Sch. Janovsky

Was die Anarchisten wollen

29. Januar 1887

      I. Mein und Dein.

      II. Die Arbeiter der Vergangenheit und der Gegenwart.

      III. Der Kommunismus.

      IV. Der Anarchismus.

      V. Unsere Mittel.

      Die menschliche Natur und Anarchie.

I. Mein und Dein.

Schnell und geläufig fliessen diese zwei Worte aus dem Munde, erstens, weil man sich wegen ihrer Kürze die Zunge nicht abzubeissen braucht, und zweitens, weil diese kurzen Worte mehr als alle anderen gebräuchlich sind. Ueberall, wo man nur steht und geht, wird man vom „Mein und Dein" und ,,Dein und Mein" vernehmen; selbst dem Kinde, ehe es andere Worte noch kaum auszusprechen vermag, sind diese Worte schon geläufig. Es ist also kein Wunder, dass viele Menschen sich selten die Mühe geben, über die Tragweite der Worte „Mein und Dein", über ihre Bedeutung, über ihre Rolle und den Einfluss, welchen sie auf das gesellschaftliche Leben ausüben, gründlich nachzudenken. Bekanntlich stellt der Mensch sehr selten Fragen auf über dasjenige, was er schon als Kind zu sehen gewohnt war. Man müsste ein Isaac Newton sein, um sich die Frage zu stellen, warum der Apfel vom Baume herab-, aber nicht hinauffällt, nachdem man schon vielleicht tausendmal diese Erscheinung bemerkt hat. Leider aber giebt es solche Menschen sehr wenig, und darum finden wir noch heute so viele Leute, in deren Hirn in Bezug auf diese Frage die egyptische Finsterniss herrscht. Die Frage ist aber von hoher Wichtigkeit; denn es giebt kein Ding auf der Welt, welches eine solch schädliche Wirkung auf das menschliche Leben hat, wie das „Mein und Dein". Seitdem Moment, wo das Eigenthum in die menschliche Gesellschaft eingeführt worden ist, hat sie als solche, als Gesellschaft zu existiren aufgehört; das Wort, die leere Phrase nur ist uns geblieben; denn was verstehen wir unter dem Wort Gesellschaft ? — Eine Verbindung von Menschen, welche gemeinschaftlich leben und arbeiten werden und sich gegenseitig unterstützen, mit einem Wort, die ein geselliges Leben führen. Niemals aber kann man eine solche Ansammlung von Menschen als Gesellschaft betrachten, wo dieselben sich gegenseitig betrügen und aufreiben, und wo Einer den Anderen nachtheilig zu sein sucht. Und dieses alles, wie wir an anderer Stelle ausführlicher erörtern wollen, sind nur die Folgen von Mein und Dein. Seit dem Augenblick, wo das Mein und Dein in der Gesellschaft zu herrschen begonnen hat, hat der Mensch alles verloren, was ihn zum wirklichen Menschen macht; er verlor das Mitleidsgefühl und den Verstand. Der hässliche Wurm der Leidenschaft, der sich in den „Eigennutz" verkörpert hat, hat alles Gute, Schöne und Erhabene verschlungen.

Ist der Mensch von dieser Leidenschaft bezwungen, so ist er kein Mensch, sondern ein Raubthier. Kein Mittel, und sei es auch das schrecklichste, wird er fürchten, um seiner bodenlosen Eigennützigkeit mehr Raum zu gewähren. Je mehr er besitzt, desto mehr er besitzen will, und wenn er gleich alle diese Reichthümer nicht zu verwerthen vermag.

In dieser Hinsicht ist der Mensch viel grausamer als ein Raubthier; das letztere zerreisst und frisst andere Thiere nur dann, wenn es hungrig ist; der Mensch aber, der das Unglück hat, in die Krallen dieser Leidenschaft zu gerathen, ist seiner nicht mehr mächtig, er ist ihr Sklave; seinen Handlungen nach scheint er von einem bösen Geist besessen zu sein, der ihn unablässig zum Erwerben, Erwerben und wieder Erwerben antreibt …

Wenn man diese Menschen in ihrer Erwerbsjagt betrachtet, dann wird man zugeben müssen, dass sie nichts als Narren sind; denn was Würde man von einem Menschen halten, welcher sich in den Kopf gesetzt hat, er müsse für seinen persönlichen Gebrauch eine halbe Million Röcke, eine Million Hüte und 10,000 Paar Hosen haben ? Der richtige Name für einen solchen Menschen ist Narr und sein einziger Platz ist im Tollhause. Aus diesem Grunde wird jeder vernünftige Mensch zugeben müssen, dass alle unsere Rothschilde, Yanderbilds, Goulds etc. die gefährlichsten Narren sind, die es nur geben kann und in's Narrenhaus gehören, aber nicht in eine menschliche Gesellschaft.

Ich habe sie zwar deshalb als gefährliche Narren bezeichnet, weil durch ihre unablässige Ansammlung von Schätzen, welche für sie nutzlos daliegen, Millionen von Menschenleben zu Grunde gehen. 99 Prozent der Menschheit darben und schmachten, führen ein kummervolles Leben und nur darum, weil diese wenigen irrsinnigen Parasiten sie um die Frucht ihrer Arbeit beraubt haben, 99 Prozent der Menschheit leben in engen Räumen, sind mithin gezwungen, eine verpestete Luft einzuathmen, welche den stärksten Menschen zu Grunde richtet, während ein kleines Häuflein Irrsinniger meilenlange Wälder und Parke besitzt, welche es sein Eigenthum nennt und die nur dazu dienen, Thiere darin zu jagen, wie die Narren selbst sind.

Sehet diesen vom Alter gedrückten und verkrüppelten Mann, wie sein zusammengekauerter Leib vor Kälte zittert, wie er seine dürre Hand ausstreckt, um ein Almosen zu empfangen! Glaubet nicht, dass dieser Mann immer verkrüppelt gewesen und immer gebettelt hat; er war in der Blüthe seiner Jugend stark, kräftig und hoffnungsvoll, aber der unerbittliche Bettelstab hat seine schönsten Hoffnungen vernichtet. Seine Jugendjahre hat er schon in Mühsal zugebracht. Sein Lohn war für das tägliche Auskommen kaum hinreichend und so schwanden frühzeitig seine Kräfte, so dass sein Ausbeuter ihn nicht mehr gebrauchen konnte und ihn mit einem jungen und kräftigen Menschen, wie er einst selbst gewesen, vertauschte; jetzt bettelt er um einen Pfennig, während die Hunderte von Pfunden, die er in seinem Leben erarbeitet, von seinem Ausbeuter für Paradepferde, Luxushunde, Diamantenbesetze und Armbänder vergeudet werden; überhaupt für solche Vergnügen, die nur eine wahnwitzige Phantasie hervorbringen kann.

Werfet z. B. einmal einen Blick in den Stadttheil Londons, Whitechapel genannt. Nach 12 Uhr des Nachts beginnt da erst das Leben auf den Strassen und wenn Ihr so dahingeht, da werdet Ihr verkommenen Wesen begegnen, die einen mehr thierischen als menschlichen Eindruck auf Euch machen. Junge Frauen, welche ihren Leib und ihre Ehre um ein Schandgeld feilbieten, Männer, in deren Gesichtszügen sich die hässlichsten Leidenschaften abspiegeln. Die eiserne Hand ihres traurigen Schicksals hat ihnen ihre Stirne gebrandmarkt mit den Kennzeichen von: Räuber, Mörder und Bandit, und ein Fluch dränget sich unwillkürlich auf Eure Lippen; aber denket nach, ehe Ihr fluchet. Verfluchet das System von „Mein und Dein", welches diese Menschen in das tiefste Elend gestürzt hat; denn sie sind die Opfer von „Mein und Dein". Diese jungen Männer und Frauen sind deshalb verkommen, weil sie in ihrer zarten Jugend einem Leben voller Leiden preisgegeben waren. In gerecht eingerichteten Zuständen hätten auch diese Menschen nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden können.

