunst des Widerstandes‹ gegen die Herrschaft unter Bäuer*innen und Sklav*innen studiert hat.

Die letzten drei Kapitel wenden diese nietzscheanischen Ideen in Fragen um, die ich als dringend empfinde, um Antworten darauf zu finden, wie ich jetzt leben und kämpfen will.

Kapitel 13 fragt: Wie können wir Kollektive bilden, die die Macht der Normen brechen, die mehr ›Rudel‹ von freien Geistern und Kämpfer*innen, als ›Herden‹ ängstlicher Konformist*innen sind? Wenn ich hier von Rudel spreche, dann denke ich an eine Gruppe von Freund*innen und Gefährt*innen, die auf Basis geteilter Projekte, Liebe und Freude zusammenkommen.

Kapitel 14 stellt die Frage, wie wir rebellische und anarchistische Projekte und Begehren verbreiten können, ohne dabei neue Formen von Herrschaft und Konformität zu erschaffen? Ich bejahe meine Werte, nicht weil sie ›wahr‹ oder ›richtig‹ sind, sondern weil ich sie liebe. Ich mache Propaganda um meine Ideen durch Verführung zu verbreiten, durch Aufstachelung und Ansteckung. Die anarchistische Propaganda, die ich mag, verfolgt das Ziel mehr Gefährt*innen und Allianzen zu gewinnen, dabei jedoch auch Andere zu provozieren und zu ermutigen, mit der Logik der Unterwerfung zu brechen, als Individuen aktiv zu werden, eigene Initiativen zu entwickeln, die vielleicht sogar mit meinen im Konflikt stehen.

Kapitel 15 handelt von der anarchistischen Idee des projektuellen Lebens (der Begriff Projektualität wurde von Anarchisten wie Alfredo Bonanno und Wolfi Landstreicher geprägt). Der Punkt ist: Lasst uns aufhören mit den resignierten Beschwerden über den Zustand der Welt, hören wir auf uns als Opfer zu begreifen, lasst uns vom ›reaktiven‹ zum ›aktiven‹ übergehen und unser Leben ergreifen! Lasst uns freudvoll und frei leben und kämpfen, bis an die Grenzen unserer Kraft und darüber hinaus! Die Projekte, die ich verwirklichen möchte, werden sowohl individuelle Selbst-Transformation als auch kollektive aufständische Kämpfe miteinbeziehen.

Anmerkungen zur Übersetzung

Es gibt viele Zitate von Nietzsche in diesem Buch. Ich habe das Zitationssystem entsprechend der wichtigsten Fachbücher über Nietzsche verwendet. Nach jedem Zitat gibt es eine Klammer mit einer Abkürzung (siehe Liste unten) gefolgt von einer Nummer. Nietzsche schrieb sein Werk zum großen Teil in nummerierten Sektionen oder ›Aphorismen‹, die Nummer bezieht sich auf diese Sektionen, nicht auf die Seitenzahlen. Das ist hilfreich, denn es macht so keinen Unterschied welche Ausgabe von Nietzsche ihr in den Händen haltet. Alle Werke, Briefe und unveröffentlichten Notizen Nietzsches sind auf nietzschesource.org frei online verfügbar und durchsuchbar. Alle Zitate von Nietzsche in diesem Buch sind von dieser Seite übernommen.

Im Original dieses Buches wird teilweise aus Der Wille zur Macht zitiert, jenem Buch das Nietzsches Schwester, eine glühende Faschistin, im Sinne ihrer Sache gefälscht hat, indem sie Passagen aus ihrem Kontext gerissen, neu zusammengefügt und teilweise verändert hat. Für diese Ausgabe sind die entsprechenden Passagen in ihren ursprünglichen Quellen angegeben.

Für andere Autor*innen habe ich die gängige Zitierweise genutzt: Sie sind im Literaturverzeichnis unter dem Namen der Autor*in, Publikationsjahr und Werktitel aufgeführt. Mit Ausnahme von Foucault, der ebenfalls genug zitiert wird, um eigene Abkürzungen zu haben, die auf den jeweiligen Buchtitel verweisen (siehe Liste im Appendix).

Anmerkungen zur Übersetzung, zu Quellen oder Begriffen durch den Übersetzer sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.

Der Text ist für die deutsche Übersetzung mit dem ›‹ gegendert. An einigen Stellen, wenn die Satzkonstruktion übertrieben kompliziert geworden wäre, habe ich nicht mit dem ›‹ gegendert, sondern abwechselnd die ›männliche‹ und ›weiblich‹ Endung verwendet.

Von Nietzsche publizierte Bücher:

Der Antichrist – AC

Also sprach Zarathustra – Z

Die Geburt der Tragädie – GT

Die fröhliche Wissenschaft – FW

Der Fall Wagner – WA

Dionysos-Dithyramben – DD

David Strauss – DS

Ecce Homo – EH

Ein Neujahrswort – NJ

Zur Genealogie der Moral – GM

Götzen-Dämmerung – GD

Idyllen aus Messina – IM

Jenseits von Gut und Böse – JGB

Menschliches, Allzumenschliches – MA-I

Menschliches, Allzumenschliches – MA-II

Vermischte Meinungen und Sprüche – VM

Morgenröthe – M

Nietzsche contra Wagner – NW

Richard Wagner in Bayreuth – WB

Sokrates und die griechische Tragödie – SGT

Schopenhauer als Erzieher – SE

Gesammelte Briefe – BVN

Gesammelte Notizen – NF

Teil 1: Psychologie für Freigeister

Kapitel 2. Körper und Triebe

Nietzsches Psychologie attackiert viele orthodoxe Vorstellungen darüber, was Menschen sind; Vorstellungen, die tief im Commonsense der kapitalistischen Kultur eingebettet sind. Sie attackiert den Kern der Idee der Aufklärung, das wir von Natur aus rationale Subjekte seien. Noch grundsätzlicher attackiert sie schon die bloße Vorstellunge einer festgelegten menschlichen Natur.

Nietzsches Psychologie sagt uns: Wir sind Leib, nicht losgelöster Verstand. Und in uns gibt es multiple, diverse und oft zueinander in Konflikt stehende Werte und Begehren, die immer veränderbar sind. In geringem Maße sind wir rationale oder verantwortliche Individuen, weil wir durch spezifische Prozesse der Erziehung und des Trainings zu solchen gemacht wurden. Auch wenn einige dieser Ideen zum Beispiel von Freud aufgegriffen wurden, bleibt Nietzsches Psychologie noch immer eine radikale Herausforderung. Sie eröffnet uns Raum für Denkweisen, die anarchistische Projekte befeuern können.

Nietzsche entwickelte seinen psychologischen Ansatz in drei Büchern, die die Mittlere- oder freigeistige-Periode genannte werden: Menschliches, Allzumenschliches (1878-80), Morgenröthe (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882). In diesen Arbeiten bricht Nietzsche mit dem Einfluss seiner früheren Mentoren: Dem romantischen Komponisten und rechten Ideologen Richard Wagner und dem großen Philosophen und Pessimisten Arthur Schopenhauer. Er wies den Romantizismus, großartige Konzeptionen der Kunst und des künstlerischen Genius, sowie die aufklärerischen Ideale, die den Menschen als den Höhepunkt der Evolution betrachteten, zurück.

In den einleitenden Passagen von Menschlich, Allzumenschliches (MA1-3) erklärt er seine neue kritische Haltung und ruft zur Zurückweisung der »metaphysischen Philosophie« auf. Stattdessen, sagt er, brauchten wir eine neue Art der »historischen Philosophie«, die wahrnimmt, dass es keine »zeitlosen Wahrheiten« über die menschliche Natur gibt, dass alle »moralischen, religiösen und ästhetischen Konzeptionen und Sensationen« sich innerhalb historischer Prozesse entwickelt haben. Um zu verstehen wie unsere Werte und Instinkte geformt wurden, müssen wir unerbittlich auf unser alltägliches Leben schauen, uns in »psychologischer Beobachtung« üben. Das ist alles andere als einfach: Es erfordert eine schmerzhafte Ehrlichkeit und Bescheidenheit, »Fehler, die uns blenden und glücklich machen« aufzugeben und bereit zu sein zu erkennen, dass es sein kann, dass »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind« (MA-1).

Nietzsches Experimente in der psychologischen Beobachtung bringen ihn zu einer neuen Konzeption der menschlichen Psychologie. Hier sind einige seiner Kerngedanken, die ich in diesem Kapitel betrachten werde.

  • Skeptizismus. Wir wissen viel weniger über die größtenteils unbewussten Prozesse, die unsere Leben formen, als wir für gewöhnlich denken.

  • Verinnerlichung. Wir sind Leib, nicht entkörperlichter Verstand: Wir müssen die jahrhundertealten Vorurteile der Religion und der Philosophie ungeschehen machen und aufhören den Körper zu verachten.

  • Ständige Bewertung. Alles Leben und jede Aktivität, sogar Wahrnehmung und unbewusste Aktivitäten, erfordern Werturteile.

  • Vielfalt und Diversität. Wir sind generell keine einheitlichen oder kohärenten Individuen: In unseren Körpern sind viele verschiedene und oft widersprüchliche Muster der Bewertung und des Begehrens am Werk (die Nietzsche oft als ›Triebe‹ bezeichnet).

  • Veränderlichkeit, oder kontinuierliches Werden. Diese Muster sind wandelbar – ständig offen für Veränderungen: Unsere Werte und Begehren sind durch gewisse Prozesse in unserer Lebensgeschichte geprägt worden … und sie können sich noch weiter verändern.

(i) Skeptizismus: Unsere Ignoranz

Warum erkennen, denken, fühlen und handeln wir so, wie wir es tun? Zum Beispiel: Warum gehorche ich dem Befehl eines*r Polizist*in? Weil ich bewusst entschieden habe, dass es richtig war so zu handeln? Oder gab es da andere Kräfte – Verlangen, Verhaltensweisen, Ängste, Instinkte, Launen oder was auch immer – die in mir am Werk waren?

War ich mir all dieser Kräfte und Prozesse bewusst? Kann ich ihnen jetzt bewusst werden, rückblickend, indem ich reflektiere, was ich gefühlt und gedacht habe? Oder bewegen sich wenigstens einige dieser Prozesse, die mich unbewusst bewegen, außerhalb der Reichweite meiner Selbstbeobachtung?

Nietzsche steht der psychologischen Selbst-Erkenntnis sehr skeptisch gegenüber. »Wie weit Einer seine Selbstkenntniss auch treiben mag, Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesammten T r i e b e , die sein Wesen constituiren« (M119). Uns wurde beigebracht‚ dass »man wisse, ganz genau wisse, wie das menschliche Handeln zu Stande komme, in jedem Falle« (M116); aber das ist nur »der uralte Wahn« an den wir uns klammern statt der »›schreckliche[n]‹ Wahrheit« ins Gesicht zu sehen, denn: »Die Handlungen sind n i e m a l s Das, als was sie uns erscheinen!« (ebd).

Warum ist es so schwer uns selbst zu verstehen? Die Probleme greifen tief. Einige sind auf dem Fundament der Sprache erbaut. Nimm zum Beispiel einen einfach Subjekt-Prädikat-Objekt Satz wie: ›Ich liebe dich‹. Grammatische Strukturen wie diese helfen uns dabei, die Welt als aus stabilen und einheitliche ›Dingen‹ bestehend zu betrachten. Es gibt ein aktives Subjekt ›Ich‹; ein anderes gefestigtes passives Objekt der Begierde ›dich‹; und ein identifizierbares Gefühl oder eine Aktion, ›Liebe‹. Diese auf gesundem Menschenverstand basierende Denkweise in Bezug auf Subjekte und Objekte ist sehr nützlich bei der Navigation durch viele Aspekte des täglichen Lebens. Kann aber, beim tieferen Nachdenken über psychologische Prozesse, Probleme verursachen: Sie unterstützt die Illusion, dass ich eher ein einheitliches Wesen mit einer fortdauernden Zusammensetzung an Werten, Verlangen und Bedürfnissen bin als ein komplexer Körper mit sich konstant transformierenden und oftmals in Konflikt stehenden Motivationen.4

Bewusstsein, und unser Glaube daran, ist ein weiteres Problem. Wir klammern uns an die komfortable Idee, dass wir uns über das, was in uns vorgeht, bewusst sind. Aber nur ein kleiner Teil unseres psychologischen Lebens wird uns je »in‘s Bewusstsein […] treten« (FW354). Eher ist es so, »dass der allergrößte Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft« (FW333); »das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil« (FW354). Viele psychologische Prozesse verlaufen größtenteils unbewusst: z.B. muskuläre und nervliche Reflexe, etwa einen Ball fangen oder vor einem Schlag zurückschrecken oder tiefe Prozesse, die unsere Wahrnehmung der Welt formen. Andere sind uns zwar bewusst, aber in einer unreflektierten Weise, die wir kaum mit Worten beschreiben können: etwa viele Emotionen, Leidenschaften und Gefühle. Und wenn wir dann mal die bewusste Aufmerksamkeit für unsere Gedanken, Gründe, Motivationen, Entscheidungen etc. haben, ist diese Aufmerksamkeit vage, diffus oder geradezu irreführend.[5]

Überdenken wir zum Beispiel das mustergültige Beispiel bewusster Handlungsfähigkeit: Du nimmst dir Zeit um über ein Problem nachzudenken und entschließt dich so, einer wohl überlegten Entscheidung folgend, auf eine bestimmte Art zu handeln. Aber sogar dann, sagt Nietzsche, obwohl diese Entscheidung sehr wohl eine Rolle in der Formgebung für deine Aktion spielt, ist sie wirklich nur ›ein Motiv‹, das neben einer Reihe von anderen Faktoren Einfluss nimmt. Denn vielleicht in gleichem Maße

»wirkt die Gewohnheit unseres Kräftespiels, oder ein kleiner Anstoss von einer Person, die wir fürchten oder ehren oder lieben, oder die Bequemlichkeit, […] oder die Erregung der Phantasie, durch das nächste beste kleinste Ereigniss im entscheidenden Augenblick herbeigeführt, es wirkt Körperliches, das ganz unberechenbar auftritt, […]« (M129).

Kurz: Jede noch so bewusste Handlung resultiert aus einem ›Kampf der Motive‹. Motive »die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen« (ebd).

Die konventionellen Theorien in Philosophie und Psychologie machen die Dinge nur noch schlimmer, sie ermutigen uns zu diesen ›Irrtümern‹. Die Tradition der Aufklärung, Philosophen wie Descartes bis Kant, verstärkt die Idee des Menschen als ein einheitliches und selbstbewusstes ›transzendentales Subjekt‹. Für Nietzsche ist dies auch mit der christlichen ›Sklavenmoral‹ verbunden (siehe Kapitel 6). Denn wenn Individuen kohärente, sich selbst bewusste Akteur*innen sind, dann können sie auch zur Verantwortung gezogen und beschuldigt werden, dann kann erwartet werden, dass sie sich für ihre Taten schuldig fühlen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir uns der psychologischen Prozesse, die in uns am Werke sind, viel weniger bewusst sind als wir für gewöhnlich denken. Zum einen wegen der ›Alltagspsychologie‹, die in unserem tagtäglichen Sprachgebrauch und Commonsense miteinfließt, zum anderen aufgrund akademischer Theorien.

Nichts davon bedeutet, dass wir den Versuch unsere Psyche zu verstehen, einfach aufgeben sollten. Wir können bessere Vorstellungen von den psychologischen Prozessen entwickeln, die unsere Leben prägen. Aber das schließt zuerst einmal die Notwendigkeit ein, sich einiger komfortabler Mythen zu entledigen. Wir sollten uns nicht als Subjekte denken, die sich selbst verstehen und kennen, sondern viel mehr als ›Experimentierende‹, die mit unvoreingenommenen Blick selbst auf die vertrautesten Aspekte unseres Alltagslebens schauen – den »nächsten Dingen« (WS5-6, WS16).

Aufmerksame Selbst-Beobachtung ist keine einfach Aufgabe: »Wie viele Menschen verstehen denn zu beobachten? Und unter den wenigen, die es verstehen, – wie viele beobachten sich selber?« (FW335). Damit das gelingt braucht es eine »Tugend der Bescheidenheit« (MA2) und eine rigorose Ehrlichkeit oder »Redlichkeit« (FW335). Bewusste Selbstbeobachtung ist gewiss nicht genug. Nietzsches eigene psychologische Beobachtung beinhaltet auch eine sorgsame Aufmerksamkeit für die Bedingungen des ›physiologischen‹, wie Ernährung, Klima usw. Außerdem das Studium der Geschichte, auch der tagtäglichen Geschichte unserer Gefühls- und Handlungsmuster (u.Ä.) und wie diese sich im Laufe der Zeit ändern.[6]

Aber wie sorgfältig wir auch beobachten und experimentieren, unsere Überlegungen und Aktionen sind noch immer bestimmt durch »einen uns unbekannten physiologischen Vorgang« (M119). Obwohl die Hirnforschung sich seit Nietzsche grundlegend weiterentwickelt hat, bleibt dieser Punkt bestehen. Letztlich bedeutet es, dass selbst das beste Verständnis von Psychologie: »Alles Bilderrede« ist (M119). Wir können Verhaltensweisen und Tendenzen identifizieren und versuchen bessere Bilder und weniger irreführende Arten ihrer Beschreibung zu finden; Konzepte, die uns helfen unsere Leben zu verstehen und selbst in die Hand zu nehmen. Jedoch bleiben alle Bilder, die wir zur Beschreibung des psychologischen Lebens nutzen – auch Nietzsches Bild der ›Triebe‹ – provisorische und mangelhafte Werkzeuge, die ihre Stärken, jedoch auch ihre Schwächen haben.[7]

(ii) Materialismus: Wir sind Leib

Nietzsches Philosophie ist materialistisch und anti-dualistisch. Er greift traditionelle Gegensätze von Körper vs. Geist, psychologisch vs. physisch an.[8]

Nehmen wir diese drei Arten oder Level von psychologischen Prozessen: Auf der einen Seite, reflektive bewusste Prozesse wie denken, schlussfolgern, überlegen; auf der anderen, unbewusste ›automatische‹ oder ›reflexive‹ Prozesse von Muskeln und Nerven; und irgendwo dazwischen, emotionale Prozesse, die du in deinem Körper ›fühlen‹ kannst. Für Nietzsche sind alle drei Prozesse psychologisch und, zur gleichen Zeit, auch körperlich oder ›physiologisch‹. Um diese Einheit zu betonen, spricht er manchmal nicht über Psychologie, sondern über »Physio-Psychologie« (JGB23).

Ein weiterer Mythos ist das Leib-Seele-Problem der orthodoxen Philosophie und Psychologie. Es ist stark verbunden mit religiösen Begriffen wie Seele und Jenseits sowie der humanistischen Idee, dass der Mensch eine privilegierte Stellung einnimmt, die sich von anderen Lebensformen unterscheidet. Philosophie und Religion lehren uns traditionellerweise auf unsere Körper hinunter zuschauen und sie zu ›verachten‹, uns selbst als intellektuelle oder spirituelle Wesen, nicht als Fleisch und Substanz zu betrachten. Nietzsche beabsichtigt diesen Mythos anzugreifen: »Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas im Leibe« (Z: Von den Verächtern des Leibes).

(iii) Triebe

Nietzsches zentrales psychologisches Bild oder Konzept ist der Trieb. Nietzsche nutzt die Idee des Triebs um einige wiederkehrende Muster im physio-psychologischen Leben der Menschen zu verstehen. Er nennt viele Beispiele in seiner Arbeit. So gibt es beispielsweise sehr allgemeine Triebe wie Essen, Schlafen, Sex usw. Aber es gibt auch den Trieb zu philosophieren, Triebe, die uns zu Wissen und Selbsterkenntnis drängen, aggressive Triebe, dominante und unterwürfige Triebe, Triebe zum Wohlwollen oder zum moralischen Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen, Triebe zum Bergsteigen und vieles mehr. Noch einmal, einige dieser Triebe erscheinen raffinierter – mental, psychologisch, menschlich, und andere eher instinktiv – verinnerlicht, elementar, physiologisch, tierisch: Aber für Nietzsche ist diese Unterscheidung grundsätzlich ein Problem.[9]

Im Grunde genommen ist ein Trieb ein besonderes Muster physio-psychologischer Aktivität. Triebe sind Muster der Motivation und des Handelns, der Art und Weise wie unser Körper dazu gebracht wird, sich auf bestimmte Arten zu bewegen z.B. Berge zu besteigen oder zu philosophieren. Aber zur gleichen Zeit sind Triebe auch Muster der Signifikanz, davon wie wir die Welt um uns herum interpretieren und bewerten. Es ist eine Schlüsselerkenntnis in Nietzsches Psychologie, dass diese zwei Elemente – handeln und Bedeutung-geben – unseparierbar zusammengehören. »Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück« (M104). »[E]in Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Ziels, existiert beim Menschen nicht.« (MA52).

Nietzsches detaillierteste Diskussion dieser Theorie der Triebe finden wir in Sektion 119 in Morgendämmerung. Hier entwickelt er folgendes Beispiel: Du gehst auf einen Marktplatz und hörst jemanden über dich lachen.

»… jenachdem dieser oder jener Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist, wird diess Ereigniss für uns diess oder das bedeuten, – und je nach der Art Mensch, die wir sind, ist es ein ganz verschiedenes Ereigniss. Der Eine nimmt es hin wie einen Regentropfen, der Andere schüttelt es von sich wie ein Insect, Einer sucht daraus Händel zu machen, Einer prüft seine Kleidung, ob sie Anlass zum Lachen gebe …« (M119).

In jedem Fall interpretierst du zu allererst die Situation – Lachen auf einem Marktplatz – in einer bestimmten Weise. Dies sind drei Merkmale dieses Bedeutung-gebenden Aspektes der Triebe:

  • Erstens werden einige bestimmte Ereignisse, Objekte, Aspekte, zum Beispiel das Lachen, identifiziert, sie stechen hervor und ziehen deine Aufmerksamkeit auf sich, während andere vielleicht unbemerkt bleiben.

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Zweitens die Dinge, die identifiziert werden, werden zur gleichen Zeit mit Bedeutung gefüllt – zum Beispiel wird das Lachen als Bedrohung, Witz etc. interpretiert.

  • Drittens wenn etwas identifiziert und mit Bedeutung gefüllt wird, wird es auch bewertet. Nämlich, in gewisser Weise, als positiv oder negativ identifiziert. Es kann zahlreiche Möglichkeiten geben, etwas zu bewerten – z.B. als gut oder schlecht, richtig oder falsch, schön oder hässlich, schmackhaft oder fade oder auf andere Art und Weise. Aber die Interpretation ist niemals ›neutral‹, sondern immer irgendwie bewertend.

Während ein Trieb einer Situation Sinn und Wert verleiht, erzeugt dies gleichzeitig eine Tendenz oder Disposition zur Handlung. Offensichtlicher für uns, weil stark aufgeladen, ist der Begriff Begierde.[10] Wenn du das Lachen als feindlich interpretierst und es negativ bewertest, als eine Gefahr oder Bedrohung, dann verlangt das nach einer bestimmten Reaktion: zum Beispiel Kampf oder Flucht. Falls du es als harmlosen Witz interpretierst, oder als total irrelevant, dann wird das zu einem ganz anderen Handlungsmuster führen. Sicherlich, nicht alle Begierden werden auch realisiert. Aber es ist ein Kerngedanke der Psychologie Nietzsches, das Beurteilungen generell zu irgend einer Art von Response oder Aktion führen - auch wenn dies nicht in der direktesten oder offensichtlichsten Art geschieht.

Hier sollten wir vielleicht eine Pause machen und fragen: Was genau meinen wir mit ›Aktion‹? Nietzsches Idee von Aktion ist weit gefasst. Er denkt z.B. »dass wenigstens einige Gedanken auch Aktionen sind: Zum Beispiel, ›wenn der Mensch urtheilt ›so ist es recht‹, wenn er darauf schliesst‚ darum muss es geschehen‹« (FW335). Ich werde eine, in gewisser Hinsicht, etwas grobe Unterscheidung zwischen ›externen‹ und ›internen‹ Aktionen anwenden. Mit externen Aktionen meine ich die Bewegungen von Körpern, die auf die sie umgebende Welt einwirken, und so unmittelbar andere Körper beeinflussen können: Zum Beispiel spricht Nietzsche in Zur Genealogie der Moral darüber, dass die »eigentliche Reaktion, die der That« die Erwiderung »vornehmer« Wesen auf Angriffe ist (GM1:10). Dagegen ist eine innere Aktion, eine, die sich innerhalb der »innere[n] Welt« (GM2:16) verortet und andere nicht direkt beeinflusst. Interne Aktionen können Gedanken, Träume, Phantasien und vieles mehr sein.

Diesem Punkt kommt in Nietzsches Psychologie eine zentrale Rolle zu. In M119 schlägt er vor, dass Träume eine Möglichkeit sein könnten, Triebe zu »kompensieren«, die nicht mit Handlungen im wachen Leben »genährt« wurden – eine Idee, die noch massiven Einfluss auf Freud haben sollte.[11] Später wird diese einfache Idee, dass Triebe von externen zu internen Handlungen umgeleitet werden können, eines der Kernthemen in der Genealogie werden – die Theorie der ›Verinnerlichung‹, die zur Entwicklung krankhafter ›Sklavenmoral‹ führt (siehe Kapitel 6). In dieser Erzählung sind die versklavten unfähig, ihre ›aggressiven Instinkte‹ gegen die Unterdrückung durch die Herrschenden auszudrücken – aber dieses Verlangen verschwindet nicht einfach. Stattdessen leben sie sich in der ›inneren Welt‹ in Rachephantasien und ›Ressentiments‹ aus.[12]

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ein Trieb ein Muster von Sinngebung, Bewertung, Begehren und Handeln ist. Das heißt, dass (a) du der Welt um dich herum Bedeutung gibst; was (b) beinhaltet, Dinge positiv oder negativ zu bewerten; und so (c) Begehren oder Handlungstendenzen zu formen; was dich (d) tatsächlich dazu bringt, in irgendeiner Weise zu handeln, wenn auch nicht auf die offensichtlichste oder unmittelbarste Weise.

(iv) Perspektivismus: Alles ist Bewertung

Es gibt noch viel mehr was über Nietzsches Idee des Triebs gesagt werden könnte, aber ich werde nur auf einige wenige Punkte näher eingehen. Der erste ist die Idee der ›Bewertung‹. Dies ist zentral, nicht nur für Nietzsches Psychologie, sondern für all seine philosophischen Gedanken: Später wird er sein gesamtes Lebensprojekte als ›Umwertung aller Werte‹ beschreiben.[13]

Nietzsches Idee von Werten unterscheidet sich in wenigstens zwei wichtigen Punkten radikal vom philosophischen Mainstream. Erstens gibt es für Nietzsche so etwas wie ›intrinsische‹ Werte nicht, die den Dingen ›in sich selbst‹ innewohnen, und erst recht nicht als universelle oder zeitlose Werte. Eine Sache – ein Objekt, ein Event, eine Idee, Geld, menschliche Arbeit, ein moralischer Code, Lachen auf einem Marktplatz, oder was auch immer – hat keine Bedeutung oder keinen Wert ›für sich genommen‹. Wenn etwas einen Wert hat, dann weil ihm dieser vom jemandem »geschenkt« (FW301) wurde, der Wert darauf legt. .

Will sagen: Es wird immer (a) eine wertende Person geben, die (b) einem Ding Wert ›gibt‹ und zwar (c) in einem Akt der Bewertung. Außerdem können einer Sache viele verschiedene Werte und Bedeutungen gegeben werden – auf verschiedene Arten – und von verschiedenen Wertenden zu verschiedenen Zeiten. Ich nehme das Lachen auf dem Marktplatz vielleicht als eine Bedrohung wahr, du möglicher Weise aber als Witz. Oder vielleicht nehme ich es erst als Bedrohung, rückblickend jedoch als Witz wahr.

Zusammenfassend können wir sagen: Eine Bewertung wird immer von einem bestimmten Standpunkt aus gemacht, einer Perspektive. »Von jedem unserer Grundtriebe aus giebt es eine verschiedene perspektivische Abschätzung alles Geschehens und Erlebens« (KSA 12.1, 58, 1885). Dies ist, was oftmals Nietzsches ›Perspektivismus‹ (oder ›Perspektivität‹) genannt wird, und es ist von zentraler Wichtigkeit für seine Philosophie.

Zum Beispiel argumentiert Nietzsche in der Genealogie gegen konventionelle Erzählweisen über die Entwicklung moralischer Codes und politischer Systeme. Liberale Denker projizieren (oder retro-zieren) ihre eigene Perspektive der Bewertung – geformt durch christliche Sklavenmoral – zeitlich zurück und nehmen damit an, dass Menschen immer ihre Bedürfnisse, Begehren und Ansichten vom Guten und Bösen geteilt haben: »Man nahm den Werth dieser ›Werthe‹ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, ›den Guten‹ für höherwerthig als ›den Bösen‹ anzusetzen […]« (GM6).[14]

Nietzsche argumentiert im Kontrast dazu, dass wir die Geschichte moralischer oder politischer Systeme nicht verstehen können, bis wir verstehen, dass unterschiedliche Individuen, Gruppen und Kulturen sehr unterschiedliche ›Arten der Bewertung‹ haben, die oftmals im Konflikt zueinander stehen, und sich im Verlauf der Geschichte geändert haben: »Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten« (FW7).

Nietzsches zweiter radikaler Punkt in Bezug auf die Bewertung: sie ist überall. Philosoph*innen verstehen Werte traditionell in den Begriffen von Begründungen und bewussten, prüfenden Urteilen. Nietzsche jedoch denkt, dass bewusstes Bewerten eine rare und außerdem nicht die wichtigste Form der Bewertung ist. Werte sind, das kommt noch hinzu, in unsere Gefühle, Emotionen, ›Instinkte‹ und Bauchgefühle eingebettet, in einem Bereich von Bewertungen also, der mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger berechnend oder leidenschaftlich sein kann. Außerdem werten wir sogar schon in dem Moment, in dem wir etwas wahrnehmen. Somit ist Wahrnehmung nicht nur das Erhalten neutraler Informationen oder ›Sinnesdaten‹ zur späteren Verarbeitung, sondern immer schon aufgeladen mit Bedeutungen und positiven oder negativen Bewertungen.

Um einige offensichtliche Beispiele zu nennen: Wenn ich die Hautfarbe einer Person wahrnehme oder beachte, oder die Form eines Körpers, den ich als männlich oder weiblich gendere, dann sind diese Wahrnehmungen schon mit erheblichen Beurteilungen belastet. Nietzsche betrachtet dies für alle sensorischen Erfahrungen als wahr: »Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung« (FW114), da »alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werthurtheilen« (NF2:95, 1885). (WM505). Diese Idee hat sich heutzutage, zumindest in einigen Bereichen der Philosophie und Psychologie, ziemlich durchgesetzt – zum Beispiel in der ›phänomenologischen‹ Tradition des 20. Jahrhunderts durch Maurice Merleau Pontys einflussreiche Philosophie der Wahrnehmung, oder in heutigen ›verkörperten‹ oder ›enaktiven‹ Ansätzen der Kognitionswissenschaften.[15]

Aber Nietzsche geht sogar noch tiefer: Er denkt, dass wir sogar in komplett unbewussten oder ›automatischen‹ körperlichen Prozessen werten – es gibt nicht nur Urteile des Verstandes oder des Auges, sondern auch »Urteile unserer Muskeln« (NF-1888, 15, 3). Wenn ich von einem Angriff zurückweiche oder meine Hand von einem Feuer zurückschreckt oder ich mich unbewusst an eine Person lehne, die ich mag, dann sind auch dies Bewertungen. Schlussendlich, annehmend dass Bewertungen keine Sprache benötigen, kein Bewusstsein oder andere ›höhere‹ psychologische Strukturen, sieht Nietzsche es manchmal tatsächlich überall, in jedem »organischen Wesen« (KSA11.26, 72, 1884): »Das ›Höher‹ und ›Niedriger‹, das Auswählen des Wichtigeren, Nützlicheren, Dringlicheren, besteht schon in den niedrigsten Organismen.« (NF-1884, 25, 433). »›Lebendig‹: d.h. schon schätzen …« (ebd).

Obwohl diese letzte Idee für die Mainstream-Philosophie noch immer radikal ist, haben einige Biolog*innen und Ökolog*innen im 20. und 21. Jahrhundert ähnliche Gedanken entwickelt. Im frühen 20. Jahrhundert erarbeitete der Biologe Jakob von Uexküll eine ›Theorie der Bedeutung‹, nach welcher das gesamte tierische Leben dadurch Bedeutung erschafft, dass es jene Eigenschaften seiner Umwelt identifiziert, die relevant für seine spezifischen Bedürfnisse und Aktivitäten sind – seine ›Umwelt oder lokale und perspektivische Welt der Signifikanz.[16]

Etwas aktueller ist Francisco Varela, er argumentierte in den 1990ern, dass sogar einzellige Organismen ›Sinn-machend‹ sind, da sie mit und in ihrer Umwelt interagieren und manövrieren – eine Sichtweise, die einen gewissen Einfluss auf neue Ideen in Biologie und Kognitionswissenschaften bekommen hat.[17] Sicherlich gibt es Unterschiede zwischen den Bewertungspraxen verschiedener Organismen, außerdem haben komplexe multi-zellulare Organismen, wie menschliche Körper, komplexe Systeme der Wahrnehmung und Kognition, welche multiple Ebenen von Prozessen umfassen. So gesehen sind Philosoph*innen und Priester*innen, die einen Diskurs über das Gute und das Böse führen, schlicht eine komplexere und bizarrere Forme der selben Tendenz aller Lebensformen die sie umgebenden Welten zu bewerten und ihnen Bedeutung zu geben, vom Hund, der über seinem Essen geifert, bis zur Sonnenblume, die sich zur Sonne dreht.

Kurz gesagt: Es gibt keine Werte in der ›Natur‹ ohne Bewertende; jedoch ist die Natur voll Wertender.[18]

(v) Dividualismus: Wir sind viele

Also, ein Trieb, das ist ein Muster davon, wie ein Körper die Welt interpretiert, bewertet, begehrt und in ihr handelt. Der nächste wichtige Punkt ist, dass jeder ›individuelle‹ Körper viele verschiedene Triebmuster hat.

Zunächst einmal können verschiedene Muster das Werten und Handeln eines Körpers zu unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen Kontexten prägen. Zum Beispiel kann das Verhalten und Werten von ein und derselben Person sich sehr unterscheiden, je nach dem ob sie gerade vor ihrer Chefin oder bei ihren Kollegen steht, zu Hause ist, eine Nacht mit Freundinnen unterwegs ist, alleine mit einem Liebhaber ist, umgeben von starken Gefährtinnen, in Isolation, in der Familie oder einer fremden Umgebung, müde und krank oder gesund und erholt, nüchtern oder unter Einfluss verschiedener Drogen etc.

In verschiedenen Umgebungen, verschiedenen Kontexten, zu verschiedenen Zeiten im Leben, kann ich möglicherweise nicht nur sehr unterschiedlich handeln, auch die Welt kann sehr unterschiedlich erscheinen, andere Bedeutungen und Werte aufweisen. Um zu Nietzsches Marktplatz Diskussion zurückzukommen, wir interpretieren und reagieren sehr unterschiedlich »jenachdem dieser oder jener Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist« (M119). Im Gegenzug ist es sicherlich nicht zufällig, welches Triebmuster zu einem gegebenen Moment aktiv ist, sondern stark beeinflusst von den Chemikalien in meinem Blutkreislauf, von den physischen und sozialen Welten um mich herum, von meiner persönlichen und historischen Entwicklung.

Aber es gibt eine zweite, noch tiefere Ebene von Nietzsches Bild des multiplen Körpers. Es ist nicht nur so, dass wir zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bewerten und handeln, auch multiple Muster der Bewertung und des Handelns sind simultan im gleichen Körper aktiv. Im Allgemeinen resultieren Handlungen aus einem »Kampf der Motive« (M129), in dem eine Zahl verschiedener, oftmals rivalisierender, Bewertungsmuster und Tendenzen zur gleichen Zeit am Werk ist. Und, wie oben diskutiert, können viele von ihnen mehr oder weniger unbewusst sein, Motivationen, »die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen« (M129).

Nietzsche tendiert dazu überall Konflikte zu sehen, er sieht sie sowohl zwischen als auch innerhalb der Körper. Er sieht den Körper oft als Spielplatz oder Schlachtfeld ›rivalisierender‹ Triebe, von denen jeder versucht ein psycho-physiologischer ›Tyrann‹ zu werden. Wenn wir genau beobachten, denkt er, beginnen wir zu erkennen, dass die Fälle innerer Unruhen, gespaltener Persönlichkeiten, vermischter Motive und Scheinheiligkeit verbreiteter sind als wir uns eingestehen mögen.

Und dennoch ist das Spiel der Triebmuster innerhalb eines Körpers nicht immer konflikthaft: Verschiedene Werte und Begehren können nicht nur kollidieren, sie können auch zusammenwirken und sich gegenseitig unterstützen. Beispielsweise argumentiert Nietzsche in seiner Analyse des ›Mitgefühls‹, dass ein Spektrum ›altruistischer‹ sowie ›egoistischer‹ Motive gemeinsam involviert sein könnten, wenn ich dir helfe oder dich bemitleide. Die Sache ist die, »[wir tun] Etwas der Art nie aus Einem Motive« (M133) – multiple Gedanken, Impulse, Triebe arbeiten simultan, einige sichtbarer als andere.

Ob aufeinanderfolgend oder gar simultan: Für Nietzsche ist es eine rare Errungenschaft, wenn menschliche Körper ein kohärentes Individuum mit einem einzigartigen und konsistenten Set an Werten, Begehren, Motiven und Handlungsmustern bilden. Um einen neueren Neologismus zu verwenden: Menschen sind mehr ›Dividuen‹ als ›Individuen‹. Das bedeutet, wenn wir die konventionellen Mythen überwinden und genau beobachten, können wir erkennen, dass sich multiple Bewertungsmuster und Handlungen manchmal widersprechen und manchmal gegenseitig unterstützen. In einer unveröffentlichten Notiz von 1883 schreibt Nietzsche: »Wie Zelle neben Zelle physiologisch steht, so Trieb neben Trieb. Das allgemeinste Bild unseres Wesens ist eine Vergesellschaftung von Trieben, mit fortwährender Rivalität und Einzelbündnissen unter einander. Der Intellekt Objekt des Wettbewerbes.« (KSA 10.7, 94, 1883).

Um diesen Punkt zusammenzufassen nutzt Nietzsche das Bild einer ›socialen Struktur‹. Er schreibt: »unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen« (BGE19) oder: »Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte« (BGE12). Eine soziale Struktur ist eine Gruppierung, zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Elementen, die auf unterschiedlichste Arten ›organisiert‹ sein kann. Zum Beispiel können individuelle Teile in der Struktur relativ separiert und divers sein. Vielleicht kommen sie aber auch zusammen, um ihre Aktionen über Affinitäten und geteilte Begehren zu koordinieren. Sie könne jedoch auch ›geordnet‹, tyrannisiert, diszipliniert, regiert, trainiert und konform gemacht worden sein.

In politischer Philosophie gibt es eine starke Tradition soziale Strukturen analog zu individuellen Organismen zu verstehen. Es gibt eine weitere Linie, zur griechischen Philosophie zurückgehend, Individuen als analog zu Gesellschaften zu betrachten. Nietzsche greift diese zweite Position auf und radikalisiert sie. Ein Schlüsselaspekt ist für ihn, dass soziale Strukturen gemacht werden müssen, auf spezifische Art organisiert, insbesondere durch historische Prozesse, zum Beispiel Prozesse der An- oder Unordnung. Dasselbe gilt für Individuen: Es gilt die sozialen Prozesse zu studieren, durch die Körper trainiert und herumkommandiert werden können, um sie zu mehr oder weniger kohärenten Subjekten zu machen.

(vi) Wandlungsfähigkeit: Alles kann sich änder

Die wahrscheinlich bekannteste Theorie der Triebe ist jene von Freud. Auch wenn Freud stark von Nietzsche beeinflusst wurde, bewegt sich seine Psychologie in eine andere Richtung. Für Freud ist ein Trieb eine konstante und universelle Kraft – alle Menschen werden überall und im Laufe ihres ganzen Lebens durch die gleichen grundlegenden Muster der Motivation geformt, letztlich durch die ›Libido‹, Trieb des Lebens und der Selbsterhaltung, und (wie in Freuds späteren Arbeiten) auch durch den negativen ›Todestrieb‹. Diese grundlegenden Triebe nehmen verschiedene Formen und Handlungspfade in verschiedenen Phasen unseres Lebens an und finden in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Ausprägungen. Aber im Endeffekt bleiben die grundlegenden Kräfte immer die gleichen.

Nietzsches Psychologie ist anders. Unsere Muster des Bewertens und Handelns sind nicht nur multipel und divers, sondern auch konstant offen für unerwartete und nicht vorhersagbare Veränderungen.[19]

Stark vereinfachend könnten wir zwei Dimensionen der Veränderung von Triebmustern denken. Erstens Triebe verändern sich langfristig, im historischen Verlauf, durch Körper, die sich in Gruppen, Institutionen, sozialen Konflikten, Kulturen entfalten – und wahrlich, ganz langfristig, mit der Evolution der biologischen Arten.

Nietzsches Arbeit beschäftigt sich viel mit dieser, innerhalb sozialer Gruppen geteilten, langfristigen Veränderung von Mustern des Bewertens und Handelns. In der Genealogie zum Beispiel argumentiert er, dass moderne europäische Wertesysteme und Praktiken sich größtenteils aus den Mustern christlicher Moral entwickelt haben, die ihrerseits eine drastische Neugestaltung und Transformation üblicher Muster antiker und prähistorischer Zeiten sind. Dies ist eine Darstellung davon, wie sich verbreitete Muster des Bewertens und Handelns im Laufe mehrerer tausend Jahre europäischer Sozial-Geschichte verändert haben. Es gibt viel an den Details Nietzsches historischer Erzählung zu kritisieren, aber der psychologische Kerngedanke sticht heraus: Selbst die tiefsten menschlichen Werte sind nicht festgeschrieben, sondern verändern sich im Laufe der Zeit, manchmal graduell, manchmal rapide, dramatisch und traumatisierend entlang politischer und sozialer Konflikte und Verschiebungen.

Aber diese historischen Verschiebungen verbreiteter Bewertungs- und Handlungsmuster sind nur ein übergreifender Blick auf Veränderungen, die auf dem Level individueller Körper und innerhalb unserer Lebensspanne stattfinden. Wenn wir etwa erkennen, dass eine neue Form der ›Sklavenmoral‹ sich in einer unterworfenen Bevölkerung verbreitet, müssen wir damit erkennen, dass die selben psycho-physiologischen Verschiebungen in den Körpern vieler Menschen stattfinden – Menschen die die gleichen Bedingungen der Gefangenschaft durchmachen und sich in ihrer jeweilige Reaktion auf die Herrschaft gegenseitig beeinflussen.

Viele der stärksten und schnellsten Veränderungen unserer psychologischen Muster finden in unserer Kindheit statt. Nach Nietzsche ›adoptieren‹ wir, während wir aufwachsen, viele der grundlegenden Werte, Begehren und Handlungsweisen (vgl. M104) aus den sozialen Modellen und Welten in unserem Umfeld. Aber die Veränderung hört hier nicht auf. Im Laufe unseres Lebens bleiben wir offen für das ›adoptieren‹ (absorbieren, imitieren, lernen, etc.) neuer Muster von anderen. Bestehende Muster sind außerdem, während wir auf neue Umgebungen treffen, unentwegt Gegenstand von Veränderungen. Wir können - auch wenn Nietzsche denkt, dass dies nur sehr selten geschieht – zu uns selbst verändernden Individuen werden. Individuen, die sich willentlich auf den Weg machen, ihre Triebe neu zu formen und die ›sozialen Strukturen‹, die unsere Körper bilden, zu revolutionieren.

Nur wie sich unsere Triebmuster verändern und wie die Prozesse ihrer Entwicklung von statten gehen, ist eine der größten, interessantesten und wichtigsten Fragen in Nietzsches psychologischem Konzept. Darauf werde ich in den nächsten Kapiteln näher eingehen.

Vorerst möchte ich einen Schlüsselaspekt hervorheben, dass nämlich Muster in ihrer Veränderung kontingent sind. Will sagen: Der jeweilige Trieb musste sich nicht in der Weise entwickeln, wie er es getan hat, es hätte auch anders kommen können. So formuliert Nietzsche es in einer bekannten und zentralen Passage in der Genealogie.

»die ganze Geschichte eines ›Dings‹, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen.« (GM2:12)

So war es zum Beispiel nicht vom Schicksal vorherbestimmt, dass bestimmte Zusammensetzungen von Werten und Praktiken verwachsen und sich schließlich zu männlicher Herrschaft, staatlicher Gesellschaft, Kolonialismus, der christlichen Moral des neunzehnten Jahrhunderts, konsumorientiertem Kapitalismus und anderen komplexen sozialen Formen entwickeln würde (siehe Kapitel 6). Es wäre vielleicht nicht, oder sehr anders geschehen – und dann hätten wir vielleicht ganz andere Formen der Bewertung und des Handelns entwickelt und geerbt und wären ganz andere Menschen. Die Pfade, die Werte und Handlungen nehmen, während sie transformiert und weitergegeben werden, sind sehr häufig unkalkulierbar: Sie entwickeln sich in Abhängigkeit von einer enormen Reihe komplexer Faktoren, lokaler Bedingungen, Unfällen.

In dieser Hinsicht ist Nietzsches Denken ganz anders als die liberale politische Philosophie. Diese betrachtet staatliche Gesellschaft typischerweise als eine natürliche und notwendige Entwicklung für alle Menschen. Es unterscheidet sich auch vom Gros des marxistischen Denkens, dass nämlich seinerseits historische Veränderung als kalkulierbar betrachtet, nämlich von einigen grundlegenden Faktoren ökonomischer Produktion und der gemeinsamen Natur des Menschen abhängend. Diese Unterschiede haben großen Auswirkungen auf das Denken darüber, wie wir uns selbst und die Welt um uns herum verändern können.[20]

Kapitel 3. Einverleibung

Warum haben wir die Werte, die wir haben? Woher kommen unsere Begehren? Welche Kräfte formen sie und wie können sie verändert werden?

Vieles von Nietzsche Denken über diese Fragen, kann in diesem einen Zitat aus Morgenröthe zusammengefasst werden: »Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, – letztere bei Weitem die meisten« (M104). Wenigstens sind einige unserer Arten zu werten und zu handeln ›unser eigen‹. Aber bevor wir verstehen können, was das bedeutet, müssen wir zuerst noch einen Blick darauf werfen, wie wir diesen zumeist ›angenommen‹ Handlungs- und Wertungsmustern folgen. Wir haben sie aufgegriffen, kopiert, erlernt, absorbiert – und das von Anderen, in der Kindheit und im weiteren Verlauf unserer Leben.

Es gibt ein Wort, das Nietzsche benutzt, das in diesem Kontext ein mächtiges Werkzeug zum Verständnis sein kann – ›Einverleibung. Sowohl im Englischen, als auch im Deutschen, hat es eine doppelte Bedeutung. Zum einen bedeutet sich etwas einzuverleiben, etwas zu absorbieren und aufzunehmen, also etwas aus der Außenwelt in den eigenen Körper aufzunehmen, wie beim Essen. Gleichzeitig heißt Einverleibung auch, etwas körperlich zu machen, zu verändern, es in Fleisch zu transformieren: Du schluckst nicht einfach das Essen runter und scheißt es wieder aus, sondern wenigstens etwas davon wird Teil der zellularen Struktur deines Körpers, ein Teil von dir.

Nietzsche stellt den Begriff ›Einverleibung‹ in Die Fröhliche Wissenschaft vor. Er bezieht sich dabei auf einen Prozess, indem man ein zunächst oberflächlich intellektuelles Urteil »sich einzuverleiben und instinctiv zu machen« beginnt (FW1-11). Er argumentiert hier, dass »irrthümliche Glaubenssätze« (FW1:110) – wie zum Beispiel, »dass unser Wollen frei sei, dass was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei« – zutiefst einverleibt wurden und so Teil des menschlichen Verständnissen und der menschlichen Wahrnehmung geworden sind. An einer anderen Stelle in FW schreibt Nietzsche, dass ein Name oder eine Bezeichnung, die wir einer Sache zuschreiben, »zuletzt fast immer zum Wesen [wird] und wirkt als Wesen« (FW58). Er spricht auch davon, wie Lebewesen Moral »in Fleisch und Blut übersetzt haben« (FW1:143). Aber in der menschlichen Evolution, so denkt Nietzsche, haben wir »bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt« (FW11). Und er fragt sich: Können wir auch lernen ›Wissen‹ zu verinnerlichen oder neue freigeistige Ideen?

Obwohl Nietzsche in Morgenröthe das Wort ›Einverleibung‹ noch nicht nutzt, bietet es doch eine gute Zusammenfassung von vielen seiner Diskussionen. Zuerst ›adoptieren‹ wir Werte von anderen Menschen in unserem Umfeld und im Laufe der Zeit, »gewöhnen [wir] uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist« (M104). Moralische Güte beispielsweise entwickelt sich üblicherweise aus einer heuchlerischen Performance, also eine »lange Verstellung, welche [als] Güte zu scheinen suchte« (M248). Aus der »dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Natur: die Verstellung hebt sich am Ende selber auf, und Organe und Instincte sind die kaum erwarteten Früchte im Garten der Heuchelei« (ebd). In jedem Fall beginnt ein Muster als eine oberflächliche Performance, die im Laufe der Zeit ›Natur‹ und ›Instinct‹ wird, tief eingegraben in den unbewussten und automatischen Reaktionen eines Körpers.[21]

Obwohl Nietzsche die Einverleibung von Heuchelei, Irrtümern und Lügen hervorhebt, können wir die selben Muster auch in anderen Bereichen beobachten. Denke z.B. daran, einen neuen Tanz, ein neues Spiel oder eine neue Sportart, vielleicht eine neue Sprache zu lernen. Zu Beginn sind die neuen Bewegungen, Klänge und Ideen dir neu und total ›äußerlich‹. Sie erscheinen seltsam, fremd, unvertraut, komisch, anspruchsvoll oder unecht. Du musst sie von anderen Kopieren oder sie dir mit Schwierigkeiten erarbeiten und dich bewusst bemühen dich zu erinnern. Aber mir der Zeit, Übung und Wiederholung, werden die selben Bewegungen unbewusst und ›natürlich‹.

Die Idee der Einverleibung hat großen Einfluss darauf, wie wir uns unsere ›Natur‹ und die Macht uns selbst zu verändern, vorstellen. Aber zuerst möchte ich einige Ansätze Nietzsches hierzu eingehender betrachten. Um dies zu tun, sollten wir den Prozess der Einverleibung in zwei Phasen zerlegen: Zuerst nehmen wir Muster aus der Welt auf, von anderen; dann, mit Zeit und Wiederholung, werden sie Teil unseres Leibes.

Mimesis

Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten wie wir Interpretations-, Bewertungs-, Begehrens-, Handlungsmuster etc. von anderen ›übernehmen‹. Im Allgemeinen können wir sie Übertragungsprozesse nennen: Muster greifen von einem Körper zum nächsten über.

Obwohl Nietzsche nie eine systematische Theorie einer solchen Übertragung entwickelt hat, denkt er im Laufe seines Werkes über drei wesentliche Arten nach. Erstens bewusste Prozesse wie Lernen oder Bildung, was auf das Lernen von Sprache und anderen symbolischen Systemen, sowie Werkzeugen wie Bücher oder Computer zutrifft. Zweitens unbewusste und automatische Prozesse, die Imitation von Gesten, Bewegungen, Geräuschen etc. Drittens denkt Nietzsche, dass wir Muster auch biologisch übernehmen, erben oder ›im Blut haben‹ – etwas, das wir heutzutage genetische (und epigenetische) Vererbung nennen könnten.

Die Möglichkeit auf welche Nietzsche sein Augenmerk gelegt hat und auf die ich mich hier konzentriere, ist die unbewusste Imitation. Wie auch in anderen Aspekten seiner Psychologie, betont Nietzsche die unterschätzte Macht und Wichtigkeit unbewusster Prozesse und vertritt die Meinung, dass bewusste ›Erziehung‹ schwächer und weniger wichtig ist als allgemein angenommen. In späteren Arbeiten, insbesondere in Jenseits von Gut und Böse, wird er zunehmend mit eugenischen Ideen wie ›Blut‹ und ›Züchtung‹ arbeiten (JGB213 und JGB264 sind zwei besonders brutale Beispiele); aber diese Ideen spielen nur eine kleine Rolle in der Freigeist-Periode, die viel mehr auf genauer psychologischer Beobachtung fußt.[22]

Nietzsche denkt, dass menschliche Wesen eine starke und »fast unwillkürlich[e]« (M142) Tendenz dazu haben, einander zu imitieren und dabei die Gefühlslage und Bewertungen des*der Anderen zu absorbieren. Dies ist der verbreitetste Weg, auf dem wir beginnen Moral und anderweitig wertende Haltung von anderen zu übernehmen: »dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen« (M34). Obwohl unbewusst Imitation insbesondere bei Kleinkindern stark ausgebildet ist, bleibt sie unser ganzes Leben lang ein Teil von uns:

»Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können« (MA216).

Nietzsche beschreibt diesen Prozess im Detail in M142:

»[Das wir] das Gefühl nach den Wirkungen, die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe nachbilden. Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von Bewegung und Empfindung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefühle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkürlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Übung dieser Geschicklichkeit […]«

Ich werde im Folgenden den Begriff Mimesis verwenden, um diese Tendenz zur unbewussten Imitation zu benennen. Nietzsche selbst benutzt dieses Wort nicht, aber Mimesis hat eine lange Geschichte in der Philosophie und reicht zurück bis zu Plato. Dieser benutzte es in seiner Analyse der Gefahren des Theaters und beschrieb damit, wie das Publikum von den durch Schauspieler*innen hervorgerufen ›unwirklichen‹ Passionen gefasst und bewegt wird. In der jüngeren Philosophie nutzt René Girard diesen Begriff um über unbewusste Imitation und die Verbreitung von ›mimetischen Begierden‹ zu schreiben; in gleicher Weise wird er von einigen zeitgenössischen Neurowissenschaftler*innen und Psycholog*innen verwendet.[23]

In einigen Punkten ist Nietzsche nicht weit von Plato entfernt. Auch Nietzsche identifiziert Mimesis als eine gefährliche Form der Ansteckung.[24] Das Problem ist, dass wir – sogar als Erwachsene – es sehr schwer haben, nicht unbewusst Muster aus unserer sozialen Welt zu übernehmen:

»Neigung und Abneigung [sind] so ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und Wider angefüllt zu werden [...] bringen wir uns den Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung.« (MA371).

Dies ist einer der Hauptgründe für Nietzsches Annahme, dass diejenigen, die ›freie Geister‹ sein wollen, sich selbst (auf unterschiedliche Arten) von der ›Herde‹ separieren und isolieren müssen.

Forschung der jüngeren Psychologie

Kurz gesagt, für Nietzsche ist Imitation angeboren, automatisch, größtenteils unbewusst und zentral für die Formation unserer Werte. Damit nimmt seine Diskussion der Mimesis viele jüngere Forschungsergebnisse der Kognitions- und Entwicklungspsychologie vorweg.

Die Idee, dass Mimesis von Geburt an eine ›automatische‹ Tendenz im Menschen ist, wird auch von der bahnbrechenden Arbeit der Psychologen Meltzoff und Moore (1985) unterstützt. Sie studierten Neugeborene im Alter weniger Stunden auf nachahmende Bewegungen von Zunge und Lippen.[25] Weitere Hinweise kommen von Studien zum »Paradigma der verzögerten Nachahmung« bei einigen, wenige Monate alten Kleinkindern (Meltzoff und Moore 1999; Bauer et al. 2000; Nelson 2007:94). In der Regel zeigen die Psycholog*innen dabei einem Kind, mit einer Anzahl von Wiederholungen, eine Serie von drei- oder vierschrittigen Handlungssequenzen, z.B. die Bewegung eines Spielzeugs in einer bestimmten Reihenfolge. Einige Wochen oder Monate später wird das Kind zurückgebracht und ihm werden die selben Spielzeuge zum spielen gegeben. Neun Monate alte Kinder tendieren dazu, Teile der Sequenzen zu wiederholen, die ihnen einige Monate zuvor gezeigt wurden. Kinder, die zu Beginn des Experiments 20 Monate alt sind, können die Sequenz auch zwei Jahre später noch wiederholen. Es scheint unwahrscheinlich, dass hier Erinnerung bewusst abgerufen werden. Vielmehr scheint es sich um Fälle von ›implizierten Gedächtnis‹ zu handeln. Also von unbewusst imitierten Mustern, die im Laufe der Zeit verinnerlicht werden.

Es gibt darüber hinaus deutliche psychologische Forschungen über unbewusste Imitation bei Erwachsenen; zum Beispiel den ›Chamäleon Effekt‹, dabei verändern sich die Blicke und Bewegungen unbewusst, je nach dem wie andere in der Gruppe sich verhalten; oder ›Priming‹ [die Aktivierung von implizierten Gedächtnisinhalten durch einen Reiz] und ›perzeptuelle Induktion‹ wobei Leute durch unbewusste Anstöße dazu veranlasst werden können, in einer bestimmten Weise zu handeln oder zu denken. Diese Effekte sind in Mikro-Handlungen weit verbreitet – beim ›imitativen Interferenzparadigma‹ z.B. werden Performances einfacher Gestiken davon beeinflusst, wie du von vorherigen Beobachtungen der Handlungen anderer ›geprimed‹ wurdest (vgl. Wolfgang Prinz 2005). Dies zeigt sich durchaus auch in komplexeren Haltungen zur Welt, z.B. den Experimenten die von Ap Djisterkhuis und Kolleg*innen durchgeführt wurden: »jugendliche Teilnehmende wurde unterschwellig mit Wörtern geprimed, die mit alten Menschen assoziiert werden, Worte wie ›grau‹, ›Bingo‹ oder ›Sentimental‹, anschließend gingen sie langsamer, schnitten schlechter in Gedächtnisaufgaben ab und äußerten konservativere Attitüden als gleichaltrige Teilnehmende« (Hurley und Chater 2005: Volume 1, 36). Prozesse dieser Art sind selbstverständlich Teil des Instrumentariums moderner Werbung.

Die Neurowissenschaft der Imitation ist seit der Entdeckung der sogenannten ›Spiegelneuronen‹ eine wissenschaftliche Wachstumsbranche. Bei Experimenten an gefangenen Schimpansen, ›feuern‹ Hirnverbindungen sowohl wenn der*die Gefangene sich in einer bestimmten Weise bewegt, als auch wenn diese einer anderen zusieht, die die gleichen Bewegungen macht. Dieses Forschungsgebiet wird kontrovers diskutiert, nicht nur ethisch sondern auch wissenschaftlich und es gibt viele Debatten über die richtige Interpretation dieser Beobachtungen.

Performativität

Einverleibung bedeutet nicht nur, dass du dir zeitweise die Muster anderer Leute aneignest sondern, dass sie Teil deines eigenen ›Wesens‹ werden.

Nietzsche studiert diesen zweiten Schritt in zahlreichen Beobachtungen in Menschliches, Allzumenschliches und in Morgenröthe. Eine längere Diskussion ist Sektion MA51 mit dem Titel Wie der Schein zum Sein wird. Auch hier denkt er über eine heuchlerische Performance nach: »Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf, Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester […]« vergleichbar erwähnt er in M325 »ein Rath für Den, der ihn brauchen mag […]: ›Predige den Glauben, bis du ihn hast, und dann wirst du ihn predigen, weil du ihn hast!‹«. Dieses religiösen Beispiele erinnern an die wahrscheinlich berühmteste philosophische Diskussion dieses Themas von Blaise Pascal (1670). Dieser verteidigte das wiederholende Gebet, als den Weg der Ungläubigen, um den Glauben zu gewinnen.[26] Wenngleich sich Nietzsche in MA51 darüber im Klaren ist, dass dieser Prozess durchaus allgemeingültig ist:

»Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen.«

Aus all diesen Erzählungen können wir uns einige grundlegende Überlegungen herauspicken:

  • Erstens die einzuverleibende Handlung oder Haltung wird inszeniert und in die Praxis umgesetzt.

  • Zweitens diese Inszenierung wird wiederholt, vielleicht mehrmals und vielleicht über einen langen Zeitraum.

  • Und drittens zumindest in vielen Beispielen die Nietzsche aufbringt, ist dass, was passiert, nicht nur eine Aufführung, sondern etwas, das wir eine Performance nennen können: Also eine soziale Aufführung – einer sozial wahrgenommenen Rolle (oder eines Musters) – für ein Publikum (oder wenigstens für sich selbst, als eine Art inneres Publikum). Beispiel: Ein ›Beruf‹ oder eine sozial anerkannte Eigenschaft wie ›Güte‹ oder ›Gutmütigkeit‹.

Nietzsches Erzählungen zufolge, spielt es keine große Rolle ob die Performance anfänglich echt, ›real‹ oder nur eine Show oder Erscheinung, ›heuchlerisch‹ oder ›verstellt‹ ist. Es ist schlichtweg egal welches die Intentionen, bewussten Überlegungen oder Gründe der Schauspielenden sind. Wenn sie es ausreichend und lange genug wiederholen, wird es Wirklichkeit werden.

Warum sollte das so sein? Nietzsche selbst gibt keine explizite Antwort auf diese Frage, aber wir können erkennen, dass diese These zu den Kerngedanken seiner Psychologie passt. Erinnern wir uns an einige Kerngedanken aus dem letzten Kapitel:

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Multiple Triebmuster des Bewertens, Begehrens und Handelns können in einem Körper simultan aktiv sein. Sie können miteinander in Konflikt stehen; in einem »Kampf der Motive« (M129).

In diesem Fall sind zwei Muster in unserem Fokus. Auf der einen Seite ein Muster bewusster Bewertung, also das, was die Darstellenden sich innerlich erzählen, an was sie ›wirklich‹ glauben würden. Auf der anderen Seite steht das ›heuchlerische‹ Muster, das sie physisch ausführen. Sie sagen sich möglicherweise es sei nur eine Show. Aber eine physische Performance aufzuführen, besonders wenn sie überzeugen soll, ist mehr als eine Sequenz leerer Bewegungen; sie könnten (vlt. unbewusste) Begleitmuster der Bewertung und des Wunsches stimulieren.

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Die Werte, denen wir uns bewusst sind, sind nicht unbedingt die, die am stärksten in uns arbeiten. Unbewusste, jedoch verkörperlichte und tatsächlich ausgeführte Werte und Begehren, sind oftmals mächtiger. Taten sind stärker als Worte.

In diesem Fall, setzt sich das ›reale‹ Muster nur in den bewussten Gedanken fort; das ›heuchlerische‹ Muster aber, wird physisch aufgeführt.

Die wahrscheinlich wichtigste Idee von Nietzsche ist hier folgende: Wiederholte Aktivitäten sind »Ernährung« (M119) für Triebmuster und stärken diese. Triebmuster die aufgeführt werden, werden dazu tendieren stärker zu werden, wird ein Trieb hingegen über Monate nicht stimuliert »dann dorrt er ab, wie eine Pflanze ohne Regen« (ebd). Dieses grundlegende Ernährungsprinzip ist auch ein Schlüsselgedanke Nietzsches in Morgenröthe, wo er beschreibt wie durch »bekämpfen« der »Heftigkeit eines Triebes« »Selbst-beherrschung« (M109) erreicht werden kann. Die erste und einfachste Methode ist: »den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen« (ebd). Es ist möglich unterdrückte oder verborgene Muster in einer ›inneren Welt‹, in bewussten Gedanken und Fantasien (was ich im letzten Kapitel als inneres Handeln bezeichnet habe) am Leben zu erhalten. Das Ernährungsprinzip scheint im Allgemeinen aber stärker zu wirken wenn die Aufführung äußerlich und expressiv körperlich ist.

Schließlich wird das ›heuchlerische‹ Muster durch die soziale Anerkennung noch verstärkt. Auf diesen Punkt werde ich im nächsten Kapitel über den ›Herdeninstinkt‹ näher eingehen.

Wir können den Grundgedanken folgendermaßen zusammenfassen: Durch wiederholtes performen eines Bewertungs- und Handlungsmusters kann es direkt zur eigenen ›Natur‹ werden. Dieser Effekt wird wahrscheinlich stärker sein, wenn die Performance aktiv körperlich ist und durch soziale Anerkennung verstärkt wird. Andererseits machen die bewussten Bewertungen einer Performance – was wir uns selber bestätigen ›wirklich zu glauben‹ allein keinen großen Unterschied.

Gedächtnis, Wiederholung und Skripte

Warum sollte das passieren? Dies ist vielleicht ein Teil einer Antwort: Es gibt etwas, tief in der Struktur des menschlichen Gedächtnisses, das es so macht. Das unbewusste Kopieren und Wiederholen von Handlungsmustern ist eine sehr grundlegende und frühe Art und Weise wie sich Menschen entwickeln. So beginnt sich die menschliche Psyche im Säuglingsalter zu bilden und so werden wir zu denen, die wir sind. Und diese grundlegenden Prozesse des Imitierens, Lernens, Erinnerns und Werdens verschwinden nicht, sie arbeiten auch als Erwachsene weiter in uns.

Auch hier unterstützen jüngere Forschungen der Psychologie diese Idee. Bis in die 1980er Jahre glaubten die meisten Psycholog*innen, dass Säuglinge (Kinder unter 1 Jahr) kein über mehrere Monate reichendes Langzeitgedächtnis haben. Untersuchungen mit Spielen, wie dem oben diskutierten ›Paradigma mit verzögerter Nachahmung‹ haben gezeigt, dass das falsch ist. Kleine Kinder erinnern sich, nur eben nicht so, wie die Psychologie und die Philosophie traditionell über die Erinnerung dachte. Das konventionelle Paradigma der Erinnerung, ist das bewusste Erinnern an ein bestimmtes Objekt oder Ereignis, vergleichbar mit eine*r Zeug*in in einem Gerichtssaal: Ich kann mich beispielsweise an deinen Namen erinnern und angeben, was ich letzten Donnerstagabend um 20:00 Uhr getan habe.

Im frühen menschlichen Gedächtnis geht es jedoch nicht um bestimmte Objekte, sondern um wiederkehrende Muster oder Sequenzen – oder wie es die Entwicklungspsychologin Katherine Nelson formuliert: »Aktionsprogramme« [action programms] und die »Dynamik von Ereignissen« (Nelson 2007:90). Das ist kein bewusstes Zurückgreifen (›ah ja, ich erinnere mich daran‹), sondern ein implizites erinnern – das heißt, ein Muster wiederholt sich, wenn es in einem bestimmten Kontext (vielleicht auch unbewusst) stimuliert wird. Zum Beispiel fängt ein Kind implizit wieder an mit Spielzeugen in derselben Reihenfolge zu spielen, an die es sich erinnert oder mein Körper beginnt implizit wieder zu zittern, wenn ich ein Hund bellen höre oder den ersten Jasmin im Frühling rieche.

Entwicklungspsycholog*innen wie Katherine Nelson, haben das Konzept eines Skripts (oder eines ›Ereignisschemas‹) als hilfreich vorgeschlagen, um über das frühe Gedächtnis und die frühe Entwicklung nachzudenken. Ein Skript, ist eine wiederkehrende Abfolge von Handlungen, die Körper in bestimmten Kontexten lernen, sich merken und dann wiederholen. In Spielen mit ›verzögerter Nachahmung‹ kopieren und wiederholen Kinder grundlegende Skripte beim spielen mit Spielzeugen. Nelson und ihre Kolleg*innen beobachteten wie kleine Kinder ›Repertoires‹ von Skripten für die täglichen Aktivitäten lernten, z. B. Skripte für die Schlafenszeit, Abendessen, Rausgehen, verschiedene Spiele usw. Das kann zum Beispiel so aussehen: ›Zuerst wäschst du dir die Hände, dann setzt du dich, dann isst du‹ usw. Wie Mini-Dramaturgien können solche Drehbücher verschiedene Rollen haben: ›Mami macht das, Baby macht das‹ usw. Wenn Kinder Skripte lernen, lernen sie auch Glaubenssätze und Erwartungen darüber, was Menschen in einem Kontext tun sollen oder sollten. Und sie lernen auch Muster des Bewertens und Begehrens – Skripte zum ›Schlafengehen‹ und zum ›Abendessen‹, etc. sagen uns nicht nur was wir in einem bestimmten Moment oder Kontext tun sollen, sondern auch was wir wollen.[27]

Der starke Beweis aus der Entwicklungspsychologie ist, dass Säuglinge und Kleinkinder dazu neigen wiederholte Skriptmuster zu kopieren und zu integrieren. Wir sehen hier eine Grundlage für Nietzsches Idee, Trieb zu ›ernähren‹: Je öfter Kinder ein Muster beobachten, das von anderen um sie herum wiederholt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie es aufgreifen und selbst wiederholen; Muster, die sich nicht über »relativ kurze Zeiträume« wiederholen (ebd: 89) werden in der Regel jedoch vergessen. Neben der Interaktion mit Erwachsenen wiederholen und integrieren Kinder Skripte im Spiel, allein oder mit anderen. Eine wichtige Rolle des frühen Spielens ist die Probe und Erforschung von Skripten, einschließlich verschiedener Rollen und Variationen. In Nietzsches Begriffen: Kleinkinder sind ein bisschen wie der ›Heuchler‹, der lernt ein Priester zu sein, sie ›ernähren‹ und stärken Muster des Bewertens, Begehrens und Handelns durch performatives Spiel.

