Sébastien Faure

Die Erziehung

Freiheit oder Monopol

Welche Freiheit meint man, wenn man von Freiheit in der Erziehung spricht, die des Vaters, die der Familie, des Staates oder des Kindes? Welche Interessen sind zu wahren, die derjenigen, die Unterricht erteilen oder die derjenigen, die ihn empfangen? Für welche andere Seite hätte es einen Zweck, sich einzuzusetzen, als wie für diejenigen, die Nutznießer oder Opfer des Unterrichts sein sollen?

Wie man die Sache auch anpacken mag, die Antwort muß immer dieselbe sein: die Freiheit des Kindes ist zu sichern und seine Interessen und Rechte sind zu vertreten.

Das Kind bestimmt dieses Problem. Und in dieser festbegründeten und logischen Ansicht kann es weder Zweifel noch Mißverständnisse geben.

Wem gehört das Kind? Der Familie, sagen die einen; dem Staate sagen die andern.

Die ersten sprechen nur dem Vater das Recht zu, dem Kinde Erzieher zu sein und ihm eine entsprechende Erziehung zu erwählen.

Die zweiten behaupten, daß für das Kind als zukünftigem Bürger nur der Staat die Fähigkeit des Erziehens und Unterrichtens hat.

Die Anhänger des väterlichen Rechtes, die sich Liberale nennen, erstreben eine Freiheit, die sich in väterliche Tyrannei und Beseitigung der Freiheit des Kindes verwandeln muß.

Die Anhänger des Rechtes des Staates streben dem Monopol zu, dem Despotismus der Regierung und der Unterordnung des kindlichen Geistes.

Darum kann auf die Streitfrage, wem das Kind gehört, nur geantwortet werden: weder der Familie, noch dem Staat, sondern sich selbst. Und statt des aufgestellten Rechtes des Staates und der Familie, die für das schwache, unwissende und wehrlose Kind nur Pflichten anerkennen, stelle ich das Recht des Kindes auf.

Das Kind hat das Recht auf Brot, auf körperliche Entwicklung, auf Entwicklung seiner Intelligenz, seines Geistes und Gefühles. Darum ist Ziel der Erziehung: physisch gesunde, kräftige, schöne und psychisch und moralisch entwickelte, gute, edle und brüderliche Menschen heranzubilden.

Und was die Erziehung, d. h. die Bildung von kultivierten Intelligenzen, anbelangt, was ist hier zu tun?

Hier ist die Pflicht eine doppelte:

1. Negativ: den Geist des Kindes von Irrtum, Vorurteil und Lüge fernzuhalten.

2. Positiv: dem Kinde die Wahrheit erkennen und lieben lehren. Aber wo ist die Wahrheit, wer hat sie, wer ist ihr Entdecker? Auf diese Kapitalfrage antworte ich: die Wahrheit ist nicht, sie wird; sie liegt nicht hinter uns, sondern vor uns; sie ist wie eine Stadt, die erbaut wird und die alle Tage schöner sich erhebt.

Nur die Dogmatiker und Metaphysiker können sich rühmen, die Wahrheit zu besitzen und das Recht für sich in Anspruch nehmen, sie anderen aufzuzwingen. Ob sie einen Priesterrock tragen oder nicht, ob sie im Namen der Religion oder im Namen des Staates Unterricht geben, diese Dogmatiker sind immer gefährlich und müssen darum beseitigt werden.

Da aber die Wahrheit sich unter uns befindet, kann man es dem Kinde überlassen, selbst diese Wahrheit zu suchen, die immer schöner und leuchtender aufsteigt.

Wenn wir die Wahrheit auch nicht haben, so haben wir doch Wahrheiten. Diese Wahrheiten sind die schon feststehenden Erkenntnisse der Wissenschaften, die sich beweisen und bezeugen lassen, ist das erlangte Wissen und sind die positiven Wirklichkeiten.

In einem Wort: Die Wahrheiten sind die Gesamtheit fest, begründeter Erkenntnisse, die das geistige Kapital der Menschheit ausmachen.

Dieses Kapital, Wissen (geistigen Kommunismus) zur Verfügung aller Kinder stellen, ist das, was das Recht dieses kleinen intelligenten Wesens in der Periode seines Werdens und seiner Entwicklung von uns verlangt.


Gescannt aus: Francisco Ferrer, Die Moderne Schule. Nachgelassene Erklärungen und Betrachtungen über die rationalistische Lehrmethode. Verlag "Der Syndikalist", Berlin, 1923. Aus dem Anhang; S. 109-110
[Die Herkunft des Originals wird bei der Übersetzung nicht angegeben]