II. Die Arbeiter der Vergangenheit und der Gegenwart.

Wenn alle Seen voll Tinte wären und die Erdoberfläche wäre von Papier, dann würde beides noch nicht hinreichend sein, alle Uebel und alles Elend zu beschreiben, welche das „Mein und Dein" der Menschheit zugefügt. Soviel wir auch darüber schreiben mögen, es könnte doch alles nur wie ein Tropfen im Meere betrachtet werden; darum widmen wir unsere Aufmerksamkeit der Frage, womit dieses Kapitel betitelt ist, und um uns kurz zu fassen, werden wir die zwei letzten Formen der menschlichen Gesellschaft vornehmen; wir meinen das Mittelalter und unsere neue Zeit. Im Allgemeinen war die Welt im Mittelalter viel ärmer als sie gegenwärtig ist; diese Reichthümer und dieser Ueberfluss, die heute vorhanden sind, existirten damals nicht, Handel und Industrie lagen noch in den Windeln, von Dampfmaschinen hatte man noch keine Ahnung, die Arbeit war nicht in solchem Grade getheilt wie gegenwärtig, der Schuhmacher hatte das Recht, den Namen seines Berufes zu tragen, weil der Stiefel durch seine eigene Hand vollständig verfertigt wurde, und dasselbe galt für alle Handwerker; denn sie waren kompetente Fachleute; jeder Arbeiter verfertigte seine Waare für eine bestimmte Anzahl von Kunden und keiner gab sich der Selbstsucht hin, seine Waaren anzuhäufen, erstlich, weil es nicht gebräuchlich war und zweitens, weil man keine Käufer gefunden hätte.

Solch ein Arbeiter, so arm er auch war, verdiente immer, wenn auch mühselig, sein tägliches Brod. Als Hauptsache ist zu betrachten, dass seine Existenz gesichert und er sein eigener Herr war; er wurde nicht als ein Werkzeug betrachtet, denn er war ein vervollkommneter Arbeiter. Der Lehrling wusste, dass er nach beendeter Lehrzeit sein eigener Herr sein würde, geradeso wie sein Lehrmeister; denn dafür sorgte schon die Zunft. Wie man ersehen kann, waren die Arbeiter jener Zeit ihres Lebensunterhalts mehr oder weniger sicher, sie waren nicht physisch verkommen, wie sie gegenwärtig sind und wurden nicht mit dem hohen Titel „Lumpenproletariat" beehrt. Dieses aber hat nur so lange gedauert, bis der grosse Weltmarkt die manigfaltigsten menschlichen Arbeiten und zwar in grosser Masse erfordert hat. Durch diese Forderung wurden die kleinen Werkstuben in grosse Fabriken verwandelt, die Arbeit wurde zergliedert und jeder Arbeiter verfertigte nur ein kleines Theilchen eines Ganzen, damit die Waarenanhäufung schnell von Statten ginge. Seit der Erfindung der Maschinen, welche die Arbeit um so viel schneller beförderten, sank der Arbeiter von seiner hohen Menschenwürde zum einfachen Werkzeuge herab. Seit jener Zeit datirt auch die berühmte „Freiheit des Arbeiters"; er war frei, und zwar in zwei Hinsichten: Frei war er, seine Arbeitskraft an denjenigen zu verkaufen, der ihm beliebte (denn er war nicht mehr wie früher auf einen Fetzen Land angewiesen). Frei war er aber auch von allen Mitteln und von jeglichem Werkzeug, das zur Herstellung menschlicher Arbeit erforderlich ist. Ausser seinen beiden Händen war er besitzlos, darum musste er seine Kräfte an denjenigen verkaufen, der sich diese Werkzeuge angeeignet hatte. Da er nun, um seinen Hunger zu stillen, zu arbeiten gezwungen war, so musste er sich mit dem Lohn begnügen, den ihm der Maschinenbesitzer zutheilte; dieser Lohn aber entsprach keineswegs dem wirklichen Verdienst des Arbeiters. Dieweil ein einziger Maschinenbesitzer das Leben vieler Hunderte und Tausende von Arbeitern in seiner Macht hat, so bestimmt er einen solchen Lohn, dass dem Arbeiter nichts anderes übrig bleibt als einen von diesen zwei Abgründen zu wählen: Entweder den schnellen Hungertod zu sterben, oder langsam im Elende zu verkommen; gewöhnlich wählt er das letztgenannte Loos.

Durch die Vermehrung der grossen Fabriken und die Vervollkommnung der Werkzeuge und Maschinen, welche förmlich Menschenhände ersetzen, wurde die Zahl der selbständigen Arbeiter immer geringer, weil sie mit ihrem unvervollkommneten Werkzeuge mit dem Grossfabrikanten, der Alles mittelst der Maschine produziren liess, nicht konkurriren konnten, weil die Maschinenarbeit wohlfeiler war, und so sah sich der Kleinmeister gezwungen, seine Werkstube zu schliessen, um beim Grossfabrikanten in's Sklavenjoch zu treten.

Eine kurze Zeit war die Sachlage erträglich, denn die Nachfrage nach Waaren war höchst bedeutungsvoll, der wissenschaftliche Mechanismus war noch nicht sehr vorgeschritten und alle Tage entdeckte man neue Marktplätze, wo die angefertigten Waaren Absatz fanden, und der „Freie" verdiente mithin noch seinen Lebensunterhalt. Aber diese „Wunder" hielten keineswegs lange an; die neuen Handelsplätze und Märkte waren überall bald ausgebeutet, und mit Hilfe der Maschinen, die sich mehr und mehr vervollkommneten, wurde die Arbeit zehn-, ja hundertmal schneller hergestellt wie früher; die Docks wurden mit Waaren überfüllt, welche keine Käufer fanden und der Stillstand machte sich im Handel geltend. Manche Fabrik, welche einst Tausende von Arbeitern beschäftigte, steht nun ruhig wie ein Grab; was wird aber aus dieser Anzahl von Menschen werden, welche dort gearbeitet haben ? Sie werden vor Hunger und Kälte sterben, nicht darum, weil keine Lebensmittel oder Kleider vorhanden sind, nein, aus dem einfachen Grunde, weil sie keine Mittel besitzen, um diese Gegenstände zu kaufen.

Ist es nicht eine namenlose Ungeheuerlichkeit, dass Menschen darum hungern sollen, weil die Esswaaren im Ueberflusse vorhanden sind, und darum nackt und barfuss umhergehen sollen, weil mehr Kleider und Schuhe vorhanden sind, als wirklich verbraucht werden? Und diese Thatsache wird sich nicht ändern, solange es Ausbeuter und Ausgebeutete geben wird, das heisst, solange das „Mein und Dein“ existirt.

Das Erfinden einer Maschine für irgend eine nützliche Arbeit, mit welcher man die Arbeit leichter und schneller befördern kann, betrachten Viele als einen Segen für den Arbeiter; dies würde auch der Fall sein, wenn die Maschine dem Arbeiter angehörte; denn er würde seine tägliche Arbeit, welche ihm zehn Stunden in Anspruch nimmt, sehr leicht in dem Zeitraum von 4 Stunden verrichten können; aber unter den heutigen Verhältnissen wird dieser Segen zum Fluch, indem der Besitzer der Maschine dem Arbeiter höchst feindselig entgegentritt. Die Maschine, anstatt die Arbeit des Menschen zu erleichtern, wird dessen Konkurrent und schleudert Tausende von Arbeitern brotlos auf die Strasse, von allen Lebensmitteln entblöst und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieses sind des Arbeiters Errungenschaften, sein Leben ist voller Trübsal; keine Freude der Vergangenheit, keine Ruhe in der Gegenwart und keine Hoffnung für eine glückliche Zukunft. Alle Landstrassen sind voll von wandernden Arbeitern, welche von einer Stadt zur anderen ziehen, um ein Stück Brod erwerben zu können ; um dieses eine Stück Brod werben oft 100 Menschen und 99 davon vergebens; diese müssen dann die Gefängnisse füllen, weil sie von der Gesellschaft als gefährliche Elemente betrachtet werden. Sie sind gefährlich, weil sie leben wollen und keinen andern Ausweg haben, um ihr Leben zu erhalten, als zu betteln oder zu stehlen. Aber das Kapitalistenhäuflein, welches das arme Volk schindet und ausraubt, um im Ueberflusse leben zu können, diese Kreaturen sitzen in ihren Palästen und denken, dass die heutige „Ordnung" die beste aller Zeiten sei.

III. Der Kommunismus.

Mögen auch diese Parasiten, Coupon- und Halsabschneider mit ihren gekauften Knechten sagen, was sie wollen, diese Thatsache aber, dass 99 Theile der Menschheit im Elend darben, ist unbestreitbar; wir sind kaum im Stande einen einzigen Schritt zu thun, ohne merkwürdigen und herzzerreissenden Scenen zu begegnen. Jeder, der nur ein wenig Intelligenz besitzt und in dessen Herzen ein einziger Funke des Menschengefühls glüht, muss eine solche „Ordnung" hassen und verdammen. Man müsste wirklich blind sein, um nicht sehen zu können, dass die heutige Gesellschaftsordnung, welche vom Scheitel bis zur Sohle zerfault ist, bald aus den Fugen springen muss, und dass keine Stützen im Stande sind, sie vor ihrem Sturze zu retten. Sie selbst eilet mit Riesenschritten ihrer eigenen Grube entgegen; aber gleichzeitig lässt sie der Menschheit die Lehre zurück, dass kein Glück und keine Zufriedenheit auf dieser Welt herrschen wird, so lange noch irgendwie „Mein und Dein" existirt; denn „alles Mein und Dein beruht auf Unvernunft und Ungerechtigkeit, und alles was auf Ungerechtigkeit beruht, ist schädlich“.