Es ist wohl unmöglich und auch unnötig ›Natur‹ bzw. ›Wesen‹ und ›Ernährung‹ voneinander zu trennen. Demnach können wir auch nicht sagen inwieweit frühe Prozesse der Nachahmung, der Erinnerung, der Handlung etc., auf angeborene Dispositionen neugeborener menschlicher Gehirne zurückzuführen sind (die sich schon neun Monate in der Gebärmutter entwickelt haben). Wir könnten zum Beispiel auch die Rolle der kulturellen Traditionen in der Erziehung betrachten.

In jedem Fall scheint die Grundidee, dass kleine Kinder durch das Nachahmen und Aufnehmen von Skripten lernen in vielen Situationen zu zutreffend zu sein. Gleichzeitig können sich die Arten von Skripten, die Kinder in verschiedenen sozialen Welten aufnehmen, sehr unterscheiden.

Im Allgemeinen können wir uns jedes wiederkehrende und relativ stabile Aktions- oder Interaktionsmuster als Skript vorstellen. Einzelpersonen können eigene Skripte haben: Ich habe zum Beispiel meine eigenen gewohnheitsmäßigen oder einem Ritual gleichenden Skripte für das Schreiben. Ein soziales Skript jedoch, ist ein Skript das von einer Gruppe von Personen geteilt, verstanden und befolgt wird. Das bedeutet nicht, dass sie alle die gleiche Rolle spielen: Zum Beispiel teilen ›Mum‹ und ›Baby‹ ein Abendessen-Skript, an das sie sich beide erinnern und ihm folgen, aber ihre geskripteten Rollen sind sehr unterschiedlich. Männer und Frauen, Herrschende und Beherrschte, Chef und Arbeiter*innen, Lehrende und Studierende etc. mögen den selben Skripten folgen, aber innerhalb dieser werden ihnen sehr unterschiedliche soziale Rollen zugewiesen.

Von der frühen Kindheit an sehen, kopieren, lernen, wiederholen, integrieren, verbreiten und helfen wir viele solcher sozialen Skripte zu reproduzieren. Dies ist ein wichtiger Grundbestandteil von dem, was Nietzsche manchmal ›Herdeninstinkt‹ nennt – den ich im nächsten Kapitel detailliert betrachten und beschreiben werde. Während wir die Skripte der ›Herden‹ um uns herum imitieren und wiederholen, integrieren wir gängige Muster der Bewertung und des Begehrens, die von anderen Herdenmitgliedern geteilt werden. Wenn wir eine neuere psychologische Sprache verwenden wollen, können wir hier an ein ›Repertoire‹ von Skripten denken. Eine Gruppe die einer Herde ähnelt, teilt ein überlappendes ›soziales Repertoire‹ gemeinsamer Skripte. Als ein Teil dieser Gruppe aufzuwachsen, heißt diese sozialen Skripte zu lernen und sie in dein persönliches Repertoire zu integrieren.

Eines der grundlegendsten Dinge, die wir in diesem Prozess lernen müssen, ist das Erkennen, Kategorisieren und Bewerten Anderer, die Teil unserer Herde oder unserer Gruppe sind. So wissen wir genau, wen wir nachahmen sollen. Nietzsche schreibt, dass wir diese grundlegende Form des Vorurteils lernen:

»als Kinder machen wir sie, und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig finden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen« (M104).

Obwohl das Erlernen von Skripten in der frühen Kindheit besonders stark ist, hört es dort nicht auf. Nochmals, dieselben psychologischen Grundprozesse arbeiten in uns als Erwachsene weiter, auch wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Bewusste Strukturen, die Sprache und Argumentation umfassen, das was Entwicklungspsycholog*innen ›höhere‹ psychologische Prozesse nennen, bauen auf diesen unbewussten Grundmustern auf, ersetzen sie jedoch niemals vollständig. Um es mit Nietzsche zu sagen: »Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung [des sich entwickelnden menschlichen Körpers] und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran« (FW11).[28]

Wir können das Bewusstsein jedoch auch nutzen um die tiefen und frühen Prozesse, die uns geprägt haben und noch immer prägen, besser zu verstehen. Und dann, so Nietzsche, können wir Wege finden einzugreifen, zu widerstehen, umzuleiten und sie für neue Ziele zu nutzen. Wir können, zumindest teilweise, die Macht des ›Herdeninstinkts‹ brechen und selbstgestaltende ›freie Geister‹ werden.

Kapitel 4. Die Herde und die Normen

»Zu allen Zeiten, so lange es Menschen gibt, [hat es] auch Menschenheerden gegeben […] (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen)« (JGB199). Herden können viele Formen und Namen annehmen, aber sie sind immer Gruppen, die durch Konformität, Gehorsam, Angst und Scham verbunden sind. Ein ›freier Geist‹ zu werden, der sich gegen die Herde und ihre Normen stellt, ist schwierig und gefährlich. Wer auffällt, wird angegriffen, bestraft, gemieden. Aber ein freier Geist zu werden, bedeutet auch die mächtigen Kräfte der Anpassung, die tief in unsere Körper eingedrungen sind, zu bekämpfen und zu überwinden. Diese inneren Kräfte nennt Nietzsche manchmal den ›Herdeninstinkt‹.[29]

Die Enthüllung der Moral

Die Betrachtung des Herdeninstinkts führt uns zu einem der Schlüsselthemen von Nietzsche Philosophie, seine Untersuchung und Kritik der Moral. An einer Stelle schreibt Nietzsche schlicht, »Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen« (FW116).

Zunächst einmal können wir feststellen, dass Moral eine Art der Bewertung beinhaltet. Wenn jemand eine moralische Haltung einnimmt, dann bewertet, dann urteilt diese Person. Die Objekte dieses Urteils können Menschen, Handlungen, Ideen, Gefühle oder was auch immer sein. Für Nietzsche jedoch (wie in Kapitel 2 besprochen) beinhaltet alles Leben ständige Beurteilung – wir bewerten die Welt immer in irgendeiner Weise, immer wenn wir wollen, fühlen, denken, schmecken, fühlen, bewegen, handeln. Und nicht alles Leben ist moralisch. Moral ist eine besondere, vielleicht besonders menschliche Art der Beurteilung, mit ihren eigenen speziellen Charakteristika.

Dies ist ein grundlegender Ausgangspunkt für das Nachdenken über moralische – oder allgemeiner, um einen neueren philosophischen Begriff zu nutzen, ›normative‹ – Beurteilung: Moral bewertet Dinge nicht nur als ›gut‹ oder ›schlecht‹, sondern als ›richtig‹ oder ›falsch‹. Moral sagt uns insbesondere, dass einige Handlungen oder Verhaltensweisen richtig sind – was wir tun sollten, tun müssten. Andere Dinge sind falsch, sollten nicht getan werden.

Ein zweiter entscheidender Punkt in Nietzsches Analyse ist, dass die moralische Beurteilung mit besonderen Gefühlen, mit Affekten verbunden ist. Oft fühlt es sich an wie eine befehlende Stimme – das »Gewissen« (FW117, JGB199). Wenn wir unter der Kontrolle der Moral stehen – also wenn die moralischen Triebe in unserem Körper stark sind – fühlen wir uns als würden wir von der Stimme des Gewissens geführt, gestoßen oder gebissen (vgl. FW117), sie sagt uns: Tue dies, tue das nicht. Wenn wir Falsches tun oder den Sog des Gewissens in Frage stellen, fühlen wir uns vielleicht schlecht, ängstlich, schuldig, schämen uns.

Nietzsche meint, dass sich im Laufe der Menschheitsgeschichte sehr unterschiedliche Formen der Sittlichkeit entwickelt haben: »Jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht« (ZA: Von neuen Götzen). Zum Beispiel ist eines der Schlüsselthemen in Zur Genealogie der Moral, die Kluft zwischen den gegensätzlichen Moralitäten von ›Sklaven‹ und ›Edlen‹. Diese unterschiedlichen moralischen Perspektiven bewerten die Welt nicht nur auf sehr unterschiedliche Weise, sondern sie überlagern auch verschiedene Affekte: Zum Beispiel bringt die christliche Sklavenmoral bittere Dosen Schuldgefühle und Ressentiment mit sich. Allen Moralitäten gemein ist jedoch, dass es sich um Methoden der Bewertung handelt die kollektiv, sozial, in Herden oder Stämmen geteilt werden. Und sie alle haben einige grundlegende und tiefe psychologische Muster, einschließlich dem ›Gewissensbiss‹. Nietzsches Untersuchung der Moral beginnt also mit seiner grundlegendsten und ›ältesten‹ Form, die er als ›Sittlichkeit der Sitte‹ bezeichnet. Er analysiert diese tiefe fundamentale Ebene der Moralpsychologie im ersten Teil von Morgenröthe und greift in seinen späteren Büchern, einschließlich der Genealogie auf diese Analyse zurück.

Sittlichkeit der Sitte

Die Sittlichkeit der Sitten ist »nichts Anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen« (M9). Die Sitte aber ist schlicht »die herkömmliche Art« eines bestimmten Triebes »zu handeln und abzuschätzen« (ebd). Möglicherweise sind einige Sitten aus einem Grund entstanden, andere jedoch mögen völlig willkürliche, »im Grunde überflüssige Bestimmungen« (M16) sein – wie etwa »unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben« (ebd).

Sittlichkeit der Sitte, das heißt gehorsam gegenüber den Sitten des Stammes, einfach »weil es die Tradition gebietet«. »Was ist Tradition? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt« (M9). Tatsächlich, so Nietzsche, kann der Gehorsam gegenüber einer Sitte, weil sie nützlich ist, oder aus einem anderen, eigenen Grund, an sich schon unmoralisch sein: Es ist notwendig, nicht nur zu gehorchen, sondern unbedacht und ohne Frage zu gehorchen. Nietzsche bezieht sich hier kritisch auf Immanuel Kant – dem wohl einflussreichsten aller Moralphilosoph*innen der Aufklärung – und denkt an Moral als ›kategorischen Imperativ‹, einen bedingungslosen Befehl: »›du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen‹, kurz ›du sollst‹«. (JGB199).[30]

Der grundlegende Effekt dieser tiefen Moral, ist laut Nietzsche, keine Art von Sympathie oder Altruismus, weder Schuld noch Scham – es ist Angst. Wir hören die befehlende Stimme der Tradition, die im Gewissen verkörpert ist und gehorchen ängstlich.

»Wodurch unterscheidet sich diess Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, es ist Aberglaube in dieser Furcht.« (M9).

Angst ist, in Nietzsches Erzählung über die Moral, mit seiner Sicht auf die Vorgeschichte verbunden; eine Zeit, in der schwache und zitternde Menschen in der »Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht« lebten (M18).[31] Es gibt drei Hauptursachen für prähistorische Angst. Erstens die Angst vor sehr realen und gegenwärtigen Gefahren – wilde Tiere, raue Umgebungen, feindliche Stämme usw. Zweitens abergläubische Angst vor unbekannten Kräften: Nach Angaben von Nietzsche glaubten prähistorische Menschen, dass die Nichtbeachtung von Sitten eine unerklärliche Katastrophe für die gesamte Gemeinschaft bedeuten würde (vgl. M9). Drittens die profanere Angst vor Bestrafung durch die anderen Gruppenmitglieder, solltest du mit den Sitten brechen.

Wir müssen Nietzsches Spekulationen über die Vorgeschichte der Menschheit nicht folgen.[32] Das Wichtige an seiner Analyse ist, dass sie noch immer wirkmächtige Annahmen über die Moral hinterfragt. Gegen geläufige Moraltheorien, von der christlichen Orthodoxie bis zum liberalen Utilitarismus, argumentiert er, dass moralische Regeln keinen Grund, Zweck oder Nutzen haben müssen. Wir neigen dazu die moralischen Regeln der Herden, in denen wir aufgewachsen sind, unbewusst zu erben, zu übernehmen und zu integrieren. Wir gehorchen ihnen weitgehend automatisch und ohne nachzudenken. Wenn wir jedoch anfangen sie in Frage zu stellen, können wir die Kraft eines sehr grundlegenden moralischen Affekts spüren: Ein Befehl der Angst in sich trägt, das Gefühl einer »unbegreiflichen unbestimmten Macht« (ebd).

Wir müssen dieses ›Gewissen‹ nicht als angeborenes menschliches Erbe betrachten. Es kann aus Bildungsprozessen stammen, die in der frühen Kindheit beginnen und unser Leben lang andauern, da wir immer wieder Missbilligung, Sanktionierung und Bestrafung wegen Non-Konformität ausgesetzt sind. Wir sind trainiert worden die Gesetze des Stammes zu fürchten und zu befolgen. Nietzsche selbst betrachtet diesen Trainingsprozess in der Genealogie: Er argumentiert dort, dass gewalttätige und traumatische Bestrafung der grundlegende Mechanismus für die Formung des Menschen durch »die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden« ist; dadurch »zähmt die Strafe den Menschen« (GM2:15).

Normen

Um die Analyse von Nietzsche weiter auszuführen, kann es hilfreich sein, eine modernere Terminologie zu verwenden. Nietzsches ›Sitten‹ sind Normen. Eine Norm ist ein Muster der Beurteilung, des Begehrens, des Handelns, das allgemein üblich ist, erwartbar – normal – innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe. Eine Norm trägt das Gewicht der ›Normativität‹: D.h. Teile der Gruppe fühlen, egal ob bewusst oder unbewusst, dass das Befolgen der Norm richtig und davon abzuweichen falsch ist. In vielen Fällen verstärken Gruppen die Macht ihrer Normen durch Sanktionen und Bestrafungen durch böse Blicke oder Beschimpfungen, bis hin zu gewalttätigen Übergriffen – sowie mögliche Belohnungen durch Status, Zustimmung etc., für diejenigen, die sich an die Regeln halten.

Im vorherigen Kapitel, habe ich die Idee eines sozialen Skripts vorgestellt: Ein mehr oder weniger regelmäßiges Interaktionsmuster, in welchem die Menschen bestimmte Rollen einnehmen und so handeln (und beurteilen, begehren, fühlen, glauben etc.) wie es gesellschaftlich vorausgesetzt und den Normen entsprechend erwartet wird. Wir haben uns angesehen wie Menschen von früher Kindheit an, solche sozialen Skripte sehen, kopieren, lernen, wiederholen, einbinden, verbreiten und helfen diese zu reproduzieren oder zu transformieren.

Skripte, sowie die Rollen und Aktionen, die sie definieren, können Normen sein – was sie oft auch sind. Wir erwarten, dass jemand eine bestimmte Rolle spielt und auf eine bestimmte Art und Weise handelt. Ich erwarte, dass du dich wie eine Frau verhältst, wie ein Arbeiter, wie eine Chefin, wie ein Diener, wie ein Mitglied meines subkulturellen Clubs. Das ist normal für dich. Dies nicht zu tun, ist anormal, abweichend, gefährlich, erschreckend, schockierend, beschämend, falsch.[33]

Stränge des Herdeninstinkts

Aber so tief sie auch sitzen mag, Angst ist nur eine motivierende Kraft, die in die Herdenmoral involviert ist. Obwohl Nietzsche von dem ›Herdeninstinkt‹ spricht, Singular, hat seine Analyse tatsächlich mehrere Aspekte: Viele verschiedene Motivationen und Muster arbeiten zusammen um uns an die Herde, an die Normen zu binden. Wir können versuchen einige wichtige hier zusammenzufassen.

Erstens. Wir haben uns im letzten Kapitel mit der Macht der Mimesis, der unbewussten Nachahmung beschäftigt. Von Kindheit an und während unseres ganzen Lebens, neigen wir Menschen dazu, die Handlungen – Werte, Begehren, Gefühle und Überzeugungen – anderer Menschen um uns herum ›fast automatisch‹ zu kopieren und anzunehmen. Die Mimesis selbst ist eine starke Kraft bei der Schaffung und Erhaltung von Herden. Sie verbreitet die Muster und Skripte des ›Normalen‹ und gräbt sich tief in die Körper von Kindern und Neuen Gruppenmitgliedern. Dann, als Erwachsene, imitieren und stärken Menschen, die zusammen leben und zusammen interagieren, unbewusst dieselben Muster und Skripte.

Zweitens. Die Muster und Skripte des Normalen werden dann durch Gewissensbisse und das ›Gefühl vor dem Herkommen‹ weiter verstärkt – meine eigene, tief einverleibte Angst etwas Falsches zu tun.

Dritten. Normen werden selbstverständlich nicht nur von meinem eigenen Gewissen, sondern auch von Anderen aufrechterhalten, da diese mich weiterhin belohnen oder bestrafen. Eine Sanktion kann ein finsterer Blick, ein Seufzer der Missbilligung oder ein gewaltsamer Angriff sein. Der Herdeninstinkt ist auch der Instinkt oder der Trieb Anderer, die Normen durchzusetzen: Bestrafen, beschämen, verachten oder sich einfach nur von Abweichlern, Abnormalen und Außenseiter*innen distanzieren.[34]

Viertens. Normen werden nicht nur durch Strafe und Trauma, sondern auch durch positivere Mittel aufrechterhalten. In einer Herde zu sein ist bequem, sicher und hat seine Freuden. Diejenigen, die sich an die Normen halten, werden hochgelobt, respektiert, bewundert, begehrt, gefeiert, anerkannt – gebadet im Glanz eines kollektiven guten Gewissens. Also ein weiterer Strang des Herdeninstinkts: Der Wunsch, angenommen, geschätzt und als würdiges Mitglied der Gruppe beurteilt zu werden, sich wohl und rechtschaffend zu fühlen.

Fünftens. Menschen können auch bewusst beschließen sich an die Normen zu halten. Vielleicht weil sie rationalisieren, rechtfertigen und glauben, dass die Normen richtig sind. Vielleicht weil das Befolgen der Normen in ihrem eigenen Interesse liegt, ihnen hilft ihre individuellen Projekte zu verwirklichen, zu gedeihen und Leiden zu vermeiden. Es sollte jedoch betont werden, dass in Nietzsches Denken, diese bewussteren Prozesse allgemein weniger wichtig sind als wir das üblicherweise annehmen: Unbewusste Ängste, Begehren, Gewohnheiten und Affekte sind die wichtigsten Faktoren in Richtung Konformität und Identität; bewusstes Denken bietet oft nur nachträgliche Rechtfertigungen für unsere schon verkörperten Lebensformen.

Die Herde

Wir können sagen, dass eine Herde eine Gruppe ist, die von gemeinsamen Normen zusammengehalten wird. Angehörige dieser Gruppe werden durch alle oben genannten Stränge des Herdeninstinkts (und weiteren) angehalten ihren Normen zu folgen. Diese Stränge schaffen eine Verbindung, die auf der Befolgung normativer Skripte beruht – ein Herdenleben.

Wir sollten im Hinterkopf behalten, dass die Idee der Herde, ein ›Idealtypus‹ ist: D.h. eine extreme, reine Form, die wahrscheinlich von keiner Gruppe komplett gelebt wird.[35] Einige menschliche Gruppen sind herdenmäßiger, andere weniger. Wahrscheinlich wird keine Gruppe nur durch Normen und Herdeninstinkt zusammengehalten. Viele Motivationen führen dazu, dass Menschen Gruppen bilden und pflegen: Individuelle Projekte und Eigeninteressen, Bindungen der Liebe und Affinität, sowie viele weitere. Andererseits ist vielleicht jede menschliche Gruppe eine Herde – zumindest zu einem gewissen Grad. Die Macht der Normen und des Herdeninstinkts sitzt tief und ist stark.

Herden sind überall zu finden. Obwohl große Gruppen besonders starke Herdenbestrebungen haben, kann es auch kleine Herden geben, sogar Herden von zwei oder drei. Noch einmal: »zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, [hat es] auch Menschenheerden gegeben […] (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen)« (JGB199).

Auch Rebell*innen und Anarchist*innen bilden Herden. Ein guter Ort um Herdenverhalten zu studieren ist beispielsweise ein Plenum oder eine Versammlung. In einem Plenum imitiere ich möglicherweise alles, von den Haltung, bis zu den Ideen der Anderen. Ich kann lokale Normen und Sitten erkennen und einhalten oder zumindest, wenn ich mir dessen bewusst werde, einen starken Drang verspüren dies zu tun. Vielleicht ertappe ich mich auch dabei die Angesehenen, die Alphamänner, die Charismatischen und die Rechtschaffenden zu identifizieren – und die Außenseiter*innen, die Abnormalen, die Sündenböcke und antisozialen Individuen, die den Frieden der Normen bedrohen. Ich fühle den Wunsch angenommen, gemocht, angehört, erwünscht, respektiert zu werden. Ich kann mich an Fraktionen und an Eigen- oder Fremdgruppen beteiligen. Es kann sein, dass ich mich gegen Opponent*innen und Außenseiter*innen stellen muss, vielleicht mit einer Grausamkeit, die ich mit der dringenden Notwendigkeit rechtfertigen kann einen entscheidenden Punkt klarzustellen.

Oder, auf der anderen Seite, willentlich Kontroversen anzetteln, mich an meinem Außenseiter-Status erfreuen, es genießen anders und Anderen überlegen zu sein – könnte auch dies eine Form, eine umgekehrte Form des Herdeninstinkts sein?

Kapitel 5. Individuum werden

Wir werden nicht als Individuen geboren. Individuen werden gemacht – und das immer nur unvollständig.

Das grundlegende Menschenbild in Nietzsches Denken, ist nicht das eines Individuums, sondern das eines Dividuums: Ein Leib bestehend aus Trieben, aus vielen verschiedenen Mustern, Gewohnheiten und Strukturen des Wertens, Begehrens, Handelns, Denkens, Fühlens und Werdens.

Diese vielfältigen Kräfte können in verschiedene Richtungen drängen, so dass ein Mensch ein gespaltener, vielleicht chaotischer Fluss von Kämpfen, Inkonsistenzen, Widersprüchen, Spannungen, Abenteuern und Momenten des Zögerns ist. Oder ein Körper kann zu einem stabileren Wesen werden, mit vorhersagbaren Routinen, festen Gewohnheiten, bestimmenden Trieben – und vielleicht auch fortdauernde Bestrebungen, langfristigen Verbindlichkeiten und Lebensprojekten.

Nietzsche verwendet den Begriff ›Individuum‹ in seinen Arbeiten auf unterschiedliche Weise. Manchmal bestreitet er, dass Individuen überhaupt existieren. Häufig möchte er den Begriff für menschliche Körper einer bestimmten Art reservieren: Wir sind nicht alle Individuen oder zumindest nicht die ganze Zeit, aber Individualität ist etwas, dass wir anstreben. Einer seiner stärksten Beiträge zu dieser Frage, ist die Idee des »souveränen Individuums«, die er in der Genealogie (GM2: 1-3) diskutiert.

Das souveräne Individuum

Ein ›souveränes Individuum‹ ist in erster Linie ein Körper, der relativ geordnet und kohärent geworden ist und nicht einfach nur in viele widersprüchliche Richtungen gezogen wird. Aber es ist auch mehr als das: Wie Nietzsche es ausdrückt, ist das »souveräne Individuum« eine Person, die »das Recht erworben hat, Versprechen zu machen« (GM2: 2). Oder noch allgemeiner: Die Fähigkeit sich selbst zu steuern, sich auf Projekte festzulegen und sie durchzuziehen. Dies ist entscheidend, weil es auch die Grundlage für eine weitere Macht ist: Die Macht sich selbst zu verändern, sich selbst zu etwas Neuem zu machen.

Wie werden wir zu souveränen Individuen? Nietzsche zufolge ist dies nicht einfach und beinhaltet schwierige und schmerzhafte Trainings- oder Bildungsprozesse. Ein souveränes Individuum ist ein Wesen, das Souveränität und Selbstbestimmung entwickelt hat und somit in der Lage ist, aktiv an sich selbst zu arbeiten. Hier kommen wir zu einem Gedanken, der paradox erscheinen kann oder zumindest noch etwas Bearbeitung bedarf. Denn wir können nicht von alleine zu einem solchen Individuum werden, sondern werden vielmehr durch soziale Kräfte in die Individualität hineingeformt, vielleicht sogar gezwungen.

Das Recht Versprechen zu geben

Das zweite Essay der Genealogie beginnt folgendermaßen:

»Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?« (GM2:1)

Zunächst einmal, so Nietzsche, muss ein solches Tier eine besondere Art der Erinnerung und des Verlangens entwickeln:

»ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtniss des Willens: so dass zwischen das ursprüngliche ›ich will‹ ›ich werde thun‹ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen Akt, unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt. Was setzt das aber Alles voraus!« (ebd.)

Stellen wir uns zwei Momente oder zwei Handlungen vor:

-

Zuerst sage ich: ›Ich werde diese Sache machen‹.

Vielleicht sage ich diesen Satz laut zu Anderen: Etwa ›Ich werde morgen mit dir zusammen dort sein‹. Vielleicht sage ich es still zu mir selbst. Vielleicht ist es eine Aktion, die ich morgen, in zehn Jahren oder genau jetzt ausführen möchte. In jedem Fall ist diese Aussage selbst eine Handlung: Denken wir daran, in Nietzsches anti-dualistischer ›Psycho-Physiologie‹ ist ein stiller Gedanke eine Bewegung des Körpers, genauso wie ein Flüstern oder ein Ruf oder eine kraftvolle Tat (»auch dein Urtheilen zum Beispiel ›so ist es recht‹ ist eine Handlung« (FW335); siehe die betreffende Diskussion in Kapitel 2).

-

Später dann, tue ich es

Diese zwei Aktionen, zwei Momente, sind durch eine Zeitspanne voneinander getrennt, auch wenn es nur ein Sekundenbruchteil ist. In Nietzsches psychologischem Bild ist ein menschlicher Körper ein dividueller Körper aus vielen verschiedenen, oft widersprüchlichen und sich oft verändernden ›Triebmustern‹, also Mustern der Bewertung, des Begehrens und des Handelns. In einem einzigen Moment können verschiedene Triebe einen Körper in verschiedene Richtungen ziehen. In zwei verschiedenen Momenten, können ganz unterschiedliche Triebe im Spiel sein.

Um einige Beispiele zu nennen: In einem Moment kann ich es wirklich ›ernst meinen‹, dass ich morgen mit dem Rauchen aufhören, dass ich Stellung beziehen und kämpfen will, dass ich dich für immer lieben und dass ich beim nächsten Mal definitiv pünktlich sein werde etc. Aber in einem anderen zukünftigen Moment können die Kräfte, die mein Handeln prägen, ganz andere sein. Das heißt, dass sich nicht nur die ›innere‹ Ausrichtung von Werten, Begehren, Überzeugungen, Ideen ›in‹ mir, sondern auch das Zusammenspiel meines Körpers mit der Welt ändert – eine Freundin drängt mich dazu etwas mit ihr zu trinken, es gibt einen Busstreik, jemand verrät mich bei den Bullen oder ich bin vom Duft eines Parfüms fasziniert, das starke Erinnerungen hervorbringt etc.

Es ist also sicherlich nicht der Fall, dass die Leute immer das tun, was sie zu tun versprechen – auch wenn sie in dem Moment, in dem sie eine Absicht äußern, wirklich das Gefühl haben, dass sie dies tun werden. Aber manchmal tun sie es eben doch. Und manche mehr als andere. Wie ist das möglich?

Zurück zu Nietzsche:

»Was setzt das aber Alles voraus! Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst berechenbar, regelmässig, nothwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellungen […]« (GM2:1)

Ich möchte diesen Punkt noch einmal klar formulieren. Es gibt hier zwei wichtige Faktoren. Erstens, ein Mensch muss, um Verbindlichkeiten eingehen zu können, ›regelmässig‹ und konsistent werden: Das heißt, die gleichen Triebe, die gleichen Werte und Begehren formen und leiten ihn über die Zeit hinweg. Zweitens, eine Verbindlichkeit einzugehen, beinhaltet auch eine Form des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins: Es ist nicht nur so, dass ich dauerhaft konsistent bin, sondern dass ich mich auch selbst so kenne. Nicht nur, dass ich kalkulierbar bin, sondern auch, dass ich mich selbst und wie ich mit der Welt um mich herum interagiere, einberechne.

Ordnungsprozess

Der nächste Abschnitt der Genealogie greift den ersten dieser beiden Punkte auf. Nietzsche schreibt hierzu:

»Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen.« (GM2:2).

Im Weiteren beschreibt Nietzsche uns, wie das Funktionieren kann: Es ist die Aufgabe der ›Sittenmoral‹, der Herde und ihrer Normen:

»Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir ›Sittlichkeit der Sitte‹ genannt worden ist – die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht« (ebd).

Wir haben uns bereits im letzten Kapitel mit der Sittenmoral und der damit verbundenen Idee des Herdeninstinkts beschäftigt. Zusammenfassend gibt es eine Reihe von Prozessen im ›Herdeninstinkt‹, durch die Menschen in gesellschaftliche Gruppen geordnet, ausgebildet, trainiert und dadurch ›normal‹ gemacht werden:

Erstens: Die Ordnung durch die Mimesis: Von Kindheit an ›kopieren‹ und übernehmen wir fast automatisch die Handlungen, Werte, Begehren, Gefühle und Überzeugungen der Anderen um uns herum.

Zweitens: Normale Muster und Skripte werden dann durch Gewissensbisse, durch das ›Gefühl in Bezug auf die Tradition‹ weiter verstärkt: Die tief einverleibte Angst, etwas Falsches zu tun.

Drittens: Die Normen werden durch Sanktionen, einschließlich Gewalt und Scham, aufrechterhalten, die von anderen Mitgliedern der Herde angewandt werden.

Viertens: Sie werden auch durch Belohnungen, einschließlich dem angenehmen Glanz der Konformität, der Akzeptanz und des Status, positiv bestärkt.

Fünftens: Menschen können auch lernen die verinnerlichten Normen zu rationalisieren und bewusst zu rechtfertigen.

An verschiedenen Stellen betont Nietzsche verschiedene Aspekte dieser Prozesse. In Morgenröthe entwickelt er insbesondere die Idee der Mimesis, der tief sitzenden Tendenzen zur Nachahmung und zur Sozialität. In der Genealogie legt er besonderen Wert auf die Rolle repressiver und traumatischer Gewalt.

»Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.« (GM1:3).

Im Allgemeinen sehen wir Prozesse dieser Art miteinander interagieren, da sie dazu beitragen, einen aus verschiedenen Trieben bestehenden Körper in etwas Regelmäßigeres und Vorhersagbares zu formen.

Selbst-Bewusstsein und Sprache

Aber die Ordnung des Körpers durch Herdenprozesse reicht nicht aus, um ein souveränes Individuum zu machen: Es handelt sich nur um die ›Vorbereitungsphase‹. Nietzsche nennt eine ganze Reihe weiterer Fähigkeiten, die Menschen benötigen, um Verbindlichkeiten einzugehen:

»[So] muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können« (GM2:1).

Ich werde nicht alle Fähigkeiten im Detail betrachten, sie haben jedoch mindestens eine grundlegende Gemeinsamkeit: Sie alle beinhalten eine Form des Bewusstseins – und insbesondere des Selbstbewusstseins. Wie wir gesehen haben, betont Nietzsche die Wichtigkeit unbewusster Prozesse. Das bedeutet aber nicht, dass das Bewusstsein überhaupt keine Macht hätte. Es ist der Schlüssel zur Individualität und zu unserer Fähigkeit, uns selbst zu reflektieren, zu verstehen und so zu verändern.

Eine von Nietzsches wichtigsten Diskussionen über das Bewusstsein findet sich in Die fröhliche Wissenschaft, FW354.

»Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls ›handeln‹ in jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns ›in’s Bewusstsein zu treten‹ (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe«

Und doch haben wir ein Bewusstsein. Also, fragt Nietzsche: Warum und wofür ist es gut? Zusammenfassend ist seine Antwort darauf, dass der Mensch neben der Sprache das Bewusstsein als kommunikatives Instrument entwickelt hat. Als schwache Herdentiere mussten die frühen Menschen ihre Gefühle einander ausdrücken – insbesondere in Notsituationen. Dazu brauchten sie Wörter und andere Zeichen, um diese Zustände zu kennzeichnen. Sie mussten aber auch in der Lage sein, die zu kommunizierten Zustände zu identifizieren. Also: Einige Gedanken (und Gefühle usw.) sind bewusst, weil unsere Vorfahren die Fähigkeit entwickelt haben mentale Zustände reflektierend zu verfolgen oder zu beobachten, um über sie zu sprechen.

Diese Verfolgungskapazität ist jedoch sehr begrenzt, da nur die Zustände erfasst werden, die anhand sprachlicher Zeichen identifiziert und ausgedrückt werden können. Und viele Aspekte unseres Seelenlebens können nicht durch die Sprache erfasst werden, da: »die Welt, dere[r] wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt« (FW354). Das sprachliche Bewusstsein erfasst nur die »superlativische Grade« unserer geistigen Aktivität (M115); es vermisst das, was »auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell [ist]« (FW354).

Mattia Riccardi (2015), ein aktueller Nietzsche-Forscher, fasst zusammen: »Nietzsche scheint zu behaupten, dass wir unsere eigenen mentalen Zustände im Lichte einer sozial entwickelten ›Theorie des Geistes‹ neu interpretieren: Wir schreiben uns selbst die gleiche Art von mentalen Zuständen zu, die wir gelernt haben, anderen zuzuordnen«.

Um es klarzustellen, nicht jedes Bewusstsein ist sprachlich. Wir haben einige Arten von Bewusstsein, die nicht durch die Sprache strukturiert sind. Wir sind uns der Empfindungen, Gefühle, Farben, Düfte, Emotionen usw. auf vielen verschiedenen Arten bewusst, und nicht alle davon können in Worte gefasst werden. Wovon Nietzsche hier spricht, ist wirklich nur eine bestimmte Art von Bewusstsein – aber eines, das sicherlich ein wichtiges Merkmal unseres mentalen Lebens darstellt. Es ist das Bewusstsein der Reflexion und Selbstbeobachtung, des überlegten Denkens, welches von einer Art innerem Monolog oder Geschwätz begleitet wird. Wir könnten es ›reflektierendes Bewusstsein‹ nennen. Und was auch immer wir über Nietzsches pseudo-evolutionäre Erzählungen denken mögen, es ist sicherlich an die Sprache gebunden und von ihr geprägt.

Es kann helfen, hier eine jüngere Darstellung über die Beziehung zwischen Sprache und reflektierendem Bewusstsein des sowjetischen Entwicklungspsychologen Lev Vygotsky einzubringen, der starke Parallelen zu Nietzsches Erzählung aufweist und diese ergänzt.

Ganz kurz gefasst sagt Vygotsky, dass das reflektierende Bewusstsein mit sozialen Interaktionen beginnt, bei denen Kinder mit »komplizierten Aufgaben« konfrontiert werden (vgl. 1976:27), die sie nicht allein lösen können und so sprachliche Zeichen verwenden, um Erwachsene um Hilfe zu bitten. Dann ›verinnerlichen‹ sie diese Sprachmuster (in einem etwas anderen Sinne als Nietzsches) durch das, was als ›inneres Sprechen‹ [oder auch ›egozentrisches Sprechen‹] beginnt, d.h. plappern und mit sich selbst sprechen. »Anstatt den Erwachsenen anzusprechen, sprechen die Kinder sich selbst an; die Sprache übernimmt also neben ihrem zwischenmenschlichen Gebrauch auch eine intrapersonelle Funktion« (ebd).

Schließlich wird die private Verbalisierung zu einem stillen inneren Monolog – oder Dialog, da die Stimme des Bewusstseins mehr als eine Rolle spielen kann. Nietzsches Schlussfolgerung ist, dass »das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist« (FW354). Vygotskys folgend organisieren Sprachbenutzer*innen »ihre eigenen Aktivitäten nach einer sozialen Verhaltensform, es gelingt ihnen, eine soziale Einstellung auf sich selbst anzuwenden« (1976:27).

Gegenwärtige Entwicklungspsycholog*innen wie Katherine Nelson (2007) haben diese Prozesse weiter untersucht: Vor allem, wie kleine Kinder sich, oft in zunächst lautstark plappernden Monologen, durch die sie umgebende Welt sprechen und denken. Während wir plaudern, fragen und erklären, lernen wir soziale Kategorien auf unsere eigenen Erfahrungen und Gefühle sowie auf die anderer Menschen anzuwenden. Wir beginnen unsere mentalen Zustände mit Worten und Ideen aus den Kulturen um uns herum zu kennzeichnen. Wir lernen auch Erklärungsmuster zu verwenden, mit ihnen kennzeichnen wir Ursachen und Wirkungen, Mittel und Ziele. Wir übernehmen sie in der Anwendung von ›Theorien des Geistes‹, die in die ›Alltagspsychologie‹ integriert sind, die wir von Erwachsenen und anderen Kindern um uns herum beigebracht bekommen. Dazu gehört auch zu lernen, Andere, wie auch uns Selbst, als Individuen zu identifizieren; als Wesen mit stabilen, fortdauernden Identitäten.

So, wie Nietzsche es ausdrückt, lernen wir, die Handlungen anderer, aber auch unsere eigenen Handlungen »rechnen, berechnen [zu] können« (GM2:1).

Wie Nietzsche immer wieder sagt, sind Sprachbewusstsein und Alltagspsychologie voller Fehler, Missverständnisse und Vereinfachungen. Wir rechnen und berechnen, aber mit rohen, vererbten Werkzeugen. Dennoch haben uns diese groben Mittel zu erstaunlichen – und tödlichen – Tieren gemacht.

Interventionen

Die Ordnungsprozesse des Herdeninstinktes machen uns zu normierten, berechenbaren Wesen. Die Verinnerlichung von Sprache und der Theorie des Verstandes machen uns zu selbstbewussten Wesen, die in der Lage sind zu kalkulieren. Beides sind notwendige Voraussetzungen, um ein souveräner Mensch zu werden. Aber es steckt noch mehr dahinter.

Ich kann die zukünftigen Handlungen einer anderen Person, etwa des Präsidenten der Vereinigten Staaten vorhersagen, ohne irgendeine Macht oder Einfluss darauf zu haben, ob diese Vorhersage wahr wird. Ich kann dies tun, weil der Präsident relativ vorhersehbar ist und weil ich das Wissen und die Fähigkeit habe, seine Handlungen zu berechnen.

Manchmal ›berechne‹ ich auch meine eigenen Handlungen in ähnlicher Weise. Wie wenn jemand sagt: ›Wenn ich dich sehe, werde ich wahrscheinlich etwas tun, was ich bereue‹; oder ›wenn ich dorthin gehe, weiß ich, dass ich nicht in der Lage sein werde, damit umzugehen.‹ Denn auch ich bin relativ berechenbar, ich kann eine Vorhersage darüber machen welche Werte, Begehren, Gewohnheiten und andere Muster in Zukunft in einem bestimmten Kontext in mir aktiv sein werden und somit was ich vermutlich tun werde.

Aber eine Verbindlichkeit, ein Versprechen, eine Absichtserklärung ist mehr als das. Der Akt ein Versprechen zu geben – sofern es denn auch echt ist – beeinflusst selbst schon meine Zukunft. Es ist nicht nur eine Beobachtung oder Vorhersage über die Kräfte, die meinen Körper bewegen, es ist auch eine Intervention in diese Kräften. Im Sinne von Nietzsches Psychologie: Ein (ernsthaftes) Versprechen ist eine Handlung, die die zukünftige Zusammensetzung der Triebe meines Körpers, meiner Werte und Begehren mitgestaltet.

Wie funktioniert das? In ähnlicher Weise, wie jede andere Art von Aktion meine zukünftige Psycho-Physiologie prägen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, bestimmte Werte, Begehren, Überzeugungen, Ideen, Gefühle usw. in anderen Menschen und in uns selbst zu stimulieren. Zum Beispiel kann ich einen Wecker stellen, mir eine Notiz schreiben, einen Knoten in mein Taschentuch binden, mich maßregeln, an der offenen Tür eines Cafés vorbeigehen, in eine neue Umgebung ziehen, eine Pille nehmen, mitreißende Musik auflegen, einen bewegenden Film ansehen, einen geliebten Menschen anrufen, laufen gehen, mich an eine Verbindlichkeit erinnern, die ich eingegangen bin…

All diese Aktionen sind Interventionen in meinem Leib, meinen aus Trieben zusammengesetzenden Körper. Alle von ihnen werden einen gewissen Einfluss auf meine zukünftigen mentalen Zustände und Prozesse haben. Und wenn ich gelernt habe, mich selbst überhaupt zu kennen, kann ich mit diesen Interventionen mein zukünftiges Handeln gestalten.

Zum Beispiel kann ein Versprechen zu geben, ein solches Instrument sein, das dabei hilft, zukünftige Aktivitäten mitzugestalten. Wie funktioniert das? Um nur eine Möglichkeit zu nennen: Als Kind wurde mir der Wert eines Versprechens eingebläut, so dass er zu einem tief einverleibten Trieb wurde. Nun, wann immer ich ein Versprechen gebe, ist dies ein Trigger (Nietzsches ›Mnemotechnik‹), der den tiefen Wunsch weckt, Versprechen auch einzuhalten. Vielleicht ist der stimulierende Akt stärker, wenn es sich um eine mit Blut signierte oder vor Zeug*innen laut ausgesprochene Aussage handelt. Es könnte aber auch einfach nur ein ›Sprechen zu mir selbst‹, in einem internen Ereignis des reflektierenden Bewusstseins sein. In jedem Fall, wird dieses Begehren, wenn es erst einmal aktiv ist und lebendig bleibt, zu einem Faktor im ›Kampf der Motive‹, bewusst und unbewusst, der meine zukünftigen Handlungen prägt. Wenn es stark genug ist, sich gegen andere konkurrierende Wünsche durchzusetzen, dann werde ich meine Aussage in die Tat umsetzen und mein Versprechen halten.

Ein souveräner Mensch, ein ›ein Thier […], das versprechen darf‹, ist also folgendes: Ein geordneter und selbstbewusster Leib, der so zusammengesetzt ist, dass, wenn er*sie eine verbindliche Zusage macht, dies nicht nur heiße Luft, sondern ein Werkzeug zur Gestaltung zukünftiger Tätigkeiten ist.

Es ist eine gute Idee, sich hier in einem Punkt im Klaren zu sein. Ein souveräner Mensch hat nicht eine Art von magischem ›freien Willen‹, der anderen Sterblichen fehlt. Wie andere Tiere, ist auch ein souveräner Mensch ein aus weitgehend unbewussten Trieben und unterschiedlichen Mustern der Bewertung, des Begehrens und Handelns zusammengesetzter Körper. Aber die Psycho-Physiologie dieses Körpers ist in gewissen Maße geordnet, trainiert und reguliert worden, was es ihm erlaubt effektiv bewusste Versprechen zu machen. Was wiederum größtenteils auf tief einverleibte und unbewusste Prozesse zurückzuführen ist.[36]

Selbst-Transformation

Wir können das Paradoxon der menschlichen Individualität bei Nietzsche nun begreifen, wenn es denn ein Paradox ist. Jeder Schritt auf diesem Weg, macht das souveräne Individuum zu dem, was es ist, nämlich einem Produkt sozialer Prozesse, über die es zu großen Teilen keine Kontrolle hat. Seine Triebe wurden nach externen Normen angeordnet und reguliert. Es hat Selbst-Bewusstsein entwickelt, indem es sprachliche Muster und plumpe Alltagspsychologische Theorien verinnerlicht hat. Die Fähigkeit selber in zukünftige Begehren einzugreifen, ist auf unbewusste Muster zurückzuführen, die aus dem sozialen Umfeld übernommen wurden.

Und doch ist das Ergebnis ein Wesen, das in der Lage ist, sich neu zu erschaffen. Es kann bewusste Reflexion nutzen, um sich selbst zu beobachten und zu verstehen und neue Pläne und Projekte zu formulieren. Mit Interventionsmitteln kann es nicht nur Versprechungen gegenüber Anderen machen, sondern auch bewusst an sich selbst arbeiten, um zukünftige Werte, Begehren und Praktiken zu gestalten. Es kann diese Werkzeuge benutzen, um die Macht der Normen im eigenen Körper aufzudecken und zu unterlaufen, also bekämpft und überwindet es die eigene Bindung an die Werte, Begehren und Praktiken der Herde.

Nietzsches Bild vom souveränen Individuum ist ein ›Idealtyp‹, der idealisierter Fall einer Person, die eine starke Macht zur Selbst-Kontrolle und Selbst-Bestimmung hat. Generell haben menschliche Individuen – jedoch in unterschiedlichem Maße – die Macht Versprechen einzugehen und auf andere Weise in ihre eigene Psyche zu intervenieren. Diese Macht kann zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten stärker oder schwächer sein.

Diese Macht ist niemals total. So sehr ich mich auch selbst kenne und meine Werkzeuge und Fähigkeiten der Selbst-Analyse und Selbst-Transformation entwickle, es wird immer viele Kräfte und Muster geben, die mein psychisches Leben prägen, die ich nicht verstehe und nicht vollständig kontrollieren kann. Es macht Sinn zu sagen: Individuen können in ihre eigene Psyche eingreifen, so wie sie in die soziale und materielle Welt um sie herum eingreifen können – also mit mehr oder weniger Macht. Aber wenn wir ›souverän‹ sind, ist das nur in einem ganz begrenzten Sinne der Fall: Wir sind eher konstitutionelle Monarchen oder eine eingesetzte Marionettenregierung, als Herrschende und Obrigkeit von allem, was wir überblicken.

Tatsächlich hat Nietzsche einige andere Bilder, die ein besseres Gesamtbild vermitteln als die Idee der Souveränität. In Morgenröthe verwendet er das Bild eines Gärtners der Triebe, eines oder einer Selbstkultivierenden:

»Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst […]« (M560).

In Die Fröhliche Wissenschaft denkt er an eine*n Künstler*in, als eine Art Bildhauer*in des Selbst, die die »grosse und seltene Kunst« beherrscht ihrem »Charakter ›Stil [zu] geben‹«. Diese Kunst:

»[Ü]bt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran.« (FW290).

Das Individuum wird nicht geboren, sondern gemacht. Es scheint nicht unbefleckt von irgendeiner puren prä-sozialen Quelle zu sein. Es beginnt in erster Linie durch ›äußere‹ Kräfte, einschließlich der Normen der Herde, gemacht zu werden. Aber während es sich entwickelt, erwirbt es auch Kräfte um in sein eigenes Schaffen einzugreifen und es zu gestalten, bis hin zum Bekämpfen und Verwerfen der Werte der Herde. Es wird zum selbst-transformierenden Individuum. Dies ist ein schwieriger und endloser Prozess der kontinuierlichen Rekonstruktion, des Rückgängigmachens und Wiederherstellens, der Praxis, der Arbeit, des Könnens, der Schmerzen und des Kampfes – aber auch der Schönheit, der Freude und des Glücks.

Praktiken des Selbst

Als Nachwort sei ein weiterer Philosoph erwähnt, der zu diesen Fragen wichtiges zu sagen hat, Michel Foucault. Foucaults Ansatz ist stark von Nietzsche beeinflusst, aber er fügt weitere Untersuchungsgebiete hinzu.

Wo Nietzsche über das ›souveräne Individuum‹ spricht, verwendet Foucault die Idee des ›Subjekts‹. Wie Nietzsches souveränes Individuum, wird Foucaults Subjekt nicht vorgefertigt geboren, sondern muss durch Prozesse ›konstituiert‹ werden, die einerseits soziale Kräfte und ihre Machtverhältnisse, aber andererseits auch den aktiven Beitrag des Subjekts selbst einbeziehen. Foucault führt den Begriff ›Subjektivierung‹ ein und meint damit »den Prozess […], durch den man die Konstitution eines Subjekts, genauer, einer Subjektivität erwirkt, die offensichtlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten zur Organisation eines Selbstbewusstseins ist« (S4:871).

Wie das Zitat vermuten lässt, denkt Foucault, dass ein Körper zahllose Selbst-Identitäten oder Subjektivitäten haben kann: »Sie haben zu sich selbst nicht dieselbe Art von Verhältnis, wenn Sie sich als politisches Subjekt konstituieren, das zur Wahl geht oder das in einer Versammlung das Wort ergreift, als wenn Sie versuchen, Ihr Begehren in einer sexuellen Beziehung zu verwirklichen« (S4:888). Im Allgemeinen ist Subjektivität eine Art, auf welche ein Individuum »durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist« (S4:275).

Einer von Foucaults wichtigsten Beiträgen in seinem späten Werk, ist die Studie darüber, wie »sich das Subjekt auf aktive Weise, durch Praktiken des Selbst, konstituiert« (S4:889). Foucaults Idee der ›Praktiken des Selbst‹ ist sehr nahe an der Diskussion über Werkzeuge zur Selbst-Intervention, sowie an Nietzsches selbstgestaltendem Individuum und der Gärtnerei der Triebe. In seinen historischen Studien schaut sich Foucault detailliert einige westliche Traditionen der Selbstkultur an. Darunter die philosophische Begleitung unter griechischen Philosophen und ihrer Jüngerschaft, wie auch mittelalterliche konfessionelle katholische Praktiken und christliche »pastorale Macht« im Allgemeinen (etw. S4:171). Ein wichtiger Punkt ist, dass sogar die Praktiken mit denen wir uns transformieren »nicht etwas sind, was das Subjekt selbst erfindet. Es sind Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind« (S4:889). Wir sind also immer sowohl gemacht, als auch selbst-machend.

Kapitel 6. Sklavenmoral

Wir haben eine kurze Tour durch das Herzstück von Nietzsches Psychologie gemacht. Der Mensch ist ein dividueller Leib aus Trieben, der sich aus vielen verschiedenen und sich verändernden Mustern der Bewertung, des Begehrens und Handelns zusammensetzt. Wir greifen diese Muster aus den uns umgebenden sozialen Welten auf und machen sie uns zu eigen. Unsere Körper sind nach herdenmäßigen Normvorstellungen geordnet. Aber wir entwickeln auch ein Selbst-Bewusstsein und damit eine gewisse Kraft, uns zu verstehen und neu zu erschaffen, indem wir zu selbst-gestaltenden Individuen werden.

Wir wählen das Material nicht aus, an dem wir arbeiten müssen. Wir sind geschaffen worden, von uns selbst, aber auch von anderen. Welche Werte, Begehren und Praktiken in unseren Körper eingebracht werden, hängt von den Kulturen ab, in die wir geboren werden und aufwachsen.

Nietzsche hat eine sehr pluralistische Sicht der menschlichen Psychologie. So denkt er zum Beispiel, dass die alten Griech*innen, die Europäer*innen des 19. Jahrhunderts, oder Leute aus dem China des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Arten des Wertens hatten. Er verspottet und kritisiert ›naive‹ Psycholog*innen, die nur ihre eigenen Moralvorstellungen und Gewohnheiten auf vergangene Generationen projizieren und sich vorstellen, dass diese ewig Gültigkeit hätten (siehe GM1:1-2, 2:12). Selbst ein einziges Individuum kann ein Malstrom aus multiplen und widersprüchlichen Trieben sein. »Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten« (FW7).

Es gibt also keine zeitlosen Universalien, keine feste ›menschliche Natur‹. Aber es gibt lokale und temporäre Beständigkeiten: Menschen, welche die gleichen Umgebungen und Geschichten teilen, werden sicherlich ähnliche psychologische Muster haben, insbesondere wenn sie durch Normen und gemeinsame soziale Skripte miteinander verbunden sind.

Ein Großteil von Nietzsches Arbeit konzentriert sich auf das Studium einiger psychologischer Muster, die seiner Meinung nach tief in der modernen europäischen Kultur und der christlichen Moral verankert sind. Diese Muster – Ressentiment, schlechtes Gewissen und das ›asketische Ideal‹ – sind Krankheiten, die uns schwach machen. Sie machen uns passiv, unterwürfig und anfällig für Konformität und Herrschaft. Wir haben sie von unseren Vorfahr*innen geerbt, durch die Verbindung vieler kultureller Linien und Begegnungen und wir infizieren immer wieder neue Opfer. Nietzsches umfangreiche Arbeit Die Genealogie Der Moral ist eine Studie über diese Krankheiten, die, wie er denkt, die Psyche des modernen Menschen dominieren.

Nietzsches Geschichte des Staates

In der Genealogie erzählt Nietzsche uns seine, fiktionale und nicht überprüfbare Sicht darüber, wie die Dinge so geworden sind, wie sie sind. Sie können als historische Spekulationen gelesen werden – in diesem Fall sind einige faszinierend, andere böse, wieder andere von der Anthropologie und Linguistik des 20. Jahrhunderts leichtfertig abgetan und einige noch immer aktuell. Und/oder sie können als psychologische Essays gelesen werden, die die wichtigsten Ideen Nietzsches über Triebe und Leib durchexerzieren und überprüfen.

Ich beginne mit einem der zentralen Teile im Puzzle der Genealogie: Nietzsches Erzählung über die Anfänge des Staates, des »kälteste[n] aller kalten Ungeheuer« (Z: I: Von Neuen Götzen). In »vorhistorische[n]« (GM2:2) Zeiten, so Nietzsche, lebten die Menschen in »ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft[en]« (GM2:19), regiert von Herdeninstinkt und Sittenmoral. Stämme hatten Statusfiguren: Der ›Medicinmann‹, Prophet*innen und Märtyrer*innen, die neue Werte schufen (M14, M18). Individuen imitierten und übernahmen die Werte derjenigen, die für »[ihren] Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit« (M104) geschätzt wurden. Aber sie waren weitgehend egalitär, alle mehr oder weniger gleich in ihrer abergläubischen Uniformität.

Die Herdenmoral macht, wie wir gesehen haben, den menschlichen Körper dumm und starr. Aber sie bringt ihm auch Kräfte. Eine einfache und starre Strukturierung von Trieben macht Körper nicht nur berechenbar, sondern auch stark. Stärke in Individuen kommt typischerweise aus einer »Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie« (MA228; siehe auch MA229, 230). Ein Körper, dessen Muster harmonisch, konsistent und geordnet sind, wird konzentrierter handeln.[37]

Diese gilt auch für kollektive Körper. Eine starke Kultur ist eine, deren Mitglieder die »gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze« teilen (MA224). Der starke ›edle‹ Stamm ist eine Gruppe, die besonders »streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind« (GM1:11), durch die »Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht« (GM2.19). Sie gewinnt an Stärke durch »Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form« (JGB262), die auf einem strengen moralischen Code der »Unduldsamkeit« (ebd.) beruht.

Was jetzt passiert, ist die große Katastrophe. Der starke ›edle‹ Stamm wird zu einem bösartigen »Rudel blonder Raubthiere« (GM2:17). Er überwältigt schwächere Stämme in einem Eroberungskrieg (GM2:17) und richtet den Staat ein: eine hierarchisch geordnete Gesellschaft, in der der edle Stamm zu einer ›herrschenden Kaste‹ und die schwachen Stämme zu einer untergeordneten Sklavenkaste werden.

Um Nietzsches Geschichte des Staates zu verstehen, kann es helfen, mit einem idealisierten Fall totaler Herrschaft zu beginnen, in dem es den Erobernden gelingt, eine vollständig geschlossene Kastengesellschaft zu schaffen. In Jenseits von Gut und Böse stellt sich Nietzsche eine aristokratische Gesellschaft vor, in der die Besiegten vollständig instrumentalisiert werden: Sie sind »Unterthänige und Werkzeuge« (JGB257); »zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert« (JGB258). Der*die Sklav*in schafft keine eigenen Werte, sondern empfängt nur passiv Ideen und Wünsche, wie Anweisungen von oben: »gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass [der gewöhnliche Mensch] sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen)« (JGB261).

Was die ›Edlen‹ betrifft, so erscheinen sie in verschiedenem Lichte. Für die Sklav*innen sind sie schreckliche »Raubthiere«, »frohlockende Ungeheuer« (GM1:11). Untereinander sind sie respektvolle Freund*innen und Gleichgestellte (ebd). Sie sind auch staatsbildende ›Künstler‹, die einen sozialen Organismus schaffen: »ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein ›Sinn‹ in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist« (GM2:17). Nietzsches Elitismus bekommt nun viel Aufwind in seiner Vorstellung, dass der soziale Körper »nur als Unterbau und Gerüst [existiert], an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag« (JGB258) – nämlich der Schaffung einer hohen ›Kultur‹.

Ein Punkt, der im Laufe der Erzählung wichtig sein wird, ist, dass eine strenge kulturelle Trennung zwischen den beiden Kasten aufrechterhalten wird. Nietzsche betont, wie die Herrschenden einen »Pathos der Distanz« (JGB257), eine emotionale Trennung von den Sklav*innen bewahren. Die Sklav*innen sind für sie nur Lasttiere. Die Edlen erhalten ihre Herrschaft durch eine »beständig[e] Übung im Gehorchen und Befehlen«, die mit repressiver Gewalt durchgesetzt wird. Aber sie beherrschen nur aus der Ferne: Im »Ausblick und Herabblick«, im »Nieder- und Fernhalten« (JGB257). Der*die Edle »trennt die Wesen von sich ab« und »verachtet sie« (JGB260); verachtet es, sich den Räumen der Sklav*innen zu nähern, die »stink[en]« (GM1:14).

Eigentlich ist die Genealogie aber die Geschichte, vom Scheitern des Ideals der totalen Herrschaft. Um es mit Foucault zu umschreiben: Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Die Werte und Begehren der Sklav*innen werden nicht ganz ausgelöscht. Sie werden in den Untergrund gedrängt und transformiert.

Internalisierung

Die Ankunft des Staates war für die Versklavten »ein unabweisbares Verhängniss, gegen das es keinen Kampf […] gab« (GM2:17). Das Herdenleben begrenzt den Menschen bereits in der ›sozialen Zwangsjacke‹ der Bräuche, aber der Staat bringt die Dinge auf eine ganz neue Ebene. Das große Problem für die Versklavten ist, dass sie die Schläge, Beleidigungen, Demütigungen und Ausbeutung, die sie erfahren, nicht ›vergelten‹ können. Sie können ihre ›aggressiven Instinkte‹, Werte und Begehren, die nach einem Rückschlag schreien, nicht in Aktionen ausdrücken. Nietzsche schreibt, dass das Aufkommen der Staatsgesellschaft den Menschen zu einem »an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende[n] Thier« (GM2:16) gemacht hat.

In einer zeitgenössischen Sprache formuliert, würde Nietzsche eine Erfahrung von psychologischem Trauma beschreiben. Die feministische Psychiaterin Judith Herman, eine Pionierin in der Erforschung von Traumata, schreibt:

»Psychisches Trauma ist das Leid der Ohnmächtigen. Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. [] Traumatische Ereignisse sind nicht deshalb außergewöhnlich, weil sie selten sind, sondern weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern.« (1997:45).

Sehr zusammenfassend: Die grundlegenden Phänomene des psychologischen Traumas treten auf, wenn Körper Bedrohungen ausgesetzt sind, die Gefahrenreaktionen auslösen – Erregung des sympathischen Nervensystems, wodurch ein adrenalingeladener Alarmzustand entsteht – der dann in der Außenaktion nicht mehr ›entladen‹ werden kann (wie Nietzsche es ausdrückt). Die Auswirkungen von chronischen, verlängerten Traumata, wie sie von vielen Gefangenen erlebt werden, sind die schwerwiegendsten. Herman untersucht, wie Entführer*innen über Gefängnis- und KZ-Wachen, bis hin zu Täter*innen bei häuslicher Gewalt, Trauma als Waffe einsetzen:

»Die verschiedenen Methoden zur Versklavung eines anderen Menschen sind erstaunlich einheitlich. Herrschaft über einen anderen Menschen erlangt man, indem man ihm systematisch und wiederholt psychische Traumata zufügt. Solche Methoden basieren auf dem bewussten Einsatz von Techniken, die das Opfer entmachten und isolieren.« (ebd:90)


»Alle psychischen Strukturen des Selbst das Körperbild, die inneren Bilder anderer Menschen, die Wertvorstellungen und Ideale, die Kohärenz und Sinn verleihen - wurden untergraben und systematisch zerstört.« (ebd:106)

Im Sinne von Nietzsches Psycho-Physiologie stört und zerschlägt das chronische Trauma die Ordnung eines aus diversen Trieben zusammengesetzten Körpers. Es kann gefestigte Individuen in fraktale Dividuen zerlegen und Symptome wie obsessives Verhalten oder verdrängte Erinnerungen, dissoziative Katatonie oder gespaltene Persönlichkeiten verursachen.

Damit kommen wir zu einer der wichtigsten und einflussreichsten psychologischen Ideen Nietzsches, der Theorie der Internalisierung. Gefangenschaft blockiert den Ausdruck der aggressiven Triebe der Sklav*innen, diese Triebe verschwinden jedoch nicht einfach.

»Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine Seele nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten.« (GM2:16)

Der bestrafte, gefangene und traumatisierte Leib ist geschwächt und fragmentiert. Einige seiner Triebe sind blockiert und können nicht in Aktion treten. Aber diese blockierten Triebe verschwinden nicht einfach: Sie werden transformiert, sie finden neue Aktivitätspfade.

Nietzsche analysiert insbesondere in der Genealogie zwei pathologische Formen der Internalisierung: Das schlechte Gewissen (und die damit verbundene Emotion der Schuld) und das Ressentiment. Die vollständige Darstellung ist komplex: Mehrere andere psychologische Kräfte und historische Unfälle sind an der Ausgestaltung der Pfade beteiligt, den die internalisierten Triebe einschlagen werden.

Sehr grob formuliert wenden sich im ›schlechten Gewissen‹ blockierte aggressive Triebe gegen ihren eigenen Körper. Die Wut der Sklav*innen, die den*die Entführer*innen nicht angreifen können, richtet sich auf Aspekte ihres eigenen Körpers, zum Beispiel auf ihre Fehler, ihr Bedauern, ihre Sünden oder auf ihr Selbstbild, ihre Identität. Im Ressentiment werden blockierte aggressive Triebe auf andere Weise internalisiert. Die Sklav*innen hassen die Entführer*innen, verstecken aber ihre Aggression, »die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten« (GM1:10). Ihre Wut spielt sich in Träumen, Tagträumen, leerem Geschwätz und Rachefantasien ab.

In beiden Fällen bedeutet Internalisierung: Ein Triebmuster von Bewertung und Begehren wird transformiert. Zuvor folgte es einem externen Aktivitätsmuster – Angriff auf den Feind, zuschlagen oder anderweitige direkte Einwirkungen auf andere Körper und die darüber hinausgehende soziale und materielle Welt. Jetzt wird seine Aktivität innerlich: Versteckt, untergründig, »unterirdisch« (GM1:8, 3:14), nur in einer ›inneren Welt‹ ausgelebt. Im Laufe der Zeit wird dieser neue Aktivitätspfad der aggressiven Leidenschaft durch Wiederholung integriert – fixiert, gewohnheitsmäßig, tief in sich gekehrt. Schuldgefühle, Selbsthass und Bitterkeit, passive Aggressivität und Ressentiment werden normale ›natürlich‹ Reaktionen.

Sklavische Werte

Und dann gibt es in Nietzsches Erzählung einen entscheidenden Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: Nicht nur die Aktivitätsmuster aggressiver Instinkte werden verändert, sondern auch die Muster ihrer Bewertung und Begehren. Die Sklav*innen beginnen, ihre Passivität zu moralisieren und verankern sie, mit der Kraft der dahinter stehenden Normen, als Herdenmoral. Das nennt Nietzsche den »Sklavenaufstand in der Moral«, wo »Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert« (GM1:10). Die ursprünglichen ›aggressiven Instinkte‹ werden nun doppelt transformiert – sowohl umgeleitet, als auch neu mit Bedeutung versehen – bis sie zur Unkenntlichkeit verändert sind. Zu diesem Zeitpunkt sind die sklavischen Triebe etwas ganz neues geworden, völlig anders als die alten Begehren nach Vergeltung im Außen.

Deshalb ist sich Nietzsche, obwohl er die Werte der Sklavenrevolte verachtet, über ihre transformatorische Wirkung im Klaren: Sie haben etwas Neues geschaffen. Ressentiment ist es, was den Menschen zu einem »interessante[n] Thier« macht (GM1:6). Das schlechte Gewissen ist »eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist« (GM2:19), und »der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse« (GM2:18).

Insbesondere Deleuze (1962) greift in seiner intensiven Lektüre der Genealogie die sklavische Bewertungsmethode als ›reaktiv‹ auf. Die ›aktive‹ Bewertung von Nietzsches imaginären edlen Krieger*innen erwächst »aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber« (GM1:10). Es beginnt mit einem Ja, wenn die Edlen ihre eigene Lebensform sehen und sie gut nennen: »[ihre] durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff[e] ›wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!‹« (GM1:10). Die reaktive Bewertung hingegen beginnt mit einem Nein: Die Sklav*innen sehen den gefürchteten Feind und nennen ihn böse:

»Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion« (GM1:10).

Um es klarzustellen, Nietzsche sagt nicht, dass alle ›Reaktionen‹ sklavisch und kränklich sind. Kein solches Problem trifft auf die »eigentliche Reaktion, die der That« (ebd.) zu, bei dieser reagiert ein Körper um einen Angriff oder eine Beleidigung mit einer körperlicher Aktion zu ›vergelten‹. »Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht« (ebd). Negation, Reaktion, Vergeltung, Rache (heiß und nicht kalt serviert), all das kann gesund sein. Aber es macht uns krank und schwächt uns, wenn es nicht in äußere Handlungen außerhalb des Körpers projiziert wird, sondern verinnerlicht, gespeichert, eitrig gemacht – und dann, was am Schlimmsten ist, beginnt es, unsere grundlegenden Werte und Lebensprojekte zu leiten und als Moral oder Ideologie verankert zu werden.

Nietzsches Erzählung ist psychologisch: Es geht um einen Leib, ein Individuum, das erfasst und systematisch traumatisiert wird und das, in Erwiderung darauf, neue Handlungs- und Lebensweisen erschafft. Aber es ist auch eine kollektive Geschichte: Zahlreiche Individuen werden ähnlichen Bedingungen der staatlichen Gefangenschaft ausgesetzt und gehen gemeinsam durch diese Gefangenschaft. Sie alle müssen auf das Trauma der Gefangenschaft reagieren, aber sie können die Reaktionen der Anderen kopieren, teilen und voneinander lernen.

In Abschnitt 1:14 der Genealogie stellt sich Nietzsche die Sklav*innen gemeinsam in der, wie er es nennt, »dunkle Werkstätte« vor, einer unterirdischen Höhle, in der »alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer […] schon warm bei einander hocken« (ebd); sie teilen ihre Flüche und Rachefantasien gegen die Herrschenden. Hier experimentieren, entwickeln und verbreiten sie gemeinsam Wege, um auf das Trauma der Versklavung zu reagieren, indem sie ihre Werte und Begehren neu erfinden.

Das Christentum bietet eine Reihe von Mythen, Geschichten, Rationalisierungen und Bildern, die die Sklav*innen verwenden können, um diesen Werten einen Rahmen zu geben und sie, während sie dies tun, zu transformieren. Das Christentum, wie es von den Sklav*innen aufgenommen wird, ist die Religion des Ressentiment. Angeblich spricht es von Liebe und Frieden, Demut und Mitgefühl. Dies moralisiert die Passivität der Sklav*innen: ›Wir sind nicht wie diese Bösen, die Herrschenden‹. Aber in Wirklichkeit verschiebt und verbirgt es nur ihre Gewalt: Es trägt in seinem Herzen die große Rachephantasie des ›Tag des jüngsten Gerichts‹, an dem die Sanftmütigen die Erde erben und zu den neuen Herrschenden werden, während die Mächtigen niedergeschlagen und zu den Qualen der Hölle verurteilt werden (siehe GM1:15).

In Nietzsches Erzählung taucht unter den Besiegten und Unterworfenen zunächst eine mit Ressentiment beladene christliche Wertevorstellung auf. Die sich jetzt aber über die ganze Menschheit ausgebreitet hat: Selbst die Herrschenden werden durch Ressentiment und schlechtes Gewissen korrumpiert. Er sieht die moderne Gesellschaft als eine auf den Kopf gestellte Welt, in der sich die Mehrheit nicht nur erfolgreich gegen die Starken aufgelehnt hat, sondern einen »Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft« (GM1:16) und weitgehend ihre eigene neue Form der »Tyrannei« (GM3:14) vollzogen hat.

Diese ›Sklavenrevolte‹, um es klarzustellen, bedeutet keine tatsächliche gewalttätige Revolution. Nietzsche diskutiert sehr selten über die Möglichkeiten eines aktiven Aufstands der Unterdrückten; und wenn er es tut, dann mit Verachtung. Dies ist zum Beispiel sein Urteil über die Französische Revolution:

»[Das] die grosse Revolution nicht mehr war, als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wusste und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat.« (M534)

Vielmehr wird der Sieg der Sklavenrevolte nicht durch offene Eroberung, sondern durch Ansteckung erreicht, da es den Sklav*innen gelingt, ihre lähmenden Werte an die Herrschenden weiterzugeben und so ihre Lebensform zu entwerten. »[U]nzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen in’s Gewissen zu schieben: so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begönnen« (GM3:14).[38]

Während es Passagen wie JGB261 gibt, in denen Nietzsche sich um die kastenübergreifende Rassenmischung [sic!] sorgt – wobei die »Blutvermischung von Herren und Sklaven« die Ursache für das »langsame Heraufkommen der demokratischen Ordnung« sei – bleibt die größte Gefahr die Verbreitung sklavischer Werte durch Mimesis. Die Infektion wird durch den Zusammenbruch des ›Pathos der Distanz‹ ermöglicht, der strengen kulturellen Barriere zwischen Herrschenden und Beherrschten. Nietzsche macht in der Genealogie nicht deutlich, was genau diesen Zusammenbruch verursacht, aber es scheint eine Erklärung in verwandten Passagen in Jenseits von Gut und Böse zu geben, wo er ein Motiv des zyklischen Aufsteigens und Fallens von Gesellschaften und menschlichen »Typen« entwickelt. In den Frühphasen, wird die Krieger*innenkaste »fest und hart« durch den »beständige[n] Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen«.

»Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend []« (JGB262).

Dekadenz ist der letztendliche Preis für den Erfolg der Herrschenden, für die Fülle, die durch die Eroberung entsteht. Die ›alte Disziplin‹ umfasste das Pathos der Distanz, das die Trennung von der einfachen Herde aufrechterhalten hatte. Das Ergebnis dieser Entspannung, ist die plötzliche Explosion der »Variation, sei es als Abartung (in’s Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität« (ebd.) – einschließlich der Übernahme der infektiösen Werte der Sklav*innen.

Priester*innen: Das Management der Sklavenrevolte

Um Nietzsches Erzählung bis zu ihrem Ende zu verfolgen, müssen wir nun eine dritte Figur vorstellen, den Priester, der eine komplexe und ambivalente Rolle spielt. Einerseits sind die Priester*innen Teil des Adels, die ihrerseits eine kirchliche im Gegensatz zur ritterlich herrschenden Kaste bilden (GM1:6); andererseits verbünden sie sich mit den Sklav*innen. Ihre »priesterliche Werthungs-Weise« ist sowohl selbstbejahend als auch krankhaft rachsüchtig (vgl. GM1:7).

Im dritten Essay der Genealogie sehen wir, wie die Priester*innen beide Seiten ausspielen, während sie ihr eigenes Herrschaftsprojekt vorantreiben. Ihre grundlegende Strategie oder ›Kunst‹ besteht darin, die Schwäche geschädigter und zerrütteter Körper zu nutzen, um »Herrschaft über Leidende« (GM3:15) und die »Zusammendrängung und Organisation der Kranken« (GM3:16) zu erreichen. Dazu stellen sich die Priester*innen als Ärzte*innen dar, die ›Medikation‹ für die Leiden der Schwachen anbieten. Die Herrschaft der Priester*innen ist einvernehmlich: Die Schwachen kommen nicht unter Zwang zu ihnen, sondern wegen der Erleichterung von den Schmerzen, die ihnen durch die herrschende kriegerische Kaste und durch Kontamination mit sklavischen Werten zugefügt wurden. Diese Medikationen jedoch, sind keine Heilung oder Stärkung, sondern vorübergehende Linderungsmittel, die ihre Patient*innen nur schwächer und abhängiger machen (GM3:17); »indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde« (GM3:15).

Die Funktion des*der Priesters*in als Quacksalber*in dient zunächst dem ›edlen‹ Projekt der Aufrechterhaltung eines hierarchischen Gesellschaftsorganismus. Aufgrund der Trennung ihrer Kasten sind die Herrschenden nicht in der Lage zu beeinflussen, wie die Sklav*innen auf das Trauma der Eroberung reagieren. Die Priester*innen hingegen stehen in direktem und anhaltendem Kontakt mit den Sklav*innen – sie sind nicht nur Raubtiere, sondern auch »Hirten« (GM3:15). Sie leisten die Drecksarbeit der Bewältigung der psychischen Folgen der Unterwerfung: Sie kämpfen »klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig akkumuliert« (ebd). Die priesterliche Pseudotherapie verzögert die Gefahr des Sklavenaufstands, indem sie ›harmlose‹ Aktivitätspfade bereitstellt, die:

»die Kranken bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärtsrichtung ihres Ressentiments zu geben [] und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen.« (GM3:16)

Aber wenn sie die Chance bekommen, werden die Priester ihre Kunst auch gegen die Herrschenden einsetzen. Während die Herrschenden dekadent werden und ihre ›Disziplin‹ verlieren, entstehen Schwachstellen, die die Priester nutzen und vertiefen können. Der Priester »tritt […] mitten unter die andere Art Raubthiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwiespalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen« (ebd). Die Priester haben sich in dem Moment in den Edlen verbissen, indem sie die Notwendigkeit einer Bedeutung für ihre Existenz spürten. Die Herrschenden wurden mit altruistischen Werten infiziert, begannen sich »ihres Glücks zu schämen« und »an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln« (GM3:14).

Genauer gesagt, bestehen die ›Heilmittel‹ der Priester aus einer Reihe von pseudotherapeutischen Methoden, die im Wesentlichen die von Nietzsche in Morgenröthe (insb. M109) untersuchten Techniken zur Behandlung von Trieben widerspiegeln. Die erste Technik ist eine Art »Winterschlaf« (GM3:17): »hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität« (GM3:18), der darauf abzielt, »das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen« (GM3:17) indem alle psycho-physiologischen Reize vermieden und reduziert werden. Die zweite ist für die »niederen Stände« besonders geeignet: repetitive »machinale Thätigkeit« – auch bekannt als Arbeit (GM3:18). Die dritte betrifft die »klein[e] Freude«, dass wichtigstes Beispiel das Nietzsche hierzu macht, ist das Vergnügen der Geselligkeit oder des »gegenseitigen Wohlthuns« das Menschen in der Bildung von Herden finden (ebd). Nummer vier betrifft die temporäre kathartische (erlösende) Freisetzung durch »Orgien des Gefühls«.

Alle »grossen Affekte« können genutzt werden indem man »die ganze Meute wilder Hunde«, die leidenschaftlicheren Triebe freisetzt (GM3:20) – aber das bevorzugte orgiastische Moment, mit den zerstörerischsten Effekten, ist die Schuld (GM3:20-22).[39]40

Sklavenmoral heute

Die Merkmale der Sklavenmoral sind: Passivität statt Macht; während Aggressionen verinnerlicht, versteckt und aufgeschoben werden. Während Nietzsche auf das 19. Jahrhundert schaut, sieht er das christliche Dogma auf dem Rückzug, aber seine sklavischen Werte-Muster sind so stark wie eh und je. Wir leben weiterhin in staatlichen Gesellschaften die Aggressionen nach innen zwingen. Und wir reagieren weiterhin auf die gleiche Weise, da wir immer noch zu Werten und Begehren erzogen werden, die Passivität, Schuld und Ressentiment moralisieren. Die modernen Europäer*innen, mit ihren nachchristlichen Werten und Praktiken, haben Schlüsselmerkmale von diesen vorzeitlichen Anpassungen der Sklav*innen geerbt und reproduzieren sie weiter – wenngleich sicherlich auch viele andere Transformationen nebenher stattfinden.

Nietzsche glaubt, dass im Grunde alle modernen Europäer*innen durch sklavische Wertschätzung – schlechtes Gewissen, Ressentiment und christliche Moralvorstellungen – gründlich kontaminiert wurden. Aber er verurteilt insbesondere die jüngsten revolutionären Ideologien, vor allem den Sozialismus und den Anarchismus, als Erben der christlichen Moral. Die »socialistischen Rattenfänger […], die euch mit tollen Hoffnungen brünstig machen wollen« (M206), sind nur Priester*innen in neuer Kleidung.

Wie die Priester*innen, lehren auch die Anführer*innen der Linken, die Rache an den Herrschenden für ewig auf den mythischen ›Tag des Jüngsten Gerichtes‹ zu verschieben. »[W]elche euch heissen, bereit zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt […]« (ebd). Das heutige Management des Ressentiment wendet die gleichen Techniken an: repetitive Arbeit, zombiehafter Winterschlaf der Leidenschaften, die Freuden der Geselligkeit in der Herde unterbrochen von Orgien nationalistischer Galle, des fünf-minütigen Hasses, wenn mal ein Überdruckventil benötigt wird.

Die Anarchist*innen kommen noch schlechter davon. In Referenzen, die in seinen späteren Büchern verstreut sind, sieht Nietzsche im Anarchismus geradezu die bösartigste Form gegenwärtiger christlicher Moral. »Den Psychologen voran in’s Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten« (GM2:11). Nietzsche erhebt eine Reihe von Behauptungen gegen den Anarchismus, aber vielleicht ist dies der wichtigste und aufschlussreichste:

»Christ und Anarchist. [] das jüngste Gericht selbst ist noch der süsse Trost der Rache die Revolution, wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht Das Jenseits selbst wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?« (GD-Streifzuege-34).

Anarchist*innen übernehmen den christlichen Hass auf das Leben. Ihre Wertschätzung bleibt völlig ›reaktiv‹, d.h. sie konzentrierten sich besessen auf die böse Gestalt des Feindes und nicht auf ihre eigenen affirmativen Werte. Weil sie nicht die Kraft oder den Mut zum Handeln haben, haben sie ihre Aggressionen verinnerlicht und ihnen erlaubt in Rachephantasien zu verfallen – in Erwartung des großen, revolutionären jüngsten Gerichtes. Sie vergiften Geist und Herz und versuchen jeden mit ihrer Krankheit zu infizieren. Und so ist die anarchistische Ideologie ein weiteres Konstrukt um zu rationalisieren und zu heiligen was eigentlich nur eine fiese kleine Krankheit ist.

Es ist einfach darauf hinzuweisen, dass Nietzsche eigentlich sehr wenig über den Anarchismus wusste (siehe Appendix 1 für eine umfassende Diskussion). Aber ich leugne nicht, dass seine Kritik durchaus schmerzt. Heute wie damals gibt es viele anarcho-christliche Stränge in anarchistischem Denken und Handeln: Wir rekonstruieren weiterhin priesterliche Kasten, den ewigen Aufschub rebellischer Begehren, Phantasien vom Tag des jüngsten Gerichtes, Märtyrerkomplexe usw. Gleichzeitig gibt es nach wie vor andere, sehr unterschiedliche Stränge und Strömungen, die Lebendigkeit, Freude, Kreativität und den aktiven Angriff in der Gegenwart bejahen.

Der Schlüsselaspekt in Nietzsches Denken ist wieder einmal: Menschen (anarchistische oder andere) sind komplexe Körper, die aus einem Gewirr vieler, oft widersprüchlicher Triebe und Leidenschaften bestehen, die auf seltsame Weise vererbt und transformiert wurden. Und wir haben die Möglichkeit, im Angesicht der Unterdrückung auf vielfältige Weise zu reagieren, passiv oder aktiv. Sklavenmoral ist in uns allen; ebenso wie die aktiven Leidenschaften, mit denen wir sie entwurzeln und überwinden können.

Kapitel 7. Freie Geister

Philosophie ist nicht bloß eitle Neugier. Sie kann uns dabei helfen Lebensweisen zu finden und uns selbst neu zu erschaffen. In diesem Sinne skizziert Nietzsche eine Reihe von Idealen oder Zielen, die in seinem Werk zu Charakteren werden. Der bekannteste ist der ›Übermensch‹. Er stellt eine Form des post-menschlichen Lebens dar, die über die tief einverleibten ›Irrtümer‹ und Krankheiten des Menschen hinausgeht.[40] Eine weitere mehrdeutige Figur ist der ›Philosoph‹ selbst: Manchmal attackiert oder verspottet, manchmal als Modell gehalten, zumindest in Form des potenziellen ›Philosoph[en] der Zukunft‹.

Aber Nietzsches beständigster positiver Charakter, dem er eine Serie von drei Büchern widmet und zu dem er bis zum Ende immer wieder zurückkehrt, ist der ›freie Geist‹. Der freie Geist ist ein Individuum, das sich von dem starren Normen und Bräuchen des Herdenlebens befreit hat und so in der Lage ist, neue Ideen, neue Werte und Lebensweisen zu erschaffen. Aber wie bei allen Charakteren Nietzsches, ist dies nicht eine einfache Held*innenfigur, der freie Geist ist ein schwieriges und komplexes Bild.

Kreativität der Schwachen

In Menschliches, Allzumenschliches, dem ersten der Freigeistbücher, erklärt Nietzsche:

»Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel« (MA225).

Der Titel dieses Abschnitts ist: Freigeist ein relativer Begriff. Es gibt keine reinen oder ›absoluten‹ freien Geister, nur diejenigen, die zumindest einige der ›Fesseln‹ oder Ketten der Normen ihrer jeweiligen Herde gebrochen haben, die anders denken (fühlen, schätzen, begehren und handeln). Freigeister sind das Gegenteil von guten Bürgern. Sie sind einsam (vgl. MA625), sie ziehen es vor »allein zu fliegen« (MA426), sie kümmern sich nicht um Politik oder sozialen Status (MA291, 438, 625). Stattdessen, ihre eigenen Wege gehend, werden sie traditionell für verrückt erklärt und zu Erfindern und Schöpferinnen neuer Werte.

Hier jedoch kommt die Wendung: Freie Geister sind auch schwach. Sogar »degeneriert« (MA224). Insbesondere sind sie in der Regel schlecht was physische Tätigkeiten angeht. Der freie Geist steht im Gegensatz zum starken und entschlossenen »Mann des Handelns« (MA281-6). Der starke Körper ist durch die Disziplin von Sitte und Herdeninstinkt konservativ, starr und standfest gemacht worden. Er weiß nur ein paar Dinge zu tun, aber diese dafür gut und er*sie hat keine Probleme damit Entscheidungen zu treffen. Das Problem des Freigeistes ist, dass er*sie zu viele »Möglichkeiten und Richtungen des Handelns« (MA228), »zu viele Motive und Gesichtspuncte« (MA230) hat. Er*Sie ist ein ungeordneter, geteilter Körper, reich an Werten und Perspektiven.

Freigeister sind diejenigen, »welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen« (MA224), aber in der Regel scheitern sie – »Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde« (ebd). Ein Paar glückliche Ausnahmen allerdings, erlauben ein »Fortschreiten« (ebd). Dies stellt Nietzsche sich als eine arbeitsteilige kulturelle Evolution des Menschen vor: »Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden« (ebd). Die Freigeister erschaffen alles was interessant ist, aber all das würde wieder verkümmern, wenn die Herde nicht weitermachen würde.

Es mag überraschen, dass Nietzsche hier Kreativität mit Schwäche verbindet, denn gerade in seinen späteren Werken kann er als energischer Bewunderer der Stärke wirken. Aber eigentlich zieht sich diese Idee durch sein Denken, wenn auch manchmal als unterirdische Strömung. So schreibt er zum Beispiel: Es sind die Sklaven*innen, die Schwachen und Kranken, die beginnen, die Menschheit zu einem »interessanten Thier« zu machen (GM1:6), indem sie – kreativ, wenn auch pathologisch – auf das Trauma ihrer Gefangenschaft durch den Staat reagieren.

In Menschliches, Allzumenschliches ist Nietzsche sehr offen für diesen Aspekt der kreativen Schwäche. Dieser hat zwei Seiten. Auf der einen Seite, sind die Körper schwach, weil sie geteilt sind, voller unterschiedlicher und gegensätzlicher Muster – und das chaotische Zusammenspiel dieser Muster schafft neue Dinge. Auf der anderen Seite treffen aber auch schwache Körper auf Hindernisse, gegensätzliche Kräfte und widrige Umgebungen und diese Rückschläge und Blockaden regen Erfindungen an. Nietzsche führt eine Reihe von Bildern auf, die über das kreative ›Genie‹ reflektieren. Ein*e Gefangene*r, der*die in einer Zelle eingesperrt ist und mit »Witz […] nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht« (MA231); »Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat […] entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt« (ebd); sowie »eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt« (ebd). Im Allgemeinen entsteht ein ›Genie‹ wenn ein Mensch »misshandelt und [ge]quält« wird:

»dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius’ empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über« (MA233).

In den nächsten Büchern der Freigeist-Trilogie, Morgenröthe und Die Fröhliche Wissenschaft, reflektiert Nietzsche oft über Schwäche, Krankheit und Genesung. Als er diese Bücher schrieb, war er körperlich krank und litt unter einer seltsamen Mischung von Krankheiten, er war fast Blind und hatte rasende Kopfschmerzen. Er schätzt Kraft und Gesundheit, die Rückkehr des Lebens, aber auch das Wissen, insbesondere die Selbsterkenntnis, die durch Leiden, Untätigkeit, Selbstbesinnung und Genesung entsteht.

Tatsächlich ist Nietzsches ›Ideal‹ oder Ziel in Menschliches, Allzumenschliches nicht der freie Geist als solcher. Zumindest nicht der schwache freie Geist, der durch seine inneren Widersprüche oder durch die feindliche Welt zerstört wird. Krankheit kann kreativ machen, aber wir brauchen die Kraft, um auf den Beinen zu bleiben. Dies ist vielleicht die Schlüsselfrage des Buches:

»Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?« (MA230).

Die Differenz und Kreativität des freien Geistes wird durch seinen geteilten und multiplen Körper erzeugt. Aber diese Mannigfaltigkeit neigt dazu zu schwächen. Und wenn der freie Geist sich gegen die Herde stellt, braucht er*sie noch mehr Kraft als andere. Wo ist diese zu finden?

Selbst-Erschaffung

Buch Vier von Die Fröhliche Wissenschaft ist eines der freudigsten und ›bejahendesten‹ von allen Schriften Nietzsches. Hier greift er die in Morgenröthe entwickelte Darstellung von Selbstkonstitution und Selbsttransformation auf und geht neue Wege. Der längste Abschnitt und das Herzstück des Buches ist FW335. Der Abschnitt endet mit einem Aufruf zum Handeln. Da moralische Werte und die Stimme des Gewissens tief verankert sind, sind die »Allermeisten«, die moralische Mehrheit, diejenigen, die »nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen«, sie sind »selber niemals Gegenwart«.

»Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können […]«

Dieses Statement fasst einen Großteil von Nietzsches Projekt der Freigeist-Periode zusammen. Es ist möglich, sich in völlig neue Kompositionen zu transformieren. Aber zuerst müssen wir wirklich untersuchen, was wir sind und somit auch die Prinzipien und Möglichkeiten, wie wir uns verändern können. ›Physiker‹ bezieht sich hier sowohl auf die Psycho-Physiologie, das Studium der (weitgehend unsichtbaren) Funktionsweise unserer Triebe, als auch auf die Genealogie, das Studium der Funktionsweise der Beziehungen und Begegnungen, die unseren Körper im Laufe der Zeit geprägt haben. Der Abschnitt endet mit Nietzsches Aufruf zur ›Ehrlichkeit‹ oder ›Integrität‹ (Redlichkeit), die wir brauchen, wenn wir diesen Prozessen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit schenken wollen. Ein weiterer wichtiger Abschnitt ist FW290, in dem Nietzsche Transformationsprojekte als die »grosse und seltene Kunst« präsentiert »Seinem Charakter ›Stil [zu] geben‹«. Diese Kunst:

»übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran.«

Um ein wenig klarer zu bekommen, was es mit Nietzsches Selbst-Erschaffen auf sich hat, könnten wir die ›Kunst‹ der Selbsttransformation in drei Schritte oder Momente unterteilen. Zuerst einmal: Reflexion. Ich ›überblicke‹ meine ›Natur‹ und lerne die Prozesse ihres Werdens kennen, ihre Stärken und Schwächen, ihre Fähigkeiten, Grenzen und Potenziale. Dies ist die »Physik« in FW335 (Natur = physis auf Griechisch).

Zweitens: Projektion. Ich habe mir einen ›künstlerischen Plane‹ gemacht. Das beinhaltet eine Projektion, eine Vision der Zukunft – ein Ziel, ein Anspruch, vielleicht eine neue Art der Bewertung, eine neue Handlungsweise, eine Idee von etwas, dass ich in mir verändern möchte, etwas, das ich lernen möchte, etwas, dass ich werden möchte. Die Reflexion gibt mir Aufschluss über meine Wahl der Ziele: Mein Plan mag herausfordernd, vielleicht gefährlich sein, aber er basiert auf dem Verständnis meiner gegenwärtigen ›Natur‹, meiner vorhandenen Fähigkeiten. Alles einerlei, denn mein Verständnis ist immer sehr begrenzt, nie abgeschlossen, jedes Projekt ist immer eine Wette, ein Würfelwurf.

Hier ist ein wichtiger Punkt zu beachten: Die Festlegung auf ein Projekt beinhaltet immer eine ›Auswahl‹. Mein Leib besteht aus einer Vielzahl von verschiedenen ›Trieben‹, Mustern, multiplen Werten und Begehren, die miteinander in Konflikt geraten können. Wenn ich ein bestimmtes Projekt verfolge, wird einer dieser Werte oder einer Gruppe von ihnen, Vorrang eingeräumt; andere werden ignoriert oder aktiv bekämpft. Wenn wir uns zu einem kohärenten Individuum machen wollen, dann muss ein Bündel von Werten und Begehren ›am Steuer‹ sein, wir nutzen Reflexion und Selbst-Verständnis gewissermaßen als Instrumente um die Psyche auf eine bestimmte Weise neu zu gestalten – unter dem »Zwang des selben Geschmacks« (FW290).

Ich werde es so ausdrücken: Selbst-Erschaffung beinhaltet das Identifizieren und Bekräftigen bestimmter Grundwerte und Begehren, nämlich derjenigen, die sich (relativ) schnell festigen und die laufende Arbeit der Selbsttransformation als Ganzes prägen. Aus diesen Grundwerten leiten sich meine Projekte ab.

Drittens: Aktion. Mich neu zu orientieren bedeutet, einige einverleibte Muster, Gewohnheiten, Normen, festgefahrene Ideen und Reflexe loszuwerden, die sich im Laufe des Lebens entwickelt haben und mich auf neue Muster zu trainieren. Dies ist die Pflege (M109, M119), der Schnitt und die Gärtnerei (M560) der Triebe. Es wird nicht in einem einmaligen Willensakt erreicht, es braucht ›lange Praxis und tägliche Arbeit daran‹. Wenn du deine Muskeln trainierst um stark zu werden, oder dich selbst trainierst um eine neue Sportart, Tanz, Kunst, Sprache etc. zu lernen, braucht es Wiederholung, Vertiefung, viele kleine Schritte. Ebenso müssen Veränderungen in der Bewertung verkörpert, aufgeführt und in die tägliche Praxis umgesetzt werden, bis sie für uns ›natürlich‹ werden. [41]

Allein?

Das überwältigende Thema in Nietzsches Büchern ist, dass der angehende freie Geist diese Arbeit allein erledigen muss. Es ist offensichtlich, dass Nietzsche in diesem Sinne ein Individualist ist. Um mich auf die Entwicklung meines eigenen Projekts zu konzentrieren, muss ich mich vom »Staub und Lärm« (D177) der Gesellschaft lösen.

»Desshalb gehe ich in die Einsamkeit, – um nicht aus den Cisternen für Jedermann zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben – und ich werde böse auf Jedermann und fürchte Jedermann. Die Wüste thut mir dann noth, um wieder gut zu werden.« (M491)

Die gemeinsamen Werte und Wünsche, denen ich in der Gesellschaft ausgesetzt bin, sind besonders kranke und schädliche Werte, Werte des Ressentiment. Diejenigen, denen ich in der Gesellschaft begegne, sind »Rachsüchtige«, »Krankenbolde aller Gattungen, der Kränkelnden und Gedrückten«, und »die ganze Luft schwirrt fortwährend von den abgeschossenen Pfeilen und Pfeilchen ihrer Bosheit, sodass die Sonne und der Himmel des Lebens dadurch verdunkelt werden – nicht nur ihnen, sondern noch mehr uns, den Anderen« (M323). »Leugnen wir nicht mitunter Sonne und Himmel, blos weil wir sie so lange nicht gesehen haben? – Also: Einsamkeit! Auch darum Einsamkeit!« (ebd).

Diese Ideen entwickeln sich in späteren Texten weiter, in denen Nietzsche Einsamkeit, Klarheit und das, was er das edle ›Pathos der Distanz‹ nennt, verbindet. In Also Sprach Zarathustra erforscht Nietzsche Zarathustras Rückzugsbewegungen – in die Wüste hinaus oder in die Berge hinaufgehen – um in Einsamkeit an sich selbst zu arbeiten, sowie seine Versuche wieder in die Gesellschaft hinabzusteigen. »Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen« (Za-III-Tafeln-19) so beschreibt Zarathustra seinen Aufstieg. In Ecce Homo wird Nietzsche Zarathustra »ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit […]« nennen (EH: Weise-8).

Trotzdem gibt es eine ständige Spannung. Nietzsche lobt und begehrt Einsamkeit, aber er hungert auch nach Freund*innen und Gefährt*innen, mit denen er Projekte teilen kann. Seine Bücher sind durchzogen von wunderschönen Momenten seiner Idee von Freundschaft. Der*die Freund*in ist ein »Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen« (Za-I-Naechstenliebe). Freundschaft ist nicht Abhängigkeit und Besitzgier, sondern das Streben nach »einem gemeinsamen höheren Durste […] einem über ihnen stehenden Ideale« (FW14). Freundschaft bedeutet Freude und nicht mitleidig Schmerz zu teilen – »Mitfreude«, oder »Freude mit«, im Gegensatz zu »Mitleid«, oder »Leiden mit« (MA499, VM62, FW338). Ein Freund ist auch ein Antagonist – in ihm hast du sogar deinen »besten Feind« (Za-I-Freund) – der uns hilft, indem er uns herausfordert und anspornt.[42]

Nietzsche versuchte in seinem Leben tatsächlich eine Art Gemeinschaft von sich selbst-transformierenden freien Geistern aufzubauen: 1876 bezeichnete er sie als »Kloster für freie Geister« oder »›die Schule der Erzieher‹ (wo diese sich selbst erziehen)« (BVN-1876,554). Benedetta Zavatta, die die Briefe studiert hat, in denen Nietzsche Freund*innen eingeladen hat sich dem Projekt anzuschließen, beschreibt es als ›eine Mikrogemeinschaft von Freunden‹, die zusammen leben und lernen würden. Nietzsche dazu in einem Brief: »Und wenn Sie wüssten, was dies für mich bedeutet! Bin ich doch immer auf Menschenraub aus, wie nur irgend ein Corsar; aber nicht um diese Menschen in der Sclaverei, sondern um mich mit ihnen in die Freiheit zu verkaufen.«[43]

Laut Keith Ansell-Pearson (2015) pflegte Nietzsche während der Freigeist-Periode die Idee, eine »philosophische Schule nach dem Vorbild von Epikurs Garten« zu gründen, noch 1883 schrieb er an seinen Freund Peter Gast über dieses Projekt. Nietzsche sieht in diesem Modell sowohl eine Gemeinschaft, die an Projekten der Selbsttransformation zusammenarbeiten kann, als auch die epikureanischen Verfügungen aufgreift, sprich ›lebe unbemerkt‹ und ›mische dich nicht in die Politik ein‹. Kurz gesagt, der Garten Epikurs ist eine gemeinsame Abgeschiedenheit.[44] Wie Zarathustra zieht das zurückweichende Individuum Kreise und Grenzen um sich herum und trennt sich von der weiteren sozialen Welt, um sich auf die Arbeit an sich selbst zu konzentrieren. Man kann dies allein oder mit engen Gefährt*innen tun, die ähnliche Projekte teilen. Aber für beide Fällen gilt: Es ist noch immer ein Rückzug.

Transformation und Kampf

Nietzsche sieht keine Möglichkeit, wie wir sowohl an der Transformation unserer selbst als Individuen arbeiten, als auch gleichzeitig aktiv im sozialen Kampf mitwirken können. Da er sein Leben lang Teil der Klasse der feinen Leute war, kam ihm der Gedanke wahrscheinlich nie in den Sinn. Er dachte fast nie darüber nach, wie Projekte der Selbsttransformation von Menschen verwirklicht werden können, die mit Sklaverei, Unterdrückung, Ausbeutung, materieller Not, Diskriminierung und auch deren psychischen Folgen zu kämpfen haben.

Am nächsten kommt er dem in einer Passage in Morgenröthe, die an den »unmögliche[n] Stand« gerichtet ist; diejenigen Arbeiter*innen, die »der Fabrik-Sclaverei« (M206) unterliegen. Hier stellt er zunächst das Problem der Fabrikarbeiter*innen als Problem des individuellen Selbst dar: Es geht nicht nur um eine wirtschaftliche Situation, sondern auch darum, ob man an seinem »inneren Werthe«, seiner Natur als Person festhalten kann oder, ob man »als Schrauben einer Maschine« vollständig instrumentalisiert wird. Der Kapitalismus will »möglichst Viel produciren und möglichst reich sein«, aber »wie grosse Summen inneren Werthes für ein solches äusserliches Ziel weggeworfen werden! Wo ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst?« (ebd.)[45]

Nietzsche erwähnt dann drei Auswege für die Arbeiter*innen, zwei davon sind Fallen oder Sackgassen. Die erste Sackgasse ist der reformistische Kampf um höhere Löhne: Er lehnt es ab »zu glauben, dass durch höhere Zahlung das Wesentliche ihres Elends, ich meine, ihre unpersönliche Verknechtung, gehoben werden könne!« (ebd.) Die zweite Sackgasse ist der revolutionäre Sozialismus, der nichts weiter bedeutet als auf neue Priester zu hören »welche euch heissen, bereit zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt […]« (ebd).

Der dritte Weg, Nietzsches eigener Vorschlag: »[L]ieber Auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt« (ebd). Also wieder Einsamkeit und Rückzug. Und wenn es keine ›wilden und frischen Gegenden‹ mehr gibt?

Um es noch einmal klar zu sagen: Was Nietzsche sich nie vorgestellt hat ist, dass wir handeln und kämpfen können, dass wir im Kampf wachsen und uns gegenseitig fordern, untersuchen, entwickeln und transformieren können – als Individuen, als Gemeinschaften von Freund*innen, als Selbst-erziehende und aufstrebende freie Geister, nicht (oder nicht immer) im Rückzug in die Berge, sondern auch im Getümmel des gesellschaftlichen Lebens und des sozialen Krieges.

Um diese Idee zu entwickeln, müssen wir Nietzsche hinter uns lassen und über ihn hinausgehen.


Teil 2. Eine Ontologie für den Sozialen Krieg

Kapitel 8. Individuen gegen Herrschaft

Eine Neuformulierung des Problems

Der erste Teil dieses Buches endet mit Nietzsches Bild eines freien Geistes: Einem Individuum, das die Macht entwickelt, seine eigenen Projekte zu bestimmen, sich selbst zu erneuern und sich somit von der es umgebenen Herde abzusetzen. Nun möchte ich folgende Frage betrachten: Wenn ich eine freier Geist werden möchte, was bedeutet dies für die Art und Weise wie ich mit Anderen interagiere, wie ich in den sozialen Welten lebe, wie ich Affinitäten und Allianzen bilde und wie ich gegen Feind*innen kämpfen kann, die meine Freiheit beschränken wollen?

Nietzsche wurde manchmal als der Denker des Individualismus identifiziert. Was bedeutet das? Individualismus kann viele verschiedene Bedeutungen haben und einige sind deutlich interessanter als andere. Zum Beispiel hat Nietzsches Individualismus nichts mit der ökonomischen Doktrin des privaten Eigentums zu tun (wie im Falle ökonomischer Individualisten wie Benjamin Tucker). Genauso wenig ist Nietzsche ein Individualist, wenn diese Idee ein menschliches Individuum als Quell einzigartiger Werte unberührt von sozialer Beeinflussung beschreibt (strittig ob es so bei Max Stirner zu finden ist). Aber Nietzsche ist sicherlich ein Individualist in diesem Sinne: Er begreift freigeistige Selbsttransformation als ein vitales Lebensprojekt; als Aufgabe von individuellen »Sich-selber-Schaffenden« (FW335), die sich gegen die Herde stellen müssen und damit sehr häufig alleine dastehen. In diesem Sinne ist auch mein eigenes nietzscheanisches Denken, dass ich in diesem Buch entwickle, in seinem Kern individualistisch.

Wichtig ist: Mein Ausgangspunkt als selbst-erschaffendes Individuum sind meine individuellen Projekte. Das heißt ich möchte, dass meine Handlungen aus Projekten hervorgehen, die ich mir selbst vorgenommen habe. Diese Projekte wiederum resultieren aus grundlegenden Werten und Begehren, welche ich als Teil der Individualität bekräftige, die ich ständig selber herstelle. Und dieser Punkt trifft auf all meine Aktionen zu, sowohl Projekte, bei denen ich alleine bin, als auch solche Projekte, bei denen ich mich mit Anderen zu kollektiven Aktionen zusammenschließe.

Wenn ich zum Beispiel mit dir zusammen einen Garten pflege, einen Feind bekämpfe oder wir uns gegenseitig dabei unterstützen an uns selbst als aufstrebende freie Geister zu arbeiten, dann möchte ich dies tun, weil diese Zusammenarbeit zu meinen Lebensprojekten, wie auch zu deinen passt.[46] Wenn unsere Beziehung beginnt, eine*n von uns daran zu hindern unsere eigenen Projekte zu verfolgen, dann müssen wir die Art unserer Beziehung ändern oder sie vielleicht ganz beenden. Sicherlich kann es sein, dass wir die Grundwerte und Projekte des*der Anderen beeinflussen oder die Art wie wir diese verstehen. Aber wir werden immer noch auf unsere eigenen Reflexionen und unser eigenes Selbstverständnis zurückgreifen, wenn sich unsere Projekte entwickeln. Ich möchte also, dass unsere Beziehung uns nicht begrenzt, sondern uns hilft unsere Kräfte als selbst-erschaffende Individuen weiterzuentwickeln.

Dies ist ein individualistischer Ausgangspunkt – der zu kollektiven Aktionen führen kann. Einige dieser Aktionen werden sich sehr von denen unterscheiden, die Nietzsche sich vorgestellt hat. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, verkündet Nietzsche oft die Notwendigkeit der Einsamkeit – aber er dürstet auch nach Freund*innen, nach weiteren ›Selbst-Bildenden‹, die ihn auf seinen Reisen begleiten. In beiden Fällen ist seine allgemeine Vorstellung jedoch, dass sich die aufstrebenden freien Geister, allein oder in kleinen Gruppen, aus der Massengesellschaft zurückziehen; sie müssen der ›Ansteckung‹ der Herde entkommen, etwa durch die Besetzung eines Versteckes in den Bergen oder weit entfernten wilden Orten. Um es klar zu sagen: Rückzug in die Abgeschiedenheit kann auch eine Strategie im Umgang mit sozialen Welten sein, eine Strategie der Abkehr statt des Engagements. Aber für mich ist das keine praktikable Strategie, sie kann nicht zu meinen grundlegenden Projekten passen, welche sich von denen Nietzsches unterscheiden.

Mein Wunsch ist es, freudig zu leben und frei zu leben – was bedeutet, so weit ich das kann, frei von Herrschaft zu leben. Nicht beherrscht zu werden, sondern zu kämpfen und die Macht derer zu brechen, die versuchen, mich zu unterwerfen. Aber auch selbst nicht zu herrschen, niemanden zu unterwerfen, oder dazu beizutragen Beziehungen und Systeme der Herrschaft durch Bequemlichkeit, Feigheit oder Ignoranz am Leben zu erhalten. Außerdem will ich diese Dinge nicht nur für mich selbst: Ich wünsche mir auch Freiheit für die, die ich liebe und alle anderen Lebewesen.

Weil mir diese Werte wichtig sind, ist Rückzug keine Option. Zum einen weil es diejenigen gibt, die versuchen mich und diejenigen die ich liebe, zu beherrschen und die weiterhin in alle Räume eindringen werden, in die wir uns zurückziehen. Dies gilt, in der Welt in der wir heute leben, dringender denn je, da der Kapitalismus eine globale, allgegenwärtige und in alles eindringende Kraft ist. Es gibt keine unberührte Wildnis mehr, nichts außerhalb Reichweite von Eigentum, Ausbeutung, Überwachungssatelliten und Drohnenangriffen. Aber der Rückzug ist auch deshalb keine Option, weil ich nicht freudig und frei leben könnte, wenn ich vor dieser Welt fliehe und mich verstecke, von den Schmerzen und der Scheiße wissend, die ich zurücklasse.

Auch hier könnten wir von einem individualistischen Ausgangspunkt sprechen: Das sind meine Werte, meine Projekte, deine mögen sich von meinen unterscheiden, aber dies sind meine, und ich bekräftige sie und lebe sie aus. Sie führen mich zum Kampf und zur Zusammenarbeit mit Anderen, sowohl um zu kämpfen, als auch um zu leben. Aber ich kämpfe nicht, weil ich Teil einer Masse bin – eines Stammes, eines ›Volkes‹, einer Nation, einer Klasse oder einer anderen Herde – die ein gemeinsames Interesse und eine Identität teilen.

Deshalb unterscheidet sich mein nietzscheanischer und anarchistischer Ansatz sehr von den kollektivistischen Traditionen der Linken. Er vertritt oder spricht nicht für Andere und er erhebt nicht den Anspruch die Bedürfnisse oder Interessen einer Gruppe zu identifizieren. Er beginnt mit einem ›ich will‹ und nicht mit einem ›wir müssen‹.

Handlungsfelder

Ich will gegen die Systeme der Herrschaft kämpfen, mit denen ich in der Welt konfrontiert bin. Gleichzeitig möchte ich auch effektiv gegen sie kämpfen. Ich suche nicht nach einem Märtyrertum welcher Art auch immer: Weder nach der herrlich explosiven noch nach der rührenden Art, welche mit Langeweile, Burn-out und Niedergeschlagenheit daherkommt. So komme ich auf die Frage zu sprechen: Wie kann ich, während ich mein eigenes freudiges und freies Leben verfolge und ohne dabei neue Formen der Herrschaft zu erschaffen oder zu unterstützen, am effektivsten gegen diese Feind*innen kämpfen? Was kann ich als Individuum mit begrenzten Kapazitäten, Fähigkeiten und Möglichkeiten beitragen?

Obwohl es eine Vereinfachung ist, kann es hilfreich sein über Projekte und Aktionen, die ich verfolge, in verschiedenen Feldern oder Kreisen nachzudenken.

Erstens die individuelle Aktion. Ich kann effektiver kämpfen wenn ich mich selbst zu einem kraftvolleren, kohärenteren, freieren und fröhlicheren Individuum mache. Diese Art Projekt ist es, auf das Nietzsche sich größtenteils fokussiert: Projekte individueller Selbsttransformation.

Zweitens soziale Kreise der Affinität und der Allianzen. Ich möchte Freund*innen und Gefährt*innen finden, mit denen ich Projekte teilen und diese Art von Beziehungen entwickeln kann. Einige davon sind geschlossene Projekte, die auf Affinität beruhen. Die engsten Freund*innen und Gefährt*innen (auf Spanisch gibt es hier ein schönes Wort, das wir auf Deutsch nicht haben – ›afines) können sich außerdem gegenseitig bei der Entwicklung eigener individueller Kernprojekte unterstützen, auch indem sie genügend Vertrauen zueinander entwickelt, um sich zu kritisieren und herauszufordern. Dann gibt es da auch noch eher temporäre Allianzen, etwa um zu einer spezifischen Aktion oder einem Projekt zusammen zukommen, ohne darüber hinaus noch viel mehr zu teilen. Wenngleich sich solche kurzlebigen Projekte sicherlich zu neuen Affinitäten auswachsen können.

Eins ist für mich sehr klar: Meine Feind*innen sind sehr mächtig und alleine kann ich sie nicht effektiv bekämpfen. Ich werde sehr viel stärker sein, wenn ich Allianzen eingehe. Und manchmal werden die Allianzen weiter gehen als die unmittelbaren Kreise, denen ich mich Nahe fühle. Ich denke, es gibt eine wichtige nietzscheanische Frage, die hier zu untersuchen ist: Wie können wir zusammen kommen und Kollektive bilden, die nicht nur konforme Herden sind, sondern uns bei der Entwicklung unserer Individualitäten unterstützen?

Drittens weiter gefasste soziale Welten. Wie kann ich in sozialen Welten intervenieren, die aus Millionen mir unbekannter Menschen bestehen, zu denen ich keinen direkten Kontakt habe um mit ihnen tatsächlich meine Projekte zu verfolgen – darunter auch Feind*innen, also diejenigen, die mir und meinen Liebsten, sowie unseren Werten und Projekten aktiv Schaden zufügen? Und wie kann ich dies tun ohne meine eigenen Werte zu kompromittieren?

Der heutige Kapitalismus verwendet diverse Methoden oder Technologien der Unterdrückung. Dazu gehören Methoden der Eroberung, der Invasion und der traumatischen Gewalt, die von staatlichen und halbstaatlichen Söldner*innen ausgeübt werden. Und auch Methoden der Fürsorge: Dienstleistung bereitstellen, Pflaster kleben und Abhängigkeiten aufbauen. Aber die wahrscheinlich mächtigsten Technologien kapitalistischer Unterdrückung, die den gegenwärtigen Staat seit dem 20. Jahrhundert transformiert haben, sind Methoden der Ansteckung: Sich fortpflanzende Begehren, die uns zu friedfertigen aber unendlich ängstlichen produkt-gierigen Bürger*innen und Konsument*innen machen.

Um effektiv zu sein, werden unsere Allianzen an all diesen Fronten kämpfen müssen. Wenn wir den Staat und das Kapital wirklich bedrohen, werden sie mit extremer Kraft gegen uns vorgehen; daher müssen wir von vornherein Kapazitäten und Fähigkeiten für den Kampf aufbauen. Um den Kampf und das Leben zu unterstützen, müssen wir unsere eigenen Netzwerke der Fürsorge aufbauen. Aber der vielleicht dringendste Kampf überhaupt, ist der gegen die Macht der kapitalistischen Konsumbedürfnisse. Ich denke, der einzige Weg diese Kultur zu bekämpfen ist alternative Formen des Lebens zu entwickeln. Und ich denke, dazu gehört es andere Werte und Begehren zu verbreiten, mehr Menschen anzuziehen und zu inspirieren.

Wie kämpfen wir, ohne grausam oder kaltherzig zu werden? Wie sorgen wir uns um Andere, ohne Priester*innen oder Sozialarbeiter*innen zu werden? Wie verbreiten wir Begehren, ohne zu Werbeleuten oder Missionierenden zu werden?

Um bei der Beantwortung dieser Fragen zu helfen, kann dieses Prinzip als Wegweiser dienen: Wenn ich muss, werde ich erbittert kämpfen. Aber ohne dabei mit der Herrschaft Kompromisse einzugehen – ich werde niemals Teil der Herrschenden werden oder diejenigen unterstützen, die dies tun, weil sie darin ein angebliches Sprungbrett in eine bessere Welt sehen.

Schließlich möchte ich dasselbe Prinzip nicht mit anderen Menschen, sondern mit allem Leben anwenden. Wenn ich also über meine Projekte und Aktionen nachdenke, möchte ich auch darüber nachdenken, wie ich mit den natürlichen und materiellen Welten interagiere.

Der erste Teil dieses Buches hat sich auf die nietzscheanischen Projekte des ersten, individuellen Kreises konzentriert. Nun möchte ich, in diesem zweiten Teil, einige Ideen-Waffen entwickeln, die dabei helfen Fragen in Bezug auf Projekte in den sozialen Welten zu beantworten.

Kapitel 9. Soziale Ontologie für den sozialen Krieg

Ontologie kommt vom griechischen Wort Ontos, sein. Ontologie ist die Lehre dessen, was ist. Davon, welche Art von Wesen die Welt zu dem machen, was sie ist. Besteht die Welt aus Feuer oder aus Wasser? Fragten sich die ersten griechischen Philosoph*innen. Aus Atomen oder Strömen, Wellen oder Partikeln? Soziale Ontologie fragt nach den Wesen, die die sozialen Welten ausmachen: Die Welten der Menschen und anderer Tiere, mit denen wir interagieren, den Gruppen und Institutionen, die wir formen, unseren Konflikten und Kriegen.

Es ist wie mit der Philosophie – wenn wir unsere Ideen der sozialen Ontologie nicht prüfen, riskieren wir in den uns zurückhaltenden, vorherrschenden Modellen zu verharren. Kapitalistische Bewertungsweisen arbeiten zum Beispiel häufig mit einer sozialen Ontologie, die in etwa so aussieht: Die Welt besteht aus zwei grundlegenden Arten von Wesen, auf der einen Seite, menschliche Individuen; auf der anderen, Dinge – Tiere oder unbelebte Objekte. Menschliche Individuen sind ›Subjekte‹, die freie Entscheidungen treffen. Nicht-menschliche Dinge sind ›Objekte‹, die produziert, besessen, gehortet, getauscht, zerstört werden können. Menschliche Subjekte sind alle unterschiedlich, aber auch alle gleichartig, weil sie die selbe grundlegende Natur teilen, die selbe grundlegende Struktur der Vernunft und die selben Bedürfnisse und ›Interessen‹. Diese geteilten Beweggründe und Interessen leiten sie und formen Gruppen und Institutionen.

Diese liberale soziale Ontologie ist heute in diversen Formen verbreitet. Aber sie musste gegen ältere Ideen kämpfen, z.B. gegen feudale Ontologien, wie sie oft von der katholischen Kirche gefördert wurden, die die Gesellschaft als ›organisches‹ Ganzes sah, als einen sozialen Körper, in dem Individuen in verschiedene ›Stände‹ geboren wurden, von denen jeder unterschiedliche festgelegte Funktionen hatte. Diese älteren Ontologien überleben selbstverständlich noch immer. In einigen Umgebungen bleiben sie dominant; während in vielen zeitgenössischen Theorien des Sozialen, liberale und konservative Elemente miteinander verschmelzen.

Eine weitere starke Strömung kommt vom Marxismus. In vielerlei Hinsicht hat sich die soziale Ontologie des Marxismus aus dem liberalen Schema entwickelt. Denn der Marxismus, zumindest in den meisten seiner Varianten, ist gleichermaßen humanistisch: Die Welt unterteilt sich in menschliche Wesen und nicht-menschliche Dinge, die uns zur Verfügung stehen. Er ist ebenso fokussiert auf ökonomische Produktion und eine universalistische Perspektive auf die menschliche Natur: Menschen haben die selben grundlegenden Bedürfnisse und Interessen, hauptsächlich ökonomische, die sich in materiellen Dingen verwirklichen. Aber die Verfolgung unserer Interessen führt uns nicht dazu, eine große glückliche Gesellschaft zu bilden; stattdessen sind wir in gegensätzliche Klassen geteilt.

Sowohl Konservatismus als auch Liberalismus tendieren zur Untermauerung des sozialen Friedens. Im einen entsteht die Stabilität aus einer gottgegebenen sozialen Ordnung; im anderen, aus einem universellem Konsens. Natürlich gibt es immer auch Krieg. Heiliger Krieg gegen die Ketzer*innen, die Ungläubigen, die Barbar*innen und alle, die die soziale Ordnung bedrohen. Krieg im Namen des Fortschritts gegen Reaktionäre, Wilde, Terrorist*innen, und alle, die den universellen Frieden des Marktes und der Demokratie zurückweisen. Krieg ist ein Ausnahmezustand vom friedlichen Gleichgewicht – obwohl die Ausnahme irgendwie dauerhaft wird; denn es stehen immer schon weitere Barbar*innen vor den Toren.

Der Marxismus stellt den Konflikt in das Herz der sozialen Ontologie: Für ihn ist der Klassenkrieg keine seltsame Störung, er ist der eigentliche Motor der Fortschritts. Aber dieser Krieg hat einen sehr limitierten Charakter als Klassenkrieg. Die Kontrahent*innen sind keine diversen und komplexen Individuen, mit vielen wechselnden Begehren und Zugehörigkeiten sowie der Macht, eigene Projekte zu formen, sondern vielmehr ökonomische (oder andere) Kategorien, in welche wir durch Partei-Intellektuelle gesteckt werden, die unsere ›wahren‹ Interessen kennen.

Wir brauchen neue Sichtweisen auf soziale Ontologie, um das Terrain abzubilden auf dem wir kämpfen. Die vorherrschenden Varianten sind Fallen. Um auszubrechen müssen wir bessere Werkzeuge und Waffen finden. In diesem Kapitel werde ich einige skizzieren, von denen ich denke, dass sie nützlich sein können. Dies ist nur eine Reihe von Skizzen: Einige der Umrisse werden im weiteren Verlauf, in den folgenden Kapiteln, gefüllt werden.

Einige dieser Ideen kommen direkt von Nietzsche, einige von anderen Denker*innen vor und nach ihm. Einige kommen von den sogenannten ›poststrukturalistischen‹ Denkern wie Felix Guattari, Gilles Deleuze und Michel Foucault, die in vielerlei Hinsicht die Ideen Nietzsches weiterentwickelt haben. Aber ich habe auch hilfreiche Ideen aus ganz unterschiedlichen Traditionen aufgegriffen. In jedem Fall ist der Ansatz ›nietzscheanisch‹, weil er die Kernthemen weiterentwickelt, die im ersten Teil des Buches vorgestellt wurden: Menschliche Körper haben keine festgelegte Natur; sie bestehen aus multiplen Mustern des Wertens, Begehrens und Handelns, welche divers, oftmals gegensätzlich und immer offen für Veränderung sind.

1. Die Drei Ökologien

Freigeistige Individuen existieren nicht isoliert von den sie umgebenden sozialen und materiellen Welten. Die Orthodoxe ›aufklärerische‹ Theorie tendiert dazu psychologisches, soziales und materielles Leben zu zerstückeln: Die Psychologie studiert den Geist; die Sozialwissenschaften studieren das Soziale; die Physik studiert das Materielle. Wir brauchen Werkzeuge, die ihre Verflechtung berücksichtigen. Die erste Idee, die ich mir anschauen werde, kommt von dem französischen (Anti-)Psychiater Felix Guattari.

In seinem Essay Die Drei Ökologien schreibt Guattari: »Es ist nicht richtig, das Einwirken auf die Psyche, den Sozius und die Umwelt voneinander zu trennen« (1989: 32). Guattari schlägt vor, in den Begriffen von drei miteinander verzahnten ›Ökologien‹ zu denken: Der mentalen, der sozialen und der materiellen (oder wie er sagt »Umwelt, soziale Beziehungen, menschliche Subjektivität«). Ich werde hier nicht auf Guattaris eigene Diskussion im Detail eingehen, sondern sie an die im ersten Teil dieses Buches entwickelten nietzscheanischen Ideen anpassen.

Um genauer zu sein: Die drei Ökologien sind keine unterschiedlichen Welten, sondern drei unterschiedliche Arten auf die Welt zu schauen, drei Perspektiven, oder wie Guattari sagt, »drei ökologische Sichtweisen«, drei »Gläser« (ebd: 51). Jede betrachtet die Welt als aus interagierenden Entitäten zusammengesetzt, wählt aber verschiedene Arten von Wesen und verschiedene Arten von Beziehungen zwischen ihnen aus.

In der mentalen Ökologie sind die Wesen, die wir betrachten, Muster von Trieben der Bewertung, des Begehrens und des Handelns. Uns interessiert, wie sich diese Muster entwickeln, wie sie miteinander interagieren, wie sie sich transformieren, wie sie sich ausbreiten – sowohl innerhalb ›individueller‹ Psychen/Körper, aber auch zwischen ihnen und über sie hinweg; z.B. durch mimetische Nachahmung oder durch Formen der Bildung. (Wie Guattari es ausdrückt, beobachtet die mentale Ökologie Facetten einer »prä-objektalen und prä-personalen Logik« (ebd: 52).

In der sozialen Ökologie sind die Entitäten, die wir betrachten Körper/Triebe, Körper die aus vielen Mustern des Bewertens, des Begehrens und des Handelns zusammengesetzt sind. Diese Körper können zu Individuen mit mehr oder weniger stabilen Identitäten geordnet werden. In jedem Fall sind wir nun daran interessiert, wie sie zusammenkommen um vielerlei Gruppen und Allianzen zu formen: Kollektive, Support-Netzwerke, Institutionen, Hierarchien, etc. Und wie Körper und ihre Gruppierungen miteinander kollidieren.

In der materiellen Ökologie, betrachten wir die Körper, aber diesmal nicht als Psyche/Körper/Triebe sondern als organische und anorganische Körper. Die Prozesse und Beziehungen für die wir uns hier interessieren, können elektrische, mechanische, chemische, biochemische, genetische und epigenetische oder sonstige sein.

Natürlich können viele Entitäten und Beziehungen durch multiple Linsen betrachtet werden. Vielleicht schauen wir auf soziale Gruppen als eine Ansammlung physischer Organismen, eine entlang von Allianzen und Antagonismen strukturierte Ansammlung von Individuen, oder eine Ansammlung von Begehren, die sich in Körpern niederlassen und sich zwischen ihnen bewegen. Häufig müssen wir uns zwischen diesen Perspektiven bewegen.

Warum sie als Ökologien bezeichnen? Der Gedanke ist der: Wie die von Ökologen*innen untersuchten biologischen Welten ist jede eine hochkomplexe Umgebung, bewohnt von vielen verschiedenen, aber miteinander verbundenen Wesen; in welcher sich diese Wesen und die Beziehungen zwischen ihnen ständig ändern und entwickeln; so dass jeder Zustand oder jede Bedingung der Ökologie zu einem gegebenen Zeitpunkt vorübergehend und prekär ist und zukünftige Zustände sehr unvorhersehbar sein können.

Ein Hauptziel des ersten Teils dieses Buches war es, Nietzsches Punkt hervorzuheben, dass die einzelnen Psychen/Körper nicht eine Art von abgeschlossenem Selbst sind, nicht wie Atome, wie es die Theorie der Aufklärung es uns zu lehren versucht hat. Psychen/Körper sind in der Tat Welten, in denen vielfältige, diverse und transformierende Werte, Begehren, Praktiken, Überzeugungen, Ideen, Gewohnheiten etc. leben. Jedoch sind auch diese psycho-physiologischen Entitäten nicht in den Mauern eines einzigartigen Individuums begrenzt. Die psychische Ökologie überfließt die einzelnen Körper.

In diesem zweiten Teil werden wir die Welt zu meist durch die soziale Linse betrachten: Wir sollten uns nun anschauen, wie Körper sich aufeinander beziehen.

2. Assemblagen

Eine Ökologie besteht aus mehreren Wesen, die miteinander interagieren. Aber eine weitere Warnung: Wir können nicht davon ausgehen, dass irgendein Wesen eine feste Identität hat.

Das wird vielleicht am deutlichsten, wenn wir auf die soziale Ökologie schauen. Jede soziale Gruppe oder Institution, von einem Haufen Freund*innen bis zur Bank of England, von der Affinitätsgruppe bis zum Staat, ist ein temporäres Arrangement. Sie besteht aus einer Reihe von Körpern, die zusammen kommen und in gewisser Weise miteinander in Beziehung stehen. Im Laufe der Zeit verändern sich diese Körper und ihre Beziehungen und die betreffende soziale Entität stirbt, spaltet sich, wächst oder verwandelt sich in etwas Neues.

In einer berühmten Passage aus der Genealogie über die Geschichte der ›Justiz‹ und der Bestrafung, betont Nietzsche dies nachdrücklich. Er greift die liberalen Theoretiker*innen an, die er ›englische Genealogen‹ nennt, weil sie davon ausgehen, dass eine soziale Institution oder Praxis eine feste Identität und Funktion hat – nämlich jene, die sie ihr in ihrem eigenen ideologischen System selber zuweisen. Für ihn jedoch, »giebt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, […] dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird […]« (GM2:12).[47]

Das selbe gilt für psychische und materielle Ökologien. Ein materieller Körper, sagen wir ein Diamant, ein Fahrrad oder ein Bison, ist eine vorübergehende Anordnung von Materie, die durch bestimmte physikalische Prozesse zusammengeführt wird – verschmolzen, komprimiert, verbrannt, verschweißt, verschraubt, verriegelt, verwachsen, gegessen und verdaut, oder was auch immer – und der für eine bestimmte Zeitspanne hält, bevor er zerbricht, sich zerstreut, verrostet, verrottet oder anderweitig auseinander gebrochen wird. Auch in der psychischen Ökologie untersuchen wir, wie bestimmte Werte, Begehren und Praktiken zwischen den Körpern fließen. Wie sie organisiert und geordnet sind und wiederum die von ihnen gebildeten Körper gestalten und transformieren. Auch hier ist eine Anordnung oder Zusammensetzung eines aus Trieben zusammengesetzten Körpers immer ein vorübergehendes Arrangement: Es mag chaotischer und zerbrechlicher oder starrer und stabiler sein, aber es ist niemals ewig.

Es kann helfen sich all diese Körper, Gruppen und Institutionen als Assemblagen vorzustellen. Diese Idee wurde von Felix Guattari und Gilles Deleuze in ihrem Buch Tausend Plateaus entwickelt. Manuel de Landas jüngste Arbeit über Assemblagen, sein Buch A New Philosophy of Society ist hier ebenfalls hilfreich. Eine Assemblage bezeichnet jede Ansammlung zusammengesetzter Elemente, die in einer Anordnung zusammengehalten wird, egal wie prekär oder stabil diese auch sein mag. Eine Assemblage wird gemacht, zusammengesetzt – und dann wieder auseinandergenommen. Die Elemente werden durch Prozesse der Vereinigung zusammengebracht (z.B. Nägel, sexuelles Verlangen, gegenseitiges Interesse), durch stabilisierende Prozesse beisammen gehalten (z.B. Schwerkraft, Korrosion, Faulheit), und brechen, früher oder später, durch Prozesse der Destabilisierung und Zerlegung wieder auseinander (z.B. Vorschlaghammer, Unruhe). Beachten wir, dass dieselben Kräfte sowohl bei der Montage, als auch bei der Demontage eine Rolle spielen können. Rost kann ein Glied schwächen oder zusammenschweißen. Die Trennung einer Beziehung, kann eine andere entfachen etc.

Wenn eine Assemblage zerbricht, können ihre Komponenten mit anderen zusammentreffen und neue Assemblagen bilden. In Nietzsches Genealogie der Moral überleben zum Beispiel die ressentimentgeladenen Triebe der Sklavenmoral den Niedergang des christlichen Dogmas und nehmen im weltlichen Sozialismus neue ideologische Formen an. De Landa macht dies deutlich, indem er sagt, dass die Elemente einer Assemblage durch »Beziehungen der Äußerlichkeit« (2006:10) miteinander verbunden sind. Eine Beziehung der Äußerlichkeit ist eine kontingente Beziehung zwischen Elementen, in der ein Element »[von einer Assemblage] gelöst und mit einer anderen Assemblage verbunden werden kann« (ebd). Dieser Punkt ist wichtig, weil er einer dominanten Denkgewohnheit in der sozialen Ontologie entgegenwirkt, dem was De Landa die ›organismische Metapher‹ nennt. Demnach werden Individuen oder Klassen usw. als Organe eines größeren sozialen Körpers betrachtet. In der ›funktionalistischen‹ Soziologie zum Beispiel werden Gruppen oder Klassen durch ihre ›Funktion‹ innerhalb der ›Gesellschaft‹ als ein Ganzes identifiziert und definiert.

Um mit der Angewohnheit dieses organismischen Denkens zu brechen wenden sich Deleuze und Guattari oft dem Bild einer Maschine oder einer biologischen Symbiose zu. Maschinen sind aus Komponenten hergestellt, die demontiert und zu neuen Maschinen wieder zusammengesetzt werden können. Eine Wespe und eine Orchidee, ein Mensch und die Milliarden von Bakterien, die in seinem Darm leben, bilden symbiotische Assemblagen. Sie brauchen einander um zu leben, aber wir können sie trotzdem als separate Wesen mit ihren eigenen Identitäten identifizieren. Es gibt wirklich keine klare Trennungslinie zwischen einem Organismus und einer Symbiose: Einige Wesen sind auf symbiotische Beziehung für ihre Existenz angewiesen; neue Technologien erlauben es Organe zu entfernen und wieder zusammenzubauen, oder Tier/Maschinen Cyborgs mit künstlichen Gliedern und Organen zu erschaffen. Was sind Organismen denn anderes, als relativ stabile Assemblagen, die wir gelernt haben als eins zu betrachten?

Der Kernpunkt ist, dass Assemblagen zwar durch Abhängigkeiten zusammengehalten werden können, aber solche Beziehungen sind, wie De Landa es ausdrückt, »bedingt obligatorisch«, aber nicht »logisch obligatorisch« (ebd:11): d.h. veränderbar. Es gibt Wespen ohne Orchideen und Menschen mit Eisenlungen. Es gibt keine Einhörner, aber nicht weil sie logisch unmöglich wären. Die Menschen haben sich an Staaten und Märkte gewöhnt, aber das kann sich ändern.

Schließlich sollten wir feststellen, dass am Ende alles eine Assemblage ist. Wie wir seit der Entwicklung der Kernphysik wissen, gibt es keine ultimative atomare Schicht immerwährender kleinster Teile, die nicht gebrochen und in neue Dinge umgeordnet werden könnten. Ein Individuum, ein Körper, ein Trieb … für den Moment mögen wir sie als stabil betrachten und ihnen Namen geben, aber sie können alle in kleinere Teile zerlegt werden. Keine Atome Assemblagen bis zum letzten Teilchen.

3. Begegnungen

Wir können den Ausgangspunkt für einen Großteil von Nietzsches Denken so sehen: Zwei Körper treffen sich, was passiert dann? Denken wir zum Beispiel an Nietzsches Erzählung vom Staat. Die zwei Körper sind in diesem Fall zwei Stämme. Sie wurden durch den Herdeninstinkt und die ›Sittlichkeit der Sitte‹ zusammengeführt und stabilisiert. Der eine wurde besonders stark und aggressiv, der andere zur ruhigeren ›Masse‹.

An dieser Stelle ein paar Dinge, die passieren können, wenn Körper aufeinandertreffen. Vielleicht passiert gar nicht viel: Nur ein Blickkontakt und dann gehen beide ihren eigenen Weg. Vielleicht aber verändert die Begegnung ihre Wege, wie bei der Kollision von Billardkugeln, die beide in neue Richtungen schickt – ansonsten aber, scheinen sie genauso wie zuvor und ihre innere Zusammensetzung bleibt unverändert. Oder sie bewegen sich weiter in ihre eigene Richtung, aber die Begegnung hat sie verändert – wie die Kollision von zwei Autos, die verbeult weiterfahren. Oder die Begegnung zerlegt die bestehenden Körper: Sie zerteilen sich, etwas fällt ab, vielleicht wird einer oder beide zerstört (zertrümmert, abgeschrieben, in kleine Stücke versprengt). Oder vielleicht fügen sie sich zu einem Ganzen zusammen: Beide Körper oder Teile von ihnen schließen sich zusammen und bilden neue Körper.

In Nietzsches Erzählung über den Staat bilden die beiden Körper eine neue Assemblage, die Staatsgesellschaft, mit ihrer Hierarchie, den herrschenden und den beherrschten Kasten. Hier sind die beiden Körper miteinander verbunden, behalten aber auch ihre getrennten Identitäten. Diese Identitäten werden jedoch transformiert. Zunächst sind es die Versklavten, die durch die Begegnung am radikalsten verändert werden: Die Unterdrückung und Verinnerlichung ihrer »Instinkte der Freiheit« (GM2:16) macht sie krank, kreiert die Krankheiten der Schuld und des Grolls, aber auch eine neue ›innere Welt‹ des Bewusstseins, in der der »Sklavenaufstand in der Moral« (GM1:10) aufflammt. Die langfristigen Auswirkungen dieser psycho-politischen Veränderungen betreffen auch die herrschenden Klassen, die ebenfalls geschwächt und von christlichen Werten infiziert werden. Diese komplexen Entwicklungen sind das Ergebnis des initialen Treffens der beiden Stämme; jedoch auch etlicher anderer Begegnungen und der vielen Möglichkeiten, wie Körper diese gestalten und auf sie reagieren.

Sehr allgemein gehalten, können wir verschiedene Arten von Prozessen beobachten: Demontageprozesse, die die Bindungen bestehender Körper zusammenhalten, trennen oder schwächen; Montageprozesse, die die Teile bestehender Körper oder Gefüge in ihrer Gesamtheit zu neuen Körpern zusammenbringen; Neuordnungsprozesse, bei denen bestehende Körper ihre Identität behalten, aber ihre inneren Komponenten auf andere Weise verändert werden. Es gibt auch kreative Prozesse, Begegnungen, die unerwartete Veränderungen auslösen.

Das übliche Muster in Nietzsches Erzählungen ist aber, dass es einen starken und einen schwachen Körper gibt, einen dominierenden und einen der sich unterwerfen soll – aber immer auch widersetzt. Nietzsche sieht diese Dynamik der Herrschaft und des Widerstandes überall und mit besonderem Nachdruck in seinen späteren Schriften, in denen er die Idee des ›Willens zur Macht‹ entwickelt: »insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter« (GM2:11). Folglich fasst Nietzsche zusammen, wie sich Institutionen und Praktiken (wie die Bestrafung) durch neue Begegnungen ständig verändern und entwickelt so seine genealogische Darstellung:

»[Die] ›Entwicklung‹ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen.« (GM2:12).

Dieser Fokus auf Konfrontation ist einer der Gründe, die das nietzscheanisches Denken für uns so wertvoll machen. Er durchbricht das liberale Dogma, nach welchem das soziale Leben auf Übereinstimmung und Konsens basieren würde. Er hilft uns Waffen für den sozialen Krieg gegen die Ausbeutenden und Herrschenden zu entwickeln. Aber er ist auch begrenzt. Es gibt noch andere Arten von Begegnungen, die wir betrachten müssen: Allianzen und Affinitäten, Beziehungen der Liebe, des Vertrauens, der gegenseitigen Hilfe, des gemeinsamen Begehrens und der Komplizenschaft. Tatsächlich ignoriert Nietzsche trotz seines Getöses kreative Begegnungen nicht komplett. Der kriegerische Körper des edlen ›Rudels‹ wird gerade deshalb stark gemacht, weil die Bräuche seine Mitglieder als eine organisierte Allianz zusammenhalten. Nietzsche hat auch wichtige und schöne Dinge über Freundschaft zu sagen. Doch um eine nietzscheanische Sozial-Ontologie bis ins kleinste Detail zu durchdenken, müssen wir über Nietzsches eigene Grenzen hinausgehen.

4. Skripte

In den Kapiteln 3 und 4 haben wir uns mit der Idee des ›Skripts‹ beschäftigt: Ein wiederkehrendes Interaktionsmuster, bei dem zwei oder mehr Körpern definierte Rollen zugeordnet sind und beide voneinander erwarten, dass sie sich in bestimmter Weise verhalten. Zum Beispiel gibt es Skripte die regeln, wie man am Arbeitsplatz interagiert, auf dem Markt, mit Bullen, mit Chef*innen oder Bettelnden, mit Menschen eines anderen Geschlechts oder einem anderen sozialen Status, Freund*innen oder Fremden, Leuten aus der eigenen Gruppe oder externen Personen etc.

Das ist bei vielen sozialen Begegnungen so. Wir kategorisieren die Situation in der wir uns befinden, identifizieren welche Körper welche Rollen übernehmen, und gehen die üblichen Vorschläge des Skripts durch. Solange alle dem erwarteten Skript folgen, gibt es keine Überraschungen. Diese Art von Begegnungen werden wiederholt und sind stabil. Sie treten in bestehenden Assemblagen auf und helfen sie zu festigen. Und dann gibt es Momente, in denen die Skripte kaputt gehen, die Spieler*innen die Regeln nicht mehr befolgen.

5. Projekte und Kräfte

Mit einem Projekt meine ich die Bekräftigung bestimmter Werte und Begehren durch ein kontinuierliches Vorgehen. Ein Projekte kann bewusst ausgearbeitet sein, oder auch nicht. Individuen, Kollektive und alle Art von Körper/Trieben können Projekte haben. Ein Körper/Trieb kann multiple Projekte haben, die ihn in verschiedene Richtungen ziehen, oder er kann ein Projekt konsistent und entschlossen verfolgen.

Eine Sache, die uns interessieren wird, ist die Kraft eines Körpers seine Projekte zu verfolgen und zu realisieren. Oder um genauer zu sein, seine Kräfte, Plural. So wie ein Körper mehrere Projekte haben kann, kann er auch mehrere Kräfte haben. Ich habe vielleicht die Macht mich selbst zu ernähren, eine*n Freund*in zum Lächeln zu bringen, aus dem Gefängnis zu fliehen, die in meinem Körper versteckten Normen ans Tageslicht zu bringen, etc. Kräfte können sehr unterschiedlich sein: Beispielsweise hat diese Kraft die Macht eine Armee aufzustellen, aber nur diese eine andere hat die Macht dich zum Lächeln zu bringen, also welche ist mächtiger? Im weiteren Verlauf wird es oft einfacher sein nur über ›Kraft‹ zu sprechen, Singular. Es ist aber wichtig daran zu denken, dass das eine Vereinfachung ist. Wenn wir sagen: ›Ein Körper wird mächtiger‹ bedeutet das, dass er seine Kräfte gesteigert oder neue gewonnen hat – aber vielleicht musste er dabei einige andere verlieren. (Ich werde mich in Kapitel 9 näher mit Ideen von Kraft befassen).

Eine Begegnung kann Körper mehr oder weniger mächtig machen. Auch dies kann auf verschiedene Arten geschehen, da Begegnungen verschiedene Prozesse beinhalten. Hier sind einige Beispiele:

  • Ein Körper kann seine Kraft erhöhen oder verringern indem er Werte, Begehren und Praktiken anderer imitiert, von ihnen lernt und sie einbezieht.

  • Ein Körper kann seine Kraft erhöhen, wenn er gezwungen ist sich zu verändern, disziplinierter und konsequenter zu werden, um Begegnungen mit anderen zu überleben. Nietzsche betont oft diese Rolle der Begegnung in der Auseinandersetzung von Körpern, auch bei der Begegnung mit Freund*innen. In einer viel zitierten Passage aus Götzen-Dämmerung zum Beispiel heißt es: »Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker« (GD-Sprüche-8).

  • Natürlich können Körper auch zerstört, verletzt und traumatisiert werden.

  • Ein Körper kann seine eigene Kraft vergrößern indem er andere versklavt oder ausbeutet. Das passiert in Nietzsches Erzählung vom Staat: Die Herrschenden erschaffen eine hierarchische Assemblage in der die Sklav*innen sowie ihre Körper und Ressourcen als Instrumente zum Vorteil der Projekte der Herrschenden nutzbar gemacht werden.

  • In dieser Assemblage wird die Macht der Sklav*innen, ihren eigenen ›Instinkte[n] der Freiheit‹ zu folgen, stark geschwächt.

  • Körper können ihre Macht auch vergrößern indem sie nicht-hierarchische Koalitionen und Kollektive bilden. Nietzsche spielt diesen Punkt herunter. Aber er taucht trotzdem in seinen Erzählungen auf: Schließlich ist der erobernde Stamm ein solches Bündnis: eine Gemeinschaft »in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion« (GM3:18), »kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren« (GM2:17).