Kein geringerer als der gelehrte Krapotkine spricht dieses aus — geben wir ihm an dieser Stelle weiter das Wort: „Betrachten wir z. B. ein zivilisirtes Land. Die Baumstämme der Wälder sind niedergehauen, die sumpfigen Flächen ausgetrocknet, tausende verzweigte Bahnen durchschneiden das Land nach allen Richtungen; die Seen und Flüsse sind mit zahllosen Schiffen, welche die entferntesten Länder vereinigen, bedeckt; das ganze Land ist mit Fabriken übersäet. Die Wissenschaft hat die Menschen unterrichtet, die Kräfte der Natur anzuwenden, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Grosse Städte haben sich in langen Reihen von Jahren allmälig emporgerichtet; grosse Schätze der Wissenschaft haben sich in den Metropolen der Zivilisation angesammelt; aber — wer hat alle diese Wunder geschaffen ?

Die vereinigten Kräfte hunderter Generationen haben zur Erreichung solcher grandiösen Resultate beigetragen.

Zu allererst wurden die Baumstämme der Wälder niedergehauen; Millionen von Menschen haben ihre Arbeitszeit zugebracht, um die Sümpfe auszutrocknen, die Wege bahngerecht zu machen. Andere Millionen von Menschen haben Städte erbaut und die Zivilisation geschaffen, auf welche wir mit so viel Stolz pochen. Tausende von Philosophen, Männern der Wissenschaft, Schriftstellern, unterstützt von Schriftsetzern, Druckern und vielen anderen Arbeitern, haben die Wissenschaft entwickelt und verbreitet, sie haben ihren grossen Beitrag geliefert, den Fanatismus und den Aberglauben zu vernichten; an deren Stelle gaben sie der Menschheit wissenschaftliche Wahrheit, ohne welche alle Wunder der jetzigen Zivilisation die erleuchtete Welt nicht erblickt hätten. Der Genius eines Meyer, eines Grove hat sicherlich für die Zivilisation viel mehr beigetragen, als die Kapitalistenschaft der ganzen Welt.

Aber diese Genieen waren auch nichts anderes, als Produkte der Verhältnisse, unter welchen sie gelebt haben. Ihr ganzes Thun und Schaffen bestand darin, dass sie die Arbeit ihrer Vorgänger wieder aufnahmen und fortsetzten.

Wer weiss, in welch finsterer Unwissenheit wir uns gegenwärtig noch befänden, hätten nicht alle, der Welt unbekannten Arbeiter, ihr Leben aufgeopfert, um das nöthige Material anzusammeln, damit wir weiter arbeiten könnten? In jeder Maschine, und zwar in der einfachsten, können wir ganze Geschichten von schlaflosen Nächten, von verschwundenen Freuden, von Hunger und Noth lesen. Die Menschheit hat mühselig gearbeitet, bis die Maschine den Zustand ihrer jetzigen Vollkommenheit erlangte.

Unsere Städte über die ganze Welt, durch Schiffe, Eisenbahnen und Telegraphen verbunden, sind die Frucht der Mühe ganzer Jahrhunderte. Jedes Haus, jedes Dorf zieht seinen Werth von dem Platze, auf welchem es errichtet ist. Was für einen Werth hätte ein grosses Haus von London, würde es nicht gerade in der Stadt stehen, welche der Sammelplatz von Millionen von Menschen ist ?

Wo ist also der Mensch, welcher ein Recht hat, seine Hand auf etwas zu legen und zu sagen, dieses gehört mir, denn ich habe es erschaffen? Wie können wir von diesem ungeheuren Reichthum einen Theil bestimmen, der den Einen oder den Andern rechtmässig gehören soll?“

An anderer Stelle tritt Krapotkine noch kraftvoller auf: „Die Italiener, welche an der Cholera gestorben sind, indem sie den Suez Kanal gruben, haben ebensoviel zur Bereicherung der Welt beigetragen, als der Ingenieur, der eine Maschine erfunden hat, welche die Arbeit der Menschen erleichtert. Der letztere hat für die Menschheit nicht mehr gethan, als das Mädchen, welches den ganzen Tag in zusammengekrümmtem Zustande an der Maschine zappelt. — Wer also kann jedem Einzelnen einen richtigen Antheil von allen Reichthümern, welche um uns angesammelt sind und welche die Erzeugnisse der Arbeit der ganzen Menschheit sind, zumessen?“

Diese Worte sind so verständlich, dass ich es nicht für erforderlich halte, sie mit weiteren Kommentaren zu versehen; der Leser wird schon begreifen, warum die Anarchisten am allerersten Kommunisten sind; nicht streben sie zu dem Ideale der Schönheit wegen, von Schönheit ist keine Rede; sie vertheidigen den Kommunismus in der Zukunft, erstens, weil sie wissen, wie viel Elend das Privateigenthum mit sich gebracht hat, zweitens, weil sie wissen, dass ein System, welches auf „Mein und Dein" gegründet ist (und möge es sein, wie es will), immer ungerecht sein wird, und alles was ungerecht, ist für die Menschheit nachtheilig. Dort, wo Menschen kommunistisch arbeiten, müssen auch die Genussmittel kommunistische sein. In andern Worten: In der Zukunft wird der Mensch nach seinen Kräften arbeiten und nach seinen Bedürfnissen geniessen.

IV. Der Anarchismus.

Kommunismus ist nicht das einzige Prinzip, das wir vertreten; wenn dies der Fall wäre, möchten wir uns Kommunisten nennen. Wir nennen uns aber Kommunist-Anarchisten. Was will das zweite Wort heissen ? Was meinen wir Anarchisten mit diesem Wort anzudeuten ?

Mit diesem Worte wollen wir darauf hinweisen, dass alle Regierungsformen, welche bis dato existirt haben und gegenwärtig existiren, für die Menschheit nachtheilig gewesen sind. Das Prinzip jeder Regierung ist, die Menschheit in das Sklavenjoch zu spannen.

Je weniger ein Volk beherrscht und regiert wird, desto schneller und leichter entwickelt es sich; folglich wird und darf in Zukunft nur die Anarchie herrschen, die Regierungslosigkeit. — In andern Worten: Jeder Mensch und jede Gruppe wird die vollständige Freiheit haben, nach ihrem eigenen Willen zu handeln, ohne etwaige Einwendung anderer Menschen.

Der Mensch, der nicht nach seinem eigenen Verstande, der nur nach dem Willen anderer handelt, ist ein Sklave. Und ein Sklave kann niemals glücklich und zufrieden sein, weil die Liebe zur Freiheit dem Menschen angeboren ist. Einem Menschen seine Freiheit nur beeinträchtigen, ist ebensoviel, als ihn durch Hunger und Durst foltern; einem Menschen seine Freiheit rauben, ist dasselbe, als würde ihm das Leben geraubt. Darum hat die Menschheit auch schon unzählige Male ihr Gut und Blut für die Freiheit in die Schanze geschlagen.

Wiederholte Male hat sie schon ihren Tyrannen, welche ihr das Leben verbitterten, ein Ende gemacht, aber leider hat sie jedes Mal die alten Tyrannen mit neuen umgetauscht. Die Menschen hatten nicht begriffen, dass das Unglück nicht in den Herrschern, sondern in der Herrschaft liegt; sie haben in der Meinung gelebt, dass irgend eine Herrschaft existiren müsse; sie waren nicht aufgeklärt genug, um zu begreifen, dass die Menschheit von der Regierung niemals geführt, sondern verführt wird. — Und was ist das Resultat? — Trotzdem Tausende von Opfern auf dem Altare der Freiheit geschlachtet worden sind, ist man noch gerade so weit von der Freiheit entfernt, wie vor dreitausend Jahren. Aber ganz umsonst sind die Opfer nicht gefallen. Wenn die Menschen noch einmal für die Freiheit kämpfen werden — denn kämpfen werden sie gewiss, und diesmal wird es der letzte Kampf sein —, dann werden sie sich nicht durch süsse Worte und hohle Phrasen verblenden lassen; sie werden danach trachten, die so schönbesungene Freiheit zu realisiren. Realisirbar ist die Freiheit aber nur dann, wenn jede Art von „Mein und Dein" verschwunden sein wird und keine neuen Regierungen aufgestellt werden, welche uns die Freiheit, die wir hart erkämpft und schwer errungen, oder gar mit unserem Blute bezahlt, rauben können.

Lassen wir uns die Sache reiflich überlegen und wir werden zu dem Schlussresultate kommen müssen, dass in der Zukunft für irgend eine Regierung gar kein Platz vorhanden sein wird.

Werdet ihr einen echten Regierungsfanatiker fragen, was die Beschäftigung einer Regierung ist, so wird er euch Folgendes antworten: „Die Regierung ? — Sie erhält den Frieden des Landes, damit Niemanden Unrecht geschehe, damit die Verbrecher für ihre Uebelthaten nicht unbestraft bleiben und damit der Stärkere den Schwächern nicht unterdrücke; zu diesem Zwecke sind Gesetze, Polizei, Richter und Justizgebäude geschaffen. Dieses ist zwar nur die erste Motive; die zweite Motive, warum eine Regierung von Nöthen ist, ist die, damit das Land gegen die auswärtigen Feinde beschützt und vertheidigt wird; zu diesem Zwecke ist Militär erforderlich." Dies ist die Ansicht eines echten Regierungsfanatikers. Und wirklich kann nur ein verblendeter und fanatischer Mensch einen solchen Unsinn behaupten. Wer weiss denn nicht, dass die Regierung nicht allein den Starken ungehindert den Schwachen unterdrücken lässt, sondern ihm noch mit aller möglichen Hilfe zu Gebote steht, wenn es sich um eine solche Gelegenheit handelt ? Wenn der arme Arbeiter nur streikt, um höheren Lohn zu erringen, wem hilft die Regierung, dem Arbeitgeber oder dem Arbeitnehmer ?

Lässt denn die Regierung nicht ihr Militär ausrücken, um den Arbeiter zu ermorden, wenn er sich nicht mit seinem Stücklein trockenen Brodes begnügt, sondern gerechter Weise etwas Butter reklamirt? Hat denn der grosse Massenmörder Moltke nicht selbst im deutschen Reichstage erklärt, dass das Militär für das arbeitende Volk unentbehrlich ist, weil das letztere gar zu begehrlich wird? Und wie sieht es denn mit den Verbrechern, mit den Gesetzen, wie überhaupt mit dem ganzen Humbug aus ? Man bestraft den Armen, der in einem Bäckerladen ein Brod entwendet, um damit den Hunger seiner Frau und Kinder zu stillen und lässt Diejenigen, welche das Blut tausender Menschen aussaugen und sie berauben, unbestraft; ja, solche Schurken haben noch ein ganz besonderes Vorrecht und man betrachtet sie als grosse Männer. — Geben wir zu, dass die Verbrecher wirklich schlechte Thaten begehen; aber ist denn das Bestrafen ein massgebendes Mittel, die Verbrecher von ihren Thaten abzulenken und so die Zahl der gewaltsamen Operationen zu vermindern? Nein! So lange die Gesellschaft in zwei Klassen getheilt sein wird, so lange es Räuber und Beraubte, Unterdrücker und Unterdrückte geben wird, werden die Verbrecher nicht verschwinden. Möge man zehn Mal so viele Gefängnisse errichten, als schon vorhanden, möge man den Verbrecher mit der vollsten Strenge des Gesetzes bestrafen, dieses Alles wird den Sachverhalt nicht ändern. Schafft das ,,Mein und Dein" und alle Gesetze ab, dann werden die Verbrecher von selbst verschwinden, weil das „Mein und Dein" der Urquell aller Uebel ist, aus welchem die grausamsten Gewaltthaten entspringen.

Diesem fügt Krapotkine sehr treffend das Folgende hinzu: „Je mehr wir über diese Frage nachdenken (die Verbrecher betreffend), desto mehr sind wir überzeugt, dass nur die Gesellschaft allein für alle Unthaten, welche in unserer Mitte vorkommen, verantwortlich ist; wir sind überzeugt, dass keine Strafen, keine Gefängnisse und keine Henker im Stande sind, die Zahl der Verbrecher um das Geringste zu vermindern. Die meisten Verbrechen, welche vor den Richterstuhl kommen, sind die Folgen unserer jetzigen gesellschaftlichen Zustände; sie entstammen nicht, wie man sich einbildet, der Nichtswürdigkeit menschlicher Natur. Was aber die verhältnissmässig kleine Zahl von schlechten Thaten anbetrifft, welche wirklich aus den Neigungen einzelner Personen entspringen, so sind diese nicht durch Gefängnisse und Henker abzuschaffen, obwohl wir in diesen Mitteln unsere vollständige Rettung erblicken.

Mit unsern Lockspitzeln und Verfolgungen schaffen wir in der Gesellschaft eine Fluth von bösen Gewohnheiten und Leidenschaften, so dass Derjenige, der den Einfluss dieser Einrichtung in ihrer ganzen Schlechtigkeit richtig begreift, sich über Dasjenige empört, was die Gesellschaft unter dem Vorwande thut, die Moralität zu erhalten.

Wenn allerdings eine Mutter, Brod und Obdach für ihre unmündigen Kinder suchend, an verschiedenen Läden vorübergeht, welche mit den leckersten Esswaaren angehäuft sind, wenn ihr auf der einen Seite den grossen Luxus erblickt, welchen Eure Phantasie kaum im Stande ist hervorzuzaubern, während auf der andern Seite die höchste Armuth und Noth herrscht, wenn für die Hunde und Pferde der reichen Leute besser gesorgt wird als für Millionen von Kindern, deren Mütter in den Fabriken arbeiten, um sich selbst und die Ihrigen zu ernähren, wenn das einfachste Kleid einer reichen Dame den Jahreslohn eines Arbeiters repräsentirt, wenn unser einziger Zweck ist, durch die Arbeit der Einen, Andere reich zu machen, und um Geld anzusammeln alle Mittel heilig sind, dann ist sicherlich die 'Gewalt das einzige Mittel, die Gesellschaft aufrecht zu erhalten; dann sind Armeen von Militär, Polizei, Richter und Henker eine Nothwendigkeit.

Wenn aber alle unsere Kinder eine gesunde Erziehung geniessen würden, wenn jede Familie ein ordentliches Heim besässe, wenn jeder Mensch in derselben Periode, wo er seine geistigen Fähigkeiten ausbildet, irgend eine nützliche Handarbeit erlernen würde, wenn die Menschen in innigem Zusammenhang leben, sich öfters versammeln würden, um die gesellschaftlichen Angelegenheiten, welche jetzt nur den Händen Einzelner — übergeben sind, zu besprechen und zu verhandeln, dann bedürften wir nicht des Polizeiregiments und dessen anverwandter Dämonen.

Der Leser wird nach allem bis jetzt Gesagten begreifen, dass die Anarchisten alle diktirten Gesetze als machtlos erachten, der Menschheit irgend welchen Nutzen zu bringen; ja, es sind viel wichtigere Gesetze vorhanden, um das gesellschaftliche Leben zu reguliren, und das sind die Naturgesetze der Nothwendigkeit. Die Menschen haben ein gesellschaftliches Leben angefangen, nicht darum, weil irgend ein Diktator einen diesbezüglichen Ukas erlassen hätte, sondern weil sie einsahen, dass es für jeden Einzelnen viel bequemer und sicherer zu leben ist, als in der eintönigen Isolirung. Wenn die diktirten Gesetze einen Daseinsgrund hätten, wenn sie wirklich das Missgeschick des Menschen ablenken oder nur vermindern könnten, dann müssten wir jetzt Alle unfehlbar sein, man dürfte an unseren Thaten nicht den geringsten Makel finden; denn die Gesetze: Du sollst nicht stehlen, rauben, morden etc., sind fast so alt, wie die menschliche Geschichte und doch sind wir nicht im Stande, einen einzigen Menschen aufzuweisen, der sich durch Gesetzanwendung gebessert hätte. Die Menschen werden erst dann aufhören schlecht zu sein, wenn sie an ihren schlechten Thaten kein Interesse haben werden. Gesetze an und für sich können ihrer Natur nach weder nützlich noch schädlich sein; sie beginnen aber erst dann eine schädliche Wirkung auszuüben, wenn hinter ihnen eine bewaffnete Macht steht, die jeden Zuwiderhandelnden mit Verfolgung und Kerker bedroht. In dieser Hinsicht werden die Menschen durch die Gesetze oder besser gesagt, durch die Gesetzesfabrikanten in Sklaverei gebracht und darum sind wir entschiedene Gegner aller Gesetze für die Zukunft; denn ein Gesetz will durchgeführt und angewendet sein, widrigenfalls es nutzlos geschaffen ist. Und es ist unmöglich darauf zu rechnen, dass in der Zukunft alle Menschen diese Thorheit begehen werden, einem Gesetze, das von Diesen oder Jenen fabrizirt sein wird, Gehorsam zu leisten. Leute nun, die dann den Gesetzen zuwiderhandelten, müssten, wie heute, durch Gewalt dazu gezwungen werden, zu thun, was ihnen vorgeschrieben wird, oder sie würden als politische Verbrecher gelten, die man stumm machen müsste, wie die Märtyrer der Freiheit in der heutigen Gesellschaft.