  • Nietzsche betont oft, dass nicht-hierarchische Kollektive auch schwächende Kräfte sein können. Dies wirft eine große Frage auf, auf die wir in späteren Kapiteln zurückkommen werden: Welche Arten von Allianzen oder Kollektiven können wir eingehen, die unsere Kräfte als Individuen verstärken, anstatt sie zu verringern?

  • Auch durch Trennung können Körper mehr oder weniger kräftig gemacht werden. Zum Beispiel kann das Beenden oder Entfliehen aus einer Beziehung, die uns hemmt, uns helfen wieder auf eigenen Füßen zu stehen und unsere Kraft verstärken.

6. Freudige und traurige Begegnungen

Es kann hilfreich sein, hier einen anderen Philosophen ins Spiel zu bringen: Baruch Spinoza. Während Nietzsche dazu neigt, Begegnungen durchweg unter dem Gesichtspunkt von Herrschaft zu betrachten, hat Spinoza eine reichere Sichtweise, die Nietzsches ergänzen kann. Nietzsche zusammen mit Spinoza zu lesen ist nichts Neues: Ein großer Verfechter dieser Lesart ist wieder Gilles Deleuze, dessen Buch Nietzsche und die Philosophie vielleicht als spinozistisch-nietzscheanische Ontologie bezeichnet werden könnte.

In seiner Interpretation von Spinoza unterscheidet Deleuze zwei Arten von Begegnungen zwischen Körpern; sie lassen sich durch die Auswirkungen (Emotionen) charakterisieren, die sie in uns hervorrufen: Entweder »freudig« oder »traurig« (1968:239) [in: Expressionism and Philosophy, Deleuze, Gilles, 1968]. Eine freudige Begegnung ist eine Begegnung mit einem anderen Körper der »mit meiner Natur übereinstimmt« und »meine Handlungsmacht erhöht« (ebd). Eine traurige oder ›böse‹ Begegnung ist eine, die meinen Körper schwächt und darauf wirkt wie ein zersetzendes Gift – wie Spinoza in seiner Korrespondenz mit Blyenburgh erklärt (ebd:248). Deshalb ist es wichtig herauszufinden, welche Körper mit uns ›übereinstimmen‹ und ihre Gesellschaft zu suchen; und diejenigen zu meiden, die uns krank machen.

Spinoza ist eine der großen Gestalten des frühen liberalen Humanismus, in seiner Zeit ein radikaler Demokrat (Amsterdam des 17. Jahrhunderts). In seinem Tractatus Politicus entwickelt er eine demokratische Theorie, die auf der Idee basiert, dass: »Wenn zwei Personen mit einander übereinkommen, und ihre Kräfte vereinigen, so vermögen sie zugleich mehr, und haben folglich auf die Natur beyde zugleich mehr Recht, als ein jeder von ihnen einzeln hat« (1785:2.22). In der jüngsten politischen Philosophie haben die linken Philosophen Antonio Negri und Michael Hardt stark auf einige spinozistische Ideen zurückgegriffen, um neue Formen des (post-)marxistischen Humanismus und der Weltregierung zu propagieren.

Aber wir müssen Spinoza nicht in dieser Weise denken. Menschliche Gesellschaften können toxische Begegnungen sein und die Begegnungen, die uns helfen zu gedeihen, können über das hinausgehen, was sich Spinoza oder Negri jemals erträumt haben. Es geht nicht darum vorzuschreiben welche Formen der ›Gesellschaft‹ angeblich gut für uns alle sind. Vielmehr können wir Spinozas Bezugsrahmen von freudigen und traurigen Begegnungen mit Nietzsches Beharren auf radikalen Unterschieden in den Körpern verbinden, so kann die Entwicklung unserer Individualitäten uns auf sehr unterschiedliche Wege führen.

7. Feinde und Verbündete

Wir leben im sozialen Krieg. Es gibt Körper und Assemblagen die Projekte der Herrschaft und Ausbeutung verwirklichen: Bewusst oder unbewusst machen sie sich auf einzudringen, zu zerstören, zu verletzen und zu versklaven, unsere Energien zu stehlen und uns zu ihren Instrumenten zu machen. Wenn wir uns von diesen Körpern gefangen nehmen lassen, uns in ihre Hierarchien integrieren lassen, werden sie uns schwach und krank machen. Kurz gesagt: Ihre und unsere Projekte sind gegensätzlich. Sie werden mächtiger, können ihre Projekte besser verfolgen, indem sie uns weniger mächtig machen. Das sind traurige, ›böse‹ Begegnungen.

Ich definiere eine*n Feind*in als einen Körper, dessen Projekte direkt die meinen schädigen und der bei der Verfolgung dieser Projekte versucht mich anzugreifen, mich in eine schädliche Begegnung zu zwingen. Im Gegensatz dazu definiere ich eine*n Verbündete*n als einen Körper dessen Projekte meine Kraft erhöhen. Eine Begegnung zwischen Verbündeten ist also das, was Spinoza eine freudige Begegnung nennt.

Sicherlich beeinflussen und transformieren sich Körper in vielerlei Hinsicht. Ihre Begegnungen nur in Bezug auf Projekte und Kraft zu betrachten, bedeutet eine besondere und recht begrenzte Perspektive einzunehmen, umso mehr wenn wir Körper nur als verbündet oder feindlich identifizieren. Wir können dies, die Perspektive des sozialen Krieges nennen. Es kann entscheidend sein die Welt so zu betrachten, denn ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen denen gegenübertreten, deren Ziel es ist uns zu dominieren und auszubeuten. Aber wir sollten die Begrenztheit dieser Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Das Leben ist Krieg, aber es ist auch viel mehr als das.

8. Kulturen: Lebensformen und Kultur-Assemblagen

Ich benutze den Begriff ›Lebensform‹, um eine breite Kollektion von wiederkehrenden und ineinandergreifenden Werten, Begehren, Praktiken, Projekten, Normen, Skripten usw. zu beschreiben. Soweit ich weiß, war es der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1958), der diesen Begriff zum ersten Mal verwendete um über soziale Welten nachzudenken: Er schreibt, dass die ›Sprachspiele‹, die Menschen spielen wenn sie kommunizieren, nur vor einem reichen und komplexen gemeinsamen Hintergrund funktionieren.

Ein einzelner Körper kann eine bestimmte Lebensform haben, aber Lebensformen werden auch zwischen Körpern, innerhalb von Gruppen, geteilt. Wir können sagen: Wenn zwei oder mehr Körper viele sich überschneidende Muster von Wertschätzung, Begehren und Handeln teilen, dann teilen sie eine Lebensform.

Wie verhält sich diese Idee zu Assemblagen und Begegnungen? Körper, die eine Lebensform teilen befinden sich oft auch in einer stabilen Beziehung zueinander. Zum Beispiel teilen Mitglieder einer Herde eine sehr spezifische Lebensform, weil sie die gleiche Erziehung teilen und ihre Konformität durch kontinuierliche Interaktionen nach den gleichen gemeinsamen Skripten ständig verstärkt wird. Bis vor kurzem hatten die weit voneinander entfernt aufwachsenden Menschen wahrscheinlich ganz unterschiedliche Lebensformen; im 21. Jahrhundert teilen wir wegen Kolonialismus, Globalisierung und Konsumkapitalismus wahrscheinlich sehr viel mehr.

Das wir eine Lebensform teilen – oder, ganz allgemein, ähnliche Projekte – macht uns nicht unbedingt zu Verbündeten. Einige Lebensformen können starke Allianzen anregen. Bei Nietzsche zum Beispiel sind die edlen Leute in der Lage, sich für den Krieg zu organisieren, weil sie durch eine gemeinsame kriegerische Lebensform miteinander verbunden sind. Andere Lebensformen jedoch können Zerstreuung, Isolation und Wettbewerb fördern.

Neben dem philosophischen Begriff ›Lebensform‹, könnten wir auch ein häufiger verwendetes Wort benutzen: Kultur. Allerdings müssen hier wir ein wenig vorsichtig sein, denn dieses Wort bringt eine Menge Ballast mit sich. Nietzsche selbst verwendet ›Kultur‹ immer im elitären Sinne einer ›höheren‹ oder ›fortgeschrittenen‹ Lebensform der Adlige und Künstler*innen angehören. Obwohl sie sich darüber hinaus über nicht vieles einig waren, ist Nietzsche hier nicht weit entfernt von Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, wie dem viktorianischen Dichter und Kritiker Matthew Arnold: er definierte Kultur als »das Beste, was je gedacht und gesagt wurde in der Welt« (1869). Stattdessen ist die Idee der Kultur die wir brauchen, näher an der ›britischer Kulturtheoretiker*innen‹ des späten 20. Jahrhunderts wie Raymond Williams. Für Williams bedeutete Kultur »eine spezifische Lebensweise, sei es eines Volkes, einer Periode, einer Gruppe oder der Menschheit« (1976:90).

Aber ich möchte hier auch noch eine weitere Idee vorstellen. Was bedeutet es, von einer ›kapitalistischen Kultur‹ zu sprechen, oder von der Kultur eines ›Volkes‹, einer staatlichen Gesellschaft, Klasse, oder ähnlichem? Auf der einen Seite, gibt es innerhalb jeder sozialen Assemblage gemeinsame Muster und Projekte, aber es gibt auch klare Differenzen. Zum Beispiel sind wir, die im globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts aufwachsen, ähnlichen Bedürfnissen nach Konsumgütern ausgesetzt; der Wertschätzung von Reichtum und wirtschaftlichem Status; einer Weltanschauung, als bestünde diese Welt aus Objekten, die von uns verwendet, gehortet, gehandelt und genossen werden sollten. Aber auf der anderen Seite, gibt es auch im Kapitalismus viele sehr unterschiedliche Lebensformen: z.B. die gemeinsamen Lebensformen von Fabrikarbeiter*innen oder migrantischen Landarbeiter*innen, von Manager*innen, politischen bzw. militärischen Eliten, multiple nationale Identitäten, Religionen, Eliten, Gegenkulturen etc.

Um diese Aspekte zu erfassen können wir uns eine Kultur als eine Kultur-Assemblage vorstellen. So wie Herrschende und Sklav*innen durch eine staatlich organisierten Gesellschaft verbunden sind, so sind ihre jeweiligen Lebensformen als Kultur-Assemblage miteinander verbunden. Im Allgemeinen können wir eine Kultur-Assemblage als eine Assemblage von Lebensformen mehrerer Gruppen betrachten, die getrennte, aber voneinander abhängige Identitäten haben. Wie andere Assemblagen auch, kann eine Kultur-Assemblage mehr oder weniger kohärent und stabil sein – oder prekär und durch Konflikte und Antagonismen gespalten.

9. Ansteckende Begierden

Eine Möglichkeit wie ein Körper durch eine Begegnung verwandelt werden kann ist diese: Er kann neue Werte, Begehren und Praktiken von den Körpern aufnehmen, denen er begegnet. Wir könnten auch sagen: Werte, Begehren und Praktiken können zwischen den Körpern weitergegeben oder übertragen werden.

Im ersten Teil dieses Buches haben wir uns einige der Möglichkeiten angesehen, wie dies geschehen kann – wenn auch sicherlich nicht alle. Zum Beispiel: Sogar menschliche Babys haben eine starke Tendenz zur Mimesis, der unbewussten Nachahmung von Gesten, Verhaltensmustern, Emotionen; wie auch zur Bewertung des Verhaltens anderer Körper in ihrem Umfeld (siehe Kapitel 3). Kinder entwickeln während sie aufwachsen weitere Möglichkeiten der Nachahmung und des Lernens, einige davon mit Sprache und reflektierendem Bewusstsein. Diese ›Übertragungswege‹ entwickeln sich in unterschiedlichem Tempo, ersetzen sich aber nicht gegenseitig: So ist beispielsweise die Mimesis im erwachsenen Körper noch sehr lebendig; wir absorbieren unbewusste Hinweise Anderer und passen uns ständig an.

Ganz allgemeinen können wir also sagen, dass Körper ständig neue Werte, Begehren und Praktiken von Anderen, denen sie begegnen, über eine Vielzahl von miteinander verbundenen Übertragungswegen annehmen. Dieser neue ›Input‹ interagiert auf komplexe Weise mit den bestehenden Mustern, die in die Körper eingeschrieben sind. Infolgedessen können Begegnungen Körper und ihre wiederkehrenden Muster der Wertschätzung, des Begehrens und Handelns verändern.

Der Kernpunkt im Hinblick auf unsere soziale Ontologie ist folgender: Körper sind keine geschlossenen Gefäße. Sie sind porös, undicht. Werte, Begehren, Ideen, Überzeugungen, Affekte, Gewohnheiten, etc. fließen zwischen den Körpern und formen sie neu. Aber Körper können mehr oder weniger offen oder verschlossen werden. Wir haben uns einige Faktoren angesehen die relevant sein könnten:

  • Die Übertragung ist wahrscheinlich stärker, wenn der Kontakt näher, länger und wiederholter ist;

  • kleine Kinder scheinen besonders empfänglich für Mimesis zu sein;

  • menschliche Körper sind im Allgemeinen offener für Übertragungen, wenn sie sich anderen nahe fühlen, sie lieben, ihnen vertrauen, sie bewundern etc. – und sie als Mitglieder ihrer Gruppe oder ›Herde‹ identifizieren;

  • menschliche Körper greifen eher Muster auf, die in gewissem Sinne zu ihren bestehenden Projekten und Lebensformen ›passen‹;

  • Menschen können bewusste und unbewusste Widerstände gegen mimetische Ansteckung aufbauen – sich verschließen, Barrieren errichten;

  • Barrieren können durch emotionale Umwälzungen, z.B. durch Traumata, abgebaut werden.

In Nietzsches Erzählungen in der Genealogie sind sowohl ›öffnende‹ als auch ›schließende‹ Prozesse am Werk. Sie fungieren sowohl als Prozesse der Montage, als auch der Demontage bestehender Körper. Innerhalb des Stammes hilft der Herdeninstinkt dabei, die Körper für mimetische Verbreitung zu öffnen. Die Edlen, die sich zu kriegerischen Gruppen zusammenschließen, entwickeln eine gemeinsame Lebensform, die sie zelebrieren: »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!« (GM1:10). Die Sklaven, die sich in »[d]iese[r] Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt« (GM1:14) zusammenkauern, teilen neue Werte und Praktiken als Reaktion auf das kollektive Trauma der Eroberung. Zwischen den beiden Kasten sind die mimetischen Barrieren jedoch stark. Nietzsche betont insbesondere, dass die Herrschenden durch den ›Pathos der Distanz‹ eine emotionale und kulturelle Trennung von den Sklav*innen aufrechterhalten: ein »Ausblick und Herabblick«, ein »Nieder- und Fernhalten« (JGB257).

Was wir in Nietzsches staatlicher Assemblage also vorfinden, ist eine streng getrennte soziale Ökologie. Die soziale Welt ist in zwei miteinander verbundene, aber separierte Bereiche aufgeteilt. Die mimetische Ansteckung verläuft innerhalb jeder Sphäre frei, ist zwischen ihnen aber blockiert. Wenn diese Barriere fällt, sind die Herrschenden in Schwierigkeiten. Dies ist das letzte dénouement, die letzte Auflösung in Nietzsches Erzählung der ›Sklavenrevolte‹. Im Grunde genommen werden die Herrschenden schwach und faul nachdem sie ihr Reich erobert haben und öffnen sich der Ansteckung durch die Begehren ihrer Untergebenen. Ein wichtiger Übertragungsweg in dieser Erzählung ist die christliche Religion.

Wir können also sagen: Wenn sich eine Lebensform oder Kultur entwickeln und als etwas Eigenständiges erhalten will, dann muss sie eventuell einen, gegenüber anderen Kulturen, relativ geschlossen Raum aufrechterhalten. Diese Abgeschlossenheit kann auf unterschiedliche Arten funktionieren. Beispielsweise durch schiere physische Distanz, schieres Unverständnis, oder durch die Schaffung einer Art psychischen Barriere.

10. Kreativität

Wir haben uns angesehen, wie sich Werte und andere Muster ausbreiten – aber woher kommen neue Werte überhaupt? Mit dieser Frage hatte Nietzsche, und viele andere nach ihm, in seinem gesamten Werk zu kämpfen. In Nietzsches Werk gibt es zwei Hauptgedanken zum Thema ›Werthschöpfung‹. Manchmal, besonders in späteren Werken, betont er die Idee, dass neue Werte »aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber [herauswachsen]« und von einem starken oder »vornehmen« Körper geschaffen werden (GM1:10). Aber er hat auch eine andere Idee, die wir uns bereits in Kapitel 7 angesehen haben und die ich interessanter finde: Körper werden angespornt neue Werte, Begehren und Verhaltensweisen zu erfinden, wenn ihre üblichen Wege durch schwierige oder feindliche Begegnungen blockiert werden.

Nietzsche entwickelt diese Idee in Menschliches, Allzumenschliches in einer Reihe von Bildern, die über kreative ›Genies‹ reflektieren. Ein*e Gefangene*r, der*die in einer Zelle eingesperrt ist und mit »Witz […] nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht« (MA231); »Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat […] entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt« (ebd); sowie »eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt« (ebd). Im Allgemeinen scheint das Genie eine Antwort auf Misshandlungen und Qualen zu sein:

»dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius’ empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über« (MA233).

Dieses Thema hat auch in der Genealogie eine zentrale Bedeutung. Die Sklavenrevolte beginnt, wenn die blockierten und verinnerlichten ›Instinkte der Freiheit‹ der Sklav*innen ›kreativ werden‹ und sich als Reaktion auf ihre traumatische Unterwerfung, neue Werte und Handlungsweisen auftun. In Nietzsches Erzählung sind diese neuen Mutationen faszinierend, aber kränklich. Müssen alle kreativen Reaktionen auf Blockaden und Qualen so kränklich sein?

11. Identitätspraktiken

Was ist eine soziale Gruppe? Eine Gruppe ist eine Ansammlung von Körpern: Aber von wem und wie wurden sie gesammelt? Denke wir an die Gruppe aller rothaarigen Männer, die Gruppe aller Menschen in diesem Raum, die Gruppe aller Arbeitenden, die Gruppe aller Frauen, die Gruppe aller Anarchist*innen.

Vielleicht teilen Mitglieder einer Gruppe bestimmte Merkmale oder Ähnlichkeiten. Vielleicht gibt es ein gemeinsames Merkmal z.B. rote Haare haben, gleichzeitig in diesem Raum sein, Teil eines bestimmten Projekts sein. Vielleicht ist es auch eine Zahl, vielleicht eine Lebensform mit vielen sich überschneidenden Werten, Begehren und Praktiken. Wie Wittgenstein (1958:67) betonte, können wir vielleicht niemals alle Punkte auflisten die eine Gruppe gemeinsam hat: Sie teilen eine ›Familienähnlichkeit‹ überlappender Merkmale z.B. haben einige Mitglieder der Familie Jones rote Haare und Sommersprossen, einige haben Sommersprossen und ›Adlernasen‹, einige sind in diesem Raum, aber nur wenige oder keine*r der Joneses hat all diese Unterscheidungsmerkmale. Aber gibt es eine ›Tatsache‹, die belegt ob ein Körper ein Jones, eine Frau oder ein*e Anarchist*in ist? (Und wenn ja, wer entscheidet dann?)

In Nietzsches perspektivischem Denken gibt es das nicht. Jede Identifikation, wie jede andere Bewertung auch, kommt immer aus einer Perspektive (siehe Kapitel 2). Es gibt nicht so etwas wie eine wahre Definition von Arbeitenden, Frauen, Anarchist*innen oder ähnlichem. Es gibt meine Definition vom Anarchismus, wenn ich eine habe, deine Definition, vielleicht unsere Definition soweit wir damit einverstanden sind etc. Oder, um genauer zu sein, da ich ein sich verändernder, dividueller Körper bin, gibt es meine Definition davon, wie ich etwas zu diesem Zeitpunkt und in diesem Zusammenhang verstehe. Im Allgemeinen gibt es also keine absoluten, das heißt perspektivunabhängigen Identifikationen: Es gibt nur Identifikationen die zu einem bestimmten Zeitpunkt, von einem bestimmten identifizierenden Körper, aus einer bestimmten Identifizierungsposition und in einem bestimmten Identifikationsakt vorgenommen werden.

Sicherlich kann es relativ stabile und weit verbreitete Identifikationen geben – so wie es relativ stabile und weit verbreitete Werte, Begehren etc. gibt. Es gibt gemeinsame, ›normale‹, normalisierte Methoden zur Identifizierung von Menschen, Tieren, Objekten etc., die weitergegeben, in gewohnte soziale Skripte eingebettet und durch Normen und Gesetze verstärkt werden. Wir lernen und lehren, wie man Körper als Mitglieder vieler verschiedener Arten von Gruppen identifiziert: Spezies, Gender, Race, Klasse, Sub-Kultur, politische Zugehörigkeit und vieles mehr. Wir lernen spezifische Techniken: z.B. wie man Schlüsselmerkmale wie Aussehen, Kleidung, Verhalten, Sprache etc., erkennt, wie man bestimmte Tests und Fragen verwendet etc. Kurz gesagt: Identifikation ist eine Praxis. Und wie andere Praktiken, werden auch die Techniken der Identifikation kopiert, erlernt und anderweitig geteilt und verbreitet.

Identifikationspraktiken können in verschiedenen Projekttypen eine entscheidende Rolle spielen. Zum Beispiel ist es für Nietzsches Herrschende, wie für seine Sklav*innen, entscheidend zu wissen wie man Mitglieder der eigenen Kaste identifiziert und von den Anderen unterscheidet. Die Herrschenden müssen dies tun um zu regieren, ihren ›Pathos der Distanz‹ zu den Sklav*innen aufrechtzuerhalten und so ihre eigene, eigenständige Identität zu bewahren. Theoretiker wie Michel Foucault in seiner Arbeit über Biopolitik oder aktueller James C. Scott in seinem Seeing Like A State (1998) haben die Entwicklung besonderer Identifikationspraktiken untersucht, die den Bedürfnissen moderner Staaten dienen, wie Statistiken, Volkszählungen und standardisierte Formen der Messung.

12. Herrschaft und Widerstand

Einige Körper und Lebensformen verfolgen eine bestimmte Art von Projekt: Herrschaft über andere. Herrschaft ist nicht einfach Macht. Die Macht eines Körpers ist seine Fähigkeit Veränderungen in der Welt vorzunehmen um seine Projekte zu verfolgen, was auch immer diese sein mögen. Alle sozialen Beziehungen sind, unter anderem, Machtverhältnisse. Das heißt: Wo sich zwei oder mehr Körper treffen und interagieren, beeinflussen sie gegenseitig ihre Handlungsmöglichkeiten, unterstützen oder behindern sich gegenseitig bei der Umsetzung ihrer Projekte. Dies ist einer der Kernpunkte, die Foucault in seiner Arbeit über Macht formuliert hat, den ich in Kapitel 9 weiter untersuchen werde: »In den menschlichen Beziehungen, ob es sich nun um verbale Kommunikation handelt […], oder um Liebesbeziehungen, um institutionelle oder wirtschaftliche Beziehungen, ist Macht immer gegenwärtig« (vgl: EW1 290-1).

Wir können einen Zustand der Herrschaft als ein Verhältnis definieren, in dem die Macht ungleichmäßig ist und diese Asymmetrie festgeschrieben wird. In anderen Worten: Eine Hierarchie ist eine Assemblage in welcher ein Körper durchweg die Zügel in der Hand behält. Oder wie Foucault es ausdrückt:

»Diese Analyse der Machtbeziehungen bildet ein überaus komplexes Feld; sie stößt manchmal auf […] Herrschaftszustände […] in denen die Machtbeziehungen, anstatt veränderlich zu sein und den verschiedenen Mitspielern eine Strategie zu ermöglichen, die sie verändern, vielmehr blockiert und erstarrt sind. Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern – durch den Einsatz von Instrumenten, die sowohl ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein mögen-, dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann.« (ebd. 878).

Wir können uns einen solchen Herrschaftszustand auch als ein hierarchisches Skript – oder eine Assemblage hierarchischer Skripte vorstellen. Körper werden identifiziert und dadurch wird ihnen eine Rollen zugewiesen: menschlich/nichtmenschlich, herrschend/beherrscht, schwarz/weiß, Erwachsen/Kind, besitzend/besitzlos, Chef/Arbeiter*in etc. Diejenigen, die die beherrschenden Rollen einnehmen geben Befehle, treffen Entscheidungen, müssen mit Respekt behandelt werden etc. Von denjenigen in untergeordneten Rollen wird erwartet sich zu fügen, zu gehorchen.

In vielen menschlichen Kulturen wird der Wunsch Herrschaftszustände zu etablieren und zu erhalten – das Begehren zu herrschen – als Selbstzweck gefeiert. Aber Herrschaftsprojekte werden auch als Mittel zu anderen Zwecken verfolgt. Zum Beispiel kann ein Projekt der Vorherrschaft einem Projekt der Ausbeutung dienen. Das heißt, es erlaubt den Herrschenden die Körper und Ressourcen anderer als Instrumente zu nutzen, Werkzeuge, die weitere Projekte unterstützen: z.B. die Ansammlung von Reichtum, Territorium, Status, Ehre etc.

Tatsächlich können Herrschafts-, Ausbeutungs-, und andere Projekte auch zusammenwachsen und sich in einer komplexen Assemblage gegenseitig unterstützen. Dies scheint in Nietzsches Erzählung vom Staat der Fall zu sein, in der die ›Edlen‹ als Ausdruck ihres Drangs nach Gewalt und Aggression, nach reiner Freude an der Herrschaft, nach dem ›künstlerischen‹ Bedürfnis neue soziale Formen zu ›schaffen‹, die Sklav*innen in »Unterthänige und Werkzeuge« zu verwandeln (GM2:17), die ihren Grundbedürfnissen dienen.

Einige Herrschaftszustände können sehr begrenzt und in sich geschlossen sein. Ein klassischer Familienpatriarch beispielsweise, der eine eiserne Herrschaft über seine Besitztümer ausübt. Einige Herrschaftsprojekte jedoch sind eng mit Expansionsprojekten verbunden. Dies ist der Fall bei Nietzsches Edlen, die einen aggressiven Hunger nach neuen Eroberungen und Abenteuern haben. Dies gilt auch für zeitgenössische kapitalistische Herrschaftsprojekte: ›Unternehmer*innen‹ konkurrieren um die ›Erschließung‹ neue Märkte, neuer Gebiete der Nachfrage etc.

Nicht alle Projekte der Herrschaft sind Projekte der Invasion. Nicht alle Projekte der Invasion sind auch Projekte der Herrschaft: Zum Beispiel gibt es ›Rollkommandos‹ die angreifen und sich mit der Beute zurückziehen ohne eine stabile Hierarchie zu etablieren. Oft geht aber beides zusammen. Besonders gefährlich ist die Kombination: Eine dominierend-invasive Lebensform die ständig nach anderen Lebensformen sucht um diese zu stören und zu erobern.

Wie wir in Nietzsches Erzählung gesehen haben ist die Herrschaft niemals vollständig. Grundsätzlich trifft das zu: Ein Machtungleichgewicht ist selten absolut und selten völlig stabil. Selbst im totalitärsten Staat gibt es immer wieder Brüche in der Kontrolle. Fluchtwege – das was Deleuze und Guattari ›Fluchtlinien‹ nennen – sind Wege die eine Assemblage auflösen. Versteckte Räume im Untergrund, die die Herrschenden nicht sehen können. Foucault schreibt: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« (GS1:96). Nietzsche hatte es bereits gesagt:

»auch im Gehorchen [liegt] ein Widerstreben; es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. ›Gehorchen‹ wie ›Befehlen‹ sind Formen des Kampfspiels.« (NF-1885, 36, 22).

Nur, was verstehen wir unter Widerstand? Im Allgemeinen gibt es Widerstand, wenn die Aktivität eines Körpers oder einer Kraft durch die Aktivität eines anderen Körpers oder einer anderen Kraft blockiert oder in irgendeiner Weise eingeschränkt wird. Ein Baum leistet der Axt Widerstand, Freund*innen können sich den Vorschlägen des*der anderen widersetzen, und die Herrschenden widersetzen sich den Bewegungen der Sklav*innen, die sich befreien wollen. Wir können uns auf den spezifischeren Fall des Widerstands gegen die Herrschaft konzentrieren: Ein Körper oder eine Assemblage versucht den*die anderen zu dominieren, eine hierarchische Beziehung durchzusetzen und zu fixieren, der andere Körper versucht diesen Zustand der Herrschaft zu vermeiden, ihm zu entkommen, zu brechen oder anderweitig zu überwinden.

13. Einige Technologien des Krieges

Ich benutze den Begriff ›Technologie‹ um jede Praxis, jedes wiederkehrende Aktivitätsmuster zu bezeichnen, das bei der Durchführung eines Projekts eingesetzt wird. Wie alle Praktiken werden auch Technologien ›erfunden‹, geteilt und über Körper verstreut, variiert und mit anderen Praktiken auf unterschiedliche Weise kombiniert. Es gibt Technologien für den Anbau von Lebensmitteln, für das Erzählen von Geschichten, für den Hausbau, für Tanz und Spiel, für das Identifizieren und Lernen, für alle Arten von Projekten und Aktivitäten. Technologien können ein hohes Maß an bewusstem ›rationalen‹ Denken beinhalten, oder sie können unbewusst und verinnerlicht sein. Sie können eine recht enge Anwendung haben – z.B. Möglichkeiten zur Befestigung eines Fahrradrades, oder sie können in unterschiedliche Kontexten einsetzbar und anpassbar sein. Unser Schwerpunkt liegt jetzt auf dem sozialen Krieg und deshalb möchte ich einige Anmerkungen zu Technologien machen, die wir betrachten können, wenn Körper an konflikthaften Projekten beteiligt sind. Einige davon werden wir in den nächsten Kapiteln näher beleuchten.

Schockstrategie

In Nietzsches Erzählung fährt das ›Rudel blonder Raubthiere‹ wie ein ›Blitz‹ auf die Herde herab, in einem verheerenden Angriff mit überwältigender Kraft; US-Militärstrategen würden das heutzutage ›Schockstrategie‹ nennen.

Nach Ansicht des bedeutenden Kriegstheoretikers des frühen 19. Jahrhundertes Karl von Clausewitz, ist das grundlegende Ziel des Krieges die Zerstörung der »Widerstandsfähigkeit« des Feindes. Die »Widerstandsfähigkeit« eines Körpers hat zwei Elemente: Seine ›Mittel‹, einschließlich seiner materiellen Ressourcen (Truppen, Waffen, Munition, Vorräte usw.); und seinen ›Willen‹ (1989:75). Das Ziel der Eroberung ist nicht nur die Zerstörung der Widerstandsmittel, sondern auch die völlige Zerstörung des ›Willens‹. Ähnliche Techniken waren nicht nur den Erobernden gut bekannt, die die Staaten gründeten, sondern auch Schließer*innen, Folternden, Täter*innen häuslicher Gewalt, Eltern, Erziehern*innen, Chef*innen und anderen Herrschenden. Die feministische Psychiaterin Judith Herman schreibt dazu:

»Die verschiedenen Methoden zur Versklavung eines anderen Menschen sind erstaunlich einheitlich. Herrschaft über einen anderen Menschen erlangt man, indem man ihn systematisch und wiederholt psychische Traumata zufügt. Solche Methoden basieren auf dem bewussten Einsatz von Techniken, die das Opfer entmachten und isolieren« (ebd. 90).

Man kann sagen, dass das erste Ziel der traumatischen Unterwerfung ein Zerlegungsprozess ist: Er zerschlägt die bestehende Lebensweise des Opfers, jede scheinbar stabile Struktur von Werten, Begehren und Praktiken. Die Besiegten sind enteignet: Ihrer verschwundenen Ressourcen, Territorien und auch ihrer Bräuche, Sicherheiten und Projekte beraubt. Wenn die Eroberung Teil eines Projekts der Herrschaft und Ausbeutung ist, ist dieser Prozess der Demontage und Enteignung nur eine vorbereitende Aufweichungsphase. Ziel ist es, die zersplitterten Körper der Eroberten zu bloßen ›Instrumenten‹ zu machen und ihnen neue Werte oder Wünsche aufzuzwingen.

Schleichende Eroberung

Selbstverständlich bedienen sich nicht alle Angriffe der ›Schockstrategie‹. Auch die umgekehrte Methode kann wirksam sein: ein langsamer, allmählicher Übergriff. In den Geschichten realer Eroberungen lässt sich tatsächlich oft eine Mischung aus beiden Methoden beobachten. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte vieler Kolonien, die einen langsamen Fortschritt in Form von Handelsposten, Landnahmen, Verträgen, gebrochenen Verträgen etc. – unterbrochen von gelegentlichen Schocks, Völkermorden. Oder, auf einer weniger bösartigen Ebene, wie im Falle der derzeitigen Demontage des Nachkriegssozialstaates in Westeuropa. Einerseits werden Krisen, wie der Finanzcrash von 2008 genutzt um plötzlich massive Austeritäts-Maßnahmen durchzusetzen. Andererseits werden Reformen tröpfchenweise und unter dem Deckmantel von Projekten wie ›PFI‹ [private finance initiative] und ›Public Private Partnership‹, ›Quartierregeneration‹, ›Produktvielfalt‹ und ähnlichen Konstrukten eingeleitet, so dass keine der Maßnahme allein wie eine große Veränderung erscheint.

In den Untergrund gehen

Die unmittelbare Antwort der Versklavten in Nietzsches Erzählung besteht darin, sich oberflächlich zu unterwerfen – aber einen verborgenen Raum am Leben zu erhalten, in dem sie eine eigene Existenz führen und ihre eigene Kultur, ihre eigene Identität, ihre eigenen Träume am Leben erhalten. In der Genealogie funktioniert dieser Untergrund auf zwei voneinander abhängigen Ebenen: Kollektiv, wenn sich die Sklav*innen in ihrer geheimen ›dunklen Werkstätte‹ versammeln um den Sklavenaufstand zu planen; und individuell, wenn Sklav*innen ihre ›Instinkte der Freiheit‹ internalisieren und eine ›innere Welt‹ aus Fantasie und Mythen herausarbeiten.

Über Nietzsches Erzählung hinaus hat der Politikwissenschaftler James Scott aktuelle und historische Sklav*innen- und bäuerliche Gemeinschaften und ihre Technologien des Widerstands gegen die Herrschaft untersucht. Sein zentraler Punkt ist, dass subalterne Gruppen den Widerstand am Leben erhalten, indem sie versteckte Räume verteidigen, in denen sie ein ›autonomes Leben‹ führen können – z.B. eine Kultur von Geschichten, Mythen, Rachefantasien und, noch unmittelbarer, den Austausch von Fähigkeiten und Plänen für Sabotage und Subversion sowie alltägliche Methoden um Ausbeutung und Kontrolle zu untergraben. Diese ›versteckte Abschrift‹ des Widerstands kann für die Herrschenden, die denken das alles in Frieden und Zufriedenheit besteht, unsichtbar bleiben bis sie unerwartet in eine offene Rebellion ›ausbricht‹. Ich werde auf diese Ideen in Kapitel 11 eingehen.

Flucht

Eine weitere klassische Antwort auf die Invasion ist die Flucht. Seit den Anfängen der Zivilisation gibt es überall dort wo es ein Imperium gibt, die Barbaren am Rande, unkontrollierbar in den Bergen, Wüsten und Sumpfgebieten. Darunter befinden sich viele die geflohen sind: Die Maroons und Quilombos von entflohenen Sklav*innen; die ursprünglichen Kosakengemeinschaften von entflohenen russischen Leibeigenen; mehrere Wellen der Flucht in das südasiatische Hochland, außerhalb der Reichweite des chinesischen und anderer Reiche (ebenfalls von James Scott studiert); viele nomadische Wüstenstämme; die Vagabunden, Wandernden und Reisenden, die immer von der Staatsmacht gefürchtet wurden; bis hin zu den jüngsten Gegenkulturen, Hippies oder New Age Reisenden.

Ansteckung

In Nietzsches Erzählung ist die Sklavenrevolte keine offene Rebellion. Stattdessen nutzt sie die subtilere Technologie der mimetischen Ansteckung. Die Sklaven gewinnen schließlich, indem sie ihre Werte und Wünsche an die Herrschenden weitergeben. Obwohl diese Ansteckung in Nietzsches Erzählung zunächst als eine Technologie der Revolte beginnt, kann sie auch zu einer Technologie der Herrschaft werden. Nietzsche glaubt, dass der alte Modus der »aristokratischen Gesellschaft« durch ein »demokratisches« Zeitalter besiegt wurde, indem die schwache Mehrheit, nach einem »furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden« (GM1:16), nun ihre eigene neue Form der »Tyrannei« (GM3:14) errungen hat. Die Sklaven haben gewonnen weil sie »ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen in’s Gewissen […] schieben: so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begönnen« (GM3:14).

Daran werden ein paar wichtige, wenn auch offensichtliche Punkte, deutlich. Zumindest einige Technologien können in beide Richtungen gelenkt werden – für oder gegen Herrschaftszustände. Viele Projekte, die als Rebellionen gegen die Macht beginnen, können als neue Tyranneien enden. Für Nietzsche ist das Christentum das perfekte Modell für ein erfolgreiches Projekt ansteckender Werte. Im 20. Jahrhundert ist die Werbebranche offensichtlich so ein Fall. Im frühen 21. Jahrhundert sind sowohl die evangelische Religion als auch der Konsumkapitalismus beides mächtige Kräfte, die sich manchmal zu seltsamen Hybriden verbinden.

Seelsorge

Es gibt noch eine dritte Schlüsselfigur in Nietzsches Erzählung: ›Der Priester‹, der im dritte Essay der Genealogie in den Fokus rückt. Die Priester haben eine andere Technologie oder ›Kunst‹, die sich sowohl von der edlen Eroberung als auch der sklavischen Ansteckung unterscheidet. Sie präsentieren sich als ›Ärzte‹ die ›Heilmittel‹ für das Leiden der Traumatisierten anbieten und die Schwachen kommen freiwillig zu ihnen. Aber ihre Mittel heilen oder stärken nicht, es sind nur vorübergehende Linderungsmittel, die ihre Patient*innen nur schwächer machen: »indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde« (GM3:15). Die falschen ›Heilmittel‹ der Priester sind etliche von pseudo-therapeutischen Techniken: die Nutzung eines Trance-gleichen »Winterschlafs« (GM3:17); repetetive »machinale Thätigkeit[en]« – also Arbeit (GM3:18); Zerstreuung durch die »kleinen Freuden« (ebd); und »Gefühls-Ausschweifungen« (GM3:20) wie emotionale Ergüsse religiöser oder nationalistischer Art. Die Patient*innen entwickeln eine Abhängigkeit von der priesterlichen Fürsorge welche es diesen erlaubt »Herrschaft über Leidende« (GM3:15) auszuüben, die »Zusammendrängung und Organisation der Kranken« (GM3:16).

Wer sind die heutigen Priester? Für Nietzsche sind vor allem Politiker*innen sowie demokratische und sozialistische Parteiführer*innen zu nennen. Wir können die Liste aber auch um Strafvollzugsexpert*innen mit ihren Schemata ›verdienter Privilegien‹ und Kontrolleinheiten, um Seelenklempner*innen und Sozialarbeiter*innen, Katastrophenmanager*innen, Charity-Bosse, Überbringende von Hilfsmitteln und Strukturanpassungen, Armutsexpert*innen und liberale Weltverbessernde erweitern. Alle diejenigen, die die von der Herrschaft gezeichnete Leben managen, Pflaster und Mitgefühl auftragen und uns dabei sagen, dass die Welt nicht zu ändern sei.

Division und Inklusion

Einige der ältesten und bekanntesten Technologien der Herrschaft umfassen die Zersetzung, Spaltung und Division des feindlichen Körpers und fördern Fraktionen, die gegeneinander kämpfen werden. Die Erobernden erkaufen, erzwingen oder vereinnahmen Elemente um diese zu Informant*innen, Kollaborateur*innen oder Hilfspolizist*innen zu machen. Vereinnahmung ist Teil jeder Eroberungsstrategie. Im gegenwärtigen Kapitalismus fördern Staaten und andere Körper zahllose Trennungslinien auf der Ebene von Nation, Gender, Race etc. Und dann gibt es Risse in den Rissen: Bürger*innen vs. Migrant*innen; Communities Eingewanderter vs. Neuankömmlinge; ›Papierlose‹ vs. ›anerkannte Geflüchtete‹ etc.

Einige dieser wichtigen Bruchlinien lassen sich im Blick auf die Trennung zwischen ›Eingeschlossen‹ und ›Ausgeschlossen‹ betrachten.[48] Im 20. Jahrhundert erlaubten es neue Formen des Konsum- und Wohlfahrtskapitalismus wesentlich mehr Menschen in den reicheren Teilen der Welt inkludiert zu werden, sprich: Massengüter konsumieren und anhäufen, Freizeit genießen, vom Aufstieg auf der Karriere- oder Eigentumsleiter träumen, sich durch sozialstaatliche Sicherheitsnetze geschützt fühlen, an Mythen wie dem ›American Dream‹ teilhaben.

Sehr vereinfacht können wir sodann ein weiteres Muster der De- und Re-montage nachzeichnen: Zuerst zerstört die Eroberung die alten Formen des Lebens und enteignet die Körper; später dann werden den Enteigneten neue Formen des Lebens, neue Bedeutungen angeboten, indem sie in einen neuen sozialen Körper inkludiert werden. Bisher war es dem Kapitalismus nicht möglich alle zu inkludieren. Es gab immer die ›dritte Welt‹, in der die kapitalistische Ausbeutung und Expansion weiterhin älteren, brutaleren Pfaden folgte. Heute werden auch in den ›entwickelten‹ Volkswirtschaften wieder mehr Menschen enteignet, da neoliberale Strategien immer dominanter werden – wenn dann die Märkte versagen, platzen Blasen, die Sozialhilfe wird gekürzt und Arbeitsplätze verschwinden.

14. Rebellionen

Nietzsches Sklav*innen begehren niemals in offener Rebellion gegen die Herrschenden. Im echten Leben tun Rebell*innen dies die ganze Zeit. Viele Rebellionen gegen die Herrschaft werden niedergeschlagen und durch brutale Reaktionen vernichtet. Einige sind siegreich. Und selbstverständlich führen erfolgreiche Rebellionen oft zu neuen Herrschaftszuständen. Rebellion, wie auch andere Aktionen, können für alle Arten von Projekten benutzt werden.

Erinnern wir uns an die Idee Herrschaftszustände als hierarchische Skripte zu betrachten. Körper werden als dominant oder untergeordnet identifiziert und sollen ihre zugewiesenen Rollen erfüllen, den Regeln folgen – wobei Regeln nicht nur Gesetze sein müssen, sondern auch übernommene Normen, unausgesprochene Erwartungen, z.B. die Achtung vor Autorität, Eigentum, Anstand etc. Wenn ich untergeordnet bin könnte ich:

  • mich bereitwillig unterwerfen: Den Regeln folgen, die mir zugewiesene Rolle spielen und es positiv bewerten und begehren so zu handeln.

  • mich widerwillig unterwerfen: Den Regeln folgen, aber nur unter Zwang. Ich habe andere Werte und Begehren, die ich verstecken oder unterdrücken muss.

  • Rebellieren: Ich lehne es ab mich zu unterwerfen und breche die Regeln.

Es gibt viele Arten von Rebellionen. Es gibt geheime Rebellionen: Du brichst die Regeln, aber die Herrschenden wissen es nicht – oder vielleicht wissen sie es sogar, aber es würde nicht gut für sie aussehen, würden sie durchblicken lassen, was sie wissen. Bäuer*innen zum Beispiel, die Getreide vor dem kaiserlichen Steuereintreibenden verstecken, Arbeiter*innen, die die Uhr manipulieren. Es gibt anonyme Rebellionen: Du brichst die Regeln und die Herrschenden wissen das etwas passiert ist, aber sie können es dir nicht anhängen«, z.B. anonyme Sabotageakte. Und es gibt offene Rebellionen am helllichten Tag.

Und offensichtlich sind einige Rebellionen gefährlicher als andere. Es gibt vereinzelte oder kurze Rebellionen, die vorübergehend hierarchische Skripte brechen bevor alles wieder zur Normalität übergeht. Es gibt Rebellionen, die als Verhandlungsinstrument für leichte Verbesserungen der Geschäftsbedingungen dienen, ohne aber das gesamte Drehbuch in Frage zu stellen. Und es gibt Momente des Bruchs, die isoliert und unerwartet beginnen, aber des Kaisers Kleider zerreißen und eine unwiderrufliche Kampfansage darstellen: Die Herrschenden müssen entschlossen handeln und ihre Autorität wieder geltend machen, sonst wird die Rebellion wachsen und sich ausbreiten.

15. Bedrohung und Macht

Viele Herrschaftszustände werden durch Zwang bzw. der Androhung von Leid gesichert. Selbst wenn es nur selten auf die Probe gestellt wird, haben die Herrschenden und ihre Verbündeten die Macht Rebell*innen, oder potenziellen Rebell*innen, Schaden zuzufügen und werden diese Macht nutzen, um den Gehorsam aufrechtzuerhalten. Der Schaden der damit verbunden ist, muss nicht unbedingt mit körperlichen Schäden verbunden sein, es kann zum Beispiel auch ein Schaden am Reichtum, Ruf, Selbstwertgefühl, Schamgefühl, Schuldgefühle oder der Ehre einer Person sein. Aber, zumindest in sehr vielen Fällen, ist Gewalt die ultimative Grundlage vieler Herrschaftszustände, einschließlich der Herrschaft über Eigentum oder den Staat. Das heißt die Herrschenden haben die notwendige Macht um Rebell*innen zu töten, zu zerstören, gefangen zu nehmen oder in Schrecken zu versetzen.

In den meisten Situationen wird unmittelbare Gewalt nur selten angewandt. Manchmal legen die Herrschenden Wert darauf Stärke zu zeigen um die Unterdrückten daran zu erinnern, dass sie immer noch da sind. Manchmal ist ihre Macht abwesend: Die körperliche Stärke der Herrschenden, ihre Ressourcen, Bündnisse und Loyalitäten, die Lieferung von Munition oder Sold oder Söldner*innen, etc., sind geschwächt. Oft ist das reale Gleichgewicht der Kräfte unbekannt, es kann nur geschätzt, erraten bzw. erforscht und getestet werden.

Eine Rebellion ist fast immer ein Glücksspiel, ein Würfelwurf. In vielen Fällen jedoch müssen Rebell*innen auf einen Kampf vorbereitet sein. Falls nicht der Fall eintritt, dass die Macht der Herrschenden sichtbar in sich zusammenbricht, oder ihre Projekte sich so stark verschieben, dass sie sich nicht mehr die Mühe machen den Herrschaftszustand zu verteidigen – werden sie die Rebellierenden, oder sogar die potenziellen Rebellierenden angreifen – und das oft mit brutaler Gewalt. Jede Rebellion, die eine ernsthafte Bedrohung darstellt, muss mit dieser Gewalt umgehen.

16. Rebellische Allianzen

Warum üben Körper Herrschaft aus? Warum rebellieren Körper?

Warum tun Körper überhaupt irgendetwas? Aus vielen verschiedenen Gründen. Dies ist einer der grundlegenden Punkte bei Nietzsche, damit haben wir begonnen: Körper haben mehrere, vielfältige und sich verändernde Werte und Begehren. Wir können die Kämpfe von Körpern nicht Anhand einer feste Natur oder generalisierten ›Interessen‹ bestimmen – egal ob es sich um wirtschaftliche oder sonstige, um Einzel- oder Klasseninteressen handelt – es gibt kein Vorhersagen über die Positionen oder Seiten die Körper im Kampf einnehmen werden. Wir sind viel komplexer als das. Ein Herrschaftszustand (oder andere eine Assemblage) wird im Allgemeinen durch komplexe Allianzen unterstützt und bekämpft, die sich aus Körpern zusammensetzen, die wiederum jeweils andere Projekte haben können.

Angenommen wir sprechen nicht von einem einmaligen rebellischen Akt, sondern von einem Körper – ob einem einzelnen oder einer Gruppe – dessen Projekt es ist einen Herrschaftszustand ganz aufzuheben. Aber im Augenblick steht das Gleichgewicht der Kräfte gegen uns, die Herrschenden sind stark. In dieser Situation stehen wir vor einer ausgedehnten Phase des Kampfes. Unser Ziel ist: Unsere Kraft erhöhen und die Stärke des Feindes vermindern bis wir in der Lage sind den Herrschaftszustand zu brechen.

Wir haben einige Möglichkeiten untersucht wie Körper ihre Macht vergrößern können. Zum Beispiel können wir an uns selbst arbeiten, unsere Werte, Begehren und Aktivitäten kohärenter und gezielter gestalten, unsere Stärken und Fähigkeiten entwickeln, Ängste, Normen, Gewohnheiten und feste Vorstellungen die uns schwächen aufdecken. Wir können unsere materiellen Ressourcen entwickeln – Waffen, Werkzeuge, Vorräte etc. Wir können Allianzen eingehen: Andere Körper finden, die unsere Projekte teilen, oder Projekte haben, die sich mit unseren überschneiden und mit ihnen Ressourcen und Ideen teilen, voneinander lernen, Pläne und Aktionen koordinieren etc., während wir uns gleichzeitig von sozialen Zusammenhängen lösen, die uns schwächen. Und wir können Werte, Begehren und Praktiken der Rebellion verbreiten: Andere für unsere Projekte und Lebensformen gewinnen. Zeigen, dass es möglich ist zu kämpfen.

Gleichzeitig wollen wir die Macht unserer Feinde verringern. Zum Beispiel die Werte und Begehren feindlicher Körper destabilisieren; ihre materiellen Ressourcen angreifen und zerstören; ihre Allianzen untergraben und brechen.

17. Anarchie

Anarchie heißt, so wie ich sie verstehe: Keine Herrschaft. Keine Herrschenden und kein Sklav*innen. Für Nietzsche wäre das eine lächerliche Idee. Viele würde ihm zustimmen. Nietzsche denkt: Jedes Projekt, das sich als Projekt der Freiheit präsentiert, ist eigentlich nur ein weiteres Projekt der verkleideten Herrschaft – wenn es gelingt die stärkeren Kräfte zu überwinden, die es derzeit dominieren, wird es wiederum ein neuer Tyrann werden. Schau dir nur die Geschichten des Christentums, der Demokratie, des Sozialismus oder einer anderen sozialen Bewegung an.

Vielleicht hat es noch nie reine Bedingungen der Anarchie gegeben und vielleicht wird es auch nie solche geben. Aber es gibt gewiss anarchische Begehren. Der Wunsch frei zu leben, ohne Götter, ohne Herrschende, ohne Machthabende jeglicher Art. Der Wunsch sich zu erheben und gegen jede Herrschaft zu kämpfen, dort wo wir sie auffinden: Nicht nur die ›großen‹ Herrschaftssysteme wie Besatzungsarmeen und brutale wirtschaftliche Ausbeutung – sondern auch die alltägliche Tyrannei, die durch Brauchtum und Wiederholung fast unsichtbar gemachte, im Haushalt, auf der Straße und in unseren eigenen sozialen Kreisen. Niemals damit zufrieden zu sein eine Gruppe Herrschender durch eine andere ersetzt zu haben.

Ist diese Idee der Anarchie aus dem Anarchismus des 19. Jahrhunderts hervorgegangen? Dieser Assemblage, die aus den Erfahrungen derer hervorging, die vom Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert enteignet wurden und aus den neuen Verbindungen von Ideen die aufkamen, als die Aufklärung sich erhitzte und die Ikonen angegriffen wurden? Oder ist das Begehren jede Herrschaft zu überwinden, diese verallgemeinerte ›Leidenschaft für die Freiheit‹ in der Geschichte der Menschheit seit jeher vorhanden?

Vielleicht können wir Anarchie am besten als Tendenz innerhalb von Kämpfen gegen die Herrschaft sehen. Jede Rebellion beinhaltet eine Allianz die zahlreiche Körper mit sehr unterschiedlichen Projekten umfassen kann. Diese Körper können sich um einen bestimmten Kampf herum zusammenfinden, aber ihre verschiedenen Projekte werden sie früher oder später in verschiedene Richtungen ziehen. Diese Projekte und ihre Wechselwirkungen erzeugen also unterschiedliche Tendenzen, die der Kampf im Laufe seiner Entwicklung verfolgen kann: Also z.B. Tendenzen zur Korrumpierung, Tendenzen zur Schaffung neuer Hierarchien, Tendenzen zur Spaltung oder zum Angriff aufeinander, etc. Oder aber: Tendenzen den Kampf gegen die Herrschaft zu erweitern und zu vertiefen und die Leidenschaft für die Freiheit, die sie ausgelöst hat, auch gegen andere Herrschaftszustände zu richten. Das sind die anarchischen Tendenzen, die in vielen, vielleicht allen Rebellionen vorhanden sind.

Das Leben, das ich leben möchte, beinhaltet an mir selbst zu arbeiten um ein freierer und stärkerer Geist zu werden und gleichzeitig dazu beizutragen anarchische Lebensformen mit Freund*innen und Gefährt*innen zu erschaffen. Zugleich möchte ich Seite an Seite mit anderen Rebell*innen gegen die Herrschaft kämpfen – und in diesen Kämpfen zur Entfaltung der Anarchie, zur Entfaltung anarchischer Tendenzen beitragen.

Kapitel 10. Macht und Herrschaft

Was meinen wir genau mit Herrschaft? Zuerst einmal müssen wir über eine etwas allgemeinere Idee nachdenken: Macht. Im weitesten Sinn kann Macht als die Fähigkeit eines jeglichen Wesens verstanden werden Veränderungen in der Welt hervorzubringen – oder, andersherum, diesen zu widerstehen oder sie zu blockieren. Nicht nur Menschen können machtvoll sein. Wie können über die Macht von Wellen oder Tornados sprechen, die Macht von Waffen, von Werkzeugen oder Medikamenten, von Träumen, Ideen, Emotionen oder Staaten, Institutionen, Kulturen, Lebensformen etc.[49]

Obwohl ich Macht schreibe, Singular, ist das eigentlich nur ein Kürzel. Um genauer zu sein: Ein Wesen kann verschiedene Mächte haben um viele verschiedene Dinge zu tun. Du hast zum Beispiel die Kraft schnell zu rennen, die Kraft mich von etwas zu überzeugen und die Kraft dir neue Welten auszumalen, dies alles sind sehr verschiedene Dinge. Wer ist mächtiger: Diejenige, die schnell rennen kann oder der, der Vorstellungskraft besitzt? Aus dem Kontext gerissen macht diese Frage keinen Sinn, sondern nur wenn wir uns auf eine bestimmte Frage, auf bestimmte Arten von Veränderungen konzentrieren.

Dafür müssen wir uns eine bestimmte Art von Macht genauer ansehen: Das, was wir ›soziale Macht‹ nennen könnten, obwohl ich es oft nur einfach ›Macht‹ nennen werde. Dies ist die Kraft Veränderungen in der sozialen Welt zu bewirken, der sozialen Ökologie von Körpern, die bewerten, begehren und handeln und der Gruppen und Institutionen die sie bilden. Um diese Art von Macht zu verstehen werde ich mich durch einige Ideen von Michel Foucault arbeiten.

Soziale Macht

In seinem Aufsatz Subjekt und Macht definiert Foucault eine »Machtausübung« als »eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen« (Foucault 2005: 256).[50] »[W]onach bei der Ausübung von Macht die einen das mögliche Handlungsfeld der anderen strukturieren« (ebd. 288).[51]

Ich werde Foucaults Formulierung ein wenig anpassen und es so ausdrücken: Eine Ausübung von (sozialer) Macht ist eine Handlung, in der Körper die eigenen oder die Handlungsmöglichkeiten anderer Körper gestalten. Die fraglichen Körper müssen nicht notwendigerweise menschliche oder individuelle ›Subjekte‹ sein: sie können z.B. auch nicht-menschlich sein (andere Tiere, künstliche Intelligenzen etc.); sie könnten Körper sein, die nicht zu Subjekten geordnet sind (siehe Kapitel 5); sie könnten sogar subindividuelle Ansammlungen von Trieben sein etc.[52]

Um zu sehen was das Besondere an sozialer Macht ist, können wir sie einer Form von Macht gegenüberstellen, die Foucault manchmal als Kraft bezeichnet. Nehmen wir zum Beispiel an, dass jemand dich einsperrt oder verletzt. Diese Aktion ist eine Anwendung von Kraft: Das heißt sie verursacht eine direkte physische Veränderung in deinem Körper oder in deiner unmittelbaren materiellen Umgebung. Dabei verändert jedoch die Handlung deine Handlungsmöglichkeiten, jetzt wo du eingesperrt bist oder deine Beine nicht mehr benutzen kannst, kannst du nicht mehr auf die gleiche Weise handeln. In diesem Sinne ist die Aktion auch eine Ausübung von sozialer Macht.

Eine Kraftausübung verändert also die materielle Welt, die materielle Ökologie. Die Ausübung sozialer Macht verändert die soziale Ökologie, die soziale Welt, die aus Körpern besteht, die werten, begehren, handeln, und verändert auch ihren Beziehungen. Sie kann auch die psychische Ökologie verändern: d.h. die Werte, Begehren, Überzeugungen, Praktiken, Gewohnheiten, Träume, Projekte etc. der beteiligten Körper.

Ein und dieselbe Aktion kann all dies auf einmal tun. Wenn ich dir zum Beispiel ein mächtiges Geheimnis ins Ohr flüstere benötige ich dafür das physische Zusammenspiel von Stimmbändern, Schallwellen und Trommelfell etc. Aber diese direkten physischen Effekte des Flüsterns, sind nicht das, was uns am meisten interessiert. Wichtiger ist, wie das Flüstern deine Begehren, Überzeugungen, Interpretationen usw. verändert. So kann soziale Macht also nicht nur aus Gewaltakten bestehen, sondern zum Beispiel auch aus Drohungen oder Angeboten, dem Bereitstellen oder Verbergen von Informationen, dem Aufstacheln, Induzieren oder Wecken von Begehren auf unterschiedliche Art und Weise.

Foucault stellt, in vielleicht ein wenig extravaganter Art, ein Schlüsselelement in der Unterscheidung zwischen Kraft und (sozialer) Macht heraus, indem er sagt, dass Macht immer »ein wichtiges Element ein[schließt], nämlich das der Freiheit. Macht kann nur über ›freie Subjekte‹ ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind« (ebd. 287). Wenn du stark genug bist, kannst du meinen Körper mit Gewalt bewegen oder verletzen und es gibt nichts was ich tun kann um das zu verhindern. Aber Kraft allein kann mein Handeln nicht bestimmen: Selbst in den extremsten Fällen von Verletzung oder Inhaftierung bleiben mir zumindest einige begrenzte, wenn auch verzweifelte Alternativen. Ich kann zum Beispiel in Hungerstreik treten oder Suizid begehen.

Die ›Freiheit‹, die hier beschworen wird, mag stark eingeschränkt sein: Obwohl man mein Handeln nicht vollständig bestimmen kann (es auf nur einen einzigen möglichen Weg beschränken), können »die Praktiken der Freiheit« »äußerst eingeschränkt und begrenzt« werden (ebd. 878).[53] Aber dies ist trotzdem ein wichtiger Punkt: Auch die stärksten Kräfte sind nicht in der Lage, die Folgen ihres Handelns auf andere vollständig zu kontrollieren, da uns immer zumindest einige Optionen offen stehen. Foucault formuliert es so: »[V]or den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen« (Foucault 2005: 255). Ferner können einige dieser Optionen, zumindest sehr oft, zu unerwarteten Ergebnissen führen und/oder die Macht der Herrschenden in irgendeiner Weise untergraben. Dies führt uns zu Foucaults berühmter Behauptung: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« (GS1:96).

Ressourcen und Beziehungen

Warum oder wie kommt ein Körper zu seinen Kräften und Fähigkeiten? Eine Möglichkeit Kraftverhältnisse zu betrachten, ist im Hinblick auf die Kontrolle oder den Besitz von Ressourcen. Ich brauchen zum Beispiel bestimmte Ressourcen – körperliche Stärke, Waffen oder Allianzen mit Anderen – um Gewalt anzuwenden und so eine glaubwürdige Bedrohung darstellen zu können. Oder ich nutze Ressourcen wie Geld, Geschenke, Gefälligkeiten und Einfluss um Angebote zu machen und zu überzeugen. Wir können uns Wissen und Know-How als Ressource vorstellen – Fähigkeiten, Techniken, Technologien, auch die Künste des Regierens und Technologien der Ausübung und Entwicklung von Macht. Wir könnten unseren Blick auch auf soziale Güter wie die Zuweisung von Rechten und Privilegien werfen, oder auf Status, Attraktivität, Respekt etc., darauf inwieweit diese auf Ansichten beruhen, die Andere von mir und meinen Rollen in sozialen Skripten haben.

Die ›Privilegientheorie‹ beispielsweise, die derzeit in linken Kreisen im Trend liegt, arbeitet mit einem solchen Verständnis von Macht als Ressource. Siehe hier z.B. Peggy McIntoshs (1988) Beitrag in ihrem Text über ›weiße Privilegien‹, die als »ein unsichtbarer Rucksack mit Sonderregeln, Sicherheiten, Werkzeugen, Karten, Anleitungen, Codebüchern, Visas, Kleidung, Kompass, Notfallausrüstung und Blankoschecks« beschrieben werden. Weiß, Männlich etc. aufzutreten gibt dir einen Vorrat an Ressourcen, mit denen du Macht ausüben oder andere beherrschen kannst.

Ressourcenbasierte Machtkonzepte erreichen ihren Höhepunkt in den Theorien einiger Ökonom*innen und Soziolog*innen über menschliches, soziales oder kulturelles Kapital.[54] Viele Machtressourcen beinhalten verfestigende und kumulative Strukturen. Beispielsweise gibt mir eine Position mit sozialem Status das unbestrittene Recht oder die Macht, bestimmte Formen des sozialen Umgangs zu gefährden, anzubieten, durchzusetzen oder einfach gewähren zu lassen etc. Dementsprechend ist es mir dann möglich, diese Macht zu benutzen um meinen Status beizubehalten oder sogar weiterzuentwickeln. So kann ich meine Macht in ähnlicher Weise ausbauen, wie Kapitalist*innen ökonomisches Kapital akkumulieren.

Auch wenn es manchmal nützlich sein mag, so über Macht nachzudenken, erinnert uns Foucault beharrlich an die Begrenztheit dieser Sichtweise. Foucaults erste These über Macht in Die Geschichte der Sexualität ist, »Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert« (HS1 94), stattdessen betont er »den strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse« (ebd. 95).

Geld gibt mir zum Beispiel nur Macht innerhalb eines komplexen Kontextes von Eigentumsnormen, einem funktionierenden Geldsystem und Menschen, die Waren handeln wollen oder müssen etc. Wenn man diesen Kontext wegnimmt, wird es wertlos. In ähnlicher Weise tragen Weiß-sein oder Männlichkeit Macht in einem spezifischen Kontext von Normen und Skripten. Diese Kontexte sind sicherlich weit verbreitet, auch wenn sich ihre Merkmale in den verschiedenen Kulturen und Lokalitäten stark unterscheiden. Aber wir sollten acht geben nicht zu vergessen das Gold, bedrucktes Papier oder Hauttöne an sich, nicht die ›Quellen‹ der Macht sind. Ein Verständnis von Macht als Besitz oder Ressource ist eine bequeme, aber begrenzte und potenziell gefährliche Abstraktion.

Tatsächlich ist es gut darauf hinzuweisen, dass die Relationalität von Macht sich nicht nur auf uns und die sozialen Macht bezieht, sondern auf jede Art von Macht. Zum Beispiel ist ein Vorschlaghammer nur dann ein mächtiges Werkzeug, wenn er mit einem Körper verbunden wird, der ihn führen kann, mit einem Haus das abgerissen werden muss etc. Über Macht zu sprechen, bedeutet aus einer bestimmten Perspektive über die Beziehungen zu sprechen, die ein Körper oder eine andere Assemblage genießt; darüber wie er von anderen Entitäten und Kräften auf verschiedene Weise blockiert oder unterstützt wird; über seine Positionierung in seinen Ökologien.

Herrschaft

Ein weiterer zentraler Punkt Foucaults ist, dass aus einer gewissen Perspektive alle sozialen Beziehungen Machtverhältnisse sind. »Was ich sagen will ist, dass in den menschlichen Beziehungen, was sie auch immer sein mögen, ob es nun darum geht, sprachlich zu kommunizieren, […], oder ob es sich um Liebesbeziehungen, um institutionelle oder ökonomische Beziehungen handelt, die Macht stets präsent ist« (Foucault 2005: 890).

Wo auch immer zwei Körper interagieren, haben ihre Handlungen Auswirkungen (wie groß oder klein auch immer) auf die Handlungsmöglichkeiten des jeweils anderen. Die einzige Möglichkeit der sozialen Macht zu entkommen wäre also die Flucht aus dem sozialen Leben an Sich. »Für mich liegt es […] vielmehr nahe, davon auszugehen: – daß die Macht dem gesellschaftlichen Körper koextensiv ist; […]« (Foucault. 1978. S.211) [koextensiv: gleiche Ausdehnung habend]. Und das bedeutet, dass es sinnlos wäre sich der gesellschaftlichen Macht im Allgemeinen ethisch oder politisch zu widersetzen, wenn man nicht zum*zur Einsiedler*in würde, dementsprechend erklärt Foucault Sartre entgegnend: »Die Macht ist nicht das Böse« (Foucault 2005: 899).[55]

Außerdem, so Foucault, enthalten alle Machtverhältnisse Asymmetrien. In engen Beziehungen zwischen Liebenden, Freund*innen und Gefährt*innen zum Beispiel, ist die Macht, die wir haben um die Möglichkeiten des oder der anderen zu beeinflussen sehr groß und es ist unwahrscheinlich, dass diese Macht in jedem Moment völlig ausgeglichen ist. So wird es zum Beispiel immer so sein, dass der eine Partner die andere mehr braucht oder begehrt. Aber die Beziehungen können sich im Laufe der Zeit ausgleichen, wenn die Asymmetrien »mobil, reversibel und instabil« sind (Foucault 2005: 890). Foucault schreibt: »Über den anderen Macht auszuüben in einer Art offenen strategischen Spiels, worin sich die Dinge umkehren können, ist nichts Schlechtes, das ist Teil der Liebe, der Leidenschaft, der sexuellen Lust« (ebd. 899).

Herrschaft bedeutet, dass Mobilität und Reversibilität fehlen. Wie Foucault es formuliert, »Herrschaftstatsachen oder […] Herrschaftszustände« (ebd. 878) sind Machtverhältnisse in denen »die Machtbeziehungen derart verfestigt [sind], dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist.« (ebd. 891). Dazu heißt es weiter:

»Diese Analyse der Machtbeziehungen bildet ein überaus komplexes Feld; sie stößt manchmal auf […] Herrschaftszustände […] in denen die Machtbeziehungen, anstatt veränderlich zu sein und den verschiedenen Mitspielern eine Strategie zu ermöglichen, die sie verändern, vielmehr blockiert und erstarrt sind. Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern – durch den Einsatz von Instrumenten, die sowohl ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein mögen-, dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann.« (ebd. 878)

Zusammenfassend lässt sich ein Herrschaftszustand als ein starres asymmetrisches Machtverhältniss bezeichnen. Wir könnten auch sagen: Eine Hierarchie.

Eine andere Art Herrschaft zu denken ist die Idee des sozialen Skripts (siehe Kapitel 3). Ein Skript ist ein wiederkehrendes Interaktionsmuster in welchem zwei oder mehr Körpern definierte Rollen zugewiesen sind und diese wiederum von anderen erwarten sich auf bestimmte Weise zu verhalten. So gibt es zum Beispiel Skripte die festlegen wie man an einem Arbeitsplatz, auf dem Markt, mit Cops, mit Bettelnden, mit Menschen unterschiedlichen Geschlechts, mit unterschiedlichen sozialen Status, Freund*innen oder Fremden, mit Leuten die dazugehören, mit Gruppeninternen oder -externen Personen etc. interagiert. Wir lernen soziale Skripte von früher Kindheit an, praktizieren sie im Spiel wie auch in den Interaktionen des realen Lebens und verinnerlichen viele von ihnen in unseren unbewussten und verkörperten Handlungen.

Wir können uns einen Herrschaftszustand als eine hierarchisches Skript vorstellen. Es weist Rollen auf die (a) mehr oder weniger starr sind – den Individuen werden immer wieder die gleichen Rollen zugewiesen; und (b) diese Rollen üben eine asymmetrische soziale Macht aus. Körper werden als menschlich/nicht-menschlich identifiziert, als männlich/weiblich, Herrschende/Sklave, weiß/of colour, Erwachsen/Kind, Besitzend/Besitzlos, Chefin/Arbeiter etc. Diejenigen, die die beherrschenden Rollen einnehmen geben Befehle, treffen Entscheidungen, müssen mit Respekt behandelt werden etc. Von denjenigen in untergeordneten Rollen wird erwartet sich zu fügen oder zu gehorchen.

Technologien der Herrschaft

Einige der interessantesten Fragen zur Macht beziehen sich auf ihre Dynamiken. Wie werden Machtbeziehungen zu Herrschaftsverhältnisse? Und wie werden Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten? Ich werde den Begriff Herrschaftstechnologien verwenden um mich auf Praktiken, Techniken, Strategien, Taktiken, Züge etc. zu beziehen, durch die mächtige Körper und Allianzen bewegliche Machtverhältnisse in Herrschaftszustände verwandeln und diese festschreiben.[56]

Praktiken der Herrschaft können viele Formen annehmen. Sie können ›ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein‹ aber auch alltäglich, mikropolitisch, häuslich, inter- (oder sogar intra-) persönlich. Es können bewusste Strategien sein, die von mächtige Individuen und Eliten studiert und bewusst angewendet werden, aber es können auch unbewusste ›Instinkte‹ und Gewohnheiten sein. Sie können von sehr unterschiedlichen Personen und Gruppen in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden: von Militärkommandant*innen, Chef*innen, Eltern, Angehörigen ›racial elites‹, Männern, Geschwistern, Schließer*innen, manipulativen Freund*innen, Lehrer*innen, Revolutionär*innen etc. Einige Herrschaftstechniken können sich auf ganz bestimmte Kontexte beziehen – z.B. militärische Taktiken, politische Lektionen, Praktiken der Tierhaltung; andere können über weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hinweg verbreitet und adaptiert werden.