Doch nein! Wir wissen schon zu viel von den gegenwärtigem politischen Verbrechern, die aber mit dem Zusammenbruch des Sklavenjoches verschwinden werden, wie die Gesetze, somit unsere inneren Feinde. Jetzt werden wir uns nach unseren auswärtigen Feinden umsehen. Wer sind aber unsere auswärtigen Feinde? Existiren solche denn wirklich ? Die einzige Antwort hierauf lautet: Nein! Dieser Schwindel hat seine Zeit abgelebt, er ist viel zu alt, als dass man noch daran glauben sollte. Einstmals war es wohl noch möglich, einem Volke einzureden, dass die angrenzenden Völkerschaften sowohl als die andern Völker der Welt seine Feinde seien, welche es zu vernichten suchen, und darum müsste es immer wachsam sein, um sich zu schützen. Kein Wunder, dass dies Volk die die andern bis aufs Aeusserste hasste; solche Gefühle hegten aber alle Nationen eine der andern gegenüber. Das Resultat davon war, dass die Menschen ohne Ursache und ohne Grund sich gegenseitig zerfleischten und vernichteten, gleich den wildesten Bestien in den entlegensten Urwäldern.

Jetzt aber haben sich die Sachverhältnisse geändert. Immer klarer und deutlicher begreifen die Völker, dass die richtige Tugend nicht darin besteht, dass ein Mensch nur seine eigene Nation liebt und die andern hasst und verachtet (solch ein Mensch wird gegenwärtig schon als ein wildes Thier betrachtet); nein, der Mensch ist und bleibt Mensch, mag er einer Nation angehören, welcher er will, mag seine Wiege gestanden haben, wo sie wolle, mag er eine Sprache sprechen, die uns unbekannt ist, dies alles hat nichts zu sagen, wenn nur dieser Mensch ein nützliches Mitglied in unserer Gesellschaft ist; das ist jetzt die Hauptsache. Dass dieses nicht in das Bereich der Phantasie, sondern der Wirklichkeit gehört, davon könnt ihr euch insoweit überzeugen, als die Arbeiter der ganzen Welt gemeinschaftliche Kongresse abhalten, um sich gegenseitig zu berathen, auf welche Art und Weise sie ihren gemeinsamen Feind, „das Kapital“, vernichten könnte.

Die internationalen Gefühle der Arbeiter sind durch das Leben selbst im Herzen des Arbeiters genährt worden; in demselben Grade, wie die Arbeiter einst national gesonnen waren, weil sie sich gegenseitig nicht kannten, sind sie jetzt international, weil sie einander begriffen haben. Da die Arbeiter oft durch Noth und Elend gezwungen waren, ihre Heimath zu verlassen und in andern Ländern ihr Brod zu suchen, so erhielten sie Gelegenheit, sich zu überzeugen, dass alles Schlechte, was man ihnen früher von anderen Nationen erzählte, auf Lügen beruhte; und von diesem Moment an ist der Arbeiter international geworden. Wenn wir nun das internationale Gefühl jetzt schon so weit entwickelt sehen, was dürfen wir in dieser Hinsicht nicht von der Zukunft erwarten ? Mit klarem Bewusstsein und voller Ueberzeugung können wir behaupten, dass in der Zukunft kein Feld für Nationalhass vorhanden sein wird.

Die Bruderliebe wird alle Menschen in ein grosses Volk vereinigen, welches sich wundern wird, wie die Menschen der Vergangenheit so wild sein konnten, sich gegenseitig zu hassen und zu verfolgen, als wenn sie der Menschenrasse gar nicht angehört hätten.

Der Regierungsfanatiker giebt sich nach all diesen Vorstellungen immer noch nicht zufrieden; er hat noch gar viele Fragen zu stellen und eine der wichtigsten ist: Wenn es keine Kontrolleure und keine Inspektoren geben soll, wie wird es mit den Faulenzern aussehen ? Sie werden nicht arbeiten und von dem Schweiss Anderer leben und so, faselt er weiter, werden wir immer Parasiten haben. Diese Frage bedarf es einer gründlichen Erläuterung:

Erstens werden diese Parasiten nicht das sein, was die gegenwärtigen sind; zwar werden sie nach Herzenslust geniessen können, sie werden aber keine Kapitalmacht besitzen, welche sie in den Stand setzte, ihresgleichen ins Sklavenjoch zu stürzen. Das Uebel besteht nicht darin, dass die reichen Leute ein angenehmes Leben führen und nicht arbeiten — wenn dies der Fall wäre, würde die Menschheit sich gar nicht unglücklich fühlen, denn der Mensch kann nicht mehr geniessen, als seine Natur vertragen kann —, sondern das wahre Unglück besteht darin, dass die Kapitalkanaillen ungeheure Reichthümer ansammeln, welche sie gar nicht im Stande sind, für ihre Persönlichkeiten zu verbrauchen. Zweitens werden Aufseher gänzlich überflüssig sein, weit der Faulenzer immer Vorwände und Auswege findet, sich der Arbeit zu entziehen. Was wir durch eine Kontrolle gewinnen könnten, würde schliesslich darauf hinauslaufen, die Zahl der vorhandenen Faulenzer um 1 Prozent zu vermehren durch Inspektoren, Kontrolleure, Aufseher, Werkführer, Nachtwächter etc. Drittens ist die ganze Geschichte von den professionellen Faulenzern nur eine infame Lüge; denn die Arbeit ist für den menschlichen Körper eine Notwendigkeit und ein Bedürfniss wie alle anderen Bedingungen, um ihn am Leben zu erhalten. Der unthätige Mensch wird krank, er kann die Speisen nicht verdauen, er verfällt der Schlaflosigkeit, kurz, er leidet.

Freilich wird der Leser sagen: „Ihr wollt uns einreden, dass keine Faulenzer vorhanden sind", wir aber sind vom Gegentheil überzeugt. Natürlich wissen wir, dass in der jetzigen Gesellschaft arbeitsscheue Menschen existiren, aber ist dieses denn ein Wunder? Arbeiten heisst, dreimal täglich des Hungers sterben, denn es heisst nicht menschlich arbeiten, wie es die Kraft und Gesundheit vertragen kann, sondern die Arbeitszeit beläuft sich auf achtzehn und zwanzig Stunden, ja sogar Tag und Nacht ohne aufzuhören. Arbeiten bedeutet keineswegs eine sichere Zukunft für das Alter, im Gegentheil, durch das viele Arbeiten wird die Nothlage vergrößert und Greise wie auch jugendliche Arbeiter sterben auf der Strasse vor Hunger und Kälte. Arbeiten ist heutzutage eine Schande und keine Ehre, wie es sein sollte, und darum wird Jeder begreifen, dass es kein Wunder ist, dass wir gegenwärtig eine Anzahl Faulenzer besitzen; ein Wunder ist es aber, dass es noch so viele fleissige Menschen giebt.

Stellt euch aber die Zukunft vor, wo jeder Mensch seine Arbeit nach seinem Charakter und seiner Neigung wird wählen können, wo er jede Herrschaft und jeden Zwang entbehren wird, wo das Bewusstsein, dass 90 Prozent seiner Arbeit Andern zu Theil werden, verschwindet, wo die Arbeitsstunden sehr kurz sein werden, wenn alle Menschen produktiv thätig sind, wo die Arbeitsstätten geräumig, gelüftet und sauber sein werden, nicht wie gegenwärtig, wo eine übelriechende Luft die Werkstätten verpestet, glaubt ihr auch dann noch, dass sich ein einziger Mensch finden wird, der die Arbeit verweigert, um sich dem Mitleid oder der Verachtung der ganzen Gesellschaft preiszugeben ? — Denjenigen, welche denken, dass wir eine Regierung werden haben müssen, damit Alles in bester Ordnung hergehe, weil die Menschen noch nicht fähig sind ihre Angelegenheiten selbst zu regeln u. s. w., antworten wir kurz und scharf mit einer anderen Frage: Wie werden unkluge Menschen treue Führer aussuchen können ? Ausserdem, wenn man sich einbildet, dass die Masse immer eine Regierung bedürfen wird, dann darf man sich überhaupt dem ganzen Sozialismus entsagen, weil der Sozialismus nur vernünftigen und selbständigen Menschen angemessen ist, nicht aber solchen, mit welchen man thun und machen kann, was man will. Wir werden den Fakt nicht ableugnen, dass die Masse noch nicht so entwickelt und verständig ist, wie es wünschenswerth wäre; wisst ihr aber auch, warum dies der Fall? Weil sie Führer gehabt hat, welche für sie Alles gethan haben, und indem sie sich auf die Führer, die die Geschäfte besorgt haben, verliess, blieb sie unwissend. Will man, dass die Masse verständiger werden soll, dann ist das Verschwinden jeder Regierung die erste Bedingung.