Nur noch ein letzter allgemeiner Punkt zu diesem Thema. Foucaults Darstellungen von Herrschaft betont wie eng sie mit Immobilität, dem Einfrieren oder der Kristallisation von Machtverhältnissen verknüpft ist. Aber es ist auch wahr, dass einige der wichtigsten Waffen der Herrschaft den gegenteiligen Effekt haben: sie destabilisieren. Zum Beispiel nutzen die Herrschenden Technologien die teilen, terrorisieren und traumatisieren. Das muss kein Widerspruch sein: Die Herrschenden können bestehende und rivalisierende Kulturen, Körper, Unterstützungsnetzwerke usw. zerstören und destabilisieren um ihre Hierarchien durchzusetzen. Andererseits, wirken nicht alle stabilisierenden Praktiken hierarchisierend. Zum Beispiel haben Anthropologen seit Pierre Clastres (1990) die Verbreitung egalitärer, antihierarchischer Umverteilungsnormen in vielen nicht-staatlichen Gesellschaften festgestellt und argumentierten, dass diese traditionellen Praktiken genau dazu dienen Herrschaftszustände zu untergraben oder abzuwehren.

Foucault vs. Marxismus

Es gibt andere Konzepte von Herrschaft neben Foucault. Tatsächlich ist die Foucaultsche Definition nicht die am weitesten verbreitetste. Ich werde an dieser Stelle keine umfassende Verteidigung dieses Ansatzes vorbringen, sondern lediglich einige der Konturen in Hinsicht auf einen von Foucaults überzeugendsten Widersacher in diesem Punkt nachzeichnen, dem linken Politiktheoretiker Steven Lukes (2005). Sehr zusammengefasst sieht Lukes seine Position in der Aufrechterhaltung einer ›radikalen Sichtweise‹ von Macht und Herrschaft, die mit dem marxistischen Humanismus verbunden ist, sowohl gegen eine ›liberale Sichtweise‹ einerseits, als auch gegen Foucaults ›ultra-radikale‹ Sichtweise andererseits.

Wir können diese drei Sichtweisen mehr oder weniger so charakterisieren:[57]

  • (liberale) Herrschaft: A übt Macht über B in einer Art aus, die mit Bs ›subjektiven Interessen‹ in Konflikt steht.

  • (radikale) Herrschaft: A übt Macht über B in einer Art aus, die mit Bs ›echten Interessen‹ in Konflikt steht.

  • (foucaultsche) Herrschaft: A übt Macht über B in einer Art aus, die eine dauerhafte hierarchische Beziehung zwischen den beiden durchsetzt oder reproduziert.

Es sei darauf hingewiesen, dass die liberalen wie die radikalen Definitionen eine gemeinsame Form haben: Effektiv verstehen beide Herrschaft als Form des Zwangs. Demnach sind Herrschaftsausübungen Machtausübung, die den ›Interessen‹ – Begehren, Absichten oder Werten – des*der Einzelnen zuwiderlaufen, wie auch immer diese gedacht werden.

Die liberale und die radikale Perspektive sind sich bei der Frage nach der Beschaffenheit der Werte uneinig. Aus liberaler Sicht sind die relevanten Werte, die von einem Subjekt geäußerten ›subjektiven Interessen‹, die Lukes als ›Präferenzen‹ versteht. Lukes schreibt, dass diese liberale Definition verknüpft ist mit der »benthamsche Ansicht, dass jeder der beste Richter seiner eigenen Interessen ist« (2005:81).[58]

Aus der ›radikalen‹ Sicht von Lukes sind die relevanten Werte die ›echten Interessen‹ des Subjekts. Lukes plädiert für diese Sichtweise, weil er es für wichtig hält zu verstehen, wie die subjektiven Präferenzen der Menschen durch das Handeln der Mächtigen beeinflusst werden können, damit die Beherrschten ihre eigene Unterdrückung freiwillig annehmen. In diesem Sinne können Menschen auch dann noch beherrscht werden, wenn nichts ihren subjektiven Werten zuwiderläuft. Verletzt werden dann ihre ›echten Interessen‹: Objektive Werte, von denen die Beherrschten vielleicht nicht einmal selbst etwas wissen.

Damit diese Definition funktioniert muss es also so etwas wie ›echte Interessen‹ geben – oder wie Lukes es ausdrückt, indem er sich einen Satz von Spinoza leiht, eine »eigene Natur oder ein eigenes Urteilsvermögen« des Individuums (ebd. 73). Diese ›echten Interessen‹ dürfen (a) nicht selbst von Herrschaft geprägt sein; und müssen (b) nicht unbedingt dasselbe sein wie die ›subjektiven Interessen‹ der Menschen also das, was sie selbst für wichtig halten; aber können (c) zumindest theoretisch immer noch von jemandem, vielleicht einem Außenstehenden identifiziert werden.

Vieles an dieser Idee ist problematisch. Erstens gibt es den offensichtlichen Einwand gegen marxistische Theorien des ›falschen Bewusstseins‹: Wer darf erklären was unsere ›wahren Interessen‹ sind? Und wenn ›sozialistische Wissenschaftler‹, Intellektuelle, Parteiführer*innen, Staatsplaner*innen, etc. behaupten zu wissen was wir brauchen, ermächtigt uns das dann oder hilft es weitere Herrschaftszustände durchzusetzen?

Ein weiteres Problem ist, dass aus nietzscheanischer Sicht nichts außerhalb der Gestaltung von Machtverhältnissen liegt, einschließlich der Herrschaftsverhältnisse. Ein Wesen hat nur insofern eine ›Natur‹, als das es sich dabei um eine bewegte Assemblage handelt, die ständig offen ist für die Neubildung durch Begegnungen in seinen materiellen, sozialen und psychischen Ökologien.

Herrschaft und herrschen

Aber der wichtigste Punkt, den ich anmerken möchte ist, dass das foucaultsche Verständnis von Herrschaft eine ganz andere Form annimmt, als sowohl liberale wie auch radikale Definitionen. Anders als diese verknüpft sie Zwang und Herrschaft nicht. Somit erlaubt es uns zu erkennen, dass es zwangsfreie Herrschaftspraktiken geben kann. Sklaven*innen können in der Tat ihre eigene Unterwerfung begehren und schätzen. Und andererseits können wir auch Zwang ausüben ohne zu herrschen. Eine Revolte, die die Interessen der uns Unterdrückenden bedroht oder schädigt – einschließlich ihrer offensichtlichsten ›echten‹ Interessen, wie z.B. des Überlebens – ist kein Akt der Herrschaft.

Der Punkt ist, dass es bei Herrschaft nicht um die Gewalt oder Zwanghaftigkeit einzelner Aktionen geht, sondern darum wie diese Aktionen dazu beitragen die laufenden Beziehungen zu gestalten. Das schließt nicht aus, sich auch mit der Frage zu beschäftigen, ob Handlungen unter Zwang geschehen, oder Werte und Wünsche verschiedener Art verletzen; aber das ist eine andere Frage.

Meiner Auffassung nach können wir diese Idee in der Etymologie verankern.[59] In seinen römischen Wurzeln war dominus [Eng: domination] ursprünglich der Titel eines*einer Sklavenhalters*in, später wurde es als kaiserlicher Titel aufgenommen und unter der Herrschaft des Kaisers Diocletian formalisiert. Dominanz deutet auf eine etablierte, anhaltende und potenziell umstrittene hierarchische Beziehung hin. Dominierende Handlungen sind Handlungen die solche Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten, Herrschenden und Sklav*innen erschaffen und reproduzieren. Die Herrschenden oder ein System der Herrschaft anzugreifen und zu zerstören, dabei sogar Zwang und Gewalt anzuwenden, ist kein Akt der Herrschaft, es sei denn wir erschaffen und verankern damit neue Hierarchien.

Kapitel 11. Kapitalismus als Kultur der Herrschaft

Kapitalismus ist eine kranke Kultur. Eine Kultur die tötet, die uns krank macht. Ich nenne den Kapitalismus eine Kultur, weil ich herausstellten möchte, dass es um viel mehr geht als nur Ökonomie. Über Kultur zu sprechen mag eigenen Probleme mit sich bringen, aber es hilft uns uns daran zu erinnern, dass der Kapitalismus auch aus Werten, Normen, Gewohnheiten, Bräuchen, Einstellungen, Wünschen und Lebensweisen besteht.

Über den Kapitalismus zu sprechen ist auch nur eine grobe Verkürzung. Dieses Wort fasst viele der Beziehungen von Herrschaft und Ausbeutung zusammen, in die wir verwickelt sind. Aber selbstverständlich nicht alle. Und ebenso wenig gibt es ein großes monolithisches System namens Kapitalismus. Vielleicht ist es besser zu sagen, dass es viele Kapitalismen, viele kapitalistische Kulturen gibt und gegeben hat – und leider wird es wahrscheinlich noch viele weitere geben. Und jeder Kapitalismus ist wiederum eine Assemblage multipler Lebensformen, die selbst wieder multiple Skripte und Muster des Bewertens, Begehrens und Handelns enthalten.

Trotzdem können wir innerhalb dieser Vielheit einige Muster identifizieren, die mehr oder weniger das Herz der kapitalistischen Systems ausmachen. Ich werde sie als die Kernprojekte des Kapitalismus bezeichnen. Insbesondere möchte ich untersuchen, inwiefern diese Projekte sowohl unterdrückend als auch invasiv sind – d.h. sie dringen in andere Kulturen und Lebensformen ein, stören und zerstören sie und erzwingen neue Herrschaftszustände.

Kapitalismus: Jenseits der Ökonomie

Traditionell wird der Kapitalismus als ein ökonomisches System gedacht. Die Verwendung des Begriffs Kultur betont, dass die Praxis der kapitalistischen Ökonomie in einem breiteren Komplex von Werten, Begehren und Praktiken eingebettet ist.[60] Dennoch befindet sich die ›die Ökonomie‹ sicherlich im Herzen der kapitalistischen Kultur und wahrscheinlich ist der beste Weg um eine Ahnung vom Kapitalismus zu bekommen, sich anzuschauen wie die Produktion und die Verteilung von Güter organisiert wird. Obwohl es zahlreiche wirtschaftliche Vereinbarungen geben kann, die wir als kapitalistisch bezeichnen können, gibt es typische Merkmale:


  • Ausgeprägte Formen individueller und gemeinschaftlicher privater Eigentumsrechte;

  • Märkte als wesentliche Institution der Entscheidungsfindung;

  • die Kommodifizierung vieler Wesen und Ressourcen – d.h. die Umwandlung in zum Kauf und Verkauf geeignetem Eigentum – einschließlich menschlicher Zeit, Energie und Kreativität sowie eines großen Teils der nicht-menschlichen Welt;

  • zentralisierte staatliche Institutionen zur Durchsetzung des Eigentums- und Marktrechts, um neue Märkte zu erobern, zu erschließen und weitere Funktionen zu übernehmen.

Wir können diese ökonomischen Institutionen und Praktiken auch in den Begriffen sozialer Skripte denken. So sind z.B. Märkte unterschiedlicher Art (vom lokalen Geschäft, über das Jobcenter, bis hin zu den virtuellen Handelsplätzen der globalen Finanzmärkte) Orte der Interaktion die vertrauten Abläufen folgen und in denen Akteure*innen unterschiedliche Rollen einnehmen: als Käufer*in, Verkäufer*in, Händler*in, Mitarbeiter*in der Aufsichtsbehörden etc. Diese Interaktionen sind gleichzeitig auch Machtverhältnisse bei denen (vereinfacht ausgedrückt) die Marktmacht weitgehend an das Eigentum von handelbaren Gütern geknüpft ist.

Einige Gründe warum wir einen umfassenderen Blick auf den Kapitalismus als Kultur werfen sollten:


Erstens: Die Rollen und Handlungen innerhalb von Marktskripten sind nur in einem komplexen Rahmen von Normen, Gesetzen und Bewertungsweisen sinnvoll. Nichts davon ist für menschliche Wesen ›natürlich‹. Für den Großteil der Menschheitsgeschichte spielten Märkte, Lohnarbeit und Wareneigentum nur eine marginale Rolle bei der Organisation des gesellschaftlichen Lebens.[61] Skripte kapitalistischen Wirtschaftens wurden in hunderten von Jahren kumulativer Entwicklung zusammengeführt und haben frühere Formen der Interaktion dramatisch verändert.

Zweitens: Schon die Idee einer Ökonomie an sich, als einem besonders eingegrenzten Feld menschlicher Aktivität, ist ein Produkt von Bewertungsweisen, die innerhalb der kapitalistischen Kultur gewachsen sind.[62] So ist beispielsweise die Entwicklung und Transformation von Normen darüber, welche Dinge als Wirtschaftsgüter behandelt werden können von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Märkten und der kapitalistischen Kultur als Ganzes.

Drittens: Der Kapitalismus hat, obwohl die Ökonomie im Mittelpunkt seiner Kultur steht, sehr viel umfassendere soziale Veränderungen bewirkt und so ziemlich jeden Aspekt des Lebens von der Liebe bis zum Krieg verändert.

Viertens: Dies ist der wichtigste Punkt auf den ich mich hier konzentrieren werde – wir müssen den Kapitalismus im Hinblick auf allgemeinere evaluative [wertende] Haltungen betrachten, wenn wir die Dynamik seiner Entwicklung verstehen wollen. Zum Beispiel sind Normen und Gesetze die feste verkäufliche Eigentumsrechte zuweisen nur dann möglich, wenn die Menschen zu der Ansicht gelangen, dass die Welt aus Dingen besteht die von Einzelpersonen besessen und gehandelt werden können. Eine Ökonomie, die auf Lohnarbeit basiert, ist erst dann möglich, wenn die Leute dazu trainiert werden gegen Bezahlung regelmäßig lange Arbeitsschichten zu stemmen. Eine zentralisierte Autorität zur Durchsetzung von Eigentum und Marktregeln ist auf die Akzeptanz staatlicher Legitimität angewiesen. Marktinteraktionen können nicht zu einem zentralen Bestandteil des menschlichen Lebens werden, bis die Menschen die Dinge routinemäßig als Waren bewerten, die konsumiert, akkumuliert oder genutzt werden sollten. In den ›entwickelten‹ Formen des Kapitalismus ab dem 20. Jahrhundert erfordert die weitere Ausbreitung der Märkte die Verbreitung des zügellosen Konsums in ganz neue Teile der Weltbevölkerung.

All diese Phänomene beinhalten Veränderungen der Werte und Begehren der Menschen, die sich nicht einfach durch Beziehungen innerhalb der Wirtschaftssysteme erklären lassen. Beispielsweise führten die Kapitalist*innen des frühen 20. Jahrhunderts neue Technologien der Massenproduktion ein, wie die berühmte Montagelinie in Fords Autowerk. Dies führte zu einer Krise der Überproduktion, weil es nicht genügend Konsument*innen gab um das dramatisch gestiegene Angebot an Produkten zu kaufen. Die Lösung, wie Ford und andere zukunftsorientierte Manager*innen erkannten, bestand darin die industrielle Arbeiter*innenklasse von den Hungerlöhnen zu ›befreien‹: In das moderne Paradies der hohen Löhne und der Freizeit.

Aber dann wurde die Industrie mit einem neuen, unerwarteten Problemen konfrontiert: Es stellte sich heraus, dass die Arbeiter*innen gar nicht so gierig auf Konsumgüter waren und nicht einmal annähernd genug von ihrem höheren Einkommen für den Kauf neuer Produkte ausgaben. Entgegen den Überzeugungen der Ökonom*innen kam die Leidenschaft für die Akkumulation nicht von selbst: Stattdessen mussten die Begehren der Verbraucher*innen aktiv stimuliert werden, indem durch neue Arten von Ambitionen und gesellschaftlichen Statusängsten das Begehren nach neuen Produkten ausgeweitet wurde. Die primären mimetischen Mittel dafür, wie sie der Historiker Stuart Ewen (1976) am besten nachvollzogen hat, waren die Massenmedien und die Werbewirtschaft.

Sicherlich gab es eine marktwirtschaftliche Begründung für die Verbreitung einer Kultur des Konsums – das bestehende Profitstreben von Industriellen und Investor*innen. Der Markt trug dazu bei ihr Motiv zu formen, stellte aber nicht die Mittel zur Verfügung. Um zu verstehen wie die neuen Lebensformen des Konsumkapitalismus etabliert wurden, müssen wir uns mit erweiterten Marktprozessen befassen: der Entwicklung von Werbung, Massenmedien, Schulpflicht etc.

Kapitalismus als Herrschaftssystem

Wir könnten sagen, dass das charakteristischste Herrschaftsmuster des Kapitalismus, die auf ungleichen Besitz von Eigentum basierende wirtschaftliche Dominanz ist. Marktinteraktionen sind Machtverhältnisse in denen die Macht hauptsächlich bei denen liegt, die etwas zum Handeln besitzen. Diese Interaktionen erzeugen Herrschaftszustände – d.h. Hierarchien, relativ feste Machtasymmetrien – weil einige systematisch mehr handelbare Ressourcen haben als andere.

Über diese Grundform von Herrschaft hinaus verhelfen Markt- und Eigentumsbeziehungen auch vielen anderen Herrschaftsformen zum Erfolg. Die distanzierenden und entfremdenden Effekte von Marktinteraktionen – wie ist diese in Folie eingeschweißte mit Wasser vollgepumpte Scheibe aus rosa Fleisch in unser Supermarktregal gelangt? – dienen dazu viele brutale Machtverhältnisse zu verschleiern. Die Kommodifizierung immer größerer Lebensbereiche verändert unsere Beziehungen untereinander und zur Natur. Die überwiegend wertschätzende Haltung gegenüber Akkumulation, Gewinn und Wachstum lässt Ungleichheiten vor allem als natürlich und unvermeidlich erscheinen oder sie gleich ganz unbeachtet.

Es ist wichtig vor Augen zu behalten, dass der Kapitalismus als eine Kultur-Assemblage nicht monolithisch ist. Und dies in mindestens zweifacher Hinsicht:

Erstens: Der Kapitalismus ist eine Ansammlung von verschiedenen Lebensformen. Zum Beispiel beinhaltet jedes kapitalistische System verschiedene Arten von Akteur*innen oder Spieler*innen, die alle ihre eigenen besonderen Lebensformen haben. Klassischerweise waren dies ›Kapitalist*innen‹ und ›Arbeiter*innen‹. Oft macht es aber Sinn sich kleinteiligere Formationen anzusehen: Investmentbanker*innen, führende Industrielle, Werbetreibende, Politiker*innen, Superreiche, Polizist*innen, Arbeiteraristokrat*innen, Tagelöhner*innen, Akkordarbeiter*innen, Studierende, Arbeitslose, Slumbewohner*innen, die sich um die Finanzmetropolen scharen, etc. etc. etc. etc. Diese und viele weitere Gruppe interagieren miteinander in verschiedenen ökonomischen und nicht-ökonomischen Skripten. Ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede können mehr oder weniger deutlich oder überlappend, stabil oder veränderlich, partiell oder umfassend sein.

Zweitens: Der Kapitalismus koexistiert, verbindet und kollidiert immer mit anderen Kultur-Assemblagen. Dies zeigt sich vor allem an den Grenzen, an denen der Kapitalismus noch immer auf nicht-kapitalistische Kulturen trifft. Aber selbst im Herzen der ›fortgeschrittenen‹ kapitalistischen Gesellschaften bleiben viele andere Muster lebendig. Um sich beispielsweise auf ein beliebtes Thema von Kropotkins Gegenseitige Hilfe (1908) zu beziehen: Kapitalistische Unternehmen verwenden in ihrem Inneren selten Marktstrukturen, stattdessen verlassen sie sich auf neofeudale Hierarchien oder nutzen sogar Praktiken der gegenseitigen Hilfe und Solidarität. Außerhalb davon koexistieren kapitalistische Institutionen mit viel älteren militärischen, staatlichen, religiösen, patriarchalen etc. Strukturen. Auch sind kapitalistische Entitäten geschickt darin, Symbiosen (oder Parasitismen) auch mit – oberflächlich betrachtet – entgegengesetzten Lebensformen zu bilden, z.B. mit Arbeiter*innenbewegungen.

Kapitalismus als eine invasive Kultur

Obwohl der Kapitalismus mit anderen Lebensformen koexistieren kann und dies auch tut, ist er eine invasive Kultur, die soziale Ökologien radikal verändert. Seine Akteur*innen nutzen Herrschaftstechniken, um (a) rivalisierende Lebensformen zu stören, (b) kapitalistische Werte und Praktiken in den sozialen Ökologien zu verbreiten und sie (c) zu normalisieren und zu naturalisieren.

An dieser Stelle möchte ich mich auf das konzentrieren was Adam Smith und nach ihm Karl Marx, als ›primitive Akkumulation‹ bezeichneten, die in engem Zusammenhang mit dem steht, was Locke ›ursprüngliche Aneignung‹ nannte und was heute als ›Öffnung neuer Märkte‹ bezeichnet werden könnte. Das heißt: Teile der Welt werden in handelbares Privateigentum umgewandelt.

Die Einhegungen während des frühen englischen Kapitalismus wurden von Historiker*innen besonders gut untersucht. Im mittelalterlichen England wurde das meiste Land entweder von Familien unter Freiland- oder Streifenlandwirtschaft bewirtschaftet oder als ›Commons‹ verwaltet (Wald, Weide, Teiche und Flüsse, kollektive Ressourcen von Dörfern etc.) Obwohl feudale Grundbesitzer*innen die Dorfbewohner*innen Pachtforderungen, Arbeitsverpflichtungen, Zehnten und andere Leistungen unterwarfen, gab es noch einen gewissen Spielraum für autonome Organisation, die Nutzung von Dorfgrundstücken war weitgehend durch Traditionen und kollektive Formen der Entscheidungsfindung bestimmt. In England bedeutete der Begriff Einhegung vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert im technischsten Sinne das Umzäunen oder Absichern von Grundstücken und deren rechtliche Identifizierung mit Eigentumsurkunden als Privateigentum von namentlich genannten Personen.[63]

In der gleichen Zeit wurden in den Kolonien der ›Neuen Welt‹ Land und andere ›natürliche Ressourcen‹ noch brutaler beansprucht, zerstückelt und in Privatbesitz überführt. Im übertragenen Sinne können wir uns auch eine andere Art von Einhegung vorstellen, Eigentumsbeziehungen und Märkte begannen bei der Steuerung menschlicher Körper, ihrer Zeit und Energie eine viel größere Rolle zu spielen und Märkte sowohl für Sklav*innen, als auch für ›freie‹ oder Lohnarbeit wurden in dieser Zeit massiv ausgebaut. Darüber hinaus wurde, wie feministische Schriftstellerinnen (wie Silvia Federici, 2004) betonen, die Einschließung des Sklaven- und Lohnarbeiterlebens im Frühkapitalismus von einer zunehmenden ›biopolitischen‹ Kontrolle des weiblichen Körpers als Reproduktionsmittel begleitet.

In all diesen Fällen, wie auch in moderneren Beispielen – zum Beispiel die ›Einhegung‹ neuer Formen der Rechte an geistigem Eigentum – können wir uns eine Veränderung der Praktiken, Institutionen und Skripte vorstellen, die die Menschen zur Verwaltung ihrer Beziehungen in Bezug auf eine Ressource verwenden, sei es Land, Arbeit, Ideen etc. Kurz gesagt, die Ressource wird in eine Ware umgewandelt. Diese Warenwerdung hat eine Reihe von Aspekten. Erstens, die Ressource muss als eine separate und quantifizierbare Substanz definiert und in Einheiten aufgeteilt werden. Zweitens, diese Einheiten können als Eigentum eines bestimmten Individuums oder einer Gruppe beansprucht werden. Drittens, werden Märkte etabliert auf denen diese Einheiten gehandelt werden können.

Im Verlauf des Kapitalismus ist die Öffnung neuer Märkte immer wieder auf Widerstand gestoßen. Zum Beispiel hatte die ländlichen Bevölkerungen im 16. Jahrhundert in England, oder die indigenen Kulturen in den Kolonien, ihre eigenen Vorstellungen davon, wie das Land auf dem sie lebten und ihr eigener Körper behandelt werden sollten.

Ich werde diese Konflikte vereinfachend als Kämpfe zwischen verschiedenen Lebensformen denken. Auf der einen Seite steht eine kapitalistische Lebensform, die darauf abzielt aus einer Ressource neue Märkte und Waren zu schaffen; auf der anderen Seite eine nicht-kapitalistische Lebensform, die ganz andere Werte, Begehren, Praktiken und Institutionen in Bezug auf die Ressource hat. Wenn eine solche Lebensform der kapitalistischen Expansion widersteht, muss diese Expansion in Form einer Invasion erfolgen: Der Erfolg einer Invasion bei der Änderung der Praktiken in Bezug auf eine Ressource beinhaltet zwangsläufig auch die Transformation der widerständigen Körper.

Ein Warnhinweis an dieser Stelle: Auch hier möchte ich weder den Kapitalismus noch die nicht-kapitalistischen Kulturen als monolithisch betrachten. So kann es beispielsweise sein, dass die Lebensform, die sich aktiv um die Öffnung eines Marktes bemüht nur eine relativ kleine Formation innerhalb einer viel breiteren kapitalistischen Kultur ist: In der Geschichte des Kapitalismus gab es die ›Verbesserer‹, die ›Modernisierer*innen‹, die ›Pioniere‹, die ›Unternehmerinnen‹ etc. und auch die ›Bürokrat*innen‹, die ›Reformisten‹, ›Gemäßigte‹, ›Konservative‹ etc., die in verschiedene Richtungen arbeiteten. Entsprechend gibt es auch innerhalb widerständiger Kulturen militantere und angepasstere Gruppen und Tendenzen sowie Debatten und interne Kämpfe. Die Idee der Aneignung als Konfrontation zwischen zwei gegensätzlichen Lebensformen ist also immer eine Vereinfachung.

Einige Technologien der Herrschaft im Kapitalismus

Nun kommen wir zur Kernfrage: Wie erschaffen und erhalten Körper und Assemblagen Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus? An dieser Stelle möchte ich nur einige wichtige Technologien der Herrschaft herausstellen. Diese sind in gewisser Hinsicht spezifisch kapitalistisch, folgen aber auch allgemeinen Mustern, die wir in vielen anderen historischen Herrschaftssystemen sehen können. In Kapitel 9 habe ich mich auf Nietzsches Diskussion über den Staat und den Sklavenaufstand gestützt um einige Praktiken oder Technologien der Herrschaft zu bezeichnen, darunter die traumatische Eroberung der Herrschenden; die pseudotherapeutische Fürsorge der Priester*innen; die Ansteckung der Sklavenrevolte. Diese und noch weitere Dinge können wir auch in kapitalistischen Kulturen erkennen.

Eroberung

Ein kurzer Blick auf die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung zeigt, dass die älteste und häufigste Technologie der Herrschaft die gewaltsame und traumatische Eroberung ist. Dies ist in der kolonisierten Welt, z.B. in Afrika wo Millionen versklavt wurden und in den Amerikas wo vielerorts der größte Teil der Bevölkerung ausgelöscht wurde, am offensichtlichsten.[64] Auch im England und Europa des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Einhegung von Land mit brutaler Gewalt, mit Säuberungen und Räumungen durchgesetzt. Gegen Einhegungen wurde energischer Widerstand geleistet, von lokalen Sabotageakten und Ungehorsam bis zu großen Aufständen.[65]

Der Einsatz von überwältigender Gewalt zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Märkten ist noch lange nicht am Ende. Auf der Makro-Ebene sehen wir dies deutlich in der anhaltenden Geschichte der Interventionen im Dienste des Eigentums, sowohl durch staatliche, also auch durch Söldnerarmeen. Nur um das offensichtlichste Beispiel zu wählen: Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs haben die US-Regierungsstellen und ihre Verbündeten eine ununterbrochene Reihe offener und verdeckter bewaffneter Interventionen im Ausland geführt, gerechtfertigt im Namen des Anti-Kommunismus oder aktueller, des ›Krieg gegen den Terror‹.[66] Die US-Außenpolitik unterstützt Unternehmen bei der Beseitigung oder Terrorisierung von Regierungen und Bevölkerungen wenn diese existierende Märkte bedrohen oder gegen Entwickelung von neuen Märkten Widerstand leisten.

Naomi Kleins (2007) Studie der ›Schockstrategie‹ in der gegenwärtigen ›neoliberalen‹ Phase der kapitalistischen Expansion leistet hier einen interessanten Beitrag. Der Neoliberalismus lässt sich, wie seine Fürsprecher*innen an der Chicago School bekennen, ziemlich gut als eine Rückkehr zu ›klassisch liberalen‹ Laissez-faire-Praktiken – nach der Unterbrechung durch den keynesianischen ›Sozialliberalismus‹ in der Nachkriegszeit – verstehen. Das Kernprojekt, wie es von intellektuellen Führern wie Milton Friedman und politischen Führer*innen von Pinochet bis Thatcher vorgestellt wurde, war die Rückkehr zur Kontrolle durch den Markt (Privatisierung) von Bereichen des Wirtschaftslebens, die zuvor staatlich organisiert waren. Aber staatlich kontrollierte Ressourcen sind nur eine der sprudelnden Quellen für gewinnbringende Kommodifizierung. Eine andere wichtige Quelle in den letzten Jahrzehnten, war die Erschließung neuer ›Wachstumsmärkte‹ in den ›Entwicklungsländern‹ und dem ehemaligen Sowjet-Block; sowie die auf Verbraucherkreditblasen aufgebaute massive Expandierung der Finanzmärkte und die ›Innovation‹ durch neue Finanzinstrumente wie Verbriefung und Derivate.

Klein argumentiert, dass eine systematische Ausnutzung von »Angst und Durcheinander« (ebd. 20) charakteristisch ist für diese Welle der Marktexpansion, »Momente kollektiver traumatischer Erfahrung« (ebd.) als »Katalysatoren für jeden weiteren Schritt nach vorn« (ebd. 21). Dasselbe Schema zeichnete sie in dem Experiment des chilenischen Staatsstreichs von 1973 nach. Dabei folgte auf die Terrorisierung der Bevölkerung durch Pinochets von den USA unterstützte Streitkräfte unmittelbar ein »zweite[r]« ökonomischer »Schock«, eine Reihe simultaner Privatisierungs- und Preisliberalisierungsmaßnahmen. Vergleichbares geschah im Falle des Irak: »Schock und Entsetzten«, gefolgt von einem Versuch der Übernahme durch Unternehmen. Dennoch ist militärischer Terror nur eine Art ein ausbeutbares kollektives Trauma hervorzurufen: Eine Naturkatastrophe zum Beispiel ist genauso zweckdienlich, wie im Falle des Hurrikan Katrina – dieser wurde sofort als eine Gelegenheit erkannt den lokalen Wohnungsbau, das Bildungssystem und andere staatliche Dienste zu reformieren. Kurz:

»So funktioniert die Schockdoktrin: Das ursprüngliche Disaster – der Staatsstreich, der Terroranschlag, der Zusammenbruch der Märkte, der Krieg, der Tsunami, der Hurrikan - versetzt die gesamte Bevölkerung in einen kollektiven Schockzustand. … Wie der terrorisierte Gefangene, der die Namen von Kameraden verrät und seinen Glauben widerruft, geben schockierte Gesellschaften oft Dinge auf, die sie ansonsten vehement verteidigen würden.« (ebd. 32).

Ein noch aktuelleres Beispiel ist die Nutzung der Kreditkrise von 2008 durch dieselbe neoliberale Formation, die für die Voraussetzungen des Zusammenbruchs verantwortlich ist. Unmittelbar nach der Kreditkrise kam es zu einem Backlash gegen deregulierte Finanzmärkte und einem Gerede von einer ›Rückkehr zu Keynes‹ oder gar einer ›Rückkehr zu Marx‹. Aber das hat sich als kurzlebig herausgestellt: Tatsächliches Ergebnis war eine politische Bewegung in Richtung Austerität in Europa und anderen wohlhabenden Regionen, nicht ein Rückzug, sondern eine Eskalation der Vermarktlichung.

Ein wichtiger Punkt ist dies: Während eine Krise oder ein Trauma eine Transformation von Werten, Begehren und Praktiken induzieren kann, ist die Form des Wandels ungewiss und weitgehend offen. In Nietzsches Erzählung der Eroberung verursachten die Herrschenden bei den von ihnen versklavten Subjekten massive Traumata – aber sie konnten nicht kontrollieren oder vorhersagen, wie genau die traumatisierten Körper der Sklav*innen auf dieses Trauma durch die Schaffung neuer Wertesysteme reagieren würden. In dieser Hinsicht sind die führenden neoliberalen Akteur*innen heutzutage sehr viel geübter. Die Krise von 2008 erschuf eine Offenheit für eine Reihe möglicher Veränderungen gegenwärtiger ökonomischer Normen und Praktiken; aber es waren die Neoliberalen selbst, nicht die Keynesschen Reformer*innen (geschweige denn jegliche antikapitalistische Kraft), die in der Position waren der Krise eine Bedeutung zu geben und ›Lösungen‹ vorzuschlagen.

Care

Der letzte Punkt führt uns von den Technologien der Eroberung zu den ›priesterlichen‹ Praktiken der Kontrolle. In Nietzsches Erzählung erscheinen, nachdem die Herrschenden das ursprüngliche Trauma verursacht haben, die Priester mit pseudotherapeutischen ›Heilmitteln‹ um die Leiden zu lindern, erzeugen damit in der Tat aber nur weitere Schwächung und Abhängigkeit. Dies ist exakt das Muster, dass wir auch in Kleins Analyse der ›Schockdoktrin‹ finden. Die Identität – ob es ›Herrschende‹ oder ›Priester‹ sind, die eine ›edle‹ oder eine ›priesterliche‹ Taktik anwenden – ist nur eine zweitrangige Frage. In Judith Hermans Analyse häusliche Gefangenschaft, ist der Täter gleichzeitig auch der geliebte Partner. In der Austeritätspolitik sind die gleichen Politiker*innen, die geholfen haben das System zu crashen, wieder zur Stelle um Sparprogramme zu erzwingen. Im heutigen Krisenkapitalismus bieten Outsourcing-Unternehmen oft das ganze Spektrum von Dienstleistungen, von der Verursachung einer Katastrophe bis zur Katastrophenhilfe.[67]

In anderen Fällen jedoch, können ›den-Schaden-anrichten‹ und ›Hilfe-anbieten‹ eigenständige Rollen sein, die von Individuen und Gruppen mit ganz unterschiedlichen, mitunter sogar antagonistischen Lebensformen eingenommen werden. Also: Auf der einen Seite die Soldat*innen und Polizist*innen; auf der anderen Seite die NGOs, Erzieher*innen, Reformer*innen, Sozialarbeiter*innen, die die gebrochenen Gliedmaßen verarzten und neue Normen vertreten. Auf der einen Seite die harte Rechte, die Falken; auf der anderen Seite die Liberalen, die Tauben, die Linke. Beide haben klare Rollen zu spielen.

Ansteckung

Ein andere nietzscheanische Technologie die ich genannt habe, ist die Ansteckung. Ich möchte zwei Formen erwähnen wie Ansteckung in der Geschichte des Kapitalismus benutzt wurde. Aber zuerst, möchte ich an einen oben genannten wesentlichen Punkt erinnern: Der Kapitalismus ist eine Kultur-Assemblage aus multiplen Lebensformen und sozialen Gruppierungen. Eine stabile oder expandierende kapitalistische Kultur erfordert nicht, dass alle Gruppen die gleichen ›kapitalistischen Werte‹ teilen, nur dass ihre unterschiedlichen Werte nicht zu Konflikten führen, die das System zerstören.

Zum Beispiel war es in der frühen Geschichte des Kapitalismus sicherlich hilfreich für die weitere Expansion des Marktes, für bestimmte Gruppen Lebensformen zu entwickeln, in denen die Anhäufung von Eigentum eine zentrale Antriebskraft war – David Humes kaufmännische ›Leidenschaft der Gier‹, Max Webers protestantischer ›Geist des Kapitalismus‹ etc. Aber solange die Mehrheit der Menschen innerhalb der kapitalistischen Kulturen entweder versklavt oder am Existenzminimum gehalten wurde, gab es für kumulative Triebe wenig Gelegenheit zu gedeihen und sich weiter auszubreiten und außerdem hatten die frühen Bürgerlichen wahrscheinlich Recht damit, die kumulative Bestrebungen der niedrigeren Klassen als gefährlichen Aufruhr zu behandeln. Im frühen Kapitalismus blieben die ›men of property‹ eine enge Kaste, die physisch und kulturell von der Mehrheit getrennt war.

Die ›Demokratisierung‹ kapitalistischer Werte und die Erschaffung von dem, was wir heute Konsumkultur nennen, ist ein junges Phänomen. Wie ich oben bemerkt habe begann es im frühen 20. Jahrhundert, als die fordistische Massenproduktion einen entsprechenden Massenkonsum benötigte, dass die Nachfrage nach den neuen Produkten, die von den Produktionsbändern liefen, angekurbelt wurde. Eine Konsumkultur, in welcher viel größere Teile der Bevölkerung sich in die kapitalistische Kultur ›inkludiert‹ fühlen, an Marktpraktiken gebundene Grundwerte teilen und sich von jeglicher Störung des Systems bedroht fühlen, ist eine sehr effektive stabilisierende Kraft im gegenwärtigen Kapitalismus. Sie transformiert die kapitalistische Kultur von einer instabilen Assemblage des offenen Parasitismus und Klassenantagonismus, zu einer viel dichteren Symbiose.

Es gibt noch eine weitere wichtige kapitalistische Ansteckungstechnologie zu beachten, die älter, aber immer noch sehr verbreitet ist. Diese funktioniert, indem nicht Einheit, sondern Teilung verbreitet wird, um Lebensformen, die die Herrschaft bedrohen, zu schwächen. Auch hier komme ich auf Silvia Federicis (2004) Analyse der primitiven Akkumulation zurück. Federici argumentiert, »dass jahrelange Propaganda und jahrelanger Terror unter Männern die Saat einer tiefen psychologischen Entfremdung von Frauen gesät hatten. Diese Saat ging nun auf, zerbrach die Klassensolidarität und unterminierte die kollektive Macht der Männer« (ebd. 234) dies ging einher mit der Zerstörung kommunaler »Subsistenzökonomie« in Europa. Die Taktik, mit denen ethnische Spaltungen zwischen Europäer*innen und kolonialen Subjekten geschaffen wurden, verlief sehr ähnlich – z.B. wurden oft die gleichen Waffen, also Vergewaltigung, Folter, rechtlichen Erniedrigung und die gleichen propagandistischen Beleidigungen der Bestialität, Idiotie und des Kindsmordes gegen Arbeiter*innen, afrikanische Sklav*innen und amerikanische Indigene eingesetzt.

In Bezug auf Gender sehen wir den Terror in seiner brutalsten Offensichtlichkeit bei den Hexenjagden, die Hunderttausende von Frauen vernichteten; angegriffen wurden vor allem die Armen, Alten und all jene die als Bedrohung für neue Produktions- und Fortpflanzungsnormen angesehen wurden. Hebammen zum Beispiel wurden besonders zum Ziel, weil sie sich dem Verlust der Kontrolle der Frauen über die Fruchtbarkeit widersetzten; alte Frauen »verkörperten das Wissen und das Gedächtnis der Gemeinschaft […] War sie traditionell als Weise Frau angesehen worden, so wurde sie nun zum Symbol der Unfruchtbarkeit und der Lebensfeindlichkeit« (ebd. 239). In Bezug auf die Propaganda bezeichnet Federici die Hexenjagd als »die erste europäische Verfolgung, die von multimedialer Propaganda Gebrauch machte, um in der Bevölkerung eine Massenpsychose zu erzeugen« (ebd. 210). Die ersten Druckmaschinen veröffentlichten simultan frauenfeindliche Traktate, Hexenbroschüren und pornografische Szenen mit indigenen Kannibalenorgien.

Herrschaft und Widerstand

Dieses Kapitel war nur die flüchtige Skizze einiger wiederkehrender Technologien der Invasion und Herrschaft in der Geschichte des Kapitalismus. Und es fehlt etwas sehr Wichtiges: Ich habe die kapitalistische Herrschaft im Grunde genommen als eine einseitige Interaktion betrachtet, in der bestimmte mächtige Lebensformen auf andere schwächere Formationen einwirken. Aber dies ist nicht einmal annähernd ein Gesamtbild. Um einen weiteren wichtigen Punkt zu erwähnen, der von Federici hervorgehoben wurde: Viele der ersten Schritte der kapitalistischen Akkumulation waren tatsächlich Reaktionen auf den ›antifeudalen Kampf‹ der Bewegungen der Arbeiterinnen und Bauern, die seit dem späten 14. Jahrhundert in Europa grassierten. Es ist bei weitem nicht wahr, dass Einhegung und Enteignung von dynamischen ›Modernisierer*innen‹ einer statischen Bauernschaft auferlegt wurden: Die niedrigeren Schichten hatten ihre eigenen radikalen Vorstellungen davon, wie man die Welt verändern könnte. Wir können die Entwicklung des Kapitalismus nur dann verstehen, wenn wir uns auch die aktive Rolle ansehen, die die Enteigneten gespielt haben – oft als Antagonist*innen, aber bei anderen Gelegenheiten auch als Kollaborateur*innen.

Kapitel 12. Gegen die freiwillige Knechtschaft

Warum akzeptieren Menschen Herrschaft so bereitwillig? Diese Frage wurde auf viele verschiedene Arten gestellt – und beantwortet. Ich werden mit einem Rekurs auf zwei berühmte historische Diskussionen beginnen, von denen ich denke, dass sie noch immer interessant sind. In seinem Essay Von der freiwilligen Knechtschaft schreibt der französische Schriftsteller Etienne de La Boétie:

»Für dieses Mal will ich nur untersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, daß so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten.«

La Boétie skizziert die Frage in Bezug auf die außergewöhnlichen Bedingungen der »Tyrannei«, aber die Frage umfasst viel mehr. Der Philosoph David Hume, der etwa 80 Jahre später schrieb, stellte fest, dass dieselbe ›Maxime‹ sowohl für ›die despotischsten und militärischsten Regierungen‹ als auch für ›die freisten und beliebtesten‹ gilt:

»NICHTS erscheint überraschender, für diejenigen, die menschliche Angelegenheiten mit philosophischen Augen betrachten, als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von den Wenigen regiert werden; und die stillschweigende Unterwerfung, mit der die Menschen ihre eigenen Empfindungen und Passionen gegenüber denen der Herrschenden niederlegen. Wenn wir fragen, mit welchen Mitteln dieses Wunder geschieht, werden wir feststellen, dass, da die MACHT immer auf der Seite der Regierten steht, die Regierenden nichts anderes zu ihrer Unterstützung haben, als die Meinung.« (1758: On the First Principles of Government, para. 1)

Wir können sogar noch weiter gehen: Die Menschen geben ›ihre eigenen Empfindungen und Passionen gegenüber denen der Herrschenden‹ auf, nicht nur gegenüber staatlichen Regierungen, sondern auch gegenüber den großen und kleinen Herrschenden unseres Alltags, von den Polizist*innen, über die Bosse bis hin zu den kleinen Despot*innen aller Art.[68]

Ein Merkmal der Essays von La Boétie und Hume ist, wie dynamisch sie diese Frage angehen. Beide betrachten Unterwerfung als etwas, dass sich im Laufe der Zeit entwickelt und eine Verschiebung im Begehren (›Empfindungen und Passionen‹) wie auch der Gewohnheit beinhaltet. La Boétie ist der Meinung, dass »die Gewohnheit« »die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft [sei]«. Der Mensch in der Tyrannei ist wie ein Pferd, das dem*der Reiter*in zum Opfer fällt; wie Mithridates, der laut Legende trainierte Gift zu trinken, lernen wir »das Gift der Sklaverei zu schlucken und nicht mehr bitter zu finden«. Für Hume »sind die Menschen, wenn, mit welchen Mitteln auch immer, eine neue Regierung gebildet wird, gemeinhin unzufrieden und entrichten Gehorsam mehr aus Angst und Not, denn aus jeder Vorstellung von Treue oder moralischer Verpflichtung« (1758: Of the Original Contract, Paragraph 22). Aber dann »beseitigt die Zeit nach und nach all diese Schwierigkeiten und gewöhnt die Nation daran, jene Familie als ihre rechtmäßigen oder einheimischen Fürsten anzusehen, die sie zunächst als Usurpatoren oder ausländische Eroberer betrachteten« (ebd).

Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen den Ansätzen dieser beiden Autoren. La Boétie ist der Meinung, »daß die Freiheit natürlich ist« und das die Unterwerfung unter die Tyrannei eine unnatürliche Bedingung ist, die uns »leiden« lässt. Hume hingegen ist der Ansicht, dass die Unterwerfung unter fast jede Regierung, indem sie eine auf Eigentum basierende ›Gerechtigkeit‹ und damit wirtschaftliche Akkumulation sicherstellt, einem weit verbreiteten menschlichen Eigeninteresse dient. In einer dieser Versionen funktioniert die Gewöhnung gegen natürliche menschliche Wertvorstellungen, in der anderen hilft sie ihr.

Meine nietzscheanische Perspektive, die die Vielfalt der bewertenden Positionen anerkennt, hebt sich von diesen beiden Denkweisen ab. Der Mensch als Ganzes, ist von Natur aus weder freiheitsliebend, noch unterwürfig. Einige menschliche Körper begehren tatsächlich ihre eigene Unterwerfung auf eine Art, dass dieses Begehren zu ihrer ›Natur‹ geworden ist. Andere jedoch haben Werte die bestimmten Formen, vielleicht auch allen Formen der Herrschaft entgegengesetzt sind. Und diese Tendenzen sind nicht starr: Wir können vom passiven zum aktiven Sein übergehen. Die Frage, die mich interessiert, ist wie es geschieht, dass ein Körper unterwürfig wird, zumindest in einem bestimmten Kontext; oder, auf der anderen Seite, die Tendenzen zur Unterwerfung überwindet und stattdessen beginnt für die Freiheit zu streiten.[65]

Tiefe Herrschaft und Einverleibung

Um zu Beginnen, können wir tiefe und flache Herrschaftszustände unterscheiden. Ich möchte sagen, dass die Herrschaft tief in dem Maße ist, wie der beherrschte Körper seine untergeordnete Rolle bestätigt – das heißt als positiv und wünschenswert ansieht.

Erinnern wir uns hier an eine der zentralen Thesen Nietzsches, dass nämlich Leiber von multiplen, komplexen und oft widersprüchlichen Werten und Begehren ergriffen werden, die sich in einem »Kampf der Motive« (D129) befinden. Ein Körper, der sich in Gefangenschaft befindet, kann viele aktive Begehren haben, einige wägen rational über Nutzen und Risiken von Konformität oder Rebellion ab; andere aber sind zutiefst affektive Bewegungen von Wut und Sehnsucht oder lähmender Angst und anderen mehr oder weniger völlig unbewussten Gewohnheiten von Widerstand oder Unterwerfung, mehr nach dem Muster von Nerven und Muskeln, als dem von Gedanken oder Gefühlen.

Dennoch können wir, abstrahierend von dieser Komplexität, grob an ein Kontinuum mit zwei Extremfällen denken. In einer Situation tiefer Herrschaft stärken die bewertenden Positionen des Einzelnen durchweg die Praxis der Unterwerfung, ohne dass es zu einem signifikanten internen ›Dissens‹ käme. In einer Situation flacher Herrschaft, widersetzen sich stark einverleibte Kräfte im Körper des*der Einzelnen dieser Praxis. Nach Außen hin folgt der Körper noch immer den auferlegten Skripten, aber nur gegen diese starken Werte und Begehren – ›aus Angst oder Notwendigkeit‹ wie es Hume z.B. ausdrückt. Flache Herrschaft bedeutet also, dass es eine Spaltung innerhalb der psychischen Ökologie eines Körpers gibt: Auf der einen Seite unterwürfige (z.B. ängstliche oder pragmatische) Werte und Begehren, die den Körper zur Einhaltung nach außen bewegen; auf der anderen Seite rebellische Werte und Begehren, die von (externen) Handlungen blockiert werden.

Unterwürfig zu werden, kann mit einer Bewegung von flacher zu tiefer Herrschaft einhergehen – eine Volontarisierung der Knechtschaft. Einen solchen Übergang können wir mit Nietzsche als Einverleibung denken. Insbesondere können wir uns hier an das in Kapitel 3 beschriebene Muster der performativen Einverleibung erinnern.

Um es hier noch einmal kurz zusammenzufassen: In Nietzsches Erzählung beginnt eine Person, vielleicht »aus Angst« (D104), damit eine Rolle oberflächlich und heuchlerisch zu spielen, aber im Laufe der Zeit »gewöhnen [wir] uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist« (ebd). Ich habe mir diesen Prozess hinsichtlich eines Kampfes zwischen zwei verschiedenen Triebmustern angeschaut, die innerhalb eines Körpers zur gleichen Zeit aktiv sind. Auf der einen Seite eine ›öffentliche‹ bewertende Haltung, die offen und performativ die gesellschaftlich geforderte Rolle bekräftigt; auf der anderen Seite eine ›versteckte‹ Bewertung, die dieser entgegensteht, aber nicht offen aus-agiert werden kann. Die öffentliche Bewertung wird um so stärker, je öfter sie aufgeführt wird, während die Versteckte verblasst – das Verblassen eines nietzscheanischen Triebes, der keine Nahrung erhält (D109, D119). Im Falle tiefer Herrschaft ist es also so, dass je mehr wir unterwürfige Begehren und Werte ausleben, desto mehr werden diese verinnerlicht und beginnen zu unserer ›Natur‹ zu werden.

Im Allgemeinen sind Tendenzen zur Verinnerlichung überall dort vorhanden wo Körper immer wieder Werten, Begehren und Praktiken in ihren sozialen Ökologien ausgesetzt sind – insbesondere dann, wenn sie diese selbst wiederholen. Diese Tendenzen dürften in der Kindheit am ausgeprägtesten sein, setzen sich aber im Laufe unseres Lebens fort. Technologien der Herrschaft sind Werkzeuge der ›Eliten‹, um diese Tendenzen zu stärken und anzuregen.

Aber es sind immer nur Tendenzen, niemals Gewissheiten – und sie können besiegt werden. Das Prinzip ist einfach: Wenn wir rebellische Werte fördern und am Leben erhalten wollen, müssen wir sie weiter in die Tat umsetzen. Wenn wir dies aufgrund von Überwachung und Kontrolle nicht offen tun können, müssen wir andere Wege finden um zu handeln.

In der dunklen Werkstatt: James Scott und die Kunst des Widerstands

Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Genealogie Nietzsches. Nach der Unterdrückung durch den Staat sind die Sklav*innen zu schwach um die Herrschenden offen herauszufordern. Aber sie verwandeln sich niemals in total unterwürfige Instrumente, weil sie ihre ganz eigenen Muster der Bewertung bewahren (wenn auch in der verdrehten Form der Sklavenmoral). Dies deshalb, weil sie dazu in der Lage sind die Werte in ›inneren Welten‹ und separierten ›unterirdischen‹ Räumen auszuleben.

Um diesen Punkt weiter zu untersuchen, werden wir einen kurzen Blick auf einige Ideen des politischen Theoretikers und Anthropologen James Scott werfen. In seinem Buch Domination and the Arts of Resistance, welches auf seinen Forschungen zu den tagtäglichen Klassenkämpfen in einem bäuerlichen Dorf in Malaysia aufbaut, betrachtet Scott die Weiterführung des Widerstand unter den schwierigen Bedingungen von »Sklaverei, Leibeigenschaft, Kastenherrschaft und jenen Bauer-Landbesitzer Beziehungen, in denen Aneignung und Statusverschlechterung miteinander verbunden sind« (1990:193). Das Konzept, das er entwickelt hat, kann mit etwas Vorsicht auch in einem weiteren Kontext angewendet werden.

Einer von Scotts wichtigsten Beiträgen, ist die Unterscheidung zwischen dem, was er als ›öffentliche‹ und ›versteckte‹ ›Transkripte‹ bezeichnet. Öffentliche Transkripte sind Aufzeichnungen von Taten oder Diskursen, in denen die Elite und die ihr untergeordneten Gruppen sich offen und direkt konfrontieren; während sie in den versteckten Transkripten, außerhalb der Sichtbarkeit agieren. In der öffentlichen Sphäre zeigt sich die Elite üblicherweise als stark, weise, in Glanz und Gloria, während die Untergebenen Respekt und willentliche Akzeptanz der herrschenden Werte zu Schau stellen. Nur die öffentlichen Transkripte zu betrachten, zeichnet also auch nur ein partielles und verzerrtes Bild der Machtbeziehungen, denn der Widerstand lebt vor allem im Untergrund. Wenn ein Kampf in einer offenen Rebellion ›ausbricht‹ und somit im öffentlichen Transkript auftaucht, trifft das die Beobachtenden der Elite oftmals überraschend – denken wir z.B. an die schiere Panik und Fassungslosigkeit der Medien, als die Polizei 2011 die Kontrolle über die Straßen von London verlor. Die Ignoranz für die versteckten Transkripte führt deshalb zu einer großen Lücke und einem Missverständnis in Geschichte und Theorie des Mainstream: »ein Großteil des aktiven politischen Lebens der untergeordneten [subordinate] Gruppen wurde ignoriert« (ebd). Aus der Sicht von Rebell*innen, anders als aus der Sicht von Intellektuellen, ist das nicht unbedingt etwas schlechtes.[69]

Eine Warnung an dieser Stelle: Scott selber ist sich darüber im klaren, dass es eine krasse Vereinfachung ist ›eine Gesellschaft‹, als zwei Gruppen mit einem ›öffentlichen Transkript‹ und zwei ›versteckten Transkripten‹ zu denken. Eine solche Analyse muss in einem breiteren Verständnis der sozialen Ökologien wurzeln, die aus multiplen und interagierenden Körpern und Assemblagen bestehen und in der diverse Formen von Herrschaft auf komplexe Art miteinander verflochten sind.

Scott benutzt seine Idee um eine Kritik gegen die marxistische Theorie des ›falschen Bewusstsein‹ oder der ›hegemonialen Ideologie‹ anzubringen. Die Theorie des falschen Bewusstseins, so schreibt er, gibt es in zwei Formen, ›dick‹ und ›dünn‹. Laut der dicken Variante führt Herrschaft dazu, dass »untergeordnete Gruppen aktiv an die Werte glauben, die ihre eigene Unterwerfung erklären und rechtfertigen«; in der dünnen Variante, bejahen die Sklav*innen die herrschenden Werte nicht aktiv, werden jedoch davon überzeugt »das die soziale Ordnung in der sie leben natürlich und unvermeidlich ist« (ebd:72). Scotts Argument dagegen ist, dass die Theoretiker*innen das falsche Bewusstsein hauptsächlich deshalb diagnostizieren, weil sie die öffentliche Performance der Unterwerfung als Nennwert nehmen. Nach seiner Vorstellung, kann die Abwesenheit offener Konfrontation eher mit einem Mangel an Mitteln, als mit einem Mangel des Willens erklärt werden: Es ist nicht so, dass die Bauern und Sklav*innen die Welt nicht auf den Kopf stellen wollen würden, sondern das sie »durch geografische und kulturelle Hintergründe getrennt« und sich sehr bewusst sind, dass sie mit einer überwältigenden militärischen Kraft konfrontiert sind. Und tatsächlich zeigt die Geschichte der bäuerlichen und Sklavenaufstände nicht so sehr die passive Resignation, sondern das periodische Wiederauftreten eines entschlossenen Optimismus über die Möglichkeiten eines Aufstands gegen die gut bewaffneten Kräfte und professionellen Mörder des Staates.

Scotts Kritik hinterfragt nicht nur die marxistische Theorie des falschen Bewusstseins, sondern auch meinen nietzscheanischen Blick auf die tiefe Herrschaft. Ich habe in der Tat argumentiert das Prozesse der Einverleibung unsere Werte so gestalten können, dass sie unterordnende Positionen aufrechterhalten. Während Scott jedoch sehr wichtige Punkte aufzeigt, überbewertet er sie zugleich, insbesondere wenn er sie über die Kämpfe von Leibeigenen und der Bauernschaft hinaus generalisiert.[70]

Unsere Werte, Begehren und Praktiken sind wesentlich geprägt von den sozialen Ökologien, die wir bewohnen, von den Werten, Begehren und Praktiken anderer Körper, denen wir begegnen. Prozesse der Einverleibung können in der Kindheit vielleicht besonders stark sein, aber unsere Werte hören nicht auf sich mit der Welt um uns herum zu entwickeln und zu verändern. Außerdem sind unsere sozialen Ökologien Zeit unseres Lebens Orte, die von Machtverhältnissen geprägt sind – in dieser Welt, also zu einem sehr großen Teil von Herrschaftsbeziehungen. Kurz und bündig: Die Herrschaft formt unsere Welt und die Welt formt unsere Werte und unsere Werte formen unsere Akte der Rebellion oder Unterwerfung. So gesehen macht es wenig Sinn die Möglichkeit der freiwilligen Knechtschaft zu verneinen.

Zum Beispiel bewohne ich eine soziale Ökologie, in der diejenigen mit weiblich gelesenen Körpern von Geburt an zu Praktiken der Unterordnung und Ehrerbietung erzogen werden. Man versucht sie dazu zu bringen Belästigungen, Gewalt und Diskriminierung als normal und natürlich anzusehen und Beziehungen mit starken Machtgefälle zu akzeptieren. Ich lebe in einer sozialen Ökologie, in der die meisten Menschen um mich herum es als natürlich, normal und unvermeidlich (›alternativlos‹) akzeptieren oder einfach keine Fragen stellen, wenn ein brutales und entfremdendes Wirtschaftssystem das Leben auf diesem Planeten zerstört.

Ich denke was Scotts Analyse zeigt ist nicht, dass tiefe Herrschaft nie stattfindet, sondern dass sie unter verschiedenen Umständen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist und dass wir einige der Faktoren identifizieren können, die hier ins Gewicht fallen. Scott selbst räumt ein, dass eine ›hauchdünne‹ Form der ideologischer Einverleibung unter extremen Bedingungen erfolgreich sein kann, etwa in Zuständen hochgradig aggressiver Gefangenschaft: z.B. in Isolationshaft oder der Kleinfamilie.[71] Der zentrale Punkt dieser Bedingungen ist nach Scott folgender:

»Die Unterdrückten sind mehr oder weniger komplett atomisiert und stehen unter Überwachung. Es geht um die völlige Abschaffung jedes sozialen Bereichs mit einer relativen diskursiven Freiheit. In anderen Worten, die sozialen Bedingungen unter denen ein verstecktes Transkript entstehen könnte, sind eliminiert worden.« (ebd 83)

Im Gegensatz dazu, ist ein wichtiges Merkmal der Bedingungen unter denen »Sklaven, Leibeigene, Bauern und Unberührbare« leiden, dass »sie in den Sklavenvierteln, im Dorf, im Haushalt und im religiösen und rituellen Leben immer so etwas wie ein getrenntes Leben hatten« (ebd:85). Wie in Nietzsches Bild einer aristokratischen Gesellschaft, bleiben die Kasten durch »die Existenz sozialer und kultureller Barrieren zwischen Eliten und Unterdrückten« separiert (ebd:132). Die herrschenden Kasten in diesen Gesellschaften sind »nicht in der Lage zu verhindern, dass unabhängige soziale Orte entstehen, in denen die Unterdrückten in relativer Sicherheit miteinander reden können« (ebd. 85) – und das gilt nicht nur für das miteinander Reden, sondern auch für die Vorbereitung von Aktionen. Um Scotts Analyse zusammenzufassen:

  • (i) Was die tiefe Herrschaft abwehrt, ist die Existenz eines »autonomen Lebens«, einer »Gegenkultur« (ebd:132) – einer rebellische Form des Lebens. In Scotts tiefer-gehenden historischen Analysen, kann dies eine ganze unabhängige Kultur und Tradition sein: mit eigener Sprache, Mythen, Projekten, Geschichten und Träumen. »Eine Gegen-Ideologie […] die der Vielzahl von widerständigen Praktiken, die zur Selbstverteidigung von unterdrückten Gruppen erfunden wurden, effektiv eine allgemeine normative Form geben wird« (Scott 1990:112).

  • (ii) Um eine rebellische Form des Lebens lebendig zu halten, müssen ihre Werten, Begehren und Praktiken in die Tat umgesetzt werden. Dies geschieht innerhalb eines Netzwerks ›freier Orte‹, soziale Orte der Aktionen und des Diskurses, die »isoliert von der Kontrolle und Überwachung von oben« existieren (ebd:118).

  • (iii) Eine klassische Strategie diese autonomen Orte aufrechtzuerhalten, ist sie geheim zu halten, unsichtbar, untergründig; ein verstecktes Transkript schützend, dass »für die Eliten undurchsichtig ist« (ebd:132). Allerdings ist Geheimhaltung nicht unbedingt der einzige Weg um Freiräume zu erhalten: Sie ist eher eine strategische Methode, als ein Selbstzweck.

  • (iv) Freiräume und ihre Unsichtbarkeit können nicht als gegeben angesehen werden – sie sind Orte des Kampfes, die »herausgearbeitet« (ebd:118) und ständig verteidigt werden müssen. »[O]b diese Möglichkeiten realisiert werden oder nicht, und wie sie zum Ausdruck kommen, hängt vom ständigen Wirken der Untergebenen ab, die ein normatives Machtfeld in Beschlag nehmen, verteidigen und erweitern« (ebd:132).

Nur, was heißt es rebellische Werte in Freiräumen in die Tat umzusetzen? Viel von Scotts Diskussionen konzentriert sich auf das Sprechen: Wie Nietzsches ›dunkle Werkstätte der Sklavenrevolte‹ sind die Räume, die Scott betrachtet, Orte an denen sich Sklav*innen versammeln um ihre Wut mit Flüchen, Klatsch und Tratsch, Mythen, Geschichten, Verschwörungen und Rachefantasien ›Luft zu machen‹.[72] Dies ist ein entscheidender Weg um Werte und Begehren am Leben zu erhalten, besonders wenn man nicht die Kapazitäten hat darüber hinaus viel mehr zu tun. Es ist auch ein Weg, wie in Nietzsches Erzählung, um zusammen neue Werte, Begehren und Projekte zu erschaffen.

Aber trotzdem ist, wie Scott klar macht, das ›versteckte Transkript‹ nicht nur Gerede. Nicht alle Rachephantasien bleiben Rachephantasien. Der Untergrund ist dort, wo versteckte Formen der aktiven Rebellion organisiert und umgesetzt werden. Der Ort an dem wir Fähigkeiten und Erfahrungen teilen, Gefährt*innen und Allianzen finden, Netzwerke des Vertrauens aufbauen und testen, Ressourcen sammeln und verbergen, Flüchtenden Unterschlupf bieten und ganz Allgemein die Infrastruktur erschaffen, die wir für alle Arten von Aktionen brauchen, einschließlich der offenen Konfrontation.

Ein letzter Punkt von Scott: In einer gemeinsamen Widerstandsdynamik, zumindest in bäuerlichen und Sklavengesellschaften, ist das versteckte Transkript dort, wo die Untergebenen ständig die Grenzen der Macht des Feindes ausloten und mit neuen Taktiken experimentieren. »[D]as tatsächliche Verhältnis der Kräfte ist nie genau bekannt, und Schätzungen darüber, wie es ausfallen könnte, werden weitgehend aus den Ergebnissen früherer Untersuchungen und Begegnungen abgeleitet« (ebd:192). Wenn es ein effektives Untergrundnetz gibt, dann verbreiten sich die Gerüchte über Schwächen und Möglichkeiten schnell: »Jede Schwäche der Überwachung wird schnell ausgenutzt werden; jeder Boden der unerobert bleibt, wird verloren sein« (ebd:195). Dies ist der Moment, indem die versteckte Rebellion plötzlich offen ›ausbricht‹ und die Herrschenden überrascht.

Resilienz: Judith Herman über den Widerstand gegen Traumata

In Kapitel 6 habe ich mir Nietzsches Genealogie des Staates und der Sklavenmoral als ein psycho-physiologisches Trauma angeschaut und die Arbeit der feministischen Psychiaterin Judith Herman vorgestellt. Es gibt des Weiteren starke Parallelen zwischen Scotts Analyse widerständiger Gruppen und Hermans Gedanken zum Kampf des Individuums, gegen das Trauma der Gefangenschaft. Nämlich bei der Frage, was einen Körper gegenüber chronischer Traumatisierung ›resilient‹ machen und bei der Genesung helfen kann. Natürlich ist diese Parallele keineswegs überraschend: Die ›systematische repetitive Zufügung von Trauma‹ ist die Grundlage vieler Herrschaftssysteme, von der Kernfamilie bis zu den Gefängnissen des Staates und der Gefängnisgesellschaft des Kapitals.

Ich möchte an dieser Stelle drei Ideen von Herman einbringen. Erstens: Da ei6n Trauma grundsätzlich mit Ohnmacht oder dem Verlust der Kontrolle, der massiven Blockade von Handlungsmöglichkeiten verbunden ist, kann eine erste Verteidigung darin bestehen Wege zu finden, um unabhängige Kapazitäten zum Handeln zu erhalten; oder wie Herman es ausdrückt: »aktiv nach Lösungsstrategien« suchen (Herman 2003:71).[73] Wo der Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist, können kleine Praktiken des Widerstands und des Überlebens helfen diese Rolle einzunehmen. Herman weist außerdem auf die Bedeutung des Hungerstreiks für viele Gefangene hin, der ein letztes Mittel sein kann, um angesichts der extremen Herrschaft, die einen aller anderen Ressourcen beraubt, die Kontrolle über das eigene Leben und den eigenen Körper wiederzugewinnen.

Zweitens: Trauma beinhaltet sehr häufig Trennung – Separation, Isolation, Atomisierung von der Welt jenseits des individuellen Körpers. Das traumatisierte Individuum wird von unterstützenden Beziehungen in seinen materiellen und vor allem sozialen Ökologien abgeschnitten. Diese Trennung birgt auch die Gefahr, den Körper für verzweifelte Bindungen an den*die Entführer*in zu öffnen (Stockholm-Syndrom). Eine wichtige Verteidigung ist also die Aufrechterhaltung von (sozialen) Verbindungen – auch wenn diese, in den extremsten Fällen der Isolation, in der Erinnerung und Vorstellung liegen. Frühe Militärpsychiater*innen erkannten, dass »vor allem Moral und gute Führung der kleinen Kampfeinheiten [von Soldat*innen] wirksam vor psychischen Zusammenbrüchen [schützten]« (ebd:36). Überlebende der Konzentrationslager identifizierten das ›Paar‹ [oder die freundschaftliche, solidarische Beziehung], als die »wesentliche Überlebenseinheit« (ebd:92). Ebenso wie die Entführer*innen die Macht der Isolation kennen, wissen die Gefangenen und ihre Gefährt*innen draußen, wie wichtig es ist die Solidarität aufrechtzuerhalten.

Drittens: Ein Trauma beinhaltet typischerweise einen Verlust von Bedeutung, den Verlust eines Gefühls der Kohärenz, des Zwecks oder Wertes in der Welt, den Verlust des Glaubens an die eigene Identität, die eigenen Projekte und die eigene Lebensform. Eine Möglichkeit sich dagegen zu wehren, ist die Entwicklung von, oder das Festhalten an, Zielen, Hoffnungen, Überzeugungen, Gemeinschaften (real oder imaginär) und anderen Strukturen, die den Horizont über die Gegenwart hinaus auf eine Zukunft jenseits der feindlichen Gegenwart ausdehnen. Religion, mit ihrer ureigenen Immunabwehr gegen die Realität, kann für viele verzweifelte Menschen diese Funktion erfüllen: Eine klassische Gelegenheit für Nietzsches Priester, die mit ihren heilsamen Botschaften auf den Plan treten. Aber diese Funktion kann auch von rebellischen Projekten übernommen werden.

Die Tiefe der kapitalistischen Herrschaft

Verschiedene soziale Ökologien der Herrschaft – seien es Dörfer, Schulhöfe, Hochsicherheitsgefängnisse oder Einkaufszentren – bergen unterschiedliche Möglichkeiten für rebellische Projekte. Aber Möglichkeiten gibt es immer. Welche Art Terrain sehen wir im gegenwärtigen Kapitalismus? Natürlich gibt es an verschiedenen Orten und Kontexten sehr unterschiedliche Bedingungen: Es gibt Dörfer und Schulhöfe, Gefängnisse und mehr. Jedoch können wir beobachten, dass es einige grundlegende Tendenzen mit sich ausweitender globaler Reichweite gibt.

Die beispiellose Entwicklung staatlicher Überwachung und Kontrolle über das Territorium wäre ein Punkt. Es gibt keine unerforschte Wildnis und keine Pirateninseln, die außerhalb der staatlichen und marktwirtschaftlichen Kontrolle liegen. Es gibt keine Orte, die nicht unmittelbar von Satelliten beobachtet oder von Drohnenangriffen getroffen werden können. Der militärische und technologische Vorteil den Staaten und Unternehmen haben, ist vielleicht größer als je zu vor. Kameraüberwachung, Mobiltelefone und Internetüberwachung erschaffen ein Panoptikum globaler Ausdehnung. Aber Technologien der Überwachung und Gewalt allein, schließen freie Orte nicht aus. Zum einen ist Unsichtbarkeit nur eine Strategie gegen die Kontrolle, zum anderen sind keine (bisher erfundenen) Überwachungstechnologien total: Der Rüstungswettlauf des asymmetrischen Widerstands setzt sich fort wie er es immer getan hat. Aus diesen Gründen kann die Bedrohung durch Überwachung überschätzt werden, wie es oft der Fall war, denn die größere Gefahr dürfte vom paralysierenden Effekt unserer Angst vor Überwachung und Repression ausgehen.