Alle diese Gründe zusammengenommen, machen den Anarchisten zum Gegner jeder Regierung, mag sie aus einzelnen Personen bestehen, die über Viele, oder aus vielen Personen, die über Einzelne regieren; in beiden Fällen sind Herren und Knechte vorhanden. Menschen können nur glücklich sein, wenn sie ihre volle Freiheit geniessen und die volle Freiheit ist die Anarchie.

V. Unsere Mittel.

Dass uns die Reichen hassen und verfolgen, begreifen wir; denn wir haben es verdient, weil wir ihre unerbittlichen Feinde sind; wir hassen sie mit jedem Tropfen unseres Blutes, und wir schrecken vor keinen Mitteln zurück, unsere gemeinsamen Feinde zu vernichten. Keine Verfolgungen ihrerseits zu erwarten, wäre ganz einfach eine Thorheit; ihre Verfolgungen sind sogar ein erfreuliches Zeichen, denn diese liefern uns den unwiderlegbaren Beweis, dass wir ihre empfindlichsten Punkte, diejenigen, die sie am meisten schmerzen, berühren. Es wundert uns daher nicht, wenn ein Bourgeois den Anarchismus als eine Teufelsidee und die Anarchisten als den Auswurf der Hölle, als wilde Thiere u. s. w. bezeichnet; es schmerzt uns aber ungeheuer, sehen zu müssen, dass mehr oder minder geistig emanzipirte Arbeiter, welche sich Sozialdemokraten nennen, nicht anstehen, unsere Ideen, unsere Taktik, überhaupt alles, was man unter dem Wort Anarchismus versteht, mit Schmutz und Koth zu bewerfen. Ihre traurige Taktik ist ganz einfach: sie kritisiren den Anarchismus, fassen aber denselben nicht so auf, wie er von seinen Vertretern klar dargestellt ist; würden sie ihn so auffassen und dann kritisiren, wir würden durchaus nichts dagegen haben, im Gegentheil, wir würden ihnen dafür sehr dankbar sein; dieses thun sie aber nicht. Gewöhnlich schildern sie den Anarchismus als so lächerlich und verrückt, wie es nur Verrückte selbst thun können und suchen diese Lächerlichkeiten durch faule Argumente zu beweisen und schreien dann grossmaulig in die Welt: „Seht Euch doch nur die Anarchisten an, was das für Thoren sind!"

Wahrscheinlich habt Ihr schon erfahren, dass die Anarchisten Gegner der Trades Unions, der Achtstundenbewegung u. s. w. sind. Ich aber erkläre der ganzen Welt offen und frei, dass dieses eine infame Lüge ist.

Betrachtet nur den Unsinn: Ein Anarchist, der zu jeder Stunde bereit ist, sein Leben für seine Idee und für das Glück der Menschheit zu opfern, soll nicht damit einverstanden sein, dass der Arbeitstag verkürzt werden sollte! Während die Anarchisten unaufhörlich predigen: „Arbeiter, vereinigt Euch!" sollen dieselben Gegner der Verkürzung der Arbeitszeit sein — ist das möglich ?

Aber, wird der Leser sagen, aus der Luft kann es doch nicht gegriffen sein, es muss doch etwas dahinterstecken. — Gewiss steckt da etwas dahinter, betrachten wir aber was.

Das Entstehen der Trades Unions war das Resultat der Unterdrückung und Tyrannei der Kapitalistenklasse gegen die Arbeiterklasse. Obwohl der Zweck der Vereinigung kein sozialistischer war — man vereinigte sich nicht, um mit dem Lohnsystem tabula rasa zu machen, sondern nur, um einige kleinliche Vortheile zu erringen —, so ist doch die Thatsache allein, dass die Arbeiter angefangen haben, sich zu vereinigen, um gegen ihre Blutsauger zu kämpfen, für jeden ehrlichen Arbeiterfreund ein erfreuliches Zeichen. Die Hauptpunkte, welche die Unions in Sicht gehalten haben, waren gewerkschaftlicher Natur: die Preise nicht herabdrücken lassen, dann und wann für bessere Löhne streiken und manchesmal einen Mitarbeiter in der Noth unterstützen.

Zur Zeit der Entstehung der Unions waren dieselben den Kapitalisten ein Dorn im Auge. Weil damals das Maschinenwesen noch nicht sehr entwickelt und folglich die Arbeitslosigkeit nicht so gross war wie heutzutage, so konnten die Unions, wenn sie gut organisirt waren, der Macht des Bourgeoiskapitals als eine Macht gegenüberstehen. Aber das Maschinenwesen hat sich seither mehr und mehr entwickelt, die Zahl der beständigen Arbeitslosen wurde von Tag zu Tag grösser und die Unions hörten auf, ein Kampfmittel gegen die Kapitalmacht zu bilden. Nicht allein hat die Union ihre Macht verloren, sondern der Kapitalist wurde ihr gegenüber auch allmälig freundlicher gesinnt. Das ist der beste Beweis, dass die Trades Unions keinen Daseinsgrund mehr haben. Und wirklich könnte sie dann nur gefährlich werden, wenn der Kapitalist ausser dieser Institution keine Arbeiter bekäme, um ihm seine Waaren zu verfertigen.

Wie verhält sich aber die Sache gegenwärtig ? Eine ganze Armee arbeitsloser Menschen lauert nur auf die Gelegenheit, um, wenn Arbeiter irgendwelcher Branche streiken, sich in deren Stellen einzuschleichen. Ihr werdet vielleicht sagen, dass Arbeiter, die solche Thaten vollbringen, nicht rechtschaffen handeln, aber die Thatsache steht nichtsdestoweniger fest. Wenn ihr die Sache reiflich überlegt, wenn ihr euch nur eine Minute in die Lage solcher Armen versetzt, dann werdet ihr einsehen, dass dieselben nicht so sehr zu verdammen sind. Wieviele Tage mögen sie gehungert, wieviel Elend ertragen und wieviele Gewissensbisse mögen sie ausgestanden haben, bevor sie sich entschlossen, die Arbeitsstellen auszufüllen, die ihre Brüder verlassen ? Die Streikenden selbst können nicht mit Sicherheit behaupten, ob sie unter solchen Umständen nicht geradeso gehandelt hätten. Hunger leiden ist sehr bitter und es ist daher kein Wunder, wenn uns derselbe besiegt; er erstickt die schwachen Solidaritätsgefühle der Arbeiter.

Wie die Sache sich auch verhalten mag, ob die sog. Streikbrecher gute oder schlechte Menschen sind, die Trades Union verliert ihre Macht, gegen das Kapital zu kämpfen und ist folglich ihrem Zerfall sehr nahe; denn nichts existirt auf der Welt, was nicht seinen Zweck verliert. Aber die Arbeiter denken: Warum sollen wir uns einem solchen Institut anschliessen, das nicht im Stande ist, uns zu helfen?

Diese fatale Situation kränket die Anarchisten, weil sie wissen, dass die Arbeiter, um nicht gänzlich hilflos zu sein, nothgedrungen der Vereinigung bedürfen; andererseits sind sie überzeugt, dass die Prinzipien, die Basis, auf welcher die Union einst gegründet war, ihre Zeit abgelebt hat, und der Zerfall dieser Vereinigung wird unvermeidlich sein, wenn sie keine günstige und ernsthafte Aenderung annehmen wird. Was bleibt also den Anarchisten anders übrig, als auf dem Felde dieser unerspriesslichen Institutionen eine rege propagandistische Thätigkeit zu entfalten ? Sie geben sich alle mögliche Mühe, die Unions zu reorganisiren; sie wollen in diesen Körper eine neue Seele hineinathmen; anstatt der veralteten Prinzipien geben sie den Unions neue, welche den Umständen unserer Epoche angemessen sind. Und was besagen diese neuen Prinzipien ? Abschaffung des Privateigenthums, um gänzlich befreit zu werden; und weil der Kapitalist niemals auf friedlichem Wege die uns geraubten Reichthümer und Rechte wieder hergeben wird, so müssen wir, wenn es nothwendig ist, Gewalt gebrauchen. Wären die Unions von diesen Prinzipien durchdrungen, so gingen nicht so viele Streiks zum Nachtheile der Arbeiter verloren.

Noch dazu bilden die Unions eine miserable Karrikatur der heutigen Regierung. Da sind „Könige", „Minister", „Generäle" und „Sekretäre", die als Rädelsführer eine unbeschränkte Macht ausüben; was sie sagen, muss unfehlbar und heilig sein; sie sind sehr behutsam, dass ausser ihren alten und vermoderten Ideen sich keine neue in ihre Organisation hineinschleichen, und nicht selten kommt es sogar vor, dass die Arbeiter von ihren eigenen Führern verrathen werden.

Mit einem Wort, diese Institution wurde für viele Schwindler ein lekerer Bissen und wie sie gegenwärtig dasteht, ist sie ein todtes Glied in der Arbeiterbewegung und eine gewisse Hemmung für dieselbe. Die Anarchisten thun ihr Möglichstes, dies abgestorbene Glied wieder ins Leben zu rufen!

Man ersieht also, in welchem Sinne die Anarchisten gegen die Unions sind. Sie sind überhaupt keine Gegner der Unions, aber sie sträuben sich gegen die Korruption und Bestechlichkeit, die gegenwärtig vollmächtig in diesen Institutionen herrschen. Sie empören sich gegen das schamlose Thürenverschliessen dieser Vereine gegen irgend eine neue und gesunde Idee, damit dort die Schwindler nach Herzenslust wirthschaften können. Der einzige Wunsch der Anarchisten ist, dass die Unions eine erspriessliche Thätigkeit beginnen sollen; denn was könnte nicht geschehen, wenn die Arbeiter von ihren Führern sich befreien würden ? — Der Geist dieser Vereine soll anstatt ein gewerkschaftlicher, ein revolutionärer werden; das alte Streiklied soll endlich aufhören, und wenn einmal gestreikt werden sollte, dann soll man, um siegreich aus dem Kampfe hervorzugehen, vor keinen Mitteln zurückschrecken.

Ganz dasselbe ist es auch mit dem achtstündigen Arbeitstag. Kein Anarchist hat noch den Unsinn ausgesprochen, lieber fünfzehn als acht Stunden täglich zu arbeiten. Solches zu äussern, müsste man dem Wahnsinn verfallen sein. Was er aber sagt, ist dieses: Die Arbeiter werden durch den Achtstundentag blutwenig Vortheile erreichen, denn Sklaven bleiben sie nach wie vor und darum sollen sie wegen dieser Kleinigkeit ihre gänzliche Befreiung nicht ausser Augen lassen. Ausserdem kritisirt der Anarchist die Art und Weise, wie die Arbeiter den achtstündigen Arbeitstag zu erreichen suchen. Mit freudigem Herzen würden die Anarchisten in der Bewegung mitgemacht haben, wenn alle Arbeiter sich erhoben hätten, wie es die Märtyrer von Chicago gethan haben. Wenn Alle zur selbigen Zeit ihre Sklavenketten abgeworfen, um mit stolzem Bewusstsein ihre gerechten Forderungen zu erringen, wenn sie so den Kapitalist, den Blutsauger gezwungen hätten, nachzugeben, dann würden sie richtig gehandelt haben, wie zielbewusste Arbeiter handeln sollten.

Wie sieht es aber jetzt aus ? Anstatt ihre rechtmässigen Ansprüche geltend zu machen, betteln sie; sie petitioniren an die Regierung, sie möchte doch so gut, so freundlich, so gnädig und barmherzig sein und einen gesetzlichen achtstündigen Arbeitstag dekretiren. Welche Wirkung ein solches Gesetz haben könnte, werden wir an anderer Stelle erklären, aber Jeder wird begreifen, welch einen Unsinn die Arbeiter begehen, indem sie sich an die Regierung um Hilfe gegen das Kapital wenden. Wer ist denn die Regierung? Besteht sie nicht aus der Kapitalistenbande selbst! Hat sie denn nicht unzählige Male bewiesen, auf welcher Seite sie steht und wessen Interessen sie vertritt ? Lässt sie nicht beim geringsten Anlass das Militär gegen die Arbeiter aufmarschiren ? Und vor einer solchen Regierung kriecht man zu Kreuze und fleht sie um Hilfe an !!

Das Traurigste an der Sache ist, dass die Führer der sogenannten Achtstundenbewegung sich revolutionär nennen. Man muss nur diesen Unsinn richtig auffassen: Regierung und Revolutionäre wollen Hand in Hand gehen! Eine grössere Simpelhaftigkeit hat die Welt noch nie erlebt. Anstatt Revolutionär sollten sie sich alte und feige Memmen nennen; diese Betitelung würde, ihren Handlungen gemäss, viel richtiger für sie passen. Wenn sie wirklich einen revolutionären Geist besässen, so müsste ihr erstes Streben sein, die Regierung zu vernichten.

Ihr Betteln und zu Kreuze kriechen vor der Regierung ist verachtenswerth und auch gänzlich vergebens. Wenn wirklich die Regierung ein solches Gesetz erlassen würde, wäre damit unsere Sache schon gewonnen? Nicht im geringsten; denn erstens kann dies Gesetz nur eine Wirkung auf gewisse Geschäftszweige haben. Betrachten wir z. B. die Feldarbeiter; für diese wäre das Achtstundengesetz gar nicht anwendbar und in den kleinen Fabriken würde es einen sehr geringen Werth haben. Dies Gesetz also würde nur dahinzielen, eine sogenannte Aristokratie unter den Arbeitern zu bilden, und die Gesammtheit der Arbeiter wird nach wie vor Entstehung des Gesetzes arm und elend bleiben.

Glaubt aber nicht, dass damit alles schon gethan wäre; auch nicht die kleinste Forderung, die man ausgebettelt, erhält sofortige Genugthuung, aus dem einfachen Grunde, weil man erstere nicht erkämpft hat. Nachdem das Gesetz durchgeführt ist, begiebt sich der Arbeiter zur Werkstatt; sein Meister theilt ihm mit, dass er von heute an nur acht Stunden täglich zu arbeiten brauche; der Arbeiter bedankt sich bestens für des Meisters Gutherzigkeit; der Meister aber unterbricht ihn, indem er ihm mittheilt, dass sein Lohn dementsprechend verkürzt werden wird. Bei dieser Erklärung wird der Arbeiter konfuse und antwortet: Wo soll ich denn dann meine Existenzmittel hernehmen ? Das sind meine Sachen nicht, antwortet der Kapitalist; handle nach deinem Gutdünken. Hier ist der Arbeiter in engere Wahl getrieben: entweder er arbeitet für einen Spottpreis (dann hat das Gesetz von vornherein seine Wirkung verfehlt) oder er streikt. Wenn er nun am Schluss der Komödie doch streiken muss, warum thut er dies nicht, bevor er die Regierung anbettelt? Er würde sich die Mühe gespart haben, mit einer schuftigen Regierung in Unterhandlung zu treten, damit es schliesslich noch heissen soll, die Regierung hat den Arbeitern geholfen.

Dann werden aber auch Einige sagen, es giebt noch ein dritter Ausweg. Die Regieiung kann ja den Arbeitspreis bestimmen. Um dieses zu erreichen, antworten wir, müssten wir uns bis zum jüngsten Tag gedulden; in anderen Worten, dieses wird niemals geschehen.

Wir beteiligen uns an keinen Wahlen, weil wir wissen, dass das Parlament den Arbeitern nicht helfen wird, sondern, dass die letztern auf sich selbst angewiesen sind; aus diesem Grunde stellen wir keine Arbeiterkandidaten auf. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die, welche ins Parlament treten (wenn sie auch früher ehrliche Menschen waren), unter den korrumpirten Mitgliedern selbst verkommen, wodurch die Arbeiterbewegung leidet.

Welche Taktik befolgen also die Anarchisten? — Indem sie auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus stehen, können sie eich mit keinen Reformen beschäftigen; der wissenschaftliche Sozialismus hat ein für allemal sein ehernes Lohngesetz festgestellt, d. h., solange das kapitalistische System existirt, solange wird der Lohn des Arbeiters nicht höher sein, als er für seinen dürftigen Lebensunterhalt nothwendig hat; darum sagen die Anarchisten, dass in den Grenzen des heutigen Systems keine Reform durchführbar ist, um der Arbeiterklasse als Klasse wirklich zu helfen. Ihre Emanzipation kann nur durch Abschaffung der Klassenherrschaft geschehen, durch die Vernichtung des Privateigenthums und der Herbeiführung der sozialen Revolution.