Zumindest vorläufig werden die Elemente der gegenwärtigen kapitalistischen Herrschaft, die uns vor die größten Schwierigkeiten stellen, auf anderen Ebenen zu finden sein. Die wesentliche Verschiebung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert, war die Demokratisierung des Konsums und die Nutzbarmachung des ansteckenden Potentials von Konsumbedürfnissen. Die Konsumkultur entwickelte sich zuerst in den reichsten Teilen der ›ersten Welt‹, mutierte dann jedoch und verbreitete sich global in diversen Formen. Selbstverständlich wird die Konsumkultur gestützt oder begleitet von offensichtlicheren und brutaleren Technologien der Eroberung. Dem Konsumismus gelingt die Isolation, Atomisierung und Trennung der Individuen von Gemeinschaft und Tradition über die Zerschlagung sozialer Mikro-Ökologien, die für rebellische Kulturen unterstützend sein können. Gleichzeitig hat sich die Konsumkultur als extrem erfolgreich in der ›Rekuperation‹ von Gegen-Kulturen und neuen rebellischen Projekten erwiesen. Hier liegt das Problem weniger in den (Informations-)Strömen aus widerständigen Räumen raus, als vielmehr in den Strömen hinein.

Wir sollten uns aber nicht zu sehr mitreißen lassen: Die Ansteckung durch den Konsumkapitalismus ist nicht immer erfolgreich. So haben sich beispielsweise alte Lebensformen, wie die, die auf patriarchalen Religionen beruhen, als resistent erwiesen. Diese uralten Linien sind in den letzten Jahrzehnten mit Nachdruck zurückgekehrt. In vielen Zusammenhängen waren sie in der Lage, die durch den Tod des autoritären marxistischen Sozialismen entstandenen Lücken zu schließen und ihren Platz in der Verbindung der Kämpfe gegen die kapitalistischen Invasionen einzunehmen. Dabei wurden sie oft von kapitalistischen Staaten und anderen Formationen unterstützt, um ernsthaftere Bedrohungen abwehren zu können. Und manchmal liegt ihr Erfolg sicherlich darin, dass sie schreckliche hybride Assemblagen mit der kapitalistischen Konsumkultur bilden, z.B. in den Golfstaaten-Einkaufsmekkas.

Die Projekte und Lebensformen der Linken – in all ihren vielen Farben, einschließlich des rot und das schwarz des Anarchismus – waren nicht so widerstandsfähig. Die Linke ist vorbei. Im Moment ist mir deshalb weder zum Trauern noch zum Feiern zumute. Um ernsthafte Chancen zu haben auch in Zukunft wenigstens für Widerstandsnester zu kämpfen, denke ich, dass diejenigen von uns, die die Anarchie lieben, neue Arten von Allianzen und neue Arten von kollektiven Lebensformen schaffen müssen, weil wir nicht stark genug sind um alleine zu kämpfen. Wie werden diese neuen Projekte und Lebensformen aussehen? Vielleicht werden sie sich stark von denen unterscheiden, die Anarchist*innen in der Vergangenheit gebildet haben. Wenn sie resilient sein sollen, müssen wir unseren rebellischen Begehren Nahrung geben – in dem wir sie in die Tat umsetzen.

Kapitel 13. Rudel vs. Herde

Es gibt verschiedene Arten des Zusammenseins mit anderen. Was Nietzsche eine ›Herde‹ nennt ist eine Gruppe die durch Konformität, Angst und Scham zusammengehalten wird. In unserer Gesellschaft sind so ziemlich alle Gruppen und Institutionen bis zu einem gewissen Grad herdenartig. Die gilt sicherlich auch für alternative Szenen und Gegen-Kulturen. Wie können wir andere Arten von Kollektiven schaffen, in denen wir als freudige ›freie Geister‹ erblühen können, die sich gegenseitig bei ihren individuellen Projekten im Kampf gegen Herrschaft unterstützen?

Herden

Ich werde damit beginnen über einige verschiedene Modelle von Gruppen nachzudenken. Um es klar zu sagen: Dies sind ›Idealtypen‹ oder Extrembeispiele und die meisten realen Gruppen mischen Elemente aus allen. Die erste ist die Herde, eine Gruppe von Leuten die eine Reihe von Normen und Gewohnheiten teilen, an welche sie sich aufgrund des ›Herdeninstinktes‹ halten. (Im folgenden Absatz fasse ich einige der wichtigsten Punkte aus Kapitel 4 zusammen).

Die Normen sind Regeln, Gewohnheiten, Verhaltensweisen etc., die von Herdenmitgliedern gemeinsam befolgt werden. Viele sind unausgesprochen, verkörperlicht und womöglich zutiefst unbewusst. Dazu gehören nicht nur Verhaltensmuster, sondern auch gemeinsame Überzeugungen, Werte und Begehren. Wir können sie als eine Reihe von sozialen ›Skripten‹ denken. Interaktionsmuster die Körpern soziale Rollen zuteilen, die bestimmten Verhaltensmodellen folgen sollten. Zusammengenommen können wir uns die Normen als eine Herdenkultur oder eine von der Gruppe geteilte Lebensform vorstellen.

Der ›Herdeninstinkt‹ ist tatsächlich eine komplexe psychologische Kraft, die sich aus verschiedenen Schichten und Strängen zusammensetzt. Dies beinhaltet:

  • die tiefgehende menschliche Neigung zur Mimesis, zur unbewussten Imitation Anderer;

  • das ›Gewissen‹, die zutiefst verinnerlichte Angst gegen die Normen einer Gruppe zu verstoßen;

  • Sanktionen und Bestrafungen, die wir uns gegenseitig auferlegen, wenn wir gegen die Normen verstoßen – von milden Äußerungen der Missbilligung über Scham und Ausgrenzung bis hin zu gewalttätigen Handlungen;

  • aber auch Belohnungen, wie das angenehme Gefühl von Akzeptanz und Wertschätzung, wenn man in eine Gruppe ›hineinpasst‹;

  • und auch bewusste Rechtfertigungen, Rationalisierungen und Dogmen die bestätigen, dass die Normen meiner Gruppe richtig und gerecht sind.

Utilitaristische Koalitionen

Die zweite Art von Gruppe werde ich utilitaristische Koalition, oder einfach nur ›Koalition‹ nennen. Es ist das klassische liberale Modell einer Gruppe: Ein Anzahl von Leuten kommt auf der Basis ihrer individuellen ›Interessen‹ oder Begehren zusammen. Zumindest teilweise scheint dies mit dem übereinzustimmen, was Max Stirner mit seiner Idee einer ›Vereinigung von Egoisten‹ meint. An einigen Stellen greift Stirner, um jede ›Heuchelei der Gemeinschaft‹ anzugreifen, gerne die sehr kapitalistische Sprache des Eigentums, des Nutzens und der Versachlichung auf, so schreibt er:

»suchen Wir in den Andern nur Mittel und Organe, die Wir als unser Eigentum gebrauchen! […] Es ist Keiner für Mich eine Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht […] Und wenn Ich ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm, um durch die Übereinkunft meine Macht zu verstärken und durch gemeinsame Gewalt mehr zu leisten, als die einzelne bewirken könnte.« (348f.)

In meiner nietzscheanischen Sprache hieße das: Eine Koalition ist eine Gruppe von Körpern, die sich zusammenschließen um ihre unabhängigen Projekte zu verfolgen. Mit einem Projekt meine ich eine kontinuierliche Tätigkeit, in der ein Körper einige Werte und Begehren, für eine Gewisse Zeit, verfolgt. Ein Projekt kann bewusst erarbeitet werden, oder es kann unbewusst, implizit und instinktiv sein. Individuen, Kollektive und alle Art von durch Trieben bestimmten Körpern können Projekte haben. Ein Körper kann multiple Projekte haben, die ihn in verschiedene Richtungen drängen, oder er kann ein Projekt konsequent und entschlossen durchziehen.

Der Kernpunkt der utilitaristischen Koalition ist, dass die Projekte der Mitglieder unabhängig sind – d.h. die Körper bilden diese Projekte, und haben sie auch weiterhin, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in der Gruppe. Zum Beispiel hat jemand zuerst ein Projekt um Geld zu verdienen, oder eine Sprache zu lernen, oder was auch immer, und dann tritt er*sie einer Gruppe bei – einer Firma, einem Sprachkurs, was auch immer es ist – weil es ihm*ihr hilft dieses Projekt zu verfolgen.

Dies ist das Muster vieler Modelle der liberalen Theorie des ›Gesellschaftsvertrags‹. Menschen werden mit Grundstrukturen der ›Vernunft‹ oder des ›Interesses‹ geboren oder entwickelt diese selbstständig – z.B. mit dem Wunsch, friedlich zu leben und Eigentum zu akkumulieren. Dann vereinbaren sie, ob ausdrücklich oder stillschweigend, sich mit anderen Individuen zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen, in der sie alle ihren individuellen Interessen unter Wahrung der Eigentumsrechte des jeweils anderen folgen und die Vorteile des sozialen Friedens und der wirtschaftlichen ›Zusammenarbeit‹ nutzen können. Das Basisprojekt steht an erster Stelle, der Gesellschaftsvertrag ist sein Instrument.

Dabei ist zu beachten, dass die Projekte der Einzelnen in diesem Sinne zwar ›unabhängig‹, aber nicht unbedingt unterschiedlich sind. Vielleicht sind sie alle gleich. In der liberalen Erzählung teilen wir alle ein ›ähnliches Interesse‹ (wie Hume es ausdrückt) an der Gestaltung der Gesellschaft, weil wir alle die gleichen grundlegenden Projekte teilen: Was wir alle wollen, ist Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand.

Eine Koalition hält so lange an, wie sie den Projekten ihrer Mitwirkenden dient. Im ›Gesellschaftsvertrag‹ ist das für immer. In anderen Koalitionen können Mitglieder austreten, sich trennen und neue Koalitionen bilden, während sich ihre Projekte entwickeln.

Wir können auch an Projekte der Herde denken. Vielleicht können wir sagen (Nietzsche tut es), dass die Herde als Ganzes bestimmte Projekte hat: Sie zielt darauf ab zu überleben, ihre Lebensweise zu erhalten und zu reproduzieren. Was ist mit den Mitgliedern? Vielleicht haben sie selbst diverse Projekte. Aber was sie alle teilen, ist dieses Projekt: Den Normen folgen, dazugehören, weiterhin akzeptiert werden, gute Bürger*innen sein. Dieses Projekt ist im ›Herdeninstinkt‹ verkörpert. Der Hauptunterschied ist, dass anders als die Projekte der Koalition, die Projekte der Herde nicht unabhängig, sondern daran geknüpft sind Teil der Herde zu sein. Mein Projekt, als Teil der Herde, ist es den Normen der Herde zu folgen, welche auch immer das sind – in gleicher Weise wie es das Projekt des Bullen ist, den ›Anweisungen‹ ohne Fragen zu folgen, wie auch immer diese lauten.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In einer Herde werden die Mitglieder durch die gegenseitige Abhängigkeit des Herdeninstinktes zusammengehalten; in einer Koalition durch die Übereinstimmung unabhängiger Projekte.

Beziehung der Liebe, des Begehrens und der Freude

Es scheint mir so, dass Liebesbeziehungen zwischen Individuen etwas ganz anderes sind, als Beziehungen innerhalb einer Herde oder ›zweckmäßige‹ Beziehungen. Ich spreche von ›Liebe‹, aber ich will diesem Wort, das bereits so stark belastet ist, nicht zu viel Gewicht verleihen. Auf jeden Fall meine ich: Es gibt Beziehungen in denen wir starke Begehren und Affekte empfinden, die wir mit bestimmten Personen verbinden. Zum Beispiel:

  • Kraftvolle Affekte und Begehren, die von anderen geweckt oder mit anderen verbunden werden – mögen, schätzen, schön finden, Freude empfinden, wenn ich in der Nähe von jemandem bin, sie sehe oder einfach an ihn denke. Ich denke an meine*n Freund*in und der Gedanke lässt mich lächeln, lässt mich leuchten, bringt mir Kraft und Wärme. Ich erfreue mich an ihm.

  • Ich fühle Begehren für und zugunsten meiner Freund*innen: Ich wünsche mir gute Dinge für sie, ich möchte, dass sie sich entfalten können, stark und kraftvoll sind, Glück empfinden.

  • Ich möchte einen Teil meines Lebens mit meinen Freund*innen teilen, mit ihnen sein, Projekte mit ihnen haben, an ihrer Seite kämpfen, mich um sie kümmern und ihnen helfen zu wachsen, und wiederum auch ihre Hilfe bekommen, von ihnen lernen und mit ihnen wachsen.

Manchmal sind diese vielen Begehren und Affekte eng miteinander verbunden. Zu anderen Zeiten sind sie getrennt voneinander. Zum Beispiel gibt es Menschen, die ich sehr liebe, aber ich weiß, dass wir nicht zusammen sein können, wir gehen unterschiedliche Wege. Dennoch erfreue ich mich an ihnen, im Gedenken an unsere gemeinsame Zeit und wenn ich Neuigkeiten über sie und ihre aktuellen Projekte höre. Dazu hat Nietzsche eine sehr schöne Passage in Die Fröhliche Wissenschaft mit dem Titel Sternen-Freundschaft geschrieben:

»Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen’s uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben […] Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder […]« (FW279).

Auf jeden Fall gibt es zwei wichtige Punkte zu all diesen Begehren und Affekten. Zum einen sind es positive Affekte, Affekte der Freude. Das heißt, um Spinozas Definition zu übernehmen: Sie entsprechen dem Gefühl in einer Beziehung zu sein, die meine Macht (und die der anderen Beteiligten) erhöht und mich nicht vergiften oder meine Kraft rauben will. Womit ich nicht leugnen möchte, dass es in dieser Welt viele Arten zu Lieben gibt, in denen Freude und Vergnügen mit Traurigkeit, Schuld, Eifersucht und anderen Qualen verbunden sind.

Der andere Punkt ist, dass sie sich auf bestimmte andere Personen beziehen. Es ist diese Freundin an der ich mich erfreue, nicht irgendjemand. Es sind diese Freunde*innen, nicht nur irgendwelche Leute aus der Herde, um die ich mich kümmern oder mit denen ich zusammen sein möchte. Dies, glaube ich, ist der zentrale Unterschied zu Herdenbeziehungen. Auch in der Herde kann es sein, dass wir bestimmte Personen mit hohem Status und Respekt identifizieren. Aber meine Gefühle für diese Anderen sind durch Normen und Herdeninstinkt geprägt. Ich bewundere zum Beispiel jemanden, weil er oder sie gemäß den Normen meiner Gruppe eine anerkannte Bürgerin oder Held ist und von allen Anderen weithin gelobt wird. Auch hier kommt die Norm zuerst, das Bestimmte danach; Bewertungen bestimmter Personen leiten sich von Normen ab und sind durch diese bestimmt.

Hier stoße ich auf einen Zweifel. Kann es wirklich sein, dass all meine Begehren und meine Liebe zu anderen stark durch Normen geprägt sind? Ist jede Liebe ›Herdenliebe‹, die aus zutiefst verinnerlichen normativen Überlegungen entspringt? Was ist, wenn alles was ich an meinen Freund*innen liebe – der Zauber seines Lächelns, ihre Stärke und ihr Mut, seine Zärtlichkeit, sogar seine Einzigartigkeit – Urteilen entspringt, die ich gelernt habe indem ich mich konform zu den Einstellungen der sozialen Gruppen verhalten habe in der ich aufgewachsen bin?

Dies ist ein beunruhigender und verstörender Gedanke. Aber ich denke es gibt noch eine weitere Sache, die wir sagen können: Das Bestimmende einer Herdenbindung ist, dass sie die Spur, den Stachel des Herdeninstinktes trägt, der sie formt – Schuld, Scham, Verpflichtung und die Angst vor Strafe. Es kann schwer sein freudige Begegnungen vom Beigeschmack des herdenhaften zu befreien, ist dieser doch mit so vielen unserer Beziehungen verwoben. Aber ich glaube an den Kampf um Liebesbeziehungen, die frei von Schuld und Pflicht sind.

Rudel

Meine Idee von einem Rudel: Eine Gruppe die zusammenkommt, zusammen am Start ist, sowohl weil das Zusammensein ihren individuellen oder gemeinsamen Projekten zum Erfolg verhilft, als auch weil sie einander lieben und vertrauen.

Gleichzeitige oder gemeinsame Projekte reichen nicht aus um ein Rudel zu bilden: Ein Rudel ist mehr als nur eine utilitaristische Koalition. Eine Verein von Egoisten kann ein Rudel sein – aber nur wenn diese Egoist*innen einander lieben, sodass sie auch ein Verein von Freund*innen sind. Die Affekte der Liebe und des Verlangens allein sind nicht genug um ein Rudel zu erschaffen: Ich kann Menschen lieben, wenn unsere Projekte aber nicht vereinbar sind, dann trennen wir uns vielleicht, oder treffen uns, wie in Nietzsches ›Sternen-Freundschaft‹, gelegentlich zu freudigen ›Festen‹ – trennen wir uns nicht, riskieren wir uns an freudlose Beziehungen oder Herrschaftsbeziehungen zu binden.

Also: Ein Rudel ist eine Koalition von Freund*innen, die sich sowohl aneinander erfreuen, als auch Projekte miteinander teilen. Meine Idee von einem Rudel ist daher eine sehr starke – und so können Rudel selten und schwer zu finden sein. Aber, um es noch einmal zu sagen: Diese Idee eines Rudels, wie die der anderen diskutierten Gruppen, ist ein ›Idealtyp‹, ein Extremfall. Vielleicht ist es selten, dass wir die Freude in einem Rudel zu sein als etwas sehr starkes und unmittelbares kennen; aber viele Gruppen haben zumindest einige rudelartige Aspekte; und derweil kann es etwas sein, dass wir anstreben.

Nietzsches Rudel »edler« »Raubthiere» (GM2:16) ist ein komplexer Fall für sich. Manchmal scheint es eher der utilitaristischen Koalition zu entsprechen: Die ihm Zugehörigen finden zusammen um ein gemeinsames Projekt zu verfolgen, »in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht« (GM3:18); aber ihre Allianz wird nur fortgeführt »mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens« der einzelnen Mitglieder dieser »solitären Raubthier-Species Mensch« (ebd). Andere Male hingegen, sieht die edle Gruppe wie die ultimative Herde aus: Sie sind machtvoll organisiert wegen ihres ausgeprägten Herdeninstinktes, weil ihre Mitglieder »mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind« (GM1:11) und eine besonders starke abergläubische Angst vor ihren Vorfahren und dem Bruch mit den alten Sitten haben (vgl. GM2:19).

Zu anderen Zeiten, betont Nietzsche, wie sie »im Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen« (GM1:11). Sie teilen nicht nur Kriegsprojekte, sondern auch einen gemeinsamen ›Bewertungsmodus‹ und eine freudige Lebensform, diese drückt sich in der Bekräftigung der ersten Person Plural aus, die Nietzsche als die Quelle all ihrer Wertschätzung bezeichnet: »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!« (GM1:10).

Kurz gesagt, Nietzsches Rudel hat tatsächlich Aspekte von all den Arten von Gruppen, die wir betrachtet haben: herdenartige Normen, utilitaristische Berechnung, Liebe und Freude kombiniert. Und das ist wahrscheinlich, auf unterschiedliche Weise, bei allen Gruppen, die wir im wirklichen Leben kennen, der Fall; solange die Menschen von vielen verschiedenen Motivationen bewegt werden: also Verpflichtung und Angst, Formen des Eigeninteresses, Liebe und Freude füreinander.

Rudel freier Geister

Freie Geister sind diejenigen, die aus der Herde herausstechen, die die Normen brechen und sich widersetzen. Diejenigen, die diverse individuelle Projekte verfolgen. Falls sie, ungeachtet ihrer Unterschiede und Einzigartigkeit, aneinander Freude empfinden und es schaffen eine Allianz zu bilden in der sie zusammenkommen um geteilte oder überschneidende Aspekte ihrer Projekte zu verfolgen, bilden sie ein Rudel.

Eine Möglichkeit wie sich freie Geister verbünden können, besteht darin Gemeinschaften zu bilden, die die Individuen in ihren eigenen Projekten der Selbst-Arbeit und Selbst-Veränderung unterstützen. Dies scheint auch Nietzsches eigene Vision gewesen zu sein als er nach Freund*innen suchte, die sich einer Gemeinschaft von ›freieren Geistern‹, von ›Erziehern, die sich selbst bilden‹ anschließen würden. (Siehe Kapitel 7).

Freie Geister könnten sich auch, wie Nietzsches ›Adlige‹, zu einem Kriegsrudel zusammenschließen. Für diejenigen, die nach Freiheit streben, können diese beiden Arten von kollektiven Projekten durchaus zusammenfallen: Wir bilden Rudel um uns gegenseitig bei der Entwicklung unserer eigenen individuellen und kollektiven Lebensformen zu unterstützen; und schaffen Kampfgruppen um unsere Feinde zu bekämpfen, die versuchen uns zu beherrschen und zu versklaven; um das zu zerstören, was uns zerstört.

Rudel von freien Geistern stehen vor besonderen Herausforderungen. Zum einen, dass ihre Vielfalt und Veränderlichkeit sie nicht voneinander entfernt. Zum anderen, das gegenteilige Problem, die Gefahr, dass sie ihre freigeistige Unabhängigkeit verlieren, wenn sie einander nahe kommen und sich aneinander binden; denn so verwandelt sich das Rudel in eine neue Herde, die durch Angst und Abhängigkeit miteinander verbunden ist. Wie können wir dies in unseren Rudeln verhindern – ohne einfach voreinander wegzulaufen und so einer anderen Angst nachzugeben?

Kapitel 14. Anarchie verbreiten

Ich sage nicht, dass meine Werte und Begehren die richtigen oder wahren sind. Oder das es richtig oder wahr ist die Anarchie zu lieben und die Herrschaft zu hassen. Ich bejahe meine Werte. Diese Bejahung ist nicht das gleiche wie zu sagen ›Anarchie, du hast Recht‹, sondern zu sagen ›Anarchie, du bist schön, ich liebe dich‹. Eine Liebeserklärung ist eine Bejahung, die keiner Erklärung bedarf. Außerdem reflektiere ich meine Werte, ich teste und entwickle sie und versuche sie kohärenter und kraftvoller zu machen. Und ich setze sie in die Tat um.

Ich versuche anarchische Werte und Begehren zu verbreiten. Noch einmal: Nicht weil ich sie richtig oder wahr heiße. Aber ich denke, dass andere, zumindest einige andere, die bereits in diese Richtung geneigt sind, auch Freude und Freiheit beim streben nach Anarchie finden können. Und, etwas egoistischer: Ich will mehr Gefährt*innen und Allianzen.

Ich weiß, dass die meisten Leute mit meinen Werte nicht übereinstimmen und möglicherweise denken, dass ich verrückt bin. Ich glaube nicht, dass ich viele Leute mit einem wohl begründetem Argument überzeugen werde, welches die Wahrheit meiner Aussagen und ihren Irrtum demonstriert. Ich glaube nicht, dass Begehren so funktioniert. Ich glaube Begehren verbreitet sich durch Verführung, Anstiftung und Ansteckung.

Alles unrein

Denn wie könnten wir sagen, dass ein Wert ›wahrer‹ oder ›richtiger‹ ist als ein anderer?

Erster Punkt: Wir können die wahren Werte nicht identifizieren indem wir auf ihre reine Quelle verweisen – transzendentale Vernunft, das absolute Ego oder was auch immer es sein mag.

Meine Werte wurden von der Welt um mich herum geprägt: Von den Religionen oder Kulturen in die ich hineingeboren wurde, den Verhaltenskodexen die ich in der Familie gelernt habe, in der Schule, bei der Arbeit oder in anderen Arten von Gefängnissen und Institutionen, dem Fernsehen, den sozialen Medien, »dieser Masse an materiellem, intellektuellem und moralischem Einfluss der fortlaufend von allen Menschen um ihn herum auf ihn ausgeübt wird die zu der Gesellschaft gehören in der er geboren wurde, sich entwickelt hat und stirbt« (Bakunin 1871). Und durch Gegen- und Subkulturen, Banden, politische Szenen, alternative Milieus. Gerade in heterogeneren sozialen Welten, in denen wir vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sind, werden diese verschiedenen Quellen vermischt, variiert, mutiert und auf vielfältige Weise transformiert. Vielleicht reflektiere ich auch über meine Lebensformen und meine Ideale und mache mich aktiv daran die Verantwortung zu übernehmen und sie entschlossener umzugestalten. Aber auch dann liegt – kurz gesagt – der Ursprung aller Werte im Trüben, in vermischten Ursprüngen, im Unreinen.

Zweiter Punkt: Wir können die wahren Werte nicht durch das Messen an dem einen, dem wahren Standard identifizieren.

Der zentrale Punkt in Nietzsches ›Perspektivismus‹ ist, dass jedes Ding nur von der Perspektive einer bestimmten wertenden Haltung, eines bestimmten Körpers aus beurteilt werden kann. Zum Beispiel kann ich beurteilen, dass dieser Wert andere Werte von mir fördert oder mit ihnen übereinstimmt, oder dass ein anderer Wert dies besser tut und ich kann sogar eine Meinung darüber haben, wie er zu deinen Werten passt. Jedoch werden wir den gleichen Wert wohl ganz anders bewerten, wenn unsere anderen Werte im Widerspruch zueinander stehen. Es gibt keinen universellen Standard um Werte zu beurteilen.

Natürlich haben die meisten Philosoph*innen und Theolog*innen im Laufe der Geschichte das Gegenteil geglaubt. Traditionell hätten viele argumentiert, dass:


(a) es einen universellen Wertestandard gibt, der völlig unabhängig von den Haltungen der tatsächlichen Körper ist sozusagen aus der Perspektive Gottes.


Aber wenn dem so wäre, was könnte das dann sein? Und wie könnten wir davon wissen? Die übliche Behauptung ist, dass er uns durch göttliche Offenbarung gegeben wurde: Auf Steintafeln geschrieben, in einem heiligen Buch das von einem Engel diktiert wurde etc. In jedem Fall diktiert von irgendeinen bärtigen Charakter dessen Wort wir als das Evangelium zu betrachten haben. Warum sollten wir ihnen trauen?

Für die Skeptischeren, haben die Denker*innen der Aufklärung stattdessen eine andere Linie entwickelt, etwa so:


(b) obwohl es oberflächlich vielleicht nicht so aussieht, haben menschliche Körper in der Tat alle eine grundlegende Bewertungsperspektive gemeinsam, die für sie alle die wahre ist.


Diese Linie wiederum taucht in verschiedenen Varianten auf. Sehr vereinfacht gesagt, beinhalten diese ›kantianische‹ Argumente, dass jede menschliche Bewertung eine universelle Struktur der Vernunft teilt (welche Kant zu identifizieren vermag). Oder ›humesche‹ Argumente, nach welchen jede menschliche Bewertung eine gemeinsame Struktur der Nützlichkeit teilt – demnach seien wir z.B. grundsätzlich wirtschaftliche Kreaturen, die materiellen Wohlstand suchen.

Nietzsches Position hingegen besagt: (i) auch wenn viele menschliche Körper zufällig eine Werthaltung teilen, ist dies eine zufällige Tatsache – d.h. ein Produkt bestimmter historischer Ereignisse, die ebenso auch anders hätten ausfallen können. So ist es bspw. dem Konsumkapitalismus in gewissem Maße gelungen, den Trieb zu verbreiten Wirtschaftsgüter in gieriger Weise durch die weltweite Ausbeutung menschlicher Körper anzuhäufen. Erstens macht dies jedoch ökonomische Werte nicht ›wahr‹, oder richtig für diejenigen Körper die ihnen widerstehen. Zweitens weist es darauf hin, dass (ii) die vermeintliche Universalität menschlicher Bewertungsmuster auch im globalisierten Konsumkapitalismus überbewertet wird. Trotz der homogenisierenden Kräfte von MTV und Konsorten sind wir immer noch komplexe Kreaturen mit unterschiedlichen und multiplen Werten. Diese lassen sich nicht in einem einzigen gemeinsamen Standard assimilieren.

Nicht unter dem Banner der Wahrheit

Die andere Sache, die Nietzsche in seinem Werk tut, ist sich immer wieder zu fragen: Warum sind die Menschen so daran interessiert zu sagen, dass etwas (und vor allem etwas so heiß umstrittenes wie Werte) wahr oder richtig ist? Wozu dieser Wahrheitsanspruch?

Der ›Wille zur Wahrheit‹, sagt Nietzsche, ist ein weiterer Trieb mit eigenen Mustern der Bewertung, des Begehrens und des Handelns. Oder, um genauer zu sein, könnte es sehr gut auch mehrere ›Willen zur Wahrheit‹ geben. Für einige Wahrheitssuchende gilt: »Ihr ›Erkennen‹ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht« (JGB 211). An dieser Stelle spricht Nietzsche über ›Philosophen‹, aber das gleiche könnte auch für Wissenschaftler*innen, Priester, Historiker*innen und Parteivorsitzende gelten. In diesem Fall ist der Wahrheitsanspruch ein Autoritätsargument über andere Menschen, oder auch die materielle Welt: »Der ganze Erkenntniß-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat – nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge« (NF-1884, 26, 61)

Im umgekehrten Sinne, kann der Wille zur Wahrheit auch ein Weg sein, Verantwortung abzugeben, indem man sich der Autorität von Expert*innen unterwirft. »Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen« (FW347).

Das soll nicht heißen, dass die Suche nach der Wahrheit immer schädlich ist. Wie andere Triebe auch, existiert der Wille zur Wahrheit in verschiedensten Assemblagen und Allianzen. Er kann von vielen verschiedenen Kräften genutzt werden. Nietzsches Punkt ist, dass die Wahrheit nicht als ein absoluter Wert aufzufassen ist. »Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ›Wahrheit um jeden Preis‹, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet« (FW-Vorrede-4). Die Frage, sagt er, ist nicht ob ein Urteil wahr oder falsch ist, sondern bis zu welchem Grad es dem ›Leben‹ dient (JGB2, JGB4).

Und sicherlich können Wahrheitsansprüche gelegentlich im Dienste des Lebens stehen. Eine hilfreiche Sache, die ein Wahrheitsanspruch tun könnte, ist z.B. etwas zu offenbaren, was für deine Projekte relevant ist. Beispielsweise kann ich auf eine Tatsache oder einen Fehler hinweisen der zeigt, dass eine Aktion wohl nicht das gewünschte Ergebnis haben wird, oder dass ein Projekt nicht mit dem übereinstimmt was du dir wünschst.

Es ist aber zu beachten, dass solche Wahrheitsansprüche nur nützlich sind, wenn wir einen relativ stabilen Ausgangspunkt haben: Es geht nicht darum, dass gewünschte Ergebnis selbst in Frage zu stellen, wir können dieses als gegeben nehmen, ich zeige nur, dass diese spezielle Aktion dich nicht dorthin bringen wird. Wenn ich einen deine Werte, deine Überzeugungen oder Praktiken in Frage stellen möchte, kann ich dies im Allgemeinen nur vor dem Hintergrund anderer, sich überschneidender Werte und Überzeugungen und Praktiken, die wir gemeinsam haben – oder die wir zumindest derzeit nicht in Frage stellen – überhaupt effektiv tun. Wenn wir jedoch von grundlegend unterschiedlichen Bewertungsperspektiven ausgehen, wir uns einfach sehr unterschiedliche Dinge wünschen, dann sind diese Art von Argumenten zwecklos, wir werden nur aneinander vorbeireden.

Außerdem: Auf Fehler und Inkonsistenzen hinzuweisen hilft in der Regel nur, wenn wir uns gegenseitig so vertrauen, dass wir Kritik nicht als Angriff verstehen. Unter Gefährt*innen ist es möglich zu sondieren, zu untersuchen und zu kritisieren. Unter Fremden ist Kritik oder ›Polemik‹ oftmals nur Machogehabe.

Außerdem fungieren Wahrheitsansprüche oft als Schlachtruf für die Gläubigen, als Ruf zu den Waffen. Der liberale Philosoph Charles Taylor (1984) argumentierte gegen Michel Foucaults nietzscheanische Untersuchung der Macht, indem er sagte: Um gegen die Herrschaft zu bekämpfen, müssen wir ›das Banner der Wahrheit erheben‹. Hier setzt Taylor Wahrheit als eine Norm. Wie andere starke Wörter (Gerechtigkeit, Gleichheit, Gott, Königin und Vaterland, …) ruft es die Herde zusammen. Solche Schlachtrufe waren häufig mächtige revolutionäre Waffen. Jedoch wurden sie oft – vielleicht sogar von den gleichen revolutionären Parteien – als Instrumente der Herrschaft und Tyrannei benutzt. Der springende Punkt in Foucaults Arbeit ist, zu zeigen, wie die Wahrheit zu einer Schlüsselwaffe moderner ›staatlicher‹ Systeme wie Psychiatrie, Bildungs- und Gefängnissystem, Bevölkerungsstatistik und vielem mehr geworden ist.

Um das klarzustellen: Ich dränge an dieser Stelle nicht auf einen universelles Ethos des ›Respekts vor der Differenz‹. Wir können verschiedene Lebensformen und Projekte anerkennen und unterscheiden, ohne sie als ›wahr‹ oder ›falsch‹ zu bezeichnen. Ich würde eher sagen: Einige unterscheiden sich von meinen, aber wir können trotzdem noch koexistieren, vielleicht irgendeine Art von Allianz bilden, mehr oder weniger eng zusammenleben, Räume teilen. Andere wiederum sind meinen entschieden entgegengesetzt und wir können überhaupt nicht koexistieren. Kapitalistische Lebensformen z.B. machen mich krank, zerstören mich und ich strebe danach sie zu zerstören. Ebenso wenig sage ich, dass mein Weg wahr ist und ihrer ›falsch‹. Ich sage: Wir sind Feinde, wir können nicht zusammen leben, wir befinden uns im Krieg.

Über Propaganda

Wir können sehr gut kämpfen ohne das Banner der Wahrheit erheben zu müssen. Zwei Methoden, die ich viel besser finde, sind:

  • Andere finden mit denen ich Affinität teile und deren Werte so nah an meinen liegen, dass wir gemeinsam Projekte haben können.

  • Meine Werte und Begehren nicht durch den Appell an Normen verbreiten, sondern durch Beispiel, Überzeugung und Ansteckung; indem ich dazu beitrage anarchische Begehren in Anderen anzuregen.

In den gegenwärtigen anarchistischen Kreisen wird niemand ersterem widersprechen. Das zweite aber, mag für manche Ohren anrüchig klingen. Es war einmal vor langer Zeit, als Anarchist*innen sehr offen das Begehren hatten diese ›schöne Idee‹ weiter zu verbreiten. Das kann ›Propaganda der Tat‹ bedeuten; praktische Beispiele des Lebens und Handelns; oder ›Propaganda des Wortes‹, die gesprochene oder gedruckte Kommunikation von Ideen – oder auch Bildern, Tönen und mehr. Heutzutage scheinen Anarchist*innen etwas schüchterner zu sein. Liegt das daran, dass sie sich weniger sicher sind, weniger Vertrauen in ihre Werte und Begehren haben? Oder weil sie ernsthafte Bedenken entwickelt haben, dass die Verbreitung von Ideen in sich schon autoritär sein kann?

Der Begriff ›Propaganda‹ hat heutzutage einen schlechten Ruf, für mich jedoch hat er etwas schönes und ehrliches. Wörtlich bedeutet zu propagieren – zu reproduzieren oder zu verbreiten. Das was Anarchist*innen verbreiten wollten, waren oftmals rebellische und anarchische Werte, Begehren und Praktiken. Beispielsweise die Wertschätzung von Unabhängigkeit, Experimentierfreudigkeit, Individualismus, gegenseitiger Hilfe, Ungehorsam gegenüber Normen und Autoritäten; das Begehren die Regeln zu brechen und zu hinterfragen, sich gegen Bullen und Autoritäre zu stellen, Feind*innen und Ausbeuter*innen anzugreifen, sich die Straße zu nehmen, Affinitäten und Leidenschaften in anderen zu finden; Selbstbildung, Sabotage, Solidarität und viele weitere Dinge zu praktizieren.

Um es ganz klar zu sagen: Propaganda zu machen, bedeutet zu versuchen Menschen zu beeinflussen. Oder noch spezifischer, um die in diesem Buch entwickelten Begriffe zu benutzen, heißt es in die psychischen Ökologien anderer zu intervenieren, die Bildung und Transformation ihrer Werte, Begehren und Aktivitäten zu beeinflussen.

Im ersten Teil dieses Buches habe ich mir Nietzsches Ideen über die Intervention in unsere eigenen psychischen Ökologien angeschaut. Unsere Leiber sind komplexe Welten, die sich aus vielen verschieden, oftmals widerstrebenden, ›Triebmustern‹ der Bewertung, des Begehrens und Handelns zusammensetzen. Wir können jedoch Techniken (›Praktiken des selbst‹) zur Transformation, Aktivierung und Stimulation dieser Muster lernen.

Psychische Ökologien sind außerdem nicht in sich geschlossen oder abgeschottet: Unser Leib ist porös, wir nehmen Einflüsse, Reize, Erinnerungen, chemische Substanzen aus den sozialen und materiellen Welten um uns herum auf. Somit können die gleichen Techniken auf mein eigenes psychisches Leben – oder das eines*einer anderen angewandt werden: So kann ich bspw. Worte, Musik, Bilder, Filme, Lebensmittel, Düfte, Drogen oder andere Reize verwenden, um Begehren in mir selbst oder bei jemandem in meiner Nähe auszulösen.

Nehmen wir folgende Beispiele:

  • Ein Muster zu wecken, das in anderen bereits vorhanden ist, dieses Muster stärken und anregen aktiv zu werden. Wie z.B. in Nietzsches Erzählung in Morgenröthe (M119); du hörst einen Fremden auf dem Marktplatz anscheinend über dich lachen, das stimuliert bei dir ein Gefühl der Erniedrigung, Empörung oder was auch immer.

  • Oder eine Transformation bestehender Muster. In Nietzsches Erzählung in der Genealogie (GM) z.B. zwingt das Trauma der Staatsgesellschaft die ›aggressiven Instinkte‹ der Sklav*innen zu neuen verinnerlichten und verzerrten Formen.

  • Jemand dazu bringen ein für sie*ihn neues Muster aufzugreifen oder zu ›adoptieren‹. Im weiteren Verlauf von Nietzsches Erzählung lernen und kopieren die Sklav*innen voneinander, wie sie auf das Trauma der Staatsgesellschaft reagieren und die neuen Werte des Christentums verbreiten. Diese ›Übertragung‹ kann bewusste Prozesse des Lehrens und Lernens oder das Sammeln von Informationen durch Texte, Aufzeichnungen, Filme usw. beinhalten. Oder sie könnte durch unbewusste Prozesse der ›Ansteckung‹ geschehen, wie die in Kapitel 3 besprochene Mimesis: Menschen haben die tiefgehende Tendenz unbewusst zu imitieren und sich so Muster von ihren Mitmenschen ›einzufangen‹.

Propaganda kann auf all diese Arten funktionieren. Angenommen jemand macht einen Film, oder schreibt einen Text, oder hängt ein Plakat auf, oder zerbricht ein Fenster, oder ermordet einen Tyrannen, oder was auch immer. Falls diese Aktion als Propaganda effektiv ist, kann sie vielleicht deine Wut und deine Leidenschaft für die Freiheit anfachen. Und vielleicht zu Konflikten führen, Fragen aufwerfen, dich in ein Dilemma bringen oder auf andere Weise Veränderungen in deinen Mustern und Projekten auslösen. Vielleicht vermittelt die Aktion dir sogar neue Informationen, oder regt dich zu neuen Ideen oder Begehren an, die du zuvor nicht kanntest.

In all diesen Fällen musst du, damit die Propaganda einen Einfluss auf dich haben kann, in gewisser Weise vorher schon ›offen‹ sein. Ein Akt der Propaganda kann nur zu dir sprechen, also zum Beispiel deinen Wunsch zum Handeln wecken, wenn dein Körper in einer bestimmten Verfassung ist, wenn bestimmte Werte und Begehren schon ›lebendig‹ sind. Vielleicht sind diese Muster schwach und liegen still, aber sie sind da, Samen der Rebellion.

Propaganda als Verführung

Ein effektiver Akt der Propaganda ist ein Akt der Machtausübung. Macht – oder ›soziale Macht‹ genauer gesagt – ist die Fähigkeit Veränderungen in der Welt herbeizuführen, indem man die Handlungsmöglichkeiten von Menschen gestaltet (siehe Kapitel 10). Das Anregen und Beeinflussen der Begehren von jemandem, macht genau das. Das gilt für ziemlich jede Aktion, die wir durchführen, die Auswirkungen auf andere Menschen hat. Der einzige Weg, um den Machtverhältnissen zu entkommen, ist sich umzubringen, oder vielleicht noch Einsiedler*in zu werden.

Macht ist der Grund, dass Propaganda gefährlich sein kann: Sowohl für unsere Feind*innen, als auch für unsere eigenen Projekte. Hier zwei wichtige Beispiele wie Propaganda anarchische Projekte gefährden kann: Sie kann dazu beitragen Herrschaftszustände oder herdenhafte Konformität zu erschaffen oder aufrechtzuerhalten.

Dieser Punkt ist bei weitem nicht neu. Obwohl ich mich in einer Sprache ausgedrückt habe, die näher an der Foucaults ist, hat Bakunin es schon 1871 formuliert:

»Alle Menschen, auch die begabtesten und stärksten, ja gerade die begabtesten und stärksten, sind in jedem Moment ihres Lebens gleichzeitig Produzenten und Produkte. Die gleiche Freiheit für jeden Einzelnen, ist nur die Folge dieser Masse an materiellem, intellektuellem und moralischem Einfluss der fortlaufend von allen Menschen um ihn herum auf ihn ausgeübt wird, die zu der Gesellschaft gehören in der er geboren wurde, sich entwickelt hat und stirbt. Der Wunsch diesem Einfluss im Namen einer transzendentalen Freiheit, göttlich, absolut egoistisch und sich selbst genügend, entgehen zu wollen, ist die Tendenz zur Vernichtung. Von der Beeinflussung anderer abzusehen würde bedeuten auf jegliches soziale Handeln zu verzichten, sich aller Ausdrucksformen der eigenen Gedanken und Empfindungen zu enthalten und einfach nicht zu existieren.«

(Michael Bakunin: The Programme of the Alliance. Auch zitiert in Errico Malatesta: Anarchy.)

Bakunin macht dann die berühmte Unterscheidung zwischen ›natürlichen‹ und ›künstlichen‹ Einflüssen: »Was wir uns wünschen, ist die Abschaffung künstlicher Einflüsse, die privilegiert, legal und offiziell sind.« Ich denke, dass wir im 21. Jahrhundert in der Lage sind, diesen Punkt genauer auszuführen, da wir gegenüber der Idee der Güte des ›natürlichen‹ misstrauischer geworden sind. Das Problem ist Herrschaft: Die Fixierung von Machtbeziehungen in hierarchischen Beziehungen, in denen einige herrschen und andere beherrscht werden. Das Problem mit den von Bakunin gehassten Gesetzen, Privilegien und offiziellen Institutionen ist nicht, dass sie nicht Teil der ›Natur‹ wären, sondern dass sie Instrumente der Konzentration und Kristallisation von Macht sind.

Somit stellt sich die Frage: Wenn ich jemanden durch einen Akt der Propaganda beeinflusse, hilft das Herrschaftszustände aufzubauen und aufrechtzuerhalten oder sie herauszufordern und zu brechen? Sicherlich sind viele Formen der Propaganda beherrschend. Einige sind genau dafür gemacht. Ein Beispiel: Wenn meine Propaganda einem Zustand oder einem anderen Herrschaftssystem dient, indem sie Werte der Loyalität und Unterwerfung verbreitet, indem sie Spaltungen zwischen Subjektgruppen sät oder indem sie Süchte, Konsumbedürfnisse, Arbeitsmoral, Schuldgefühle, Statusangst und andere lähmende Leiden stimuliert.

Es gibt noch eine andere Art von Herrschaftsproblem. Und zwar ist Propaganda eine Anordnung, in der die Macht andere zu beeinflussen in den Händen weniger zentralisiert ist, während andere nur passive Rezipient*innen sind. In kapitalistischen Gesellschaften erleben wir dies in großem Umfang. Die wichtigsten Informationskanäle – Bildungssysteme, Massenmedien, Werbung und andere Spektakel – werden von Eliten streng kontrolliert. Gegen diese Propaganda-Ressourcen sind unsere Mittel mickrig: Ein paar Flyer, ein wenig Sprühfarbe an der Wand oder gelegentliche ein abgefackeltes Auto kommen in einer Welt voller Reklametafeln und Streubomben nicht annähernd dahin, das Gleichgewicht wirklich zu stören. Deshalb mag es so scheinen, dass wir uns keine Sorgen darüber machen müssten, dass unsere Propaganda jemanden beherrscht. Dennoch bleibt es problematisch wenn wir Herrschaftsmuster in kleinerem Maßstab reproduzieren, z.B. in persönlichen Beziehungen oder in Gegenkulturen, in denen einige Individuen zu Sprecher*innen, Pädagogen, Profis oder dominierenden Ideengeberinnen werden.

Genau so wie ich über das Problem der Herrschaft besorgt bin, sorge ich mich auch um das Problem der Konformität. Das ist nicht unbedingt dasselbe: Herdeninstinkt und Normen dienen sehr oft dazu Herrschaftssysteme zu stützen, aber es ist (zumindest in der Theorie) auch möglich Herden egalitärer Konformist*innen zu haben – doch auch so möchte ich nicht leben.

Dieser Punkt ist wichtig, denn viele herkömmliche Methoden der Propaganda arbeiten mit den Mitteln des Herdeninstinkts. Mimesis funktioniert auf diese Weise, sie bringt uns dazu, Gruppen die ›in‹ sind und Statusfiguren zu imitieren, was uns zu Uniformität führt. Darüber hinaus überlagert der Herdeninstinkt die Macht der Normen – der stark verinnerlichte Druck normal zu sein, Unterschiede zu fürchten und zu bestrafen, der Wunsch nach dem Komfort von Akzeptanz und Anerkennung. Diese Kräfte werden durch religiöse Mythen, patriotische Kundgebungen und moderne PR mobilisiert. Ein großer Teil der revolutionären Propaganda der Linken hat genau so funktioniert, und zwar dort wo es das Ziel war, Leute zu vereinten Massen zu machen, zu organisierten Herden.

Auch dieser Punkt wurde vorher schon erwähnt. Dazu Malatesta:

»Unsere Aufgabe ist es, die Nutzlosigkeit und Schädlichkeit von Regierungen zu demonstrieren, durch Propaganda und Aktion alle Arten von individuellen und kollektiven Initiativen zu provozieren und zu ermutigen.«

(Errico Malatesta: Anarchist Propaganda).

Vielleicht könnten wir es so ausdrücken: Die Propaganda der Herrschaft hat eine grundlegende Absicht – und zwar ihre Objekte dazu zu bringen Werte, Begehren und Praktiken zu übernehmen, die der Herrschaft dienlich sind. Je mehr sie diesen Effekt hervorbringen kann, desto erfolgreicher ist sie.

Die anarchistische Propaganda, die ich machen will, funktioniert anders. Eigentlich hat sie zwei Ziele: Ich möchte Andere dafür gewinnen, mit mir als Gefährt*innen und Alliierte zu kämpfen. Aber ich möchte Andere auch dazu ermutigen, mit der Konformität und der ›Logik der Unterwerfung‹ zu brechen, aktive Individuen zu werden, ihre Kräfte zu entwickeln und zu vergrößern, um ihre eigenen freiheitlichen Projekte zu starten. Es kann sein, dass diese mit meinen übereinstimmen und uns zusammenbringen. Vielleicht werden sie aber auch Projekte formen, die sich von meinen unterscheiden, vielleicht sogar im Widerspruch zu ihnen stehen.

Wir könnten sagen, dass anarchistische Propaganda ein Akt der Ansteckung ist, Begehren in anderen stimulieren, provozieren, aufwecken – Begehren, die vielleicht zu neuen Begegnungen und Allianzen führen. Aber die Begehren, die ich in anderen wecke, unterliegen nicht meiner Kontrolle. Vielleicht schnellen sie sogar zurück und treffen mich. Anarchistische Propaganda macht provokante Einladungen – und akzeptiert die Gefahr, ihre Effekte dem Zufall zu überlassen.

Kapitel 15. Projektuelles Leben

Ich möchte frei und glücklich leben. Aber meine Begierden stehen mit dieser Welt im Konflikt. Wie kann ich in einer Welt der Unterdrückung und Ausbeutung frei und glücklich leben?

Ich denke an einen Moment, den ich vor kurzem erlebt habe: Ich war von Leid und Bedauern erfüllt, verbittert über die Umstände, die mich an diesen Punkt gebracht haben, verbittert über mich und die Fehler die ich gemacht habe, ängstlich vor dem was als nächstes kommt, empfand die Macht des Feindes als erdrückend, fühlte mich passiv, als Opfer.

In diesem Moment war ich unfrei in einem ziemlich grundsätzlichen Sinn: Von den Kräften der Herrschenden sogar der Fähigkeit beraubt, nach draußen in die Sonne zu gehen oder den Regen auf meinem Gesicht zu spüren. Aber es gibt noch immer Dinge, die im Rahmen meiner Macht sind: Wie ich mit dieser Situation umgehe, was ich daraus lerne, ob ich zulasse das sie mich schwächt, oder ich sie nutze um zu wachsen. Ich entscheide, dass ich nicht zusammengesackt auf meinem Bett herumliegen will, ich stehe direkt auf, ich mache Übungen, dehne meine Muskeln und mein Gehirn, beobachtete Dinge, erinnere mich an Freund*innen und Gefährt*innen und die Erinnerungen lassen mich strahlen, ich beginne Pläne zu schmieden.

Kurz gesagt, ich bewege Geist und Körper von passiv zu aktiv. Ich bin nicht nur von meiner Situation bewegt, ich bewege sie, indem ich meine Möglichkeiten erneuere. Während ich das tue spüre ich, dass der Schwung des Lebens zurückkehrt.

Spinoza definiert einen Affekt oder eine Emotion als eine »Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird« (Ethik III-D3). Die zwei grundlegendsten Affekte sind Freude und Traurigkeit, Freude heißt einfach, dass die Macht vergrößert wird »durch welch[e] der Geist zu größerer Vollkommenheit übergeht« (Ethik III-L11). Dies ist ein durchaus dynamischer Begriff: Freude ist kein abgeschlossener Zustand, in dem man mächtig oder erfüllt ist, sie ist eine Bewegung, ein Werden. Klischeehaft gesagt: Es ist die Reise, und nicht das Ziel, das zählt.

Also ja, es ist möglich glücklich zu leben, sogar in einer Scheißwelt. Weil Glück nicht von den äußeren Kräften abhängt und kein passiver Zustand ist. Es ist das Gefühl aktiv zu werden und die Grenzen, die mir gesetzt sind, in Frage zu stellen. Und wie dunkel die Welt um mich herum auch sein mag, so streng die Grenzen auch sein mögen, es gibt immer eine Möglichkeit aktiv zu werden.

Aber in welchem Sinne können wir in dieser Welt frei leben?

Vielleicht wirkt es wie leere Rhetorik. Schließlich ist Freiheit ein sehr allgemeiner Begriff, der oft auf hohle Weise benutzt wird. Im Grunde genommen, bedeutet Freiheit nur das Fehlen einer Einschränkung, einer Kraft die dich daran hindert etwas zu tun. Da es viele Arten von Einschränkungen gibt, gibt es viele Arten von Freiheit: Zum Beispiel die Freiheit dir den Bauch zu füllen, oder das zu tragen, was du willst, ohne auf der Straße belästigt zu werden, oder die geschätzte kapitalistische Freiheit Reichtum zu erwerben und Andere auszubeuten, ohne für das Leid verantwortlich gemacht zu werden, das du verursachst.

Dennoch denke ich, dass es einen echten und lebendigen Sinn in der Idee des ›freien Lebens‹ in einer feindlichen Welt gibt. Ein anderer Philosoph, Epictetus, beginnt sein ›Handbuch‹ zum Leben mit der Feststellung: »Es gibt Dinge, die in unserer Macht liegen, und es gibt Dinge, die außerhalb unserer Macht liegen«. »Was in unserer Macht ist, ist seiner Natur gemäß frei, kann nicht verboten oder verhindert werden; was aber nicht in unserer Macht steht, ist knechtisch, kann verwehrt werden, gehört einem anderen zu.«[74]

Es liegt, zumindest gerade, nicht in meiner Kraft dieses verrottete System zu stürzen. Aber ich bin frei meine Situation aktiv zu gestalten, meine Begierden bis zu den Grenzen zu treiben, die mir von der Außenwelt aufgezwungen werden und die in meinen eigenen Leib eingegraben sind. Und zwar nicht nur um an die Grenzen zu gehen, sondern um sie zu testen, zu brechen und zurückzudrängen. Es scheint mir so zu sein: Wenn ich diese Freiheit in Anspruch nehme und aktiv werde, dann lebe ich, in einem wichtigen Sinne, tatsächlich frei.

Freudig und frei zu leben bedeutet, zumindest für mich, kämpfend zu leben. Ich werde, im Rahmen meiner Kapazitäten, tun, was ich kann um die Scheiße in und um mich herum zu brechen, zu zerstören, zu überwinden und helfen neue Lebensweisen zu erschaffen. Meine Kapazitäten für den Kampf mögen limitiert sein, aber sie sind niemals komplett abwesend und ich strebe danach sie zu vergrößern.

Ich werde kämpfen, mich aber nicht wie ein*e christlich-anarchistische*r Märtyrer*in selbst in einem verbissenen Kampf aufopfern, während ich von einer zukünftigen Utopie träume, die ich vielleicht niemals erleben werde. Ich kämpfe, weil ich genau so leben möchte.

Projektualität

Meine Begehren, meine Leidenschaft für Freiheit, ist der Ausgangspunkt. Selbst in den schwersten Momenten habe einen Funken gespürt, eine kleine Flamme, die irgendwo in mir vergraben ist, selbst wenn Dunkelheit und Verwirrung sich breit machen. Ich pflege und füttere diese kleine Flamme, aus ihr erwächst die Leidenschaft, die meinen Körper in Bewegung setzt. Aber Leidenschaft allein ist nicht genug. Wenn wir unserer Leidenschaft keine Richtung geben, droht sie uns zu verheizen, uns auseinanderzureißen. Die Frage ist: Wie intervenieren wir, unseren Leidenschaften eine kohärente und kraftvollere Richtung gebend, ohne sie zu zähmen?

In den letzten Jahren haben einige Anarchist*innen ein Konzept entwickelt, das bei dieser Frage helfen kann: Die Idee der Projektualität. Alfredo Bonanno führte diese Idee im heißen italienischen Klima der 1970er Jahre ein, als die aktive Rebellion lebendig und stark war. Dennoch sagt er:

»Aber ein Rebell genügt nicht, und auch wenn sich hundert Rebellen zusammentun, würden sie nicht genügen, es wäre hundert tobende Moleküle im zerstörerischen Wettstreit der ersten Stunden, wenn der Kampf wild auflodert und alles mit sich reissend um sich greift. Die Rebellen sind wichtige Figuren, als Beispiel und als Antrieb, aber letzten Endes unterliegen sie unter den Anforderungen des Moments.« [75]

Die Rebellion zerreißt sich dann ziellos und droht »in kleinen und losen Manifestierungen von Unduldsamkeit zu versiegen«, oder wird von den Politiker*innen und Manager*innen der Revolution rekuperiert und so wieder unter Kontrolle gebracht. Um diesen Tendenzen zu widerstehen, brauchen wir nicht nur rebellische Herzen, sondern auch rebellische Köpfe.

»und den Kopf zu gebrauchen, bedeutet, ein Projekt zu haben. Und der Anarchist kann nicht bloss ein Rebell sein, er muss ein Rebell sein, der mit einem Projekt bewaffnet ist. Das heißt, er muss das Herz und den Mut mit der Kenntnis und der Bedachtheit der Aktion vereinen. Seine Entscheidungen werden daher stets vom Feuer der Zerstörung erhellt, aber vom Holz der kritischen Analyse genährt werden.«

Zusammenfassend können wir sagen, dass ein so kraftvolles Projekt eine fortlaufende Vorgehensweise ist:

  • getrieben von Begehren, von Leidenschaft (›dem Herzen‹);

  • und kontinuierlich geprägt und geleitet von Reflexion und Kritik (›dem Kopf‹),

  • sowie von Weitblick und Imagination, die stets in der Aktion verkörpert wird.

Ein Projekt mag groß oder klein sein, individuell oder kollektiv, wenige Stunden oder ein ganzes Leben lang währen. Es gibt keine allgemeinen Regeln. Vielleicht beginnen wir damit ein Ziel für das Projekt vorzuschlagen – ein Bestreben für die Zukunft – und dann einige Methoden und Maßnahmen zur Umsetzung. Während wir handeln und Reaktionen erleben, lernen, reflektieren, werden wir uns unserer Grenzen und Möglichkeiten besser bewusst, finden neue und entwickeln unsere Projekte.

Wir können uns auf Projekte konzentrieren, um einige der Fallen zu vermeiden, in die Anarchist*innen oft geraten, wie unter anderem von Bonanno festgestellt wurde:

  • Die Falle der ›reflexiven‹ Handlung: Handeln ohne Planung oder Kritik, mit Leidenschaft, aber ohne Vision einer Zukunft. Man könnte sagen, eine völlig negative Art von Nihilismus. Die Gefahr der Selbst-Zerstörung. Die Gefahr, dass wir uns von jedem Vorschlag, der kommt und irgendwie zu unseren Impulsen passt, in jede Richtung führen lassen.

  • Die Falle der ›routinemäßigen‹ Handlungen: Solche Handlungen die zur bloßen Gewohnheit und Tradition werden und dieselben Muster ziellos wiederholen, weil sie alles sind, was wir kennen. Es mag endlose Kritik und Reflexion geben, aber alle Leidenschaft und Phantasie sind verflogen. Die Gefahr, dass Anarchist*innen zu ›Herausgebern von kaum lesbaren Seiten‹ werden, oder traurige Bürokrat*innen sinnloser Clubs ohne Relevanz für irgendetwas – nur eine neue Herde mit neuen Normen. Die Gefahr der Langeweile, die alles sinnlos erscheinen lässt.

  • Die Utilitarische Falle: Gegenwärtiges Handeln, Leidenschaft und Bedenken sind ganz und gar einem zukünftigen Ziel untergeordnet. ›Das Ende rechtfertigt die Mittel‹. Nechayevs ›Katechismus des Revolutionärs‹. Die Gefahr so zu werden, wie unsere Feinde, die Feinde des Lebens.

Gegen diese Fallen müssen wir unsere Projekte ständig neu beurteilen und uns fragen: Steigert dieses Projekt meine Macht und die Macht derer, die ich liebe und die mir wichtig sind? Ist dieser Weg geeignet uns freier und glücklicher zu machen? Ist es das Spiel wert?

In dem Text aus dem ich zitiert habe, konzentriert sich Bonanno weitgehend auf kollektives Handeln, darauf wie Anarchist*innen – in Affinitätsgruppen, informellen Netzwerken und ›autonomen Basiskernen‹ neben Nicht-Anarchist*innen – kollektive aufständische Projekte organisieren können. Aber dieselben Punkte treffen weitestgehend auch auf individuelle Projekte rebellischer Selbst-Transformation zu. Ein anderer Anarchist, Wolfi Landstreicher, hat dies in seinen Überlegungen zu einem ›projektuellen Leben‹ deutlich gemacht. Projektuell zu leben, sagt Landstreicher, ist eine Waffe gegen die ›Logik der Unterwerfung‹. Diese Logik beschreibt eine Lebensweise, in der wir uns kontinuierlich durch unbewusste Handlungen und bewusste Rechtfertigungen dazu trainieren den Regeln zu folgen. Im Mittelpunkt dieser Logik steht eine passive Perspektive auf das Leben:

»In dieser Gesellschaft wird uns beigebracht das Leben als etwas zu sehen, das uns passiert, etwas das außerhalb von uns existiert, in das wir hineingeworfen werden.«[76]

Wie ich bereits sagte: Ja, es gibt Dinge die außerhalb unserer Kontrolle liegen und in gewissem Sinne werden wir in die Welt, sogar in unser eigenes Selbst, in Bedingungen geworfen, die nicht von uns geschaffen wurden. Aber jetzt und hier habe ich die Macht zu handeln. Ein Projekt zu formen und es in die Tat umzusetzen, ist ein Weg mein Leben zu ›erfassen‹:

»Kurz gesagt, anarchistische Projektualität ist die praktische Anerkennung im eigenen Leben, dass Anarchie nicht nur ein Ziel für die ferne Zukunft ist, ein Ideal, das wir in einer weit entfernten Utopie zu erleben hoffen. Viel entscheidender ist, dass sie eine Art ist, dem Leben und dem Kampf zu begegnen, eine Art, die uns mit der Welt, wie sie ist, in Konflikt bringt. Es ist das Ergreifen unseres eigenen Lebens als Waffe und als ein Einsatz, der gegen die Existenz, die uns aufgezwungen wurde, eingesetzt werden kann.« (ebd.)

Amor fati

Projektualität ist eine sehr nietzscheanische Idee. In der Tat erwähnen sowohl Alfredo Bonanno, als auch Wolfi Landstreicher Nietzsche in den Texten, aus denen ich oben zitiert habe. Bonanno zeigt, dass wir uns mit unseren eigenen Projekten »jenseits von Gut und Böse« bewegen können – raus aus dem Bereich der Herdenmoral, der Tradition und der Norm. Landstreicher beschwört Nietzsches kraftvolle Idee des amor fati – der Liebe zum Schicksal. Ja, wir werden in diese Welt geworfen. Was machen wir nun daraus?

Wir haben die Wahl. Wir können unser Schicksal als passive Opfer des Staates beklagen – des Kapitals, der bösen Bankiers, der gewalttätigen Polizist*innen, der bösen Konservativen, der schrecklichen Angela Merkel, der tückischen Führer*innen, die wir gestern noch gewählt haben, unserer Eltern, der Gesellschaft die uns verarscht hat, etc., etc. Wie konnten sie nur so gemein sein. Dies ist der Reflex der Linken, wie bei Nietzsches Christen, die immerzu gegen die Bösen protestieren und sie gleichzeitig als unaufhaltsame Kraft verankern, derer wir nicht widerstehen können – eine praktische Entschuldigung für Faulheit und Feigheit.

Oder wir können eine aktive projektuelle Haltung einnehmen und das Unglück als Herausforderung und Schicksal, als:

»einem würdigen Widersacher [sehen], der zu mutigem Handeln antreibt. Es entspringt dem eigenwilligen Selbstvertrauen, das sich in denen entwickelt, die all ihre Substanz in das legen, was sie tun, sagen oder fühlen. Reue und Bedauern verschwinden wenn man lernt nach dem eigenen Willen zu handeln; Fehler, Versagen und Niederlage richten keine Verwüstung an, sondern sind Situationen, von denen in der fortwährenden Spannung hin zur Zerstörung aller Beschränkungen gelernt und ausgegangen werden kann.«[77]

Nietzsche fordert uns auf, einen ehrlichen Blick auf uns selbst und die Welt zu werfen, ohne in Bitterkeit, Verzweiflung, Moralisierung oder Idealisierung zu verfallen. Diejenigen, die traumatisierende Herrschaft erlebt haben, stellen sich dieser Herausforderung in besonders akuter Form. Nietzsche fragt ob jemand, der die Erfahrung der »Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss«, »aber diese ungeheure Summe von Gram aller Art« (FW337) ertragen könnte. Sein Bild ist das eines »Helden am Abend der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes brachte« der*die jedoch dann »beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein Glück begrüsst«. Es ist diese Bejahung, die er die Liebe zum Schicksal nennt – amor fati.[78]

Nietzscheanische Selbst-Transformation

Niemand hat gesagt, dass es einfach ist. Wir werden scheitern, Fehler machen, schwach sein, manchmal zusammenbrechen und fallen. Wenn dies passiert, sind Reue und Ressentiment wieder einmal nicht unsere Freunde. Es ist keine Schande einen Schritt zurückzutreten, sich Zeit zum auszuruhen, heilen und Nachdenken zu nehmen.

Dabei habe ich Nietzsche als hilfreich empfunden. Er war sicherlich kein Anarchist, aber ein tiefer und sorgfältiger Denker, der sich Gedanken darüber gemacht hat, wie man sich selbst studieren und Projekte der Selbsttransformation entwickeln kann. Diese Passage aus Die fröhliche Wissenschaft gibt uns einen Einstieg in das projektuelle Denken Nietzsches:

»Seinem Charakter Stil geben eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran.« (FW290)

Hier sehen wir drei Schritte oder Momente in der ›Kunst‹ der Selbsttransformation.

Zuerst einmal: Reflexion. Ich ›untersuche‹ meine ›Natur‹, lerne ihre Stärken und Schwächen kennen. Im Ersten Teil dieses Buches, habe ich mich eingehend mit Nietzsches Methode der psychologischen genauen Beobachtung und einigen seiner Schlussfolgerungen beschäftigt. Zur Erinnerung: Trotz der ideologischen Annahmen des Denkens der Aufklärung, sind wir im Allgemeinen keine vereinheitlichten Subjekte, sondern vielmehr komplexe Leiber die sich aus vielen Werten, Begehren und Kräften – den ›Trieben‹ – zusammensetzen, die durchaus miteinander in Konflikt stehen können und nicht sofort in ihrer Gesamtheit für eine bewusste Reflexion zugänglich sind. So kann es Zeit, Bescheidenheit und etwas mehr als die übliche Ehrlichkeit brauchen, bis wir die Kräfte, die in uns wirken, wirklich kennen lernen.

Zweitens: Projektion. Reflexion ist nicht nur eitle Neugier: Wir müssen die Prozesse der psychologischen Entwicklung verstehen, damit wir aktiv eingreifen und unsere Psyche neu gestalten können. »Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!« (FW335) Ich beginne mit einer Zukunftsvision – einem Ziel, einem Anspruch, vielleicht einer neuen Art der Bewertung, einer neuen Handlungsweise, einem ›künstlerischen Plan‹ für etwas, das ich in mir verändern möchte, etwas, das ich lernen möchte, etwas, das ich werden möchte. In diesem Moment kann ich in der Vorstellung skizzieren, was ich realisieren möchte – aber ich bin noch nicht dort angekommen. Dieses projizierte Ziel ist ein Leitfaden, ich bewege mich darauf zu. Die Reflexion gibt mir Aufschluss über meine Wahl der Ziele: Mein Plan mag herausfordernd, vielleicht gefährlich sein, aber er basiert auf dem Verständnis meiner gegenwärtigen ›Natur‹, meiner vorhandenen Fähigkeiten. Alles einerlei, denn mein Verständnis ist immer sehr begrenzt, nie abgeschlossen, jedes Projekt ist immer eine Wette, ein Würfelwurf.

Drittens: Aktion. Mich selbst zu erschaffen bedeutet, die Wege der Bewertung, des Begehrens und Handelns, die ich aus den sozialen Welten um mich herum übernommen habe, zunichte zu machen, Gewohnheiten, Normen, fixe Ideen, Reflexe, die sich im Laufe eines Lebens aufgebaut haben. Das wird nicht in einem sofortigen Willensakt erreicht, es braucht ›lange Praxis und tägliche Arbeit daran‹. Wenn du deine Muskeln trainierst um stark zu werden, oder dich selbst trainierst um eine neue Sportart, Tanz, Kunst, Sprache usw. zu lernen, braucht es Wiederholung, Vertiefung, viele kleine Schritte. Dasselbe gilt für jedes Projekt innerhalb der ›Psychischen Ökologie‹. Es reicht nicht aus, nur von einer anderen Art des Bewertens zu reden – ›Von nun an bin ich ein*e Anarchist*in‹. Veränderungen in der Bewertung müssen verkörpert, umgesetzt und in die tägliche Praxis eingearbeitet werden, bis sie für uns ›natürlich‹ werden.

Manchmal habe ich, wie Nietzsche, Bescheidenheit und Geduld betont. Die Arbeit kann hart und langwierig sein. Aber ich will auch nicht in einen erbärmlichen Gradualismus verfallen. Unsere Reisen bestehen auch aus Schocks, Brüchen, Explosionen, plötzlichem Umkehren und Sprüngen nach vorn.

Interventionen

Diese Ideen Nietzsches lassen sich nicht nur auf individuelle Projekte der Selbsttransformation anwenden. Im Allgemeinen gelten viele der gleichen Prinzipien für projektuelles Handeln, sei es in der psychischen, sozialen oder materiellen Ökologie. Warum? Weil es sich bei diesem Ökologien immer um komplexe Welten handelt, Umgebungen die aus vielen verschiedenen Kräften und Assemblagen bestehen, die in vielen verschiedenen Begegnungen, Konflikten und Allianzen interagieren. In all diesen Welten sind wir kleine Spieler*innen mit einem realen aber limitierten Verständnis und ebensolcher Macht zu handeln.