Nach ihr müssen alle Bestrebungen eines Arbeiterfreundes sich richten, alles andere muss bei ihm Nebensache sein; überall, wo er sich nur befindet, soll er den Hass des heutigen Systems predigen und für dessen Vernichtung wirken.

Man wird uns auch die Worte entgegenhalten: „Die soziale Revolution ist noch lange nicht am Ausbrechen, was sollen wir bis dahin tun?“

Dieses ist eine ganz falsche Meinung, so gut wie wir nicht behaupten können, dass die Revolution morgen ausbrechen wird (weil wir keine Propheten sind), ebensogut können auch Andere nicht sagen, dass sie in 10, 20 oder 30 Jahren erst stattfinden wird; Thatsache ist aber, dass wir alle fühlen, dass wir an der Schwelle der Revolution stehen, ohne genau zu wissen, wann sie ausbrechen wird. Soll sie aber plötzlich von feindseliger Seite aus provozirt werden, oder soll sie uns vorbereitet finden, sie zu empfangen ? Wir sind überzeugt, dass, wenn die ganze Kraft und Energie, welche bisher für Petitionen vergeudet wurde, für revolutionäre Propaganda angewendet worden wäre, wir die Revolution schon hinter uns haben würden und wir würden von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, welche wir jetzt nur erhoffen, schon genossen haben. Die Revolution wird nicht von Göttern, sondern von Menschen ausgeführt, und wenn alle Diejenigen, welche sich bis dato beschäftigten, ein durchlöchertes Fass anzufüllen, ernste Revolutionäre gewesen sein würden, dann könnten wir schon von unserm Elend längst befreit sein.

Das sind die Prinzipien der Anarchisten. Jeder Tag bringt neue Kämpfer in unsere Reihen. Die Kapitalisten und Blutsauger mögen, wenn wir so unser Werk weiter befördern, zittern, dann wird das Elend bald zu Ende sein, und eine Zeit von Glück und Zufriedenheit wird in der ganzen Welt herrschen.

Die menschliche Natur und Anarchie.

Man kann kaum mit einem Genossen sozialdemokratischer Richtung fünf Minuten lang diskutiren, ohne den Einwand zu hören: dass wir die Menschen als reine Tugendengel voraussetzen, um in eine herrschaftslose Gesellschaft einzutreten — was sie nicht sind; und deshalb die Anarchie erst nach einer langen Entwickelungsperiode staatskommunistischer Herrschaft möglich sei. Dieser Vorwurf trifft jedoch nicht uns, sondern die Sozialdemokraten selbst, welche sich dabei in einem Widerspruche mit sich selbst befinden.

Wären wir Anarchisten der Meinung, die Menschen seien so tugendhaft, dass sie ihren Nebenmenschen nur Gutes zufügen, selbst wenn es gegen ihr eigenes Interesse wäre, so würden wir uns wahrscheinlich niemals von euch getrennt haben, wir würden mit eueren Mitteln noch euere Ziele verfolgen. Wir würden, also noch Vertrauen in Deputirte haben, wir würden noch immer unsere Interessen sogenannten „Vertretern" anvertrauen und in Geduld alles ertragen, was unsere „auserwählten Besten" in unserem Interesse zu thun für gut befinden, geradeso wie ihr es heute noch thut, werthe Genossen sozialdemokratischer Richtung!

Allein wir Anarchisten, die wir das Wohl der Völker weder den Bismarcks noch den Bebels gegenwärtiger noch zukünftiger Geschlechter anvertrauen wollen, sind vollständig von der Ueberzeugung durchdrungen, dass, solange ein Mensch über das Wohl seiner Nebenmenschen zu verfügen hat — ob in Form von deputirten Gesetzmachern oder eines sozialdemokratischen Volksstaatsrathes — die Herrschaft, der Eigennutz, der Ehrgeiz u. drgl. Gebrechen, den besten Menschen zum Tyrannen seiner Nebenmenschen machen werden.

Und wie kann dies auch anders sein?

Der Mensch ist nichts als ein höheres Glied des grossen Thierreiches, bei welchem der Selbsterhaltungstrieb die Hauptrolle spielt. Als solches besitzt er ausser den materiellen auch eine Menge geistiger Bedürfnisse und Laster, für welche er Befriedigung sucht, selbst wenn dies auf Kosten seiner Nebenmenschen geschieht. Die bisherigen Gesellschaftsformen haben alles gethan, diese Laster (Habsucht, Herrschsucht etc.) zu pflegen und zu entwickeln, anstatt zu unterdrücken. Wir Anarchisten schöpfen aus der Geschichte, sowie aus den Erfahrungen des täglichen Lebens die Ueberzeugung, dass sogar jeder Mensch diese für das Gesammtwohl so schädlichen Eigenschaften in mehr oder weniger entwickeltem Grade besitzt, die nur einer günstigen Gelegenheit bedürfen, um ihre schädliche Wirkung zu entfalten. Deshalb gerade bekämpfen wir jede autoritäre Organisationsform; gerade deshalb wollen wir das Wohl des Menschen Niemanden, weder im Kleinen noch im Grossen, anvertraut wissen, weil dadurch den einzelnen Individuen die günstigste Gelegenheit gegeben wird, die in ihnen schlummernden Keime zu sozialen Giftbäumen zu entwickeln.

Würden sich unsere sozialdemokratischen Gegner die Mühe nehmen, über diesen Punkt etwas gründlicher nachzudenken, so würden sie mit uns zu der Schlussfolgerung kommen, dass gerade sie es sind, welche sich die Menschen als Tugendengel vorstellen, denn die Voraussetzung, dass die Zukunfts-Volksvertreter die Besten des Volkes sein werden, bedingt die andere — und gewiss noch zweifelhaftere — Voraussetzung : dass die Majorität des Volkes auch intelligent und tugendhaft genug ist, um fähig zu sein, diese Besten herauszufinden. Die Menschen werden aber nicht plötzlich, über Nacht solche Tugendengel werden ; sie werden alle Laster aus der alten Gesellschaft mit in die neue bringen und gerade die Schlechtesten werden sich, wie heute, in den Vordergrund zu drängen wissen und von der Majorität, aus Mangel an eigener Einsicht und Tugend, mit der Wahrung des Gemeinwohles betraut werden. Und so ständen wir nach der Revolution auf demselben Punkte, wo wir heute stehen: die Revolution wäre erst zu machen.

Wenn sich, wie gesagt, unsere sozialdemokratischen Gegner diese Frage etwas besser überlegen möchten, würden sie auch nicht immer die lächerliche Redensart als Argument benützen: ,,in einer sozialdemokratischen Gesellschaft können sich doch die „Beamten" keine Dampf- oder Spinnmaschine in die Tasche stecken." Doch jeder denkfähige Mensch wird einsehen, dass die Millionen Menschen, welche sich heute vor den grössten Schurken in den Staub werfen und aus lauter Hundedemuth die Peitsche küssen, mit welcher sie geschlagen werden, nicht auf einmal kühne selbstbewusste Männer werden, welche schurkische „Beamte" sofort an die Luft setzen! —Nein, sie werden es machen wie heute: sie werden durch Schmeichelei und Speichelleckerei von diesen Beamten sich Begünstigungen zu erhaschen suchen und dafür deren schurkische Zwecke dankbarst unterstützen. Man blicke doch nur in die Arbeiterorganisation und man wird dies heute schon bestätigt finden. Die Lehre der Anarchie dagegen ist auf der Kenntniss der Menschen, mit Berücksichtigung aller ihrer schlechten und guten Eigenschaften aufgebaut. Die guten Eigenschaften der Menschen bürgen, dafür, dass sie sich nach ihren individuellen Neigungen und Fähigkeiten frei und naturgemäss an einander, zu einem, harmonischen Ganzen anpassen; während ihre schlechten Eigenschaften durch die Abwesenheit jeder wie immer gearteten Herrschaft oder autoritären Macht über die Nebenmenschen, weder Platz noch Gelegenheit haben, sich zu bethätigen. Und wie in der gesammten organischen Welt jene Glieder und Arten verkümmern und schliesslich aussterben, denen Boden und Nahrung zu ihrer Bethätigung und Entwickelung entzogen ist, so werden es auch die schlechten Eigenschaften der Menschen — Eigennutz und Herrschsucht — in der Anarchie.

(Die „Autonomie“ vom 29. Januar 1887.)


Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von der Gruppe „Autonomie" London. Anarchistisch-communistische Bibliothek. Heft 7.