Die radikale Idee, die Nietzsche in seiner Psycho-Physiologie entwickelt, ist – selbst wenn es um meine eigene Psyche geht – die eines ›Subjekts‹ das nicht all-sehendes, alles-bestimmendes Souverän ist, sondern eine Assemblage von Kräften unter vielen und vielleicht nicht die stärkste. Wenn ich mich als aktive Akteurin oder Agent der Selbsttransformation denke, muss ich mir mich als ›kleines Subjekt‹ vorstellen: Nicht eine große Architektin oder Planerin, sondern eine bescheidene ›Gärtnerin‹ der Triebe.

Dasselbe gilt für Aktionen in der sozialen oder materiellen Welt. Politisches Denken, von links oder rechts, bleibt in der Idee der souveränen Macht gefangen. Traditionell besteht das Ziel darin, den Gipfel der politischen Macht, also den Staat, sei es durch eine Wahl oder einen Putsch, zu besetzen und einen Top-Down-Wechsel zu erzwingen. Es gibt auch ›horizontalere‹ Vorstellungen des souveränen Denkens – diese beanspruchen nicht den Gipfel der politischen Macht, sondern die politische Basis, den Volkskonsens, das demokratisch in einem gemeinsamen Organ vereinte Volk, das von uns gewonnen werden muss. In jedem Falle jedoch, gibt es einen wesentlichen Ort der Macht und wenn wir diesen Ort übernehmen und organisieren können, haben wir die Macht und das Recht zu befehlen.

Für die Linke ist die Eroberung des Staates heutzutage entweder eine lächerliche Fantasie (z.B. in Großbritannien) oder irrelevant (z.B. Griechenland, wie die jüngste Saga von Syriza noch einmal gezeigt hat). Dennoch stolpert der gleiche Organisationsansatz weiter voran: Wir müssen eine konzentrierte Kraft aufbauen – Zahlen, Disziplin, Waffen, Unterstützung – die Masse zu einem harmonischen Körper zusammenschweißen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl in psychischen als auch in sozialen Ökologien das Modell des souveränen Handelns folgende Punkte umfasst: (i) ein einheitliches Organ – das kohärente Individuum oder die Masse, die Nation, das Volk, die Klasse etc. vereint durch ein gemeinsames Interesse; und (ii) seinen souveränen oder herrschenden Teil – den Willen, den Intellekt, die Vernunft, den Staat, den König, die Partei, die demokratische Institution, die Versammlung etc. Der Souverän ist in der Lage effektiv zu befehlen solange der Körper tatsächlich vereint ist und nicht durch widersprüchliche Werte und Begehren zerrissen wird. Der Souverän hat wirksame Kanäle für den Empfang von Informationen (Intelligenz, Statistiken, etc.) und damit ein Verständnis für die Interessen des Körpers; sowie eine wirksame Befehlskette für die Durchsetzung seiner Entscheidungen.

Wir sehen ähnliche Ideen in traditionellen Modellen der menschlichen Interaktion mit der materiellen oder natürlichen Umgebungen: Die menschliche Agentin – Bauherrin, Planer, Ingenieurin, Landwirt, Wissenschaftlerin, das Umweltamt, etc. – ist der Souverän, der die natürliche Welt studiert und dann diesem passiven Körper seinen Willen auferlegt.

Diese Modelle sind nutzlos, um über anarchistische Projekte innerhalb der drei Ökologien nachzudenken. In allen Fällen sind wir weder allmächtige Herrscher*innen, noch machtlose Atome wie der*die arbeitende Konsument*in der kapitalistischen Ökonomie. Wir sind etwas dazwischen: ›Kleine Akteur*innen‹, aktive Kräfte unter Anderen, inmitten komplexer Welten, mit realer aber begrenzter Macht um zu intervenieren und neu zu gestalten.

Beispielsweise habe ich, sogar hier in Großbritannien, gesehen wie kleine Gruppen und lose Netzwerke eine Wirkung entfaltet haben, die weit über ihre Größe hinausging. Wie? Weil wir nicht Quantität, sondern Qualität sind. Wir gehören zu den aktivsten, kühnsten und konfrontativsten Elementen. Wir denken kreativ, wir entwickeln unsere Intuition, wir ergreifen die Initiative. Wir sind nur ein kleines bisschen weniger gehemmt durch Bürokratie, Ambitionen, Rivalitäten, den Trieb ziellose Gesprächsgruppen zu bilden und anderen herdenmäßigen Quatsch. Dadurch sind unsere Aktionen und Methoden relativ kraftvoll. Aktionen kleiner Akteur*innen können machtvoll sein, wenn wir am richtigen Ort und mit Hingabe zuschlagen. Und so verbreiten sie sich, sie infizieren, sie stoßen Andere an auch zu handeln.

Nun, das ist gut und richtig, aber vielleicht werden unsere Methoden nie richtig ausgetestet, weil wir nirgendwo einem Klima des Aufstands nahe sind. Was würde es bedeuten, wirklich einen sozialen Krieg zu führen ohne Herden und Massen zu formen, sondern stattdessen in informellen temporären Allianzen von Rudeln und Affinitätsgruppen zu handeln? Wurden informelle aufständische Methoden jemals ›bewiesen‹?

Vielleicht nicht, aber die Linke hat immer wieder ihr Scheitern unter Beweis gestellt. Selbst wenn mich jemand überzeugen könnte, dass die Partei oder Föderation noch immer eine Chance hätte die Revolution zu machen, würde ich mich trotzdem nicht bei ihnen einschreiben. Vielleicht kämpfe ich auf den selben Barrikaden, aber ich werden ein anarchisches Element mit eigenen Projekten bleiben.

Projekte mit offenem Ende

Die Situation, in der wir uns gerade befinden, kann ziemlich trostlos erscheinen. Europa ist noch immer ein Zentrum massiver Konzentration von Macht, Reichtum und Gewalt. Gerade jetzt sitze ich in Großbritannien, einem der weltweit bedeutendsten Hubs des Finanzkapitals und des Waffenhandels, ein Handelszentrum und Blutgeld-Waschsalon für globale Oligarchien. Zur gleichen Zeit lebt hier eine der pazifiziertesten Bevölkerungen der Welt. Die meisten Leute fühlen sich noch immer inkludiert, Teil des schlafwandelnden Konsumkapitalismus. Oder, da immer mehr Bürger*innen die zunehmende Kälte spüren, wendet sich der Hass auf die Schwachen, die Außenstehenden, Schnorrenden, Migrant*innen. Auf diejenigen die rastlos werden, wartet die blanke Überwachung, ein relativ effizientes Polizeiwesen und der Polizist in den Köpfen der zahmen Linken.

Wie kann ich, gegen diese Verhältnisse, freiheitliche Projekte verfolgen? Zumal in einer Situation mit nur wenigen Gefährt*innen an meiner Seite und einem sehr geringen Level an Straßenaktivität?

In diesem Kontext von großen revolutionären Strategien zu sprechen erscheint lächerlich. Sogar die Art von aufständischen Projekten, die Gefährt*innen wie Alfredo Bonanno im Italien der 80er und 90er Jahre diskutierten, erscheinen jenseits des gegenwärtig Möglichen. Griechenland [Chile, …] mag ein Ort sein, an dem eine anarchistische Bewegung diese Art von Projekten entwickeln könnte – und damit wohl auch anfangen sollte.

Auf der anderen Seite möchte ich nicht in einen rein negativen Nihilismus verfallen. Ich habe in diesem Buch dafür argumentiert, dass wir die Werte, Begehren und Kulturen, die uns zerstören nur zerstören können, wenn wir neue Werte bekräftigen um den Platz der alten einzunehmen. Ohne affirmative Projekte ist es viel zu leicht in die Verzweiflung zu rutschen und so schlussendlich in die Selbstzerstörung oder zurück zu Konformität und Unterwerfung zu gelangen.

Die Situation ist schlimm, aber auch ungewiss und in schnellem Wandel begriffen. Große globale Veränderungen in der kapitalistischen Macht und Produktion finden statt. Die Kreditblasen und Krisen sind hier in Europa und anderen ›entwickelten‹ Regionen die Symptome und sie sind beileibe nicht vorbei. Es ist nicht nur so, dass Europas ökonomischen und politischen Eliten der Verstand, das Begehren und die Strukturen fehlen, um die Uhr zurück in die vergangene Zeit der keynesianischen Stabilität zu drehen – sie könnten es sowieso nicht, weil die ›erste Welt‹ nicht mehr den Reichtum kontrolliert, mit dem sich unsere Träume kaufen ließen. Sogar unsere Insel wird früher oder später vom Shitstorm getroffen werden. Und all das, ohne von der ökologischen Katastrophe gesprochen zu haben, die auf uns zukommt.

Es werden sich wohl viele schreckliche Dinge ereignen. Es wird aber auch Öffnungen geben, Brüche in denen sich vielleicht neue Formen des Lebens entfalten können. Aber welche Form werden diese Möglichkeiten annehmen? Hier und Jetzt können wir fast nichts ausmachen. Ein langfristiges Projekte bis zur Revolution wäre ungefähr so nützlich wie eine zehnjährige Wettervorhersage. Im Laufe der Zeit, wenn wir etwas näher an unsere Ziel herankommen, wird sich vieles geändert haben. Fantasien von einer neuen Welt oder Aufständen mögen ein Ansporn für die Vorstellungskraft sein, eine Übung in kreativer Weitsicht – aber für den Moment taugen sich nicht zum Leitfaden für unser Handeln. Zur selben Zeit jedoch, genau weil alles sich rapide und unvorhersehbar ändern könnte, müssen wir darauf vorbereitet sein unsere Projekte zu intensivieren, sollten sich neue Szenarien entwickeln.

All dies heißt, so denke ich: Dies ist die richtige Zeit für recht kurzfristig angelegte, aber nicht auf eine fixes Ende angelegte Projekte, bereit zu Veränderung und offen für neue und unerwartete Dinge.

Wie erkennen wir kraftvolle Projekte? Dafür gibt es keine Gesetzmäßigkeiten: Es ist eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Vielleicht entwickeln wir eine Intuition dafür, ob Projekte sich ›richtig‹ anfühlen. In jedem Fall können wir niemals wirklich sicher sein, wir müssen uns auf ein Spiel einlassen. Hier nur ein Paar grobe Gedanken, die mir hilfreich waren, um über meine eigenen Projekte nachzudenken:

  • Projekte, die Spaß machen. Vielleicht angsteinflößend, jedoch auch aufregend, motivierend, weil sie starken Begehren und Leidenschaften entspringen. Ich werden nicht bei Projekten mitmachen, wenn ich mich nicht mit Leidenschaft hineinstürzen kann.

  • Projekte, die effektiv sind. Sie werden einen Unterschied machen, effektiv zu merklichen Veränderungen in der Welt beitragen – in meinen psychischen und sozialen Ökologien – meine Macht, die meiner Lieben und meiner Verbündeten vergrößern. Ich möchte Siege erringen, seien es auch nur kleine. Ich will Bewegung, spürbare Steigerungen unserer Stärke: Ich will fühlen, dass wir neue Analysen und Fähigkeiten, neue Ressourcen, neue Allianzen und Verbindungen aufbauen.

  • Projekte, die realisierbar sind – die meinen aktuellen Kapazitäten entsprechen, als Individuum, als Affinitätsgruppe und größerer Zusammenhang. Ich suche nicht nach einem Märtyrertum, welcher Art auch immer: Weder nach der herrlich explosiven, noch nach der rührenden Art, welche mit Langeweile, Burn-out und Niedergeschlagenheit daherkommt.

  • Aber ich will es mir auch nicht gemütlich machen. Ich will Projekte, die mich an die Grenzen dieser Kapazitäten führen, will experimentieren und ins Unbekannte vorstoßen.

  • Jedes Projekt ist ein Spiel. Vielleicht mache ich einen Fehler, oder das Glück ist einfach nicht auf meiner Seite. Also muss ich mich darauf vorbereiten auf schwierige Konsequenzen zu stoßen, sollten die Dinge mal nicht so gut laufen. Manches ist gar nicht so schlimm wie die Angst mir glauben macht: Ich kann eine aktive Haltung einnehmen und schwierige Situationen als Gelegenheit betrachten zu lernen und zu wachsen. Wenn es dazu kommt, werde ich auch dem Tod begegnen. Und wenn es eine Sache gibt, die man von der Philosophie lernen kann, dann ist es vielleicht nur diese: Wenn man frei und freudig leben will, muss man sich der Angst vor dem Tod stellen. Ich habe gespielt, nun kommt das Spiel zu seinem Ende. Was soll’s?

  • Projekte mit offenem Ende. Sie werden mich nicht an feste Gewohnheiten fesseln oder in andere Sackgassen führen. Wenn sich Situationen verändern und unsere Kräfte wachsen, öffnen sie Wege zu neuen Projekten, die ich noch nicht vorhersehen kann.

Da ich nicht vorhersagen kann, wie diese zukünftigen Situationen aussehen werden. Wie um alles in der Welt soll ich auch wissen können ob meine aktuellen Projekte zukünftige Wege eröffnen oder schließen werden? Das Studium der Geschichte könnte ein wenig hilfreich sein, indem es uns aus dem Hype des Augenblicks herauszoomt und auf wiederkehrende Muster hinweist: Hoffentlich sind wir etwas weniger geneigt Sackgassen, wie z.B. die Unterstützung linker politischer Parteien, zu durchlaufen, wenn wir wissen, wie die letzten Male ausgegangen sind. Vielleicht spielen hier die Fantasy-Visionen der revolutionären Science-Fiction eine Rolle und wecken die kreative Phantasie. Aber noch einmal: Letztendlich kann dies nur eine Frage der Kunst und der Intuition sein – ein Tanz, ein Würfelwurf.

Um es ein bisschen konkreter zu machen, hier einige der Pole, die meine aktuellen Projekte lenken:

  • Projekte, die Momente der Rebellion entzünden und verbreiten.

  • Projekte, die mich mit Gefährt*innen und Kompliz*innen zusammenbringen.

  • Projekte, die flexible Infrastrukturen für zukünftige Projekte erschaffen.

In dieser Situation, weil entfernt von einem generalisierten Aufstand, vermögen wir nur Momente der Rebellion hervorzubringen. Momente, in denen wir Beschränkungen durchbrechen, in denen ihre Kontrolle nachlässt und wir das Hochgefühl der Freiheit spüren können. In Großbritannien sind diese Momente rar, klein und kurz, aber sie existieren. Nicht Quantität, sondern Qualität: Was woanders vielleicht jeden Tag stattfindet, ist hier ein magischer Bruch mit der Normalität.

Diese Momente mit Freund*innen und Fremden auf der Straße zu teilen ist mit eine Freude. Es trägt mich, fordert mich heraus und ist Futter für meine Leidenschaften. Durch diese Erfahrungen entwickle ich mehr Vertrauen und eigne mir Wissen an. Leidenschaften, Vertrauen und Erfahrungen öffnen Pfade in die Zukunft. Wir kommen auf neue Ideen. Wir fühlen uns zu größeren Dingen befähigt. Wir lernen Gefährt*innen und Kompliz*innen kennen. Wir gedeihen durch die Energie, die durch solche Momente entsteht und können über sie hinauswachsen.

Aber ich möchte auch nicht einfach von einem versprengten Moment zum nächsten huschen. Ich suche nach Projekten, die dabei helfen Rebellionen zu verbinden und weiterzutragen. Hier etwas, was ich mir wirklich wünschen würde: Gruppen von Gefährt*innen, die mit nachhaltigem Engagement zusammenarbeiten um unsere Bedingungen zu reflektieren, sich ernsthafte Projekte setzen und gemeinsam handeln um dies zu erreichen. Unsere Fähigkeiten, Erfahrungen, Ideen und Kritiken teilen, einander unterstützen und voneinander lernen. Mit breiteren Strukturen vernetzt sein, mit denen wir am Start sein können, wenn etwas los ist. Das ist es, was uns Wege in die Zukunft eröffnet: Das Wachstum unserer Fähigkeiten, Erfahrungen, unseres Selbstbewusstseins, unserer Ressourcen und vor allem von Beziehungen, die auf Komplizenschaft und Vertrauen aufbauen. Wer weiß, was dann aus uns werden kann.

Appendix: Nietzsche vs. Anarchismus

Anarchist*innen haben Ideen aus den verschiedensten Quellen übernommen, gestohlen, geliehen, geerbt. Wesentlich ist wie diese Ideen in die Tat umgesetzt und zu Werkzeugen und Waffen im Kampf werden. Im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts haben etliche Anarchist*innen Nietzsches Ideen aufgegriffen. In diesem Appendix werde ich etwas auf die historische Beziehung zwischen Nietzsche und dem Anarchismus schauen. Ein unerwiderte Liebesbeziehung könnte man sagen. Nicht alle, aber viele Anarchist*innen haben Nietzsche innig geliebt. Nietzsche jedoch, hasste den Anarchismus mit bitterer und entsetzlicher Leidenschaft.

Was Nietzsche über den Anarchismus dachte

Es gibt eine digitale Online-Ausgabe von Nietzsches Werk: nietzschesource.org. Für dieses Archiv haben Wissenschaftler*innen alle veröffentlichten Werke von Nietzsche gesammelt und Tausende von Notizen, Briefen und Papierfetzen transkribiert. Dieses Archiv ist einfach zu durchsuchen, so können wir schnell feststellen, dass Nietzsche das Wort Anarchie 28 Mal, Anarchisten 23 Mal, Anarchismus 22 Mal, Anarchist 13 Mal geschrieben hat, wobei einige andere Variationen gelegentlich vorkommen. Offensichtlich hat ihn das Christentum viel mehr gestört (688), aber der Anarchismus, der Sozialismus (52 Mal) und der Darwinismus (19) stehen auf seiner Liste dessen was ihn beschäftigt recht weit oben.

Alle inhaltlichen Referenzen zum Anarchismus und den Anarchist*innen, sind negativ. Ich werde vier Passagen aus vier verschiedenen Büchern zwischen 1883 und 1889 zitieren, die seine wichtigsten Kritikpunkte zeigen. Dieses erste ist aus Jenseits von Gut und Böse:

»Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral: – also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche ›Möglichkeit‹, gegen ein solches ›Sollte‹ wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich ›ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!‹ – ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die ›freie Gesellschaft‹ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe ›Herr‹ und ›Knecht‹ – ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel – ) […]« (JGB202).

Das Zitat geht noch weiter aber die wichtigsten Punkte sind alle gesagt. Wir könnten sie folgendermaßen zusammenfassen:

-

Die Menschen werden von der ›Herdenmoral‹ regiert – der Moral der Konformität, der Mittelmäßigkeit, des Aberglaubens, des Gehorsams gegenüber Sitten und Normen, der Angst vor Differenz und Individualität (siehe Kapitel 4). Wir würden gerne denken, wir hätten uns weiterentwickelt und wären autonome Individuen geworden, aber die modernen Europäer*innen sind seit jeher die gleichen Herdentiere.

-

Die Herdenmoral wurde durch das Christentum gestärkt – die Religion der Sklaven*innen und der Sanftmütigen, die passiv darauf warten die Erde zu erben.

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Im Europa des späten 19. Jahrhunderts scheint das Christentum etwas Boden an den Atheismus und den aufklärerischen Rationalismus zu verlieren. Doch das ist nur eine oberflächliche Erscheinung. Tatsächlich sind Demokratie, Sozialismus, der Glauben an den technologischen Fortschritt und andere neue Glaubensformen nur weltliche Abwandlungen der selben alten Ideale: ›Die demokratische Bewegung ist der Erbe des Christentums‹.

-

Der Anarchismus gibt vor anders zu sein, aber eigentlich ist es nur die lärmende und gewaltsame Variante der gleichen demokratischen Bewegung. Ob sie sich nun Sozialist*innen oder Anarchist*innen nennen, über friedlichen Reformen oder den gewaltsamen Aufstand sprechen, sie sind alle nur Christ*innen in neuen Gewändern. Sprich: Diejenigen, die die Herde und ihre Konformität lieben.

Nun ein Zitat aus Die Genealogie der Moral:

»Den Psychologen voran in’s Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten […] Und wie aus Gleichem nothwendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind […] die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen.« (GM2:11)

Ressentiment ist eine pathologische Emotion, eine rachsüchtige Abneigung der Starken durch die Schwachen (siehe Kapitel 6). Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden, Nietzsche hat nichts gegen die Rache als solche. Er hat kein Problem damit zurückzuschlagen, eine Beleidigung mit einer Verletzung heimzuzahlen. Das Problem ist kein moralisches, sondern ein psychologisches. Wenn du in der Lage bist direkt zurückzuschlagen »vollzieht und erschöpft sich nämlich [jedes Ressentiment] in einer sofortigen Reaktion« (GM1:10). Das Problem beginnt, wenn du zu schwach oder zu zaghaft bist um anzugreifen, das Ressentiment sich entwickeln und verfestigen lässt, so dass es deine, anstatt die Psyche deines Feindes vergiftet.

Das ist es, was Nietzsche denkt, was den Menschen en masse passiert ist, als wir in die »sociale Zwangsjacke« (GM2:2) der hierarchischen Staatsgesellschaft gezwungen wurden. Unsere aggressiven »Instinkt[e] der Freiheit« (GM2:17) wurden nach innen gezwungen, haben sich als Schuld und »schlechtes Gewissen« (GM-Essay-2) gegen uns gewendet und auf unsere inneren Welten, Fantasien, impotenten Racheträume (GM-Essay-1) gerichtet. Das Christentum ernährte sich von diesen psychologischen Symptomen und kanalisierte sie in seine Mythologie des ›Tag des jüngsten Gerichtes‹. Diese christlichen Mythen trösten die Enteigneten, empowern sie aber nicht, im Gegenteil, sie machen uns krank, passiv und kraftlos.

Schließlich, zwei kurze Zitate aus zwei seiner letzten Bücher, Der Antichrist und Götzen-Dämmerung:

»Der Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen Alles, was steht, was gross dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht …« (AC58)


»Christ und Anarchist. […] das ›jüngste Gericht‹ selbst ist noch der süsse Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht… Das ›Jenseits‹ selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?« (GD-Sprüche-34).

Noch mal kurzgefasst, die Anarchist*innen sind säkularisierte Christ*innen. Wie die Christ*innen sind sie Herdentiere, zahm, voller Angst vor Differenzen, Individualität und Größe, die versuchen alles auf ihre Niveau runterzuziehen: verbittert, nachtragend, rachsüchtig. Außerdem sind sie Destruktiv und ›reaktiv‹, d.h. obsessiv auf verfeindete Personen und deren bösen Taten fixiert, anstatt auf ihre eigenen unabhängigen Werte und Ziele. Weil sie zu schwach zum handeln sind, haben sich ihre Aggressionen internalisiert und zu Rachefantasien verfestigt – so warten sie auf den finalen Tag der Abrechnung, die große Revolution, wenn die Mächtigen fallen werden und die Sanftmütigen die Erde erben. Sie haben nicht die Stärke oder den Mut offen anzugreifen, sie vergiften Herz und Geist und versuchen alle mit ihren Krankheiten anzustecken. Sie hassen das Leben.

Was Nietzsches vom Anarchismus wusste

Woher hatte Nietzsche diese Vorstellung vom Anarchismus? In allen von ihm veröffentlichten Büchern, in allen wiederholten Attacken, erwähnt er keine*n spezifische*n Anarchist*in. Oder besser gesagt: Die einzige Person, die er tatsächlich als ›Anarchist‹ bezeichnet, ist Eugen Dühring (JGB204, GM2:11), ein sozialistischer Ökonom, Politologe und Antisemit, der aber keinerlei Verbindungen zum Anarchismus hatte. Was die tatsächlichen anarchistischen Schriftsteller*innen betrifft, so gibt es in den Notizbüchern von 1873 nur zwei kurze, flüchtige Hinweise auf Bakunin und Proudhon (übrigens auch beides Antisemiten).

Heutzutage gibt es eine Wissenschaftsindustrie, die sich darauf konzentriert herauszufinden, was Nietzsche gelesen hat, einschließlich Listen von Büchern, die er besaß oder aus Bibliotheken entliehen hatte. Es gibt keinerlei Spuren von anarchistischer Literatur. Aber es ist möglich, dass Nietzsche über Proudhon gelesen hat, zum Beispiel durch Referenzen in anderen Werken. Der Nietzsche-Forscher Thomas Brobjer, der mehr als jeder andere weiß was Nietzsche gelesen hat, ist zu dem Schluss gekommen, dass er Marx indirekt durch das Lesen einer Reihe populärer Bücher über den Sozialismus kannte. Dasselbe könnte für die anarchistische Theorie gelten.

Eine weitere Quelle war wahrscheinlich die Presse. Obwohl Nietzsche behauptete Zeitungen zu verachten, las er sie. Es könnte also sein, dass Nietzsches Ansichten über den Anarchismus weitgehend aus der Tagespresse stammen.

Warnung an Rebell*innen

Im besten Fall hatte Nietzsche ein begrenztes und verzerrtes Verständnis vom Anarchismus. Was nicht heißt, dass er in allem falsch lag. Es gab Strömungen im Anarchismus des 19. Jahrhunderts – und die gibt es noch immer –, die mit seinem Bild übereinstimmen. Die Anarchist*innen behaupten anders zu sein, erschaffen dann konformistische Herden, ›Sub-Kulturen‹ und Sekten. Wir schaffen uns neue Anführer*innen, Gurus, Held*innen, Märtyrer*innen damit diese für uns denken und handeln. Wir präsentieren uns als passive Opfer von Unglück und Leiden in den Händen böser Herrschender und ihrer fiesen Repression. Wir schieben die Aktion auf, warten auf den großen ›Tag der Abrechnung‹, den Moment wenn die Zeit endlich reif für die Revolution ist.

Nietzsche wusste wenig über den Anarchismus, aber er war ein sehr ehrlicher Student seiner eigenen Psychologie und wie diese durch seine eigene christliche Herkunft geformt wurde – erinnern wir uns, sein eigener Vater war ein lutheranischer Pastor. Und er war aufmerksam genug, um zu sehen, wo sozialistische und anarchistische Bewegungen Anzeichen derselben Krankheiten teilten.

Und insofern, als dass anarchistisches Denken und Handeln heute noch immer diese Abstammung teilen, kann es hilfreich sein Nietzsches Kritiken etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Mein Vorschlag ist, sie als Warnungen vor der Gefahr zu lesen, in die Fallen des Ressentiment zu tappen.

Erstens warnt uns Nietzsche vor der Gefahr über unser ›Schicksal‹ und unsere Unterdrückung verbittert zu werden. Die Beschäftigung mit Unglücksfällen und ›Ungerechtigkeiten‹ wird uns nicht helfen Herrschaftsstrukturen zu bekämpfen und zu zerstören. Nietzsche fordert uns auf, einen ehrlichen Blick auf das zu werfen, was wir sind, wie wir geformt wurden und auf unsere Handlungs- und Transformationsmöglichkeiten; ohne sich in Bitterkeit, Verzweiflung, Moralisierung oder Idealisierung zurückzuziehen. Es ist dieses Gefühl der ehrlichen Affirmation, das er ›amor fati nennt, die Liebe zum Schicksal (siehe Kapitel 15).

Zweitens warnt Nietzsche uns davor, uns in eine fantastische ›Nach-Welt‹ zurückzuziehen und die Aktion auf eine immer wieder verschobene Zukunft hinauszuzögern. Damit ist nicht gemeint alle Ziele, Visionen, Projekte und Strategien zurückzuweisen – das wäre nur ein weiterer Rückzug in ein vollständig reaktives Leben ohne jeden Horizont. Nietzsche spricht vielmehr davon, mit einer ›Sehnsucht‹ nach Neuem zu leben: Die Kämpfe unserer Vergangenheit und Gegenwart erzeugen eine »prachtvolle Spannung des Geistes«, und »mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen« (JGB-Vorrede).

Wichtig ist, dass zukünftige Ziele und gegenwärtige Praktiken durch Taten miteinander verbunden sind. Die Gefahr, die Nietzsche in der sozialistischen Bewegung diagnostizierte, betrifft die Entfremdung von der eigenen Fähigkeit zu handeln: Die Verantwortung an Andere zu delegieren; oder das Leben auf die Zukunft aufzuschieben, »sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt […]« (D206). Act for freedom now, jetzt für die Freiheit kämpfen, das ist die Prämisse, wenn wir unsere Kraft entwickeln wollen.

Drittens warnt Nietzsche uns davor, uns selbst mit Ressentiment zu vergiften. Das bedeutet nicht, dass wir nie negieren oder vergelten sollen, aber es besteht die reale Gefahr, dass wir beherrscht werden, indem wir nur auf die Werte und Angriffe unserer Feind*innen reagieren. Ein Leben ohne Konfrontation und Kampf wird dich schwach und krank machen, aber eine Leben ohne Freude, Bejahung und Initiative ebenso. Nietzsche schreibt, dass er seine Freund*innen »muthiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen« will (FW338). Für Rebell*innen kann es besonders wichtig sein zu lernen, »was jetzt so Wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: – die Mitfreude!« (ebd).

Anarchismus ohne Grundsätze

Der Anarchismus ist eine reiche, vielfältige, lebendige, sich entwickelnde Tradition, die schon immer viele verschiedene Stränge und Projekte hatte. Ich bezweifle, dass sich einige grundlegende ›Prinzipien‹ identifizieren ließen, auf die alle Anarchist*innen sich einigen könnten. Es gibt gemeinsame Themen oder Schwerpunkte: Allem voran der Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung. Aber schon von der Definition eines Begriffs wie ›Herrschaft‹, hatten verschiedene Anarchist*innen sehr unterschiedliche Vorstellungen.

Wahrscheinlich gilt dies für alle wichtigen Philosophien und Bewegungen. Sogar Religionen wie der Marxismus, die vermeintlich von einem einzigen bärtigen Patriarchen oder einem einzigen heiligen Buch abstammen, werden in tausende von widersprüchlichen Interpretationen zerrissen. Der Anarchismus hat keine solchen ursprünglichen oder zentralen Autoritäten. Anarchist*innen gruppieren sich um überschneidende Erzählungen, innerhalb derer es eine großen Bandbreite von Ideen, Werten, Begehren, Handlungen und Lebensformen gibt. Der Versuch, einige Grundprinzipien oder Axiome des Anarchismus zu identifizieren scheint sowohl sinnlos als auch sehr un-anarchisch.

Nun – ja, es hat reaktive Stränge voller Ressentiment innerhalb des Anarchismus gegeben. Aber es hat auch Stränge gegeben, die Individualität, Differenz, Selbsttransformation, Kampf, Aktivität, Kreativität und das Glück im hier und jetzt zu leben betont haben.[79]

Nur um ein Beispiel für einen sehr nach Nietzsche klingenden Anarchismus zu geben:

»Kämpfe! Das Leben ist um so großartiger, herrlicher, je lebhafter der Kampf. Dann wirst du gelebt haben, und für einige Stunden solchen Lebens gibst du gerne ein jahrelanges Vegetieren in der Fäulnis der Sümpfe. Kämpfe, um auch den anderen dieses reich sprudelnde Leben zu erringen, und sei sicher, daß du in keinem anderen Wirkungskreis derartig edle Freuden und Genüsse finden wirst.«

(Peter Kropotkin: Anarchistische Moral)

Es ist leicht solche und viele ähnliche Gedanken in anarchistischen Texten zu finden. Dieses Zitat ist von 1897, dem Jahr in dem Nietzsche eine Gewisse Popularität gewann. Aber es ist von Kropotkin, einem Anarchisten, der keine Zeit für Nietzsche hatte. Es ist sehr unwahrscheinlich das Kropotkin hier direkt von Nietzsche beeinflusst wurde. Gleichwohl teilen sie einige Einflüsse: Insbesondere den französischen Autoren Guyau, dessen Buch Sketch for a Morality without Obligation or Sanction (1885) eine Ethik entlang der Idee des ›übersprudelnden‹ Lebens entwickelt.[80]

Aber es ist sicherlich so, dass viele Anarchist*innen, beginnend in den 1890er Jahren, sich in Nietzsches Texte verliebt, sie gelesen und aufgesogen haben. Es gab immer Stränge innerhalb des Anarchismus die Individualität und Selbsttransformation, unmittelbare Aktionen und die Freude am Kampf betont haben. Ich denke aber, dass Nietzsches Einfluss dabei geholfen hat diese Strömungen hervorzuheben, zu bestärken und ihnen eine neue Sprache und Ressourcen zukommen zu lassen.

Der Interaktion von Nietzsches Ideen mit dem Anarchismus von diesem Punkt ausgehend zu folgen, würde ein eigenes Buch füllen. Abschließend möchte ich nur noch zwei Strömungen im Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts kurz erwähnen, die in besondere Weise eng mit Nietzsche verknüpft waren: Die Entwickelung des anarchistischen Individualismus; und die Bewegung weg von einer millenaristischen Vision einer ›großen Revolution‹, hin zu einem Anarchismus der Aktion, mit Fokus auf das gegenwärtige Leben.

Nietzsche und die Individualist*innen

Nietzsches offensichtlichster Einfluss ist die Entwicklung einer individualistischen Tendenz innerhalb des Anarchismus. Grob gesagt, individualistische Strömungen im Anarchismus stellen das Individuum ins Zentrum und an den Beginn anarchistischer Projekte. Anarchie muss im Bezug auf individuelle Freiheit verstanden werden und kann das Individuum nicht zugunsten eines Kollektivs oder einer Abstraktion wie der ›Gesellschaft‹ zurückstellen. Wenn ich Anarchie anstrebe, tue ich das vom Ausgangspunkt meiner eigenen Begehren, Entscheidungen und Projekte aus. Wenn ich mich dann mit anderen Individuuen zusammentue, um etwas zu bekämpfen oder aufzubauen, dann nicht weil wir als Teil einer Masse verbunden sind – der Menschheit, der Leute, der Klasse, oder sogar ›den Anarchist*innen‹ – sondern weil ich mich dazu entschieden habe, das zu tun. Wenn unsere Projekte nicht länger miteinander konvergieren, gehen wir unsere eigenen unterschiedlichen Wege.

Diese Betonung des Individuums kann dazu beitragen, dass der Fokus mehr darauf liegt alleine, oder in kleinen Gruppen von Gefährt*innen mit engen Affinitäten zu handeln. Das wiederum, mündet in verschiedene Tendenzen. Beispielsweise haben Individualist*innen im Alleingang Angriffe, wie die Ermordung von König*innen, Präsident*innen und Kapitalist*innen ausgeführt. Individualist*innen waren unter denjenigen Anarchist*innen, die sich vor allem damit befasst haben, ›Projekte des Selbst‹ zu entwickeln und für ihre eigene innere Freiheit sowie die Freiheit in engen Beziehungen zu kämpfen. Es waren ebenfalls Individualist*innen, die den ›Illegalismus‹ befürworteten und jeden Kompromiss mit der Lohnsklaverei der Arbeit zurückwiesen. Oder, zum Beispiel, jene Individualist*innen, die unter den Ersten waren, die die Idee der freien Lieben und offener Homosexualität zelebrierten.[81]

Individualistische Ideen ploppten in den Boheme der 1890er Jahren in Europa auf. In Wien, Berlin, Paris, London und anderen Städten gab es individualistische oder ›egoistische‹ Clubs, Cafés, Diskussionen, Kreise, Journale und Magazine. Nur einige wenige von ihnen identifizierten sich als Anarchist*innen. Ganz allgemein können wir von einer intellektuellen und künstlerischen Gegenkultur individualistischer Ideen sprechen, deren wichtigste Einflüsse so unterschiedliche Autor[*innen] wie ›Goethe, Byron, Humboldt, Schleimacher, Carlyle, Emerson, Kierkegaard, Renan, Ibsen, Stirner und Nietzsche‹ waren.[82] Obwohl von diesen großen Namen eigentlich nur Max Stirner zweifelsfrei als Individualist – oder in seinen eigenen Worten ›Egoist‹ – bezeichnet werden kann.

Stirners Der Einzige und sein Eigentum wurde ursprünglich 1845 veröffentlicht. Nachdem es jedoch anfänglich für einige Kontroversen in der philosophischen Szene der ›jungen Hegelianer‹ in Berlin sorgte, wurde Stirners Hauptwerk nicht mehr gedruckt und geriet in Vergessenheit bis es in den 1890er Jahren ein Revival erlebte. Es gibt eine langanhaltende Kontroverse bezüglich des Einflusses von Stirner auf Nietzsche. Es gibt einige klare Ähnlichkeiten in ihren Ideen – jedoch ebenso wesentliche Unterschiede in ihren politischen Positionen und in ihrem Verständnis des Individuums. Beide treten für den individuellen Schlag gegen Normen und Götzen ein (Stirners ›Spuk‹) und dehnen ihre Kritik auch auf die neuen ›Priester‹ des Sozialismus aus. Stirner kommt Nietzsche sogar in einigem zuvor, sowohl in dessen berühmter Aussage ›Gott ist Tod‹, als auch in seinen Aufruf ›mehr als menschlich‹ zu sein.

Dennoch bezieht sich Nietzsche nie auf Stirner, nicht einmal in seinen Briefen oder unveröffentlichten Notizen. Hat er ihn gelesen? Über diesen Punkt wurde noch nicht Final entschieden – folgt man der jüngste Lehrmeinung, sieht es jedoch nicht so aus. Das sag zumindest Thomas Brobjer, ein weltweit anerkannter Experte, der sich damit beschäftigt, welche Bücher Nietzsche gelesen hat und welche nicht. Nietzsche hat sicherlich Bücher gelesen die Stirner erwähnen, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass er ein Buch Stirners besessen oder auch nur geliehen hätte und die einzigen Hinweise einer Verbindung stammen aus einer Geschichte aus zweiter Hand, Jahre nach Nietzsches Tod. Ein ehemaliger Student Nietzsches berichtete Nietzsche hätte ihm empfohlen Stirner zu lesen.[83]

Die Person, die weithin für die Wiederbelebung des Interesses an Stirner bekannt ist, ist der schottisch-deutsche Anarchist und Individualist John Henry Mackay (1864-1933). Mackay las Stirner 1888, konvertierte zum Egoismus, widmete Stirner eine überarbeitete zweite Edition seines Gedichtbandes Sturm und schrieb vor allem um den Stirnerismus und individualistische Ideen zu bewerben. Mackay korrespondierte außerdem mit dem individualistischen Anarchisten und Herausgeber des Journals Liberty Benjamin Tucker (US), der Nietzsche und Stirner in Englisch bewarb.

Währenddessen, am 3. Januar 1889, kollabierte Nietzsche auf offener Straße in Turin, der Legende folgend, nachdem er seine Arme schützend um ein Pferd warf, das brutal gepeitscht wurde. In den nächsten Tagen schrieb er merkwürdige Briefe an seine Freund*innen, die er mit ›Dionysos‹ und ›der Gekreuzigte‹ unterzeichnete, bevor er, bis zu seinem Tod 1900, in einen Zustand vollständiger katatonischer Umnachtung fiel. Nietzsche war sich also nicht bewusst, dass er ein großer literarischer Hit der 1890er Jahre werden würde. Ein Kommentator der Zeit um die Mitte der 1890er Jahre schrieb über die Cafés von Berlin, München und Wien: ›Es wimmelte so sehr von ›Übermenschen‹, dass man es nicht übersehen konnte, und es machte einen sprachlos vor Erstaunen‹. Nietzsche wurde schnell zum Feindbild der Zeitungen, sie gaben ihm die Schuld als die Kronprinzessin von Sachsen mit ihrem Lover aus der Unterschicht durchbrannte - da sie vermeintlich seine Bücher gelesen hatte.

Der Autor Hinton Thomas hat nachverfolgt, dass Nietzsche in den anarchistischen Kreisen in Deutschland schon bald viel zitiert und diskutiert wurde. Anarchist*innen begannen eine nietzscheanische Sprache und Ideen zu verwenden um ihren Gedanken Form zu geben. In einem Text über anarchistische Prinzipen in der Zeitung Freie Bruehne heißt es 1893 »wir stehend jenseits von Gut und Böse«. 1897 bezieht sich, vielleicht zum ersten Mal, ein anarchistischer Gefährte vor Gericht auf Nietzsche: Paul Koschemann, angeklagt für einen versuchten Bombenanschlag auf den Polizeichef von Berlin.[84]

Um es klarzustellen: Nietzsches Einfluss auf den Anarchismus beschränkte sich von Anfang an nicht nur auf erklärte Individualist*innen. Einer der bekanntesten deutschen Anarchisten dieser Periode, der stark von ihm beeinflusst war, war Gustav Landauer (1870-1919), der sich für Nietzsche und Stirner zu interessieren begann als er noch Mitglied von Die Jungen war, einem links-liberalen Flügel der Sozialdemokratischen Partei (Ausschluss von der Partei 1891). Landauer fuhr fort einen Anarchismus zu entwickeln, der als ›vitalistischer nietzscheanischer Individualismus und sozialistischer Kommunalismus‹[85] beschrieben wurde. Eine weitere Person war Rudolf Rocker (1873-1958), ein Gefährte Landauers bei Die Jungen, der einer der bekanntesten Verfechter des Anarcho-Syndikalismus werden sollte – und darüber hinaus weniger bekannt ist für seine jiddische Übersetzung von Also Sprach Zarathustra (1910).[86]

Eine andere nietzscheanische ›soziale‹ Anarchistin war natürlich Emma Goldman (1869-1940), die Nietzsche während ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin in Wien (1895-99) entdeckte.[87] Keine*r dieser drei könnte als ›Individualist*in‹ eingeordnet werden und alle waren sie Verfechter*innen groß angelegter ›sozialer‹ Organisationen. Aber sie alle hatten eine Vorstellung der Anarchie verinnerlicht, in welcher die individuelle Entscheidung und individuelle Selbst-Erschaffung eine zentrale Idee war und bezogen sich dabei auf die Ideen und die Sprache Nietzsches.

Tatsächlich hat der individualistische Anarchismus, als eine ausgeprägte Tendenz, keine sonderlich starken Wurzeln in der deutschsprachigen Welt. Seine erste große Blütezeit hatte er in Frankreich. Der Glanz des frühen französischen Individualismus zeigte sich in Wort und Tat. Im Wort fand er seinen Ausdruck bei Autoren wie Zo d'Axa, Albert Libertad und Emil Armand und anderen Autor*innen rund um das Journal L'EnDehors (erste Phase 1891-1893) und L'Anarchie (1905-1914). In der Tat fand er seinen Ausdruck etwa bei der ›Bonnot-Bande‹ (aktiv 1911-1912), illegalistischen anarchistischen Bankräuber*innen, welche das erste Mal überhaupt ein Auto als Fluchtfahrzeug einsetzten.

Darüber hinaus entwickelte sich ein individualistischer Anarchismus im frühen 20. Jahrhundert insbesondere in Italien und Lateinamerika. Renzo Novatore ist eine der markantesten italienischen Stimmen, sowohl ein kraftvoller, poetischer Schriftsteller, als auch ein aktiver Illegalist und Anarchist der Aktion, der 1922 von den Carabinieri erschossen wurde. Mussolinis Griff nach der Macht in diesem Jahr zerstörte die anarchistischen Netzwerke innerhalb Italiens und drängte viele zur Flucht nach Frankreich, die USA, Argentinien und anderswo, wo sie zu den Emigrant*innen stießen, die in vorherigen Fluchtwellen ins Exil gegangen waren.[88]

Die wenigen genannten Namen sind nur eine kleine Auswahl, einige der Bekanntesten. Nietzsches Sprache und Ideen sind, neben dem Einfluss von Stirner und anderen ›egoistischen‹ Denker*innen, mit vielen der Schriften und Aussagen dieser Anarchist*innen verwoben und bringen neue Perspektiven und neue Fragen in das anarchistische Denken. Andererseits war Nietzsche ein Kind seiner Zeit und in keinem Fall der Einzige, der am Ende des 19. Jahrhunderts darüber nachdachte Götzen einzureißen, die Normen zu brechen und eine neue menschliche oder post-menschliche Form des Lebens hervorzubringen. Wie könnten wir damit beginnen, dieses Netz aus Ideen und Begehren zu entwirren, das sich durch ihre explosiven Erklärungen spinnt?

Hier ein Ausschnitt aus Novatores Toward the Creative Nothing. Es ist gespickt mit Stirner, Nietzsche und all der Bitterkeit und dem Schmerz jener Generation, die in jungen Jahren die Massaker des ersten Weltkriegs erlebte und der leidenschaftlichen und aktiven Liebe zum Leben eines Kämpfenden.

»Wir haben die ›Pflicht‹ getötet, damit unser glühender Wunsch nach freier Brüderlichkeit im Leben heroische Tapferkeit erlangt.


Wir haben das ›Mitleid‹ getötet, weil wir Barbaren und zu großer Liebe fähig sind.


Wir haben den ›Altruismus‹ getötet, weil wir großzügige Egoisten sind.


Wir haben die ›philanthropische Solidarität‹ getötet, damit der soziale Mensch sein geheimstes ›Ich‹ ausgräbt und die Kraft des ›Einzigartigen‹ findet.


Weil wir es wissen. Das Leben hat es satt, verkümmerte Liebhaber zu haben. Denn die Erde ist es leid, sich von einer langen Phalanx christlicher Gebete singender Zwerge zertrampelt zu fühlen.


[…]


Vorwärts, für die Vernichtung der Lüge und der Phantome!


Vorwärts, für die vollständige Eroberung der Individualität und des Lebens!«

Renzo Novatore: Towards the Creative Nothing, XVII.

Post-Millenaristischer Anarchismus

Wie wir bereits gesehen haben, ist einer der wichtigsten Kritikpunkte, die Nietzsche am Anarchismus hat, dass er einfach nur eine weitere Herdenmoralität ist. Anarchistischer Individualismus nimmt diese Kritik auf und überwindet sie. Ein weiterer Kritikpunkt war das Warten auf das jüngste Gericht, die große Revolution. Nicht das ich denke würde, dass diese Kritik auf die Anarchist*innen vor Nietzsches Zeit komplett zutreffend war, aber danach nahmen sich sicherlich einige dieses Problems an und überwanden es.

Auch hier möchte nur einige wenige historische Ausschnitte anführen. Severino di Giovanni (1901-1931) ist einer der bekanntesten der Anarchisten der Aktion des 20. Jahrhunderts. Er war ein in Argentinien lebender italienischer Immigrant der die Zeitung Culmine veröffentlichte, deren Ziel es war ›anarchistische Ideale unter den italienischen Arbeitern zu verbreiten‹, ›den Antifaschismus am Leben zu erhalten‹ und ›eine intensive und aktive Kollaboration zwischen anarchistischen Gruppen zu etablieren‹. Diese und weitere Bemühungen um die Veröffentlichung von Propaganda und Büchern wurden vor allem durch Enteignungen finanziert. Di Giovanni und seine Gefährt*innen waren außerdem sehr erfolgreiche Verfechter*innen der gewalttätigen Propaganda der Tat. So töteten sie zum Beispiel neun Faschisten bei einem Angriff auf das italienische Konsulat. Sie ließen, aus Rache für die Todesstrafe für Sacco und Vanzetti, Bomben in der US Botschaft und Hauptsitzen von Citibank und Bank of Boston explodieren. Bei einer Razzia in seiner Bibliothek fand die Polizei außerdem Plakate mit Zitaten von Nietzsche an den Wänden – wobei Nietzsche sicher nur einer von vielen Einflüsse auf sein Denken war. Hier ein berühmtes Zitat aus Culmine:

»Monotone Stunden unter dem einfachen Volk, den Resignierten, den Kollaborateuren, den Konformisten zu verbringen – das ist kein Leben; es ist eine vegetative Existenz, einfach der Transport einer Masse von Fleisch und Knochen, auf einen vorherbestimmten Wege. Das Leben braucht die exquisite und erhabene Erfahrung der Rebellion in der Aktion wie auch im Denken.«

Einige argentinische Anarchist*innen waren schockiert als Severino sich im Guten von seiner Frau trennte und eine Beziehung mit der erst 15 Jahre alten America Scarfó begann. Nach Di Giovannis Exekution 1931 hatte Scarfó viele weitere Liebesbeziehungen und Projekte, z.B. den Verlag ›America Leer‹. Hier ein Zitat aus einem Brief von America Scarfó an Emile Armand von 1928. Ob sie wohl auch Nietzsche gelesen hat? Oder vielleicht nur Armand, dessen Schriften oft auf den Ideen Nietzsches aufbauten? Hätte eine junge Anarchistin genau so geschrieben, bevor Nietzsche zu den Strömungen des anarchistischen Denkens und der anarchistischen Praxis beitrug? In jeden Fall ist es eine Text ohne Ressentiment, voll lebendigem Begehren im hier und jetzt frei und glücklich zu leben.

»Ich begehre für alle, nur was ich auch für mich begehre: Die Freiheit zu handeln, zu lieben, zu denken. Das heißt, ich begehre die Anarchie für die ganze Menschheit. Ich glaube, dass wir, um dies zu erreichen, eine soziale Revolution machen sollten. Ich bin jedoch auch der Meinung, dass, um diese Revolution zu erreichen, es notwendig ist, uns von allen Vorurteilen, Konventionalismen, falschen Moralismen und absurden Codes zu verabschieden. Und während wir auf den Ausbruch dieser großen Revolution warten, haben wir dieses Werk in all den Aktionen unserer Existenz auszutragen. Und in der Tat, damit diese Revolution zustande kommt, können wir uns nicht nur mit Warten begnügen, sondern müssen in unserem täglichen Leben aktiv werden.«[89]

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Einige seiner späten unveröffentlichten Notizen umreißen einen Science Fiction Plot der an HG Wells Die Zeitmaschine erinnert. Es kommt zu »einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen ›Maschinerie‹ der Interessen und Leistungen« (NF-1887, 10, 17). Der künftige Kapitalismus wird nicht nur mehr »eines Luxus-Überschusses« hervorbringen als je zuvor, sondern auch eine immer nivelliertere, »Verkleinerung« (WP890) der Herdenklasse und damit einen größeren kreativen ›Pathos der Distanz‹ zwischen Eliten und Lakaien als je zuvor. Nietzsche bietet von diesem Punkt wenigstens zwei mögliche Szenarien an: Entweder eine »Gesammt-Verringerung«, was eine Katastrophe für die europäische Kultur bedeutet; oder eine »höhere Form des Aristokratism« (NF-1887, 10, 17) rechtfertigt mit ihrem auftauchen das 20. Jahrhundert. Die Frage ist: wie kann eine solche ›stärkere Art‹ sich aus der degenerierten Form des europäischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ›herausheben‹. »Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren socialistischen Krisen sichtbar werden und sich consolidiren, …« (NF-1887, 11, 31).
Dies ist die einzige Art auf die Nietzsche etwas positives über Anarchist*innen oder die sozialistische Bewegung zu sagen hat: Aus den Prüfungen, die die Überwindung dieser Widerstände darstellt, werden neue Herrschende hervorgehen. Eine weitere Notiz aus der selben Periode: »Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unserer ganzen Civilisation wünschen müssen.« (NF-1887, 10, 31). JGB262 gibt die wohl klarste veröffentlichte Darstellung der Idee einer zyklischen Geschichte, in welcher, in Resonanz auf Revolten von unten, eine starke herrschende Klasse auftreten kann.

All diese Elemente werfen weitere Fragen auf, von denen einige der Gegenstand ellenlanger akademischer Debatten sind. Sollten wir immer dann über (soziale) Macht sprechen wenn jemand meine Begehren, Werte, Affekte, Ideen etc. (meine psychische Ökologie) verändert, oder nur wenn diese Veränderungen (direkt) zu Handlungen führen. Sind Akte (sozialer) Macht notwendigerweise Akte des Willens – oder vielleicht intentionale Akte in einem weiteren Sinne – oder sollten wir auch solche Akte erwägen die, beispielsweise machtvolle beabsichtigte Konsequenzen haben? Und was ist mit Handlungen, mit denen wir die Handlungsmöglichkeiten Anderer auf eine Weise beeinflussen, die sie sich selber wünschen und/oder erstreben? Lukes (2005:76) hat eine Untersuchung zu einigen dieser Diskussionen gemacht.

Eine weiterer Punkt: Ein Körper oder eine Kraft kann die Macht haben Veränderungen zu verursachen, ohne dass dieses Potential jemals verwirklicht wird. Es gibt auch komplexe Fälle, die von einigen Autor*innen diskutiert wurden, in welchen der Unterschied zwischen Kapazität und Ausübung nicht immer so klar ist: James Scott weist zum Beispiel darauf hin, dass (sozial) machtvoll zu sein, oftmals heißen kann »nicht handeln zu müssen« (1990:28) weil die Begehren der Mächtigen von den Unterdrückten antizipiert werden. Lukes (2005: 69–84) diskutiert diesen Punkt ebenfalls.

[http://dwardmac.pitzer.edu/Anarchist_archives/bright/landauer/landauerbioHorrox.html]

[1] Wie ist das Verhältnis zwischen der ›Anarchie‹ und den ›Anarchist*innen‹? Vielleicht können wir zwei verschiedene Bedeutungen von ›anarchistisch‹ ausmachen. Eine, die allgemeinste, ist folgende: Anarchist*innen sind all diejenigen, die die Anarchie lieben und anstreben. Eine andere Definition ist spezifischer und situierter: Anarchist*innen sind diejenigen, die einer bestimmten historischen Tradition angehören, einer Bewegung oder Linie des Denkens und Handelns, die sehr vielfältig und vielgestaltig ist, die wir aber als ›Anarchismus‹ identifizieren können, der in Europa und anderswo im 19. Jahrhundert entstand und auch heute noch in einigen Formen lebt und kämpft. Im zweiten Sinne muss man kein*e ›Anarchist*in‹ sein, um für die Anarchie zu kämpfen: Tatsächlich haben viele ihrer aktivsten und leidenschaftlichsten Befürworter*innen vielleicht noch nie von diesen Worten gehört. Ich werde etwas mehr zum Anarchismus und seiner Verbindung zu Nietzsche im Appendix dieses Buches sagen. Was mich hier aber vor allem interessiert ist die Anarchie, unter welchen Namen und in welcher Gestalt sie auch immer ins Leben gerufen wird.

[2] Der Ausdruck ›zu plünderndes Arsenal‹ stammt von dem Anarchisten Wolfi Landstreicher. Einen sehr ähnlichen Punkt macht auch der Philosoph Michel Foucault: »Das einzige Zeichen einer Anerkennung, die man gegenüber einem Denken wie dem von Nietzsche gelten lassen kann, besteht genau darin, es zu verwenden, es zu verformen, es knirschen und schreien zu machen« (S2: 932) [an anderer Stelle sagt er in Bezug auf die Lektüre von Nietzsche und Thomas Szasz: »Es gab zum Beispiel eine Zeit, da glaubte man sich genötigt, erst einmal zu sagen, dass Nietzsche kein Antisemit sei, wenn man auf ihn Bezug nehmen wollte. Ich ziehe die Verwendung einer Technik der interessierten Plünderung vor […] Nicht das Systematische an einem Diskurs, sondern dass es im Gegenteil möglich ist, ihn aufzuspalten, wiederzuverwenden und an anderer Stelle neu einzupflanzen, macht seine Wahrheit aus« (S3: 104)].

[3] Anm. d. Ü: Der Begriff Leib wird für die deutschen Übersetzung von ›mind-body‹ verwendet. Gemeint ist ein untrennbar komplexes Wesen, aus physischem Körper und Psyche. Leib beschreibt also ein komplexes Dividuum mit diversen und multiplen Motivationen und Trieben, das sich in diversen Assemblagen mit anderen komplexen Leibern und Wesen befindet. Der Begriff Leib erschien uns hier passend weil Leib – anders als Körper – (u.a. von germanisch *leiba- ›Leben‹ stammend) schon etwas über die reine Körperlichkeit hinausgehendes beschreibt. An anderer Stelle wird im Original nur von ›body‹ gesprochen, dies ist einfach mit ›Körper‹ übersetzt. Wir sollten die Komplexität dieser Begriffe aber stets im Hinterkopf behalten.

[5] Die neuere Psychologie und Neurowissenschaften stützen Nietzsches Ansicht über unser sehr begrenztes bewusstes Verständnis von Motivation. Daniel Wegners Buch The Illusion of Conscious Will (2002) gibt einen guten Überblick über diese Forschung. Wegner erwähnt Nietzsche nicht, aber seine Schlussfolgerungen sind auffallend ähnlich: »Die einzigartige menschliche Annehmlichkeit bewusster Gedanken, die unsere Handlungen vorwegnehmen, gibt uns das Privileg, das Gefühl zu haben, dass wir willentlich verursachen, was wir tun. Tatsächlich aber erzeugen unbewusste und undurchschaubare Mechanismen sowohl den bewussten Gedanken über die Handlung als auch die Handlung und erzeugen auch das Gefühl des Willens, das wir erleben, indem wir den Gedanken als Ursache der Handlung wahrnehmen.« (2002:98). Der Nietzsche-Forscher Brian Leiter (2009:122-4) diskutiert einige von Wegners Erkenntnissen in Bezug auf Nietzsche.

[6] Nietzsche fordert zunächst eine Wende zur genauen psychologischen Beobachtung in Menschliches, Allzumenschliches, insbesondere in der Sequenz MA35-38. Er betrachtet psychologische Beobachtung als schwierige und zeitaufwendige »bescheidene Arbeit«, »so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen« – ein Thema welches er im Verlauf dieser Periode entwickelt, zum Beispiel im Vorwort von Morgenröthe. Nietzsche verbindet diesen Ansatz mit den französischen ›moralistischen‹ Autor*innen des 17. und 18. Jahrhunderts, die in dieser Periode einen großen Einfluss auf ihn hatten. In MA35 zitiert er La Rochefoucauld, dem er durch MA folgt, indem er verborgene egoistische Impulse hinter moralischen Masken aufdeckt; auch Montaigne und Pascal werden in den Freigeist-Büchern regelmäßig zitiert. Um mehr über Nietzsche und die Moralist*innen zu erfahren, siehe Pippin (2009). Nietzsche erweitert diese Botschaft mit dem Aufruf in Der Wanderer und sein Schatten (WS5, WS6, WS16) sich den »aller nächsten Dingen« zuzuwenden, die die psychologische Beobachtung, mit der Sorge um die Physiologie und alltägliche Fragen der Ernährung und des Klimas verbinden - ein Punkt den Nietzsche bis hin zur detaillierten physiologischen Selbstanalyse entwickelt, wenn er in Ecce Homo auf sein Leben zurückblickt. Trotzdem sollten wir in diesem Kontext Nietzsches Warnung in VM223 beachten: »Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort […]«.

[7] In einer unveröffentlichten Notiz schrieb er einige Jahre später: »Überhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen Gesetze zurückgeführt sind« (NF-1876, 23, 9). Dies bleibt in Morgenröthe im Wesentlichen seine Sichtweise. Triebe sind Bilder, Phantasien, »conventioneller Fiktionen« (JGB21, dort in einem anderen Kontext mit Bezug auf Ursachen), die wir zur Beschreibung unserer psychologischen Zustände und Muster verwenden können, während wir über die tatsächlichen ›physiologischen Prozesse‹ oder ›Gesetze‹, die sie hervorbringen, radikal unwissend bleiben.

[8] In diesem Punkt, inklusive der Betonung der ›Physiologie‹, ist Nietzsche stark beeinflusst von der Tradition des ›deutschen Materialismus‹ des 19. Jahrhunderts. Ein Schlüsseltext dieser Denklinie ist Friedrich Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart von 1866, den Nietzsche eifrig gelesen hat. Diese Idee des Materialismus ist ein wichtiges Thema in Morgenröthe und bleibt es im Laufe von Nietzsches Arbeit in der mittleren und späten Periode. Um nur einige Beispiele zu nennen: in FW39 verbindet er die Unterschiede im »empfinden und schmecken« mächtiger Individuen mit »Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirn, kurz in der Physis«. Im dritten Essay der Genealogie führt er das »Ressentiment« auf seine »physiologische Ursächlichkeit« zurück (GM3:15). In Götzen-Dämmerung versteht er »Mitgefühl« als einen Ausdruck der »physiologischen Überreizbarkeit« (GD-Streifzüge-37). In Ecce Homo studiert er im Detail die physiologischen Faktoren hinter seiner eigenen philosophischen Karriere, dabei bezieht er sich auf Faktoren wie »Ort«, »Klima« und »Ernährung« (EH-Klug-2).

[9] Warnung: Nietzsche ist nie jemand, der sich an der konsistenten Verwendung von Begriffe festhält. Ich werde konsequent das Wort ›Trieb‹ verwenden, aber in Nietzsches eigenen Texten sind die Dinge nie so einheitlich. In Morgenröthe und anderen Werken verwendet er ›Trieb‹, ›Instinkt‹, ›Begierde‹, ›Affekt‹, ›Wille‹, ›Antrieb‹ und weitere sich überschneidende Begriffe. Zum Beispiel scheint er ›Instinkt‹ und ›Trieb‹ oftmals Synonym zu verwenden; an anderer Stelle aber, scheint sich ›Instinkt‹ eher spezifisch auf die verkörperten und unbewussten Triebmuster zu beziehen.
In jüngster Zeit gibt es eine ganze Reihe von akademischen Diskussionen über Nietzsches Psychologie der Triebe. Es gibt zwei Schriftsteller, die ich als besonders hilfreich empfunden habe und die meine Ansichten beeinflusst haben. Einer ist Graham Parkes (1994), der in seinem Buch Composing the Soul die Entwicklung von Nietzsches psychologischem Denken in liebevoller Kleinarbeit beschreibt und sich dabei besonders darauf konzentriert, wie Nietzsche Bilder in seinen Untersuchungen der Psyche einsetzt. Der Andere ist John Richardson, dessen Analyse von Trieben als »characteristic activity patterns« in seinem Buch Nietzsche’s System (1996) nahe an meiner ist und mir geholfen hat mein Verständnis zu entwickeln. Sein späteres Buch Nietzsche’s New Darwinism (2006), welches auf Triebe als evolutionäre »units of selection« schaut, ist ebenfalls interessant, obwohl ich fundamentale Probleme mit seinem Versuch habe Nietzsches evolutionäres Denken mit orthodoxem ›Neo-Darwinismus‹ in Einklang zu bringen. Ein weiterer zeitgenössischer Schriftsteller, der interessante Dinge über Nietzsches Triebtheorie zu sagen hat, ist Paul Katsafanas (2012), obwohl ich mit vielen seiner Schlussfolgerungen nicht einverstanden bin.

[10] Ich werde versuchen, ein wenig mehr über den Aspekt des Begehrens in Bezug auf Nietzsches Triebe zu sagen. In M119 benutzt Nietzsche eine Reihe von Bildern: »ein Trieb […] wo er Befriedigung begehrt – oder Übung seiner Kraft, oder Entladung derselben oder Sättigung einer Leere – es ist Alles Bilderrede« Diese Bilder von Entladung, Hunger, Sättigung etc., kommen in Nietzsches Diskussion über Triebe und Motive immer wieder auf. Jenseits von Morgenröthe spielen sie eine Schlüsselrolle in der Genealogie, wo das Streben der Triebe und Instinkte ihre Energie zu ›entladen‹ oder ›abzulassen‹ (z.B. GM2.4, 2.5, 2.18, JGB13) und die Hindernisse, auf die sie dabei stoßen, zentral für die Dynamik der Transformation von Wertesystemen ist.
Obwohl Nietzsche manchmal ›Begierde‹ und ›Affekt‹ fast analog zu ›Trieb‹ zu verwenden scheint, können wir im Großen und Ganzen zwischen (a) einem Trieb und (b) einem Affekt oder Begehren als Element des gesamten Triebmusters unterscheiden. Der Nietzscheforscher Christopher Janaway (2009:55) fasst es folgendermaßen zusammen: »Ein Trieb ist eine relativ stabile Tendenz zu aktivem Verhalten irgendeiner Art, während ein Affekt, grob gesagt, das ist, wie es sich anfühlt, wenn ein Trieb in einem selbst aktiv ist.«
Aber der fragliche Affekt ist nicht nur irgendeine Art von affektivem Zustand; es handelt sich zumindest teilweise um ein Gefühl des Begehrens. Das heißt, es geht um eine besondere Art der gefühlten Erfahrung, nämlich zum Handeln veranlasst oder bewegt zu werden – um an Spinozas klassische Definition der Begierde zu erinnern: »Die Begierde ist ein Verlangen mit dem Bewußtsein desselben« (Ethik III.9, Anm).
Und doch, wie ich oben argumentiert habe, kann es sein, dass einige Triebe überhaupt keine Erfahrungen oder Gefühle beinhalten. Wenn ich also sage, dass zu einem Trieb das Begehren gehört, dann verstehe ich unter Begehren im weitesten Sinne auch Begehren, die vielleicht gar nicht gefühlt werden und deren Veranlagungen wir uns vielleicht gar nicht bewusst sind.
Ich werde hier nicht näher auf die Philosophie und Psychologie des Begehrens eingehen, möchte aber den folgenden Vorschlag machen. Es mag sein, dass der erste affektive Begriff des Begehrens in gewisser Weise grundlegender und unmittelbarer ist; vielleicht entwickeln wir eine Vorstellung von Begehren als Veranlagung typischerweise erst, nachdem wir ein Verständnis dafür entwickelt haben, wie es ist ein Begehren zu empfinden. Aber dann können wir davon ausgehend abstrahieren oder eine Analogie dazu herstellen, um auch über Begehren nachzudenken, die wir vielleicht niemals fühlen werden. Möglicherweise verfolgen wir denselben Gedanken auch in Bezug auf Werte und auch in Bezug auf Trieb(muster) als Ganzes: Vielleicht spielen unsere ersten persönlichen Erfahrungen von Bewertung und anderen Triebelementen eine wichtige Rolle dabei, dass wir ein Verständnis für die Idee der Bewertung und der Triebe selbst entwickeln können; wenn wir diese Konzepte aber einmal entwickelt haben, sind wir in der Lage über völlig unbewusste Werte und Triebe nachzudenken, deren Aktivität in unserem eigenen oder in anderen Körpern nur abgeleitet werden kann.

[11] Die fundierteste Arbeit zur Beziehung zwischen Nietzsche und Freud, sowie ihren Ideen von Trieben und Instinkten ist wahrscheinlich von Assoun (2000; siehe insbesondere 51–95). Womit ich nicht sagen möchte, dass ich seinem Ansatz zustimme: Assoun freudanisiert Nietzsche stark indem er dessen ›Willen zur Macht‹, ein bisschen wie einen allumfassenden freudianischen Grundtrieb wie die ›Libido‹ liest.

[12] Nietzsches Verständnis von Aktion ist auch in einem zweiten Sinne weitgefasst. Im Gegensatz zu einem großen Teil der modernen Philosophie denkt er nicht, dass eine ›Aktion‹ notwendigerweise in irgendeinem Sinne intentional sein muss. Eine Aktion ist die Bewegung eines Körpers, egal ob sie äußerlich oder innerlich ist, ob sie einem bewussten Willensakt, dem ›Instincte‹, einer Gewohnheit, einer motorischen Reaktion etc. entspringt. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem »Kampf der Motive« (M129) macht jede Unterscheidung zwischen einem intentionalen Akt und einer ungewollten Bewegung haltlos. Wenn ich niemals identifizieren kann »welches Motiv« (oder welche Kombination von Motiven) eine Handlung hervorgerufen hat, dann kann ich niemals unterscheiden, ob eine Aktion das Resultat einer z.B. bewusst geformten Intention oder etwas unbewusst »körperlich[em]« ist.
Für eine andere Sicht auf die nietzscheanische Unterscheidung zwischen einem ausgeprägten Verständnis von Aktion und allein körperlichen Handlungen siehe Ken Gemes (2009). Bei Gemes lesen wir: »[D]ie meisten Menschen sind, da sie lediglich Teile der Herde sind, bloß passive Leiter für zahlreiche unvereinbare um sie herum existieren und operierende Kräfte«. Solche Individuen sind nicht ›handelnd‹ in einem engeren Sinne. Es gibt jedoch einige Individuen, diejenigen die Nietzsche in GM Essay 2 »souveraine Individu[en]« nennt, die ihre Triebe in jener Hinsicht geordnet haben: »durch die Durchsetzung ihres starken Willens eine Form des freien Willens und der echten Handlungsfähigkeit ausüben« (ebd. Gemes). Ich werde mich in Kapitel 5 eingehender mit souveränen Individuen beschäftigen.

[13] Nietzsche beschreibt sein Projekt in seinen späten Büchern von 1888 als »Umwertung aller Werte«. Der Antichrist (A) ist die erste Ausgabe einer Arbeit die mit »Umwertung aller Werte« betitelt ist; im Verlauf von Ecce Homo (EH) benutzt Nietzsche den Begriff um sein Lebensprojekt zu beschreiben. Die Idee war zumindest in einer rohen Form schon in der Genealogie vorhanden. Im Vorwort dieses Buches schreibt Nietzsche: »Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben […]« (GM-Vorrede-6).

[14] Dies ist Nietzsches Kritik an den Moraltheoretiker*innen, die er die ›englischen Genealogen‹ nennt. Wer genau diese Charaktere sind ist umstritten, sicherlich gehört aber sein ehemaliger Freund Paul Ree (eigentlich ein Deutscher) dazu, der sich auf Darwin bezog um ein Buch über den Ursprung der Moral zu schreiben, welches zunächst einen großen Einfluss auf Nietzsches eigene Ansichten hatte. Jedenfalls ist der Kernpunkt seiner Kritik, dass sie schlechte Theoretiker*innen sind. Obwohl sie ganz okay beginnen, in dem sie einen historischen Ansatz bezüglich der Entwicklung von Werten zu wählen versuchen, wird dieser seltsam schief indem sie unterstellen, dass andere (historische) Menschen »alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie« (GM-I-2) teilen, die typischen Werte und moralischen Haltungen der viktorianischen Gentleman in der ›nation of shopkeepers‹ [etwa: Nation von Ladenbesitzern, abfällige Äußerung über Briten (wohl aus der Zeit der französischen Revolution)]. In der Vermutung, dass andere dieselben Werte teilen wie sie, fehlt ihnen der »historische Geist« (ebd).

[15] Maurice Merleau-Pontys The Phenomenology of Perception (1945) [Phänomenologie der Wahrnehmung (1966/1974)] ist einer der grundlegenden Texte der phänomenologischen Schule der Philosophie, andere wichtige Autoren waren Edmund Husserl und Martin Heidegger. Merleau-Pontys Ideen der Wahrnehmung hatten auch auf jüngere Ansätze der Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes großen Einfluss; Ideen der ›Verinnerlichung‹ und der ›Enaktivität‹, die ziemlich nietzscheanische Ideen davon erforschen wie Werturteile (und andere Bewertungen) in körperliche Handlungen eingebettet sind. Einige moderne Klassiker in diesem Feld sind: Andy Clarks Being There (1997), und Horst Hendriks-Jansens Catching Ourselves in the Act: Situated Activity, Interactive Emergence, Evolution, and Human Thought (1996).

[16] Jakob von Uexküll: The Theory of Meaning (1985), siehe auch A Stroll Through the Worlds of Animals and Men (1957).

[17] Für eine zeitgenössische Diskussion über das ›Sinn machen‹ siehe auch Evan Thompsons Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind (2007) und John Protevis Political Affect (2009), welches eine philosophische Auseinandersetzung in Bezug auf diese Ideen zu Nietzsche und auch Spinoza sucht (siehe Seite 16–18).

[18] In dieser Anmerkung werde ich diesen Punkt, zu Wert und Natur, etwas eingehender verteidigen, da er wichtig ist und in den zahlreichen Kommentaren Nietzsches nicht immer ganz klar wird.
Zu Beginn ein vollständiges Zitat aus FW301 in dem Nietzsche einen Wert als »geschenkt« betrachtet: »Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt« (FW301). Es gibt ein hierzu in Beziehung stehendes Zitat in Also Sprach Zarathustra (Von tausend und Einem Ziele): »Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses. Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es ihnen als Stimme vom Himmel. Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten […]«. Zu beachten auch diese unveröffentlichte Notiz: »bei aller Werthschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspective […] wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in Einem Menschen« (NF-1884, 26).
Erstens, das obige Zitat aus Zarathustra ausgenommen, denkt Nietzsche nicht – oder zumindest nicht immer – das Bewerten etwas dem Menschen einzigartiges ist. Dies wird besonders in späteren Texten deutlich, in denen er wiederholt den fundamental bewertenden ›Willen zur Macht‹ als das Prinzip allen Lebens – oder sogar der nicht lebendigen Materie bekräftigt. In Hinblick auf Werte wird dieser Punkt in den unveröffentlichten Notizen deutlicher: so heißt es z.B. »Werthschätzungen stecken in allen Funktionen des organischen Wesens« (NF-1884, 26, 72; zitiert in Richardson 2004:72); in NF-1885, 2, 95 z.B. schreibt Nietzsche Ameisen und anderen Insekten (in der Farbwahrnehmung enthaltene) Werturteile zu; siehe auch NF-1888, 14, eine Notiz in der von einer »scheinbare[n] Welt d.h. eine Welt […] ausgewählt nach Werthen d.h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht-Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal« die Rede ist [weiter heißt es in dieser Notiz sehr deutlich: »Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete!«].
So wie ich dies lese, ist der Schlüsselaspekt, dass es keine Werte ohne ›Wertende‹ gibt – diese Wertenden jedoch keine Menschen sein müssen.
Was meint Nietzsche dann aber mit der Wertlosigkeit der ›Natur‹? Dazu ein kleiner Vorschlag. In frühen Texten, insbesondere dem Essay Schopenhauer als Erzieher (SE), personifiziert Nietzsche die Natur als einen »Künstler« mit eigenen Werten, Zielen und Mitteln. In seinen ›Freigeistbüchern‹ macht er jedoch, mit seinem Sprung weg von der ›metaphysischen Philosophie‹, einen entscheidenden Bruch mit dieser Herangehensweise. Nun »entgöttlicht« (FW109) er die Natur. Ich denke wir müssen FW301 in diesem Kontext lesen: Es ist wesentlich mit der »mystischen« (oder »pneumatisch[en]« – siehe MA8) Idee zu brechen, dass die Natur »als ein ganzes« eine Reihe von Mitteln, Werten und Bedeutungen - oder sogar »Gesetzen« hat (siehe VM9, eine Passage in der Nietzsche den »Aberglauben« der »Naturgesetze« zurückweist). Das heißt jedoch nicht, dass wir die Natur nicht als etwas betrachten könnten, das »organische« und »materialle« Werturteile aus vielen partiellen Perspektiven beinhaltet. Kurz: Es gibt nicht die eine wertende Haltung in der ›Natur‹ als ein Ganzes, wie eine Art metaphysische Vertreter*in; es gibt jedoch viele verschiedene wertende Haltungen in der menschlichen und nicht-menschlichen ›Natur‹.
Nicht alle Nietzscheleser*innen stimmen mit mir überein. Auch hier ist meine Haltung nahe an der von John Richardson, der schreibt: Nietzsche »entfernt die Rolle des Wertens von einem zentralen Ego-Wille-Geist und verstreut sie über eine Vielzahl von Trieben«; seine detailliertere Auseinandersetzung hiermit ist, für diejenigen die es Interessiert, Wert gelesen zu werden. Auf der anderen Seite versucht Peter Poellner (2009) Nietzsches Vorstellung der Wertschätzung innerhalb des Mainstreams der gegenwärtigen analytischen Philosophie zu belassen. Er interpretiert Nietzsche so, dass er eine engere Vorstellung von Wert hat: Ein Wert, im Kontrast zu »schierem Begehren«, müsse durch den Besitz »einer Art Objektivität« »verankert« sein (2009:157-8). Poellner argumentiert dann, dass nicht-reflektierende affektive Haltungen »minimal objektive« Wertgrundlagen liefern können: »eine Beschränkung der Impulse, die diese für das Subjekt und andere als Präferenzen verständlich machen« (ibd:158). Dies impliziert, neben anderen Dingen, (a) dass es keine vollkommen unbewussten Bewertungen geben kann und (b) Bewertungen eher etwas für (sprich, aus der Perspektive eines) Subjekte als für Triebe sind.
Beide dieser Punkte stehen im Widerspruch mit meiner Lesart von Nietzsche, ich denke es gibt zahllose Referenzen, in denen Nietzsche Werturteile unterbewussten Trieben und solchen Körpern zuschreibt, die nicht als bewusste Subjekte geordnet sind (siehe Kapitel 5 für eine Diskussion über Subjektivität). Möglicherweise verstand Nietzsche Werte manchmal in der etwas enger gefassten, ihm von Poellner zugeschriebenen Art. Ich denke jedoch nicht, dass dies die einzige – und sicherlich nicht die Interessanteste – Art ist wie er Werturteile verstand.

[19] Oder zumindest die meiste Zeit nicht: Es gibt Stellen in denen Nietzsche den ›Willen zur Macht‹ als eine Art fundamentalen Trieb ähnlichem zu Freuds Libido betrachtet. Ich denke aber, dass dies nicht seine hauptsächliche und sicherlich nicht seine wichtigste oder hilfreichste Art ist diesen zu denken.

[20] In der Zusammenfassung zu seinem Buch Nietzsche und die Philosophie schreibt Gilles Deleuze in einer berühmt gewordenen polemischen Aussage »Zwischen Hegel und Nietzsche ist jeder Kompromiss ausgeschlossen« (1991:210) – wir könnten auch sagen, zwischen nietzscheanischer Genealogie und hegelianischer (oder marxistischer) Dialektik. Zumindest teilweise wird was er meint, ziemlich geschickt von Raymond Geuss zusammengefasst, in Referenz auf die Kontingenz der Begegnungen in Nietzsches Vorstellung von Geschichte schreibt er: »Ein Prozess kann als ›dialektisch‹ beschrieben werden, wenn er sich endogen [inneren Ursachen entsprechen] einer inneren Logik gemäß entfaltet. Für Nietzsche kommen die ›Willen‹, die sich um eine Lebensform streiten, charakteristischerweise von außerhalb dieser Form, und ihre Begegnung ist insofern kontingent, als kein Ergebnis davon von Natur aus ›logischer‹ ist als irgendein anderes« (Geuss 2001: 333, fn).

[21] In Die Fröhliche Wissenschaft ist Nietzsches wichtigstes Thema die Frage, wie [Denkens-, Verhaltens- etc.] Muster in die grundlegenden geteilten psychologischen Strukturen der menschlichen ›Spezies‹ als Ganzes einverleibt wurden. In den vorhergehenden Büchern Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröthe ist er darauf fokussiert, wie dies auf einem individuellen psychologischen Level passiert. Das grundlegende Muster jedoch – eine anfänglich oberflächliche ›Bewertung‹ wird in die körperliche ›Natur‹ eingearbeitet – bleibt das Selbe.

[22] Was Nietzsche ›Züchtung‹ nennt, meint nicht notwendigerweise eine genetische oder biologische künstliche Selektion. Dies ist aber sicherlich ein Strang in seinem Denken – prominent in Passagen wie JGB213 oder JGB264 in denen Züchtung klar mit einer Vererbung im »Blut« verbunden ist. Richardson (2004:190-200) liefert eine detaillierte Diskussion zu Züchtung und Eugenik bei Nietzsche. [Die Frage »War Nietzsche ein philosophischer Wegbereiter des Faschismus?« versucht Bernhard H. F. Taureck in seinem Buch Nietzsche und der Faschismus zu beantworten].

[23] Matthew Sotolskys kurzes Buch mit dem einfachen Titel Mimesis, ist eine gute Einführung in die philosophische Idee der Mimesis von Plato bis Girard. René Girard ist wahrscheinlich der bekannteste gegenwärtige Philosoph der ›Mimesis‹, zumindest in der ›kontinentalen‹ Szene. (Die feministische Philosophin Luce Irigarary benutzt den Begriff ›Mimesis‹ auch, jedoch auf eine ziemlich andere Art.) Um es sehr kurzzufassen, nietzscheanische mimetische Einverleibung verläuft Parallel zum girardianischen mimetischen Begehren, insofern als dass beide den Standpunkt vertreten, dass Begehren direkt von Anderen durch Imitation übernommen wird, und das dort, wo diese Imitation nicht bewusst oder intentional ist, sie einer tieferliegenden Veranlagung oder Disposition entspringt, die grundlegend und automatisch in allen (oder fast allen) Menschen ist. Girard hat weiterführende Thesen, die Nietzsche nicht mit ihm teilt (und ich ebenso wenig), darüber, was er die ›mimetische Rivalität‹ nennt: Sprich, mimetisches Begehren führt notwendigerweise zu Konflikten um die begrenzt verfügbaren Objekte der Begierde.
Eine weitere zeitgenössische Autorin, die den Begriff ›Mimese‹ in einer ähnlichen Weise verwendet, wenn auch aus einer sehr verschiedenen Tradition heraus, ist die amerikanische Entwicklungspsychologin Katherine Nelson (2007). Ich beziehe mich später in diesem Kapitel auf ihre Erklärung der ›mimetischen Kognition‹. Nelson verwendet ›Mimesis‹ in Ableitung von Merlin Donald (1991), der eine einflussreiche Hypothese über die phylogenetische Entwicklung des menschlichen Gehirns vertritt. Er sagt, dass frühe Menschen, noch vor der Entwicklung der Sprache, eine ›mimetische Kultur‹ auf der Basis von Gesten und Performances hatten.
Auch wenn Nelson und Girard in recht unterschiedlichen Traditionen arbeiten, können wir ihre zwei Verwendungen des Begriff Mimesis verbinden. Wie Girards Mitarbeiter Jean-Michel Oughourlian es formuliert, bezeichnet Mimesis eine »fundamentale Kraft« (2011:42) oder tieferliegende psychologische Veranlagung; für Nelson bezeichnet Mimesis grundlegende Charakteristika besonderer, nicht-symbolischer psychologischer Prozesse. Mimesis bezieht sich also mehr auf die Veranlagung die bestimmten Akten der Imitation zugrunde liegt, als auf die imitiativen Akte selbst; auch sind nicht alle Fälle von Imitation mimetisch.

[24] Dieser Punkt wird von Nidesh Lawtoo (2008) diskutiert, der einige andere interessante Punkte von Nietzsches Ideen zur ›Mimesis‹ betrachtet, auf die ich hier nicht eingehe: Dionysische ›Depersonalisierung‹, epidemische und dramatische Mimesis in Nietzsches erstem Buch Geburt der Tragödie (GT); und im Weiteren Nietzsches Kritik an Wagners ›Mimomania‹ in Der Fall Wagner. In diesem Essay macht Lawtoo außerdem wichtige Verbindungen zwischen Nietzsche und den Theorien der Massen [crowds and masses] bei Gabriel Tarde, Gustav LeBon und anderen französischen ›Psycho-Soziolog*innen‹ am Ende des 19. Jahrhunderts.

[25] Nicht alle Forscher*innen akzeptieren diese Beobachtungen als Beweis für neugeborene Imitation – siehe z.B. Cecilia Hayes (2005) alternativen assoziationistischen Bericht zur Entwicklung kleinkindlicher Imitation. Vieles von dieser Recherche und den konkurrierenden Interpretationen ist in den beiden Ausgaben der Sammlung Perspectives on Imitation enthalten, die von Susan Hurley und Nick Chater herausgegeben wurden. Das Vorwort der Herausgeber*innen verschafft einen ziemlich umfassenden Überblick der Ausgabe.

[26] Eigentlich ist die vielleicht früheste überlieferte Diskussion dieser Idee in Aristoteles Nikomachische Ethik zu finden. Es gibt auch jüngere Variationen dieser Thematik, z.B. in Erving Goffmans Arbeit zu dem was er in The Presentation of Self in Everyday Life ›Dramaturgie‹ nennt, und Judith Butlers Theorie der Performativität in Gender Trouble (1990) aus dem ich den Begriff ›Performativität‹ gestohlen habe.

[27] Das Skript-Rahmenwerk ergibt sich aus dem breiteren Konzept eines kognitiven Schemas, das größtenteils von dem Psychologen Frederic Bartlett (1932) in seiner Arbeit zum Gedächtnis entwickelt wurde. Bartlett argumentiert, dass Leute erkennen und kategorisieren um Figuren, Bilder und Erzählungen zu verstehen und das sie dies tun indem sie Elemente nach schematischen Mustern sortieren. Ein Skript, manchmal auch ›Ereignisschema‹ genannt, ist ein spezielles Schema für soziale Interaktionen. Der Begriff wurde auf diese Weise zuerst von den Theoretikern Roger Schank und Robert Abelson (1977) verwendet, die sich mit künstlicher Intelligenz befassen, bevor er dann in der Kinder- und Entwicklungspsychologie von Katherine Nelson und anderen – siehe Nelson and Gruendel (Edt.) (1986), Nelson (2007) – und Theoretiker*innen der Sozialkognition wie Susan Fiske und Shelley Taylor (1991:119) verwendet wurde.

[28] An dieser Stelle eine etwas detailliertere Zusammenfassung von Nelsons Theorie. Seit Piaget, der Urvater der Kinderpsychologie, haben Entwicklungspsycholog*innen eifrig daran gearbeitet verschieden ›Stadien‹ der kindlichen Entwicklung zu identifizieren. Nelson hat eine Art Stufentheorie entwickelt – sie spricht von sechs ›Leveln‹ von Prozessen, in denen Kinder sich typischerweise entwickeln würden. Wie auch immer, anders als Piaget, (und mehr auf der Spur des anderen Urvaters der Entwicklungspsychologie, dem sowietischen Psychologen Lev Vygotsky) arbeitet Nelson eifrig heraus: »es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass jemand sich von einem zum nächsten Level entwickelt« (2007:26). Denn »vielmehr als das sie eine klare Sequenz formen, [scheinen] sie sich mehr oder weniger gleichzeitig zu entwickeln« (ebd:50). Prozesse auf ›niedrigerem‹ Level hören nicht auf aktiv zu sein, während neue Ebenen hinzukommen.
Um dies etwas klarer zu machen, werde ich einen Schritt in Nelsons Erzählung genauer betrachten. Auch wenn Babys von Beginn an imitieren, beginnen imitative Aktivitäten etwas später (üblicherweise in der zweiten Hälfte des ersten Jahres), also in dem Moment, in dem Kleinkinder die notwendigen Fähigkeiten auf der Ebene von Motorik und Wahrnehmung entwickelt haben um andere Menschen um sie herum zu erkennen und Aufmerksamkeit mit anderen zu teilen, zu beobachten, physische Bewegungen zu kopieren und kommunikative Gesten und Geschrei zu benutzen. Nelson nutzt den Begriff ›mimetische Kognition‹ um die charakteristischen prä-linguistischen Prozesse dieses Levels (›Level 2‹) zu beschreiben.
Sprache und ihre Internalisierung mit der sich linguistisches Bewusstsein formt, initiiert dann eine neue Ebene (›Level 3‹) kognitiver Prozesse die durch symbolische Repräsentation charakterisiert wird. Das Kind benutzt und bewahrt noch immer viele der gleichen Ereignisskripte und fügt ihnen weitere hinzu. Diese Skripte jedoch, werden jetzt, so wie sie waren, vertieft: Weitere Dimensionen werden hinzugefügt oder überlagern existierende Skripte. Das Zubettgeh-Skript beinhaltet noch immer Muster verkörperlichter Handlungen, Gesten und Affekte. Dies kann nun aber auch symbolisch konzeptualisiert werden, mit an Wort-Markierungen geknüpften spezifischen Handlungen oder Sub-Ereignissen in den Sequenzen und (später) an atomisierte Objekte und Rollen, die vom jeweiligen Kontext abstrahiert sind.
Ein weiterführender Gedanke an dieser Stelle ist, dass die Vertiefung oder Überlagerung von Skripten oft neue Unterschiede beinhalten kann. Gemäß Nelson machen Level 2 Skripte keinen Unterschied zwischen ›realen‹ oder ›imaginären‹ Handlungen, oder zwischen Handlungen die man selber durchführt oder bei anderen wahrnimmt. Ein hölzernes Spielzeugauto beispielsweise, ist ein genauso ›reales‹ Auto wie das Große metallene, das tatsächlich Leute befördert. Diese Wahrnehmung/Handlung, Selbst/Andere, real/vorgeblich Unterscheidung kommt erst mit dem Symbolismus auf Level 3. Spätere Ebenen beinhalten, neben anderen Dingen, die Entwicklung eines Sinns zeitlicher Bewegung über einzelne Ereignisse hinaus, sowie eines fortbestehenden Selbst (Nelson 2007: Kapitel 7).
In dieser Erzählung sind unbewusst mimetische und performative Prozesse, wie Nelson es nennt, ›charakteristisch‹ für ›Level 2‹. Das bedeutet nicht, dass sie nur in diesem Alter funktionieren würden, sondern das wir sie an diesem Punkt besonders stark und klar sehen können, bevor weitere Prozesse sie überlagern und mit ihnen interagieren. Mimetischer Transfer erscheint zum Beispiel an diesem Punkt als eine besonders freie Bewegung von Trieben aus der sozialen in individuelle Welten zu sein. Späteres ›höheres‹ linguistisches Bewusstsein beinhaltende Prozesse scheinen Mimesis zumindest partiell zu blockieren, sie können also mit ihr interagieren um neue Formen der Imitation zu kreieren, die dann u.a. Sprache und Denken beinhalten.

[29] Der Herdeninstinkt [bei Nietzsche ›Heerdeninstinct‹] als solcher wird in Die Fröhliche Wissenschaft zum Thema (siehe FW1, 116, 117), auch wenn die ihm zugrundeliegenden Punkte, also Konformität, Tradition und die ›Sittlichkeit der Sitte‹, schon in Morgenröthe vorliegen. Die Entwicklung der Idee der menschlichen Herden setzt sich dann im Verlauf von Nietzsches Werk fort. In späteren Texten, wie Jenseits von Gut und Böse, beschäftigt er sich mehr mit dem Unterschied zwischen der Herde und der herrschenden Klasse: in JGB199 z.B. ist der Herdeninstinkt ein Instinkt des Gehorsams »als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: ›du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen‹«. Wegen dieses Instinktes »nimmt [die Herde] an […] was [ihr] nur von irgend welchen Befehlenden […] in’s Ohr gerufen wird« Dieses ›du sollst‹ steht zweifellos im Bezug zum traditionellen Imperativ der Sittlichkeit der Sitte [M9], es gibt jedoch einen Unterschied: In Morgenröthe gehorchen die Leute mehr ›der Gemeinde‹ und ihren Traditionen im Ganzen, als einem ›Befehlenden‹ oder den Eliten.
Kurz gesagt: Ich denke Nietzsches Erzählung geht ungefähr wie folgt: die ›primitive‹ Herdengesellschaft, wie sie in Morgenröthe diskutiert wird, ist konformistisch aber grundsätzlich egalitär; dann, nach der Eroberung durch den Staat (siehe Kapitel 6) und der Geburt der Klassengesellschaft, setzt sich der Herdeninstinkt fort, beginnt jedoch eine neue Rolle zu übernehmen, er wird zu einer Stütze für neue Formen der hierarchischen Gesellschaftsordnung, einem Schlüsselelement der ›Logik der Unterwerfung‹.

[30] Eine kurze Notiz zu einigen der Einflüsse Nietzsches auf die Analyse von Moral sowie dazu, wie sie mit den Mainstream-Traditionen der Moralphilosophie vereinbar sind.
Zuerst einmal ist, im Laufe von Nietzsches Werk, der grundlegende Referenzpunkt Immanuel Kant, der Gigant der modernen europäischen Philosophie. Nietzsches Analyse ist eine schonungslose Kritik an Kants Moraltheorie. Nietzsches Erzählung des Sittengesetzes in M9 – »Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt.« – folgt derjenigen Kants sowohl den kategorischen Imperativ, als auch die motivierenden Kräfte des ›Aberglaubens‹ an das Sittengesetz betreffend. Die andere Person die offensichtlich einen großen Einfluss auf die hier diskutierte Passage hat, ist der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. Die Idee, dass Angst wesentlich dazu beiträgt, Menschen dazu zu motivierten dem Sittengesetz zu gehorchen, kommt direkt von ihm. Siehe Maudemarie Clark und Brian Leiter (1997) für eine ausführliche Diskussion darüber, wie Nietzsches Theorie von Moral und Tradition sich auf diese beide Autoren bezieht.
Neben Schopenhauer gibt es eine wichtige Denkrichtung die besagt, dass Moral untrennbar mit bestimmten Gefühlen, Affekten oder ›Sensualismus‹ verbunden ist. Die wahrscheinlich bekanntesten ›Sentimentalisten‹ sind die liberalen britischen Denker David Hume und Adam Smith, sowie ihre Nachfolger*innen – wie Charles Darwin – nach dessen These ist Moral in den Empfindungen von ›Sympathie‹ oder ›Empathie‹ mit anderen verwurzelt. Diese Linie ist via Darwin auch im Werk von Nietzsches ehemaligem Freund Paul Ree präsent, welcher einen großen Einfluss auf Nietzsches frühere Ansichten in Menschliches, Allzumenschliches hatte, mit dem Nietzsche jedoch in Morgenröthe bricht und ihn implizit kritisiert. Einige jüngere Moraltheoretiker*innen legen ihren Fokus stattdessen auf ›reaktive Emotionen‹ wie Schuld, Scham etc. (z.B.: Gibbard (1999)). Der Psychologe Paul Rozin (1999) erforscht die Rolle von Ekel in Moral und der ›Moralisierung‹ sozialer Praktiken. Sonderbarerweise jedoch scheint Nietzsches Betonung der Angst, kaum von weiteren Moraltheoretiker*innen aufgegriffen worden zu sein.

[31] Siehe auch M23: »weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war«. Und M5: »Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr beständige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Göttern und vor unseren Träumen zu haben brauchen«. In Morgenröthe scheint die materielle Bestrafung von Individuen ein Ableger der primären Angst vor übernatürlicher kollektiver Bestrafung zu sein: Die Gemeinde: »kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafür nehmen, dass durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner That, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben«. Diese abergläubische Ängstlichkeit kann vielleicht ein Symptom der menschlichen Schwäche im Angesicht einer tödlichen Welt sein; ist jedoch auch eine Konsequenz der frühen menschlichen Neigung in alles einen ›Willen‹ hineinzulesen, so »haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet« (M17, sowie M23).

[32] Vielleicht nicht die gesamten, zumindest aber ein großer Teil von Nietzsches Spekulationen über ›prähistorisches‹ menschliches Leben sind totaler Quatsch. Siehe hierzu zum Beispiel David Graeber (2011) für eine detaillierte anthropologische und historische Studie, die Nietzsches Ansichten über frühe Schuldinstitutionen in der Genealogie (GM I-8) ziemlich gründlich verreißt.

[33] Der Begriff ›Norm‹ ist weitgefasst, divers und Gegenstand zahlreicher Debatten. Philosoph*innen diskutierten ästhetische Normen, linguistische Normen, mathematische Normen, moralische Normen, persönliche Normen etc. Ich spreche hier von dem, was man als ›soziale Normen‹ bezeichnen könnte, aber diese können durchaus andere Kategorien einschließen oder sich mit anderen überschneiden. Meine Definition (sozialer) Normen – wie (i) normal oder erwartbar innerhalb einer Gruppe; (ii) unterstützt von einem Sinn für ›Normativität‹ oder ›moralische Pflicht‹; und für üblich verstärkt durch soziale Sanktionen – ist, wie ich denke, eine ziemlich standardmäßige Zusammenfassung, wenngleich es in verschiedenen Erzählungen viele Variationen gibt. Eine klassische frühe Diskussion sozialer Normen finden wir bei Max Weber (2002 [1922]), einem der Gründerväter der Soziologie – obwohl er tatsächlich den Begriff ›Konvention‹ verwendet. Weber macht außerdem eine Unterscheidung, der ich nicht folge, zwischen Normen/Konvention, die üblicherweise von Gruppenmitgliedern und ›Gesetzen‹, die von spezialisierten Organisationen durchgesetzt werden. Weitere zeitgenössische akademische Theorie: Die editierte Kollektion von Michael Hechter und Karl-Dieterr Opp (2001) untersucht einige gegenwärtige soziologische Ansichten zu Normen. Christina Bicchieri (2005) ist eine, aus einer analytischen Tradition kommende, führende Philosophin, die zu Normen arbeitet, sie macht eine Verbindung zwischen Normen und Skripten. Kristen Andrews (2012) ist interessant zu lesen, wenn es um gegenwärtigen Forschung unter Kleinkindern und nicht-menschlichen Primaten geht.

[34] Sanktionierende Praktiken beziehen möglicherweise auch noch andere Ebenen mit ein. Denken wir zum Beispiel an eine Norm, die Leuten eine bestimmte Art zu handeln in Abhängigkeit von Gender, Race, Klasse, Eigentum etc. vorschreibt. Wenn Leute diese Norm verletzen, werden sie vielleicht von anderen bestraft; durch Meidung, Gespött, Drohungen, Schläge, das Rufen der Bullen etc. Solche sanktionierenden Praktiken können wiederum selber Normen sein: Das heißt, es wird erwartet und ist auf gewisse Weise obligatorisch, Ablehnung bei unangebrachtem Verhalten zu zeigen und Nichtbefolgung dessen kann dann wiederum bestraft werden. Wir können dies als ›zweite Ordnung‹ von Normen bezeichnen – der evolutionäre Spieletheoretiker Robert Axelrod (1986) nennt sie ›Metanormen‹. Es kann auch eine ›dritte Ordnung‹ von Normen darüber geben, wie auf diejenigen reagiert werden soll, die gegen die Normen zweiter Ordnung verstoßen … und so weiter.
Ein großer Unterschied zwischen Nietzsche und vielen liberalen Normtheoretiker*innen wie Axelrod ist folgender: Wo Autoren wie Axelrod es als schwierig oder ›kostspielig‹ betrachten, Sanktionen zu vollstrecken, glaubt Nietzsche, dass Menschen es typischerweise genießen Andere zu bestrafen (und allgemeiner, zu verletzen). Es ist deshalb sehr einfach, im Bilde Nietzsches, solche Bestrafungs-Meta-Normen anzufangen und fortzusetzen. Siehe GM-II-6: »in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von ›Schulden‹ sein? Insofern Leidenmachen im höchsten Grade wohl that …«. Siehe auch: M15, M18, M30.

[35] Der nützliche Begriff des ›Idealtypus‹ wurde von Max Weber (1997) eingeführt. Bei Manuel DeLanda (2006:30) finden wir eine Interessante Diskussion, die sehr gut zu Nietzsches philosophischen Ansichten passt, er argumentiert, dass Webers Konzept von essentialistischen Konnotationen getrennt werden kann.

[36] Ich denke nicht, das Nietzsche denkt, dass bewusste Überlegungen und Entscheidungen immer epiphänomenal sind: Sprich, keinen wirklichen kausalen Effekt auf Handlungen haben. Sie können wirklich einen Unterschied ausmachen – nur eben nicht einmal annähernd so viel wie uns beigebracht wurde zu denken. Im »Kampf der Motive« diskutiert in M129, ist bewusste Überlegung nur »ein Motiv« unter anderen und andere, nicht-bewusste Kräfte, können dabei überwiegen: Es ist aber zumindest ein Motiv und kann sich vielleicht manchmal durchsetzen.
Was für Nietzsche epiphänomenal ist, ist so denke ich, ›der Wille‹ - oder, genauer, des bewusste ›fühlen eines Willens‹. Brian Leiter (2002, 2009) diskutiert dieses Problem eingehend. Leiter hebt Nietzsches Behauptung hervor, die insbesondere in JGB19 und GD Die vier grossen Irrthümer aufgestellt wurde: »Die Phänomenologie des Wollens führt uns in Bezug auf die Ursache unserer Handlungen systematisch in die Irre« (2009:122): Erfahrungen oder Empfindungen des scheinbaren ›Wollens‹ einer Handlung (soweit es solche Erfahrungen gibt), weisen in Wirklichkeit auf kein Ereignis oder Verfahren hin, das eine Handlung verursacht. Wie Leiter schreibt, gibt es substantielle Beweise aus der empirischen Psychologie und den Neurowissenschaften, wie von Wegner (2002) untersucht, die Nietzsches Standpunkt untermauern. Die Art der kausal relevanten bewussten Ereignisse jedoch, über die ich gerade spreche z.B. reflektierende Intentionsaussagen – sind etwas gänzlich anderes. Sie müssen keine Erfahrung des Wollens einschließen; oder, wenn sie es tun, beeinflussen sie das Handeln dadurch nicht.
Auch Katsafanas (2005) und Riccardi (2015) machen weiterführende Punkte im Bezug darauf, wie bewusste Zustände innerhalb von Nietzsches Triebansatz einen kausalen Einfluss haben können, wenngleich meine Erzählung sich von beiden unterscheidet.

[37] Es gibt ein besonders deutliches Statement zu dieser Idee in einer späteren Notiz von 1888: »Die Vielheit und Disgregation der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultirt als ›schwacher Wille‹; die Coordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen resultirt als ›starker Wille‹; – im ersteren Falle ist es das Oscilliren und der Mangel an Schwergewicht; im letzteren die Präcision und Klarheit der Richtung«. (NF-1888, 14, 219)

[38] Wie aber so oft in Nietzsches Werk, gibt es multiple Denklinien darüber, wie die Sklav*innen sich in der Revolte letztlich durchsetzen. Hier einige weiterführende Erklärungen, die Nietzsche in späteren unveröffentlichten Notizen in Bedacht zieht: »Die Werthe der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten« (NF-1888, 15, 79); »die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender, – boshafter« (NF-1888, 14, 182) (zu diesem Punkt siehe: die Kreativität der Schwachen, Kapitel 7); hinzu kommt: »die starken Rassen [sic!] dezimiren sich gegenseitig« (ebd.) was einen Zyklus von Perioden »starker« und »schwacher« »Rassen« [sic!] zur Folge hat. Keine dieser Ideen ist mit meiner Hauptaussage vereinbar.

[39] Es gibt große Ähnlichkeiten zwischen den priesterlichen Heilmitteln und den Techniken der Triebtherapie, die Nietzsche in M109 als »Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen«, auflistet. Am deutlichsten wird die »Schwächung«, die sechste Methode von M109, »allgemeine Schwächung und Erschöpfung«, die Nietzsche mit Askese assoziierte. Wie bei der Arbeit, besteht die zweite Methode von D109 darin, den Trieben eine Periodisierung oder Routine aufzuerlegen. Die dritte Methode von M109 beinhaltet das orgiastische, sich »einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen« – allerdings in diesem Fall nur »um den Ekel davon einzuernten«. Genau wie die Techniken von M109, beinhalten auch die priesterlichen Methoden grundsätzlich die Entwicklung von Kontrolle über Triebmuster, indem sie diese nähren, aushungern oder umlenken. Aber selbstverständlich gibt es wesentliche Unterschiede. Priesterliche Therapie wird nicht autonom, sondern unter wachsamer Führung ausgeführt. Und während es das Anliegen der Techniken in Morgenröthe ist, den individuellen Körper eine befähigende Ordnung zuzuführen, ist alles, was die priesterlichen Techniken tun, die schmerzlichen Affekte temporär zu unterdrücken und den Körper auf lange Sicht zu schwächen. Die Techniken arbeiten mit denselben grundlegenden psycho-physiologischen Trieb-Prinzipien, erzielen jedoch sehr unterschiedlichen Ergebnisse: auf der einen Seite individuelle Selbst-Beherrschung; auf der anderen Beherrschung durch eine*n Pseudo-Therapeut*in.

[40] Ich schreibe in diesem Buch nichts weiter zum Übermenschen. Für einige interessante philosophische Erkundungen von Nietzsches post- oder vielleicht trans-humanistischem Denken, siehe: Keith Ansell Pearsons Buch Viroid Life (1994).

[41] Eine Buchreferenz um Nietzsches Ideen über psychologische Selbstfürsorge in der Freigeist-Periode weitergehend zu erkunden: Michael Ure (2008) Nietzsches Therapy: Self-cultivation in the Middle Works.

[42] Z.B. Za-I-Freund: »In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben«. Siehe auch FW338, die schöne »Sternen-Freundschaft« in FW279, und in FW283, rät Nietzsche »Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist«: »Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber!« Siehe auch: GM1:10 zur vornehmen/edlen »Ehrfurcht« vor dem Feind. Für weitergehende Perspektiven auf Nietzsche und die Beziehung zwischen Freund- und Feindschaft siehe Richardson (1995 185-191); van Tongeren (2008).

[43] Zitat im Englischen: KSB 5. 188, Übersetzung Zavatta (2008).

[44] Das Bild des Gartens zieht sich durch Morgenröthe – Therapie wird als Gärtnerei der Triebe betrachtet: »indem man aus sich selber Etwas formt, was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat« (M174).

[45] Nietzsche hat eine interessante, uneindeutige Beziehung zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. (Eigentlich benutzt er das Wort Kapitalismus nicht.) Seine Hauptaussage ist, insbesondere in den Werken seiner frühen und ›mittleren Periode‹, eine Art Geringschätzung der modernen Ökonomie als Depersonalisierungsmaschine. Doch dann, in spätere Notizen, äußert er sich pro-kapitalistisch, er beginnt die ›Mechanisierung‹ der Menschheit als eine potenzielle Vorbedingung für den Übermenschen zu verkünden.

[46] Anm. d.Ü: Ein Zitat welches diese Perspektive unterstreicht finden wir in Also Sprach Zarathustra: Za-I-Vorrede-9: »Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will.«

[47] Zu den Englischen Genealog*innen siehe Fußnote 13. Um mehr über Nietzsches genealogische Sicht der Geschichte zu erfahren, darüber wie soziale Institutionen und andere ›Bräuche, Dinge, Organe‹ usw., durch für gewöhnlich konfliktreiche Begegnungen, geformt und transformiert werden, könnten zwei sekundäre Aufsätze von Interesse sein: Michel Foucaults Nietzsche, die Genealogie, die Historie (NGH) und Raymond Geuss Nietzsche and Genealogy (2001).

[48] Für eine heute klassische anarchistische Analyse der ›Eingeschlossen‹ und ›Ausgeschlossenen‹ im gegenwärtigen Kapitalismus siehe Alfredo Bonannos From Riot to Insurrection.

[49] Um terminologisch präziser zu sein können wir uns bei Spinoza bedienen und diese allgemeine Art der Macht bei ihrem lateinischen Namen potentia nennen. In dieser Verwendung von Spinozas Terminologie folge ich Steven Lukes (2005:73-4). Lukes verwendet auch Spinozas Begriff potestas, welchen er als »Macht über« versteht. Keiner der beiden anderen Machtbegriffe, die ich im Folgenden definiere, entspricht genau potestas, wie ich es verstehe: ›soziale Macht‹ ist eher weiter und ›Herrschaft‹ eher enger gefasst.

[50] Dieses Essay von 1984 [Subjekt und Macht] ist einer von zwei Schlüsseltexten in denen Foucault seine Gedanken zu Macht an unterschiedlichen Punkten ihrer Entwicklung darlegt, der andere ist eine Liste von Thesen zu Macht im 1976 veröffentlichten ersten Buch Sexualität und Wahrheit – vorweggenommen und mit einigen weiteren interessanten Formulierungen versehen in der Lehrveranstaltung 1975/6 In Verteidigung der Gesellschaft. Sehr grob gesprochen zeichnet Foucault in seinen früheren Arbeiten das Bild der Herausbildung von Macht- und Herrschaftsstrukturen auf der Makroebene nach und argumentiert, dass wir ›major dominations‹, wie Klasse oder Geschlecht, als aus partikulären und kontingenten lokalen Interaktionen hervorgehend ansehen müssen. Es ist ein Bericht über die Dynamiken von ›Macht‹ im Großen, sagt aber wenig darüber aus, was Machtverhältnisse im Kleinen, auf der Grundebene der Interaktionen zwischen (und innerhalb) Individuen beinhalten. Das ist die Frage, auf die Foucault in späteren Essays und auch in einer Reihe von Interviews der 1980er Jahre zurückgreift.
In dieser Lesart von Foucault stimmte ich Mark Kelly (2009) zu, der ein nützliches Buch über The Political Philosophy of Michel Foucault geschrieben hat. Kelly argumentiert – gegen einige andere Kommentator*innen – dass wir diese beiden Stränge in Foucaults Denken über Macht als komplimentär, nicht als widersprüchlich betrachten sollten.

[51] Eine andere Frage ist, ob Foucaults Formulierung eine präzise oder umfassende Definition sozialer Macht bietet. Zum Vergleich, Max Webers klassische Definition von Macht: Macht »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Wirtschaft und Gesellschaft: Kapitel 1, §16). Diese Definition ist um einige Element reicher. Aus einer weberischen Sicht hat ein Akt der Ausübung von Macht nicht nur einen Effekt auf das ›mögliche Handlungsfeld der anderen‹, er hat (wenigstens probabilistisch [zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit]) einen Effekt auf ihre Handlungen selbst. Und, noch präziser, er tut dies in einer Weise, die den ›Willen‹ der Mächtigen fördert; und dies trotz ihres ›Widerstreben[s]‹, gegen ihren eigenen ›Willen‹.

[52] Eine von Foucaults klarsten Aussagen, in denen er eine nietzscheanischen Perspektive ausdrückt, in welcher Machtbeziehungen sub-individuelle Entitäten in mehr oder weniger transitorischen Assemblagen beinhalten können, findet sich in einem Gespräch unter dem Titel Das Spiel des Michel Foucault [The Confession of the Flesh].
»M. Foucault: Es ist nur eine Hypothese, aber ich würde sagen: jeder gegen jeden. Es gibt nicht unmittelbar gegebene Subjekte, von denen das eine das Proletariat und das andere die Bourgeoisie wäre. Wer kämpft gegen wen? Wir kämpfen alle gegen alle. Und es gibt stets etwas in uns, das gegen etwas anderes in uns kämpft.
j.-A. Miller: Das heißt, dass es nur vorübergehende Koalitionen geben würde, von denen manche sofort zusammenbrächen, während andere andauern würden und schließlich das erste und letzte Element die Individuen wären?
M. Foucault: Ja, die Individuen und sogar die Sub-Individuen.
j-A. Miller: Die Sub-Individuen?
M. Foucault: Warum nicht?« (S3: 407-8)

[53] Dass Beispiel, das Foucault an dieser Stelle macht ist, dass den anderen »noch die Möglichkeit bleibt, sich zu töten, aus dem Fenster zu springen oder den anderen zu töten.« (S4:890)

[54] Die Theorie des ›Humankapital‹ wurde erstmals von den neoliberalen Ökonomen der Chicago School Gary S. Becker (1964) und Theodore Schultz (1971) vorgebracht. Etwas verkürzt zusammengefasst ist die grundlegende Idee, dass Bildung ein Investment in zukünftige Ertragsstärke ist. Siehe Foucaults Vorlesungsreihe Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. (BP) für eine wichtige Diskussion über die Theorie des Humankapital und ihre Rolle in der Entwicklung einer neuen Phase der Konzeption von Menschen als ›subjects of interest‹, in welcher nun das Streben nach ›Interesse‹ speziell nach dem Modell der rationalen Investition in die zukünftige (Selbst-)Produktion verstanden wird. Der Soziologe Pierre Bourdieu (1986) war zum großen Teil für die Einführung der Idee des sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals verantwortlich.

[55] Im Absatz vorher heißt es dazu: »Ich glaube, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man sie als Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen. Das Problem ist also nicht, sie in der Utopie einer vollkommen transparenten Kommunikation aufzulösen zu versuchen, sondern sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das ethos, die Sorge um sich, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit dem Minimum an Herrschaft zu spielen.« (S4: 899)

[56] Eine weitere Dimension von Foucaults Philosophie der Macht lasse ich beiseite: Seine Idee von ›Gouverment‹ oder ›Gouvermentalität‹. Im selben Interview [wie zitiert in Fußnote 53] sagt Foucault: »In meiner Machtanalyse gibt es drei Ebenen: strategische Beziehungen, Regierungstechniken und Herrschaftszustände« (Foucault 2005: 900). Einige Kommentator*innen, z.B. Mark Kelly, sehen am Ende der 1970er Jahre Foucault als »Übergang von einem Modell der Herrschaft zu einem der Regierung« (Kelly 2009:77). Grob gesagt, Foucault entwickelt die Idee der Herrschaft in Der Wille zum Wissen und In Verteidigung der Gesellschaft, an diesem Punkt theoretisiert er Macht im Bezug auf Krieg und konflikthafte Beziehungen; in den Vorlesungsreihen Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977-8) und Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik (1978-9) entwickelt er neue Ideen der Gouvernementalität und Biomacht, in welchen Machtbeziehungen eher im Bezug auf ›pastorales‹ Management, als auf Konflikt betrachtet werden; und schließlich, in seinen späten Interviews, bringt Foucault diese Ideen der Herrschaft und der Gouvernementalität zusammen mit dem Modell der drei Ebenen: »Und zwischen beiden, zwischen den Spielen der Macht und den Zuständen der Herrschaft, gibt es die Regierungstechnologien« (S4: 900). Wie dem auch sei, Gouvernementalität ist nicht nur eine Art ›weiche‹ Macht die der Herrschaft gegenüber steht oder von ihr zu unterscheiden ist. Tatsächlich, so fährt Foucault fort, »Die Analyse dieser Techniken [der Gouvernementalität] ist erforderlich, weil sich häufig mit ihrer Hilfe die Herrschaftszustände errichten und aufrechterhalten« (ebd). Techniken des Gouverment funktionieren also, zumindest ›häufig‹, als Techniken der Herrschaft. Wir können außerdem feststellen, dass es wenigstens eine Überschneidung zwischen Foucaults Diskussion über ›pastorale‹ Techniken des Gouverment und den ›priesterlichen‹ Techniken gibt, die Nietzsche in der Genealogie diskutiert.

[57] Lukes selber formuliert die Dinge nicht auf dieses Weise, da er Foucaults Definition von Herrschaft (in Abgrenzung von Macht) nicht beachtet oder für relevant befindet. Dies ist eine Ursache der Verwirrung in seiner Lektüre von Foucault. Tatsächlich identifiziert Lukes in seiner expliziten Diskussion von Foucault in Kapitel 2 der erweiterten Edition von Power: A Radical View (2005) die substantiellen Differenzen zwischen seiner Position und der Foucaults. Ich werde diese Teile von Lukes Werk hier nicht beachten. Die Fragen werden viel klarer, wenn wir Lukes Diskussion über Herrschaft und Foucaults eigene Gedanken zu diesem Thema gegenüberstellen.

[58] Es wird an dieser Stelle deutlich, dass Lukes seine Position in Bezug auf ›Interessen‹ definiert. Interessen, auch subjektive, sind Werte und Begehren eines Subjekts die besonders stabil, langlebig und in gewisser Weise geordnet oder konsistent sind; oder wie Lukes es formuliert, subjektive Interessen qua Präferenzen sind »strukturierte, stehende, rangierbare Dispositionen« [structured, standing, rankable dispositions] (2005: 157). Tatsächlich sind mit der Definition von Herrschaft in Bezug auf Interessen bereits Normen der Rationalität eingeführt worden, oder zumindest einige Kriterien (in Bezug auf Ordnung, Konsistenz), die einer externen oder objektiven Bewertung zugänglich sind.

[59] Anm. d. Ü: Die etymologische Bedeutung der deutschen Entsprechung zum englischen domination ›Herrschaft‹ stammt vom »mittelhochdeutsch[en] hērschaft = Hoheit, Herrlichkeit, Würde; Hochmut; Recht und Besitztum eines Herrn; Obrigkeit; oberherrliches Amt und Gebiet; Herrscherfamilie; Herr und Herrin.

[60] Der Ökonomie-Historiker Karl Polanyi (2001) hat bekanntermaßen die Idee entwickelt, dass Märkte in einen weiteren politischen und sozialen Kontext ›eingebettet‹ sind.

[61] Der Anthropologe David Graeber (2011) erörtert diesen Punkt mit einer detaillierten Diskussion der relevanten historischen und anthropologischen Literatur.

[62] Zur Entwicklung der Idee der ›Ökonomie‹ in der Moderne und der Ökonomisierung von Politik, siehe Foucault (Die Geburt der Biopolitik), Albert Hirschmann (1977).

[63] Zur Einhegung in England siehe E.P. Thompson (1968) und Jeanette M. Nelson (1993).

[64] Die Assoziation des Kapitalismus mit Lohnarbeit verschleiert die Tatsache, dass der Aufstieg und die Ausbreitung des Kapitalismus auch mit einer Zunahme versklavter und abhängiger Arbeitsformen zusammenfällt. Siehe Losurdo (2011).

[65] Der größte Anti-Einhegungs-Aufstand in England war die ›Katts Rebellion‹ in Norfolk 1549. Der Aufstand begann mit dem herausreißen von Hecken im ganzen Land und setzte sich mit der Eroberung von Norwich mit einer 16.000 Personen starken Truppe fort. Die Rebell*innen hatten 29 Forderungen, die erste war »from henceforth no man shall enclose any more« [etwa: ›von nun an soll niemand mehr einhegen‹]. Staatliche Truppen besiegten den Aufstand schließlich und massakrierten mehrere tausend Gefangene. Kleinere lokale Krawalle und Aufstände, die immer mit dem Herausreißen von Hecken einhergingen, fanden in dieser Periode überall in England statt. Siehe Federici (2004: Kapitel 2).

[65] Der größte Anti-Einhegungs-Aufstand in England war die ›Katts Rebellion‹ in Norfolk 1549. Der Aufstand begann mit dem herausreißen von Hecken im ganzen Land und setzte sich mit der Eroberung von Norwich mit einer 16.000 Personen starken Truppe fort. Die Rebell*innen hatten 29 Forderungen, die erste war »from henceforth no man shall enclose any more« [etwa: ›von nun an soll niemand mehr einhegen‹]. Staatliche Truppen besiegten den Aufstand schließlich und massakrierten mehrere tausend Gefangene. Kleinere lokale Krawalle und Aufstände, die immer mit dem Herausreißen von Hecken einhergingen, fanden in dieser Periode überall in England statt. Siehe Federici (2004: Kapitel 2).

[66] William Blum (2003) berichtet detailliert von der Geschichte der offenen und verdeckten Interventionen des US-Militärs sowie des CIA.

[67] So ist z.B. das britische Sicherheits- und Outsourcing-Unternehmen G4S (a) in der Besetzung der palästinensischen Gebiete aktiv und bietet Sicherheits- und Gefängnisdienste für den israelischen Staat an; (b) inhaftiert palästinensische und andere Flüchtlinge, die in Großbritannien und anderen ›sicheren‹ Ländern ankommen, wo es Verträge über den Betrieb von Einwanderungs-Gefangenenlagern abschließt; und (c) erhielt es 2011 einen Vertrag mit der britischen Regierung über die Verwaltung eines Drittels der Wohnungen für Asylsuchende.

[68] Andere neuere Formulierungen zum selben Problem sind unter anderem von Wilhelm Reich in Massenpsychologie des Faschismus: »nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu klären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt« (1933:34). Sowie bei Deleuze und Guattaris Frage in Anti-Oedipus: wie kann es sein, dass »der Wunsch seine eigene Repression wünscht«? (1977: 448) [oder an anderer Stelle: »Wie ist es möglich, daß die Menschen die Repression nicht nur für andere, sondern auch für sich wünschen?«] (ebd: 518).

[69] Es könnte interessant sein innerhalb von Scotts Rahmen über die Rolle von Massenmedien mit einem Blick auf die öffentlichen und versteckten Transkripte gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften nachzudenken. Große Medien präsentieren sich sehr oft entweder als für ›die Öffentlichkeit‹ sprechend oder, etwas bescheidener, als wichtige Stimmen oder repräsentative Positionen innerhalb ›der öffentlichen Debatte‹. In beiden Fällen können wir in den Mediendiskursen typischerweise die Reproduktion von, erstens, der Behauptung finden, dass diese öffentliche Sphäre für humane Politik und das soziale Leben als Ganzes – oder wenigstens für die menschlichen Stimmen – einsteht denen wir zuhören sollten. Dies ist der Punkt den Scott kritisch anspricht. Aber wir können auch die Vorstellung finden, dass diese ›Öffentlichkeit‹ singulär ist – obwohl es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, wie kohärent oder multivokal, monokulturell oder multikulturell die Öffentlichkeit ist oder sein sollte. Auch diese Behauptung muss geprüft werden. Die Stimmen, die Berichterstattung, Blickwinkel, Kommentare, etc., einer rechten Zeitung (z.B. The Daily Mail) überschneiden sich zum großen Teil, wenn auch nicht komplett, mit denen einer liberalen Zeitung (z.B. The Guardian) und etwas weniger mit denen eines Black-Community-Newspaper oder einer radikalen Website. Sollten wir diese Medien als Teilnehmer*innen innerhalb eines öffentlichen Transkripts betrachten oder als getrennte öffentliche Transkripte, die sich in unterschiedlichem Maße überschneiden und zusammenhängen – sich bei anderen Themen aber und zu anderen Zeiten, auch gegenseitig unverständlich sein können? Im nachdenken über diese Frage sollten wir auch berücksichtigen, wie unterschiedlich öffentliche Transkripte mit versteckten Transkripten verbunden sind: Zum Beispiel, wie Daily Mail Leitartikel implizit Aussagen zu Immigration und Race machen, die sonst nur im Privaten offen gesagt werden können.
Für eine Einführung in einige der Hauptlinien in der Debatte um die Idee der Öffentlichkeit innerhalb gegenwärtigem liberalen politischen Denken siehe, Gripsrud et al. (2010). Noch aufschlussreicher finde ich Stuart Ewens (1996) Geschichte der Entwicklung von Ideen der Öffentlichkeit in Bezug auf die Geschichte der Massenmedien und der ›Public Relations‹ [Öffentlichkeitsarbeit]. Ein wichtiger Punkt den Ewen aufbringt, betrifft die Frage wie ›die Öffentlichkeit‹, als ein lenkbarer Vertreter der Vernunft, von ›der Crowd‹ [Masse] unterschieden wird, einem Morast gefährlicher und unkontrollierbarer Leidenschaften; ein Thema das er bis zu den Psycho-Soziolog*innen des späten 19. Jahrhunderts wie Tarde und Le Bon zurückverfolgt. Ewen (1996:73) zitiert außerdem den amerikanischen Soziologen Edward A. Ross: »Die Menge kann von zufälligen Anführern zu Torheit oder Verbrechen verleitet werden … die Öffentlichkeit kann Vorschläge nur durch die Spalten ihrer Zeitschrift erhalten, deren Herausgeber wie der Vorsitzende einer Massenversammlung ist, denn niemand kann ohne seine Anerkennung gehört werden«.

[70] So argumentiert er zum Beispiel, dass sowohl gemäß der »Sozial-Psychologie« und der »historischen Beweise« »es wenig oder keine Grundlage gibt, um entweder einer fetten oder einer dünnen Theorie der Hegemonie zu folgen« (81), der Bereich den er diskutiert, geht über Sklaven- oder Bauerngemeinschaften hinaus auch auf den gegenwärtigen Kapitalismus ein.

[71] Scott meint hier extreme Fälle staatliche organisierter Gefangenschaft. Ich denke jedoch, dass in vielen Gesellschaften der klassische Ort für tiefe Herrschaft die Familie ist. Denn Erstens sind wir in der Familie in Herrschaftsbeziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau, Eltern und Kind gefangen. Zweitens in der Familie verinnerlichen wir als Kinder Werte, Begehren und Praktiken die einige der ältesten und machtvollsten Hauptlinien der Herrschaft einbetten, einschließlich denen des Gender. Drittens die Macht der Familie kann als eine mimetische Mikro-Ökologie von Staaten und anderen elitären Gruppen nutzbar gemacht werden (wenngleich auch von ›Gegen-Ideologien‹) um weitere Formen der Herrschaft zu verstärken: Zum Beispiel um Kinder zu Bürger*innen, Arbeiter*innen und Konsument*innen zu erziehen.

[72] Max Scheler, wie von Scott (37) zitiert, machte einen grundlegenden Punkt in Bezug auf das nietzscheanische Ressentiment: »Wenn ein misshandelter Diener seinen Zorn in der Anti-Kammer entlüften kann, bleibt er frei von dem inneren Gift der Ressentiments.«

[73] Anm. d.Ü.: Weiter heißt es bei Herman: »Überdurchschnittlich widerstandsfähige Menschen nutzen in Stresssituationen jede Gelegenheit, mit anderen gemeinsam sinnvoll zu handeln, während andere Menschen häufig wie gelähmt oder durch Angst isoliert sind. Wer selbst in Extremsituationen soziale Bindungen aufrechterhalten und aktiv nach Lösungsstrategien suchen kann, scheint in gewissem Maße geschützt gegen die spätere Entwicklung eines posttraumatischen Syndroms. Von den Überlebenden einer Schiffskatastrophe zeigten beispielsweise die Männer, die sich durch gemeinschaftliche Aktionen retten konnten, später nur geringe Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Dagegen neigen diejenigen, die ›erstarrt‹ und von der Gruppe getrennt waren, später stärker zu Symptomen. Sehr gefährdet waren auch ›Rambos‹, die Männer, die sich impulsiv und isoliert in Aktionen gestürzt hatten, ohne mit anderen zu kooperieren.« siehe auch das gesamte Kapitel: Verwundbarkeit und Widerstandsfähigkeit in Die Narben der Gewalt.

[74] Dieses Zitat ist die einleitende Passage von Epiktets Handbüchlein (griech: Enchiridion). [Es gibt eine deutschsprachige Ausgabe online: https://www.projekt-gutenberg.org/epiktet/moral/moral.html]

[75] Alfredo Bonanno – Insurrectionalist Anarchism. Elephant Editions, trans. Jean Weir. Online at theanarchistlibrary.org. Auf deutsch erschienen unter dem Titel »Insurrektionalistischer Anarchismus« in Anarchismus und Aufstand bei Edition Irreversibel in Zusammenarbeit mit Konterband Editionen oder online bei anarchistischebibliothek.org.

[76] Wolfi Landstreicher: »On Projectuality«, in der Zeitschrift Willful Disobedience. Online auf theanarchistlibrary.org; auch erschienen in der jüngeren Textsammlung Willful Disobedience von Ardent Editions. Auf deutsch erschienen unter dem Titel »Zur Projektualität« als Broschüre und auf enough-is-enough14.org und mit dem Titel »Über Projektualität« in der Textsammlung Eigenwilliger Ungehorsam von Edition Irreversibel.

[77] Wolfi Landstreicher: »A Projectual Life«, in der Zeitschrift Willful Disobedience. Online auf theanarchistlibrary.org; auch erschienen in der jüngeren Textsammlung Willful Disobedience von Ardent Editions. Auf deutsch erschienen unter dem Titel »Ein projektuelles Leben« in der Textsammlung Eigenwilliger Ungehorsam von Edition Irreversibel.

[78] Diese Idee wird im einleitenden Kapitel zu Buch 4 in Die Fröhliche Wissenschaft vorgestellt: »Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!« (FW276).
Eine Schwierigkeit, die meine Interpretation mit sich bringt, in der ich amor fati zusammen mit Redlichkeit lese, ist die, dass Nietzsche hier eher ein ›Wegsehen‹ verteidigt, als einen ehrlichen Blick auf das Hässliche zu haben. Es mag sein, dass einige Dinge einfach zu hässlich oder gefährlich sind, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen – wie z.B. in der dunklen Werkstätte in GM, in welcher der*die Beobachtende nur einen flüchtigen Blick auf den Prozess ertragen kann, in welchem das Ressentiment Werte erschafft. Wegsehen mag dann eine Notwendigkeit sein; das wirkliche Problem aber, wäre nicht nur den Blick von Dingen abzuwenden, sondern auch ihre Existenz zu leugnen. Dies kommt in späteren Formulierungen Nietzsches klarer zum Ausdruck: »amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen […] sondern es lieben…« (EH-Klug-10).
Amor fati ist eine besonders schwierige Herausforderung und trotz Nietzsches Begehren ein ›Ja-sagender‹ zu werden, sind seine Werke nach GM zunehmend kritisch und negativ, eher dem Modell in FW307 folgend: »Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will«. Es gibt auch Passagen in denen Nietzsche, so denke ich, eine Haltung in Bezug auf das Schicksal [fate; amor fati] zulässt, die weniger liebevoll ist; zum Beispiel seine Inwertsetzung von ›Verachtung‹ in Also Sprach Zarathustra: »Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft […] die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.« (Za-I-Vorrede-5). Zumindest die ›edle‹ Haltung der Verachtung teilt noch immer die Ehrlichkeit des amor fati – im Gegensatz zu sklavischen Haltungen der Feindseligkeit, der Verdinglichung, der Idealisierung etc., die die Dinge verbergen und verleugnen.

[79] In seinem Essay On Anarchism and the Politics of Ressentiment (2004) beschäftigt sich Saul Newmann auch mit Nietzsches Angriffen auf den Anarchismus. Obwohl er einige interessante Punkte aufmacht (und einige dem nahe sind, was ich hervorhebe) gibt es in seinem Essay ein großes Problem. Er unterstellt dem ›Anarchismus‹ – oder zumindest dem ›klassischen Anarchismus‹, was er mit Referenzen auf Bakunin und Kropotkin veranschaulicht, eine fundamental ›essentialistische‹ Doktrin. Sprich, er basiere auf der Idee einer gutmütigen menschlichen Natur, die nur von den künstlichen Autoritäten befreit werden müsse, um sich zu entfalten und ein Leben frei von Herrschaft zu führen. Folglich schlägt Newman einen ›Postanarchismus‹ vor, der die guten Anteile des Anarchismus behält, während die essentialistischen Fehler durch das Hinzufügen von etwas poststrukturalistischer Theorie korrigiert werden. Wie andere schon angemerkt haben, präsentiert Newman eine grobe Karikatur des ›klassischen‹ anarchistischen Denkens. Ja, man findet Referenzen zu ›Naturrecht‹ und angeborener Gutmütigkeit in einige Passagen anarchistischer Autor*innen des 19. Jahrhunderts, aber diese machen keineswegs die fundamentalen Prinzipien des anarchistischen Denkens aus wie Newman es sich vorstellt. Mein größerer Punkt ist an dieser Stelle: Eigentlich gibt es keine fundamentalen Prinzipien des anarchistischen Denkens, weil der Anarchismus keine axiomatische Doktrin hat. Für eine Kritik an Newmans ›Postanarchismus‹ siehe: sasha k post-anarchism or simply post-revolution?, zu finden auf theanarchistlibrary.org.

[80] Kropotkin diskutiert Guyau in seiner unvollendeten Abhandlung Ethics [Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten] (1924). Zu Guyaus Einfluss auf Nietzsche siehe Brobjer (2008:172n).

[81] Die Konzeption des Individualismus die am wenigsten interessant ist, ist jene der Ökonomie und des Eigentums. Am Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel, argumentierten US-Autor*innen wie Benjamin Tucker für individuelles Eigentum und gegen ›kollektivistische‹ oder ›kommunistische‹ Arrangements. Tucker ist wegen seiner Rolle bei der Verbreitung von frühen Übersetzungen von sowohl Nietzsche als auch Stirner eine Erwähnung Wert; andererseits hat seine Version des Individualismus nichts mit mit den Themen dieses Buches zu tun.

[82] Hier eine Liste der mutmaßlich individualistischen Autor*innen des französischen Individualisten George Palantes aus seinem 1909 erschienenem Anarchism and Individualism, die er einem gewissen M. Hausch zuschreibt: http://theanarchistlibrary.org/library/georges-palante-anarchism-and-individualism

[83] Die Nietzsche-Stirner-Frage allein bräuchte wirklich einen eigenen Anhang, an dieser Stelle jedoch nur einige kurze Notizen. Zu der akademischen Frage ob Nietzsche Stirner gelesen hat, siehe Brobjer (2003). Seine Zusammenfassung:
»Es ist möglich, dass Nietzsche Stirner gelesen hat, aber wir haben keine eindeutigen Beweise dafür. Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass Nietzsche Stirner nur durch Sekundärquellen kannte […] Außerdem erscheint es mir höchst unwahrscheinlich, dass Nietzsche in irgendeiner Weise tiefgreifend von Stirner beeinflusst war. Hätte Stirner einen starken Eindruck auf Nietzsche gemacht, hätte es unweigerlich Spuren dieses Interesses in seinen Gesprächen mit Freunden, in Briefen, in Notizbüchern oder in seiner Bibliothek gegeben.«
Hier einige der wichtigsten Parallelen oder Affinitäten zwischen den beiden Autoren. Stirner zerschlägt den »Spuk« – fixe Ideen, ererbte Irrtümer, Illusionen und »Götzen« (z.B. Stirner 1845: 161), die uns in die Falle locken und Besitz von uns ergreifen. Nietzsche spricht von der Umwertung aller Werte und verkündigt die »Götzdämmerung«. Für Stirner ist ein Spuk eine Idee oder eine Gewohnheit, die starr, statisch, »kristallisiert« (ebd. 343) worden ist. Fremde Ideen, die uns von gesellschaftlichen Gruppen »vermittelt« und zu denen wir »erzogen« werden. (ebd. u.a. 114, 135, 204, 247, 326, 348). Dies ist nahe an Nietzsches Perspektive auf die Einverleibung von Wert und dem Herdeninstinkt (siehe Kapitel 3 und 4). Beide widersetzen sich auch metaphysischen Vorstellungen von ›Geist‹ und bejahen stattdessen den lebenden fleischlichen Leib, Physiologie über Denken. Stirners Ego ist »Fleisch«. (ebd. u.a. 39, 69, 93, 154, 184).
Nietzsche ist berühmt für sein »Gott ist todt« (FW109); Stirner hatte selbiges schon vor ihm verkündet (171). Der Spuk der Religion begleitet uns auch wenn wir glauben ihm entwischt zu sein, und uns selbst als Freidenker*innen bezeichnen: Humanist*innen, Liberale, Sozialist*innen, Kommunist*innen sind auch bloß aufpolierte Christ*innen (ebd. u.a. 27f, 346). Genauer betrachtet stimmen beide darin überein, dass revolutionäre Ideologien so etwas wie die neuen »Priester« (u.a. 262) sind. Außerdem nimmt Stirner Nietzsche vorweg indem er darauf hinweist, dass die bloße Idee der Wahrheit ein gefährlicher Spuk/Götze ist.
Sie sind beide sowohl Anti-Humanisten, als auch genervt von den Behauptungen über die Edelmütigkeit der Menschheit. Stirner sagt: »Ich bin Mensch und bin zugleich mehr als Mensch« (196, die gesamte Sektion 2.3, sowie 140). Stirner möchte, ebenso wie Nietzsche, die »Unschuld wiedererlangen«, die Schuld und Ehrlosigkeit von der egoistischen Handlung nehmen (z.B. 142). Beide hassen sie die Herde (246) und streben nach einer anderen Art sozialer Gruppe: Stirner schlägt einen Verein von Egoisten vor (197, 234). Beide möchte sie wie Kinder werden, Spielende (393). Und beide singen sie Hymnen auf das Leben: den »Lebensgenuß« (359); das aktive Leben.
Bei all diesen Resonanzen, gibt es einige fundamentale Unterschiede. Zum einen war Stirner ein Revolutionär, der die Freiheit für alle im Blick hatte, wohingegen Nietzsche politisch reaktionär eingestellt war und über Aristokratie phantasierte. Auf der anderen Seite ist der vielleicht größte Nachteil an Stirners Werk, dass es im unerträglichen Rahmen der hegelianischen Metaphysik verbleibt, wohingegen Nietzsche eine wichtige Rolle dabei gespielt hat diesen Rahmen zu sprengen. Für mich aber, liegt der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Autoren, in den sehr unterschiedlichen Ideen über die Natur des Individuums oder des ›Egos‹. Bei Stirner erscheint das Ego, zumindest sehr häufig, als eine Art unberührte essentielle Quelle purer und einzigartiger Werte, dass immer dann da ist, wenn wir uns von dem künstlichen Einfluss des Spuks befreien können. Bei Nietzsche jedoch, gibt es keinen Kern der individuellen Wertschöpfung jenseits sozialer Einflüsse. Es geht nicht darum unser wahres individuelles Selbst zu finden, sondern darum uns selbst zu Individuen zu machen und dabei die unreinen Materialien und die beschädigten Waren, die uns gegeben wurden zu verwenden.

[84] Die Zitate und Anekdoten der letzten beiden Absätzen stammen beide von Hinton R. Thomas: Nietzsche in German Politics and Society, 1890-1918. Genauer aus Kapitel 5, über Nietzsche and Anarchism.
[Zu Paul Koschemann siehe u.a: Paul Koschemann. Das Attentat auf den Polizei-Oberst Krause in Berlin. Berlin: a-verbal-Verlag 1983 (Nachdruck von 1906). Online auf: www.anarchismus.at]

[85] Siehe James Horroxs biografischer Artikel Gustav Landauer. Zitat an dieser Stelle von Berman, Russel und Luke, Tim. Einleitung zur Englischen Edition von Landauer, Gustav For Socialism (St. Louis: Telos Press, 1978), zitiert von Horrox.

[86] Rockers jiddische Übersetzung von Zarathustra kann hier online gelesen werden: https://archive.org/details/nybc208799

[87] Emma Goldman reflektiert über ihre Entdeckung Nietzsches in ihrer Autobiografie Gelebtes Leben (Kapitel 14). »Das Feuer seiner Seele, der Rhythmus seines Liedes machten das Leben für mich reicher, voller und wunderbarer« (http://theanarchistlibrary.org/library/emma-goldman-living-my-life). Hier erinnert sich EG auch daran, wie sie in einem Streit um Nietzsche mit ihrem Liebhaber Ed Brady Schluss gemacht hat, nachdem Brady Nietzsche als ›Narr‹ mit ›krankem Geist‹ bezeichnet hatte. EG verteidigte und entkräftete Nietzsches Elitismus: »Seine Aristokratie war weder von Geburt noch von Geldbeutel; sie war vom Geist geprägt. In dieser Hinsicht war Nietzsche ein Anarchist, und alle wahren Anarchisten waren Aristokraten, sagte ich.« Nietzsche selbst hätte dem entschieden widersprochen. In einer unveröffentlichten Notiz, die später von seiner Nazi-Schwester in Der Wille zur Macht veröffentlicht wurde, schrieb er: »Es gibt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel« (WM621). »Wo von ›Aristokraten des Geistes‹ geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen […]« (WM621).
EG bezog sich auf Nietzsche in mehreren Essays und hielt Vorträge über Nietzsche in den USA in den Jahren 1913-17. Die Texte dieser Vorträge gingen bei einer Polizeirazzia verloren, aber einige ihrer Hauptinhalte wurden von Leigh Starcross in dem Essay Nietzsche was an Anarchist rekonstruiert (in I am Not a Man, I am Dynamite: Friedrich Nietzsche and the Anarchist Tradition, editiert von John Moore, Autonomedia 2004).

[88] Übersetzungen von Zo d'Axa, Albert Libertad, Emile Armand, Renzo Novatore und anderen Individualist*innen können alle auf theanarchistlibrary.org [bzw. in deutscher Sprache: anarchistischebibliothek.org] gelesen werden. Es gibt auch einige gedruckte Sammlungen aus jüngster Zeit, siehe Ardent Press (ardentpress.com): Enemies of Society: an anthology of individualist and egoist thought; Novatore; and Disruptive Elements: The Extremes of French Anarchism.

[89] America Scarfós Letter to Emile Armand ist unter theanarchistlibrary.org und auf Papier in der Sammlung von Ardent Press Enemies of Society: an anthology of individualist and egoist thought zu finden. Um etwas über das Leben von Di Giovanni zu erfahren (und seine Nietzsche Poster zu sehen), siehe Osvaldo Bayers Anarchism and Violence: Severino Di Giovanni in Argentina 1923-1931, welches auf anarchistlibrary.org eingesehen werden kann und außerdem von Elephant Editions veröffentlicht wurde (mit einem Vorwort von Alfredo Bonanno und Jean Weir). [Deutschsprachige Literatur von und über Di Giovanni ist meines Wissens nach rar. Es gibt zwei kürzere Texte die auf anarchistischebibliothek.org zu finden sind: Unser Antifaschismus und Wie kämpfen?]