Titel: Die Zukunft gehört dem Experiment
AutorIn: Merlino, Saverio
Datum: 1892
Quelle: Aus: Oberländer, Erwin (Hrsg.) - Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution; Bd. 4. 1972. S.263-281.
Bemerkungen: Saverio Merlino, Nécessité e basi d’una intesa, Brüssel 1892. Die deutsche Übersetzung unter dem Titel «Zur Verständigung» in : Freiheit, Jg. XTV (1892) Nr. 23 (4. Juli) Und Nr. 24 (11. Juli) beruht auf der französischen Ausgabe «Nécessité et bases d’une entente», in : Propagande socialiste-anarchiste-révolutionnaire, Nr. 1, Brüssel 1892. Da der italienische Text von 1892 nicht verfügbar war, wurde die deutsche Übersetzung an Hand der Neuausgabe überprüft : S. Merlino, Concezione critica del socialismo libertario, hrsg. von A.Venturini und P.C.Masini, Florenz 1937, S. 89-108.

Die anarchistische Partei – das Wort darf bei keinem Anstoß erregen; es bezeichnet hier einzig und allein die Gesamtheit derer, die sich zu den anarchistischen Prinzipien bekennen und auf deren Verwirklichung hinarbeiten – hat verschiedene Phasen durchlaufen und in den einzelnen Ländern verschiedene Formen angenommen. Zur Zeit ist sie, wie die ganze Welt weiß, beinahe gänzlich kommunistisch in Frankreich und Italien, zum Teil kommunistisch, zum Teil kollektivistisch in Spanien, während es in Amerika und England neben den kommunistischen Anarchisten auch Mutualisten und sogar Individualisten gibt, die jedoch nicht zur Partei gerechnet werden, da sie wesentlich Antisozialisten und wütende Verteidiger des individuellen Eigentums sind.

Bedeutender noch als diese theoretischen Verschiedenheiten sind die praktischen Divergenzen zwischen den Anarchisten und Sozialisten[1] (d.h. Kommunisten und Kollektivisten). Die einen sind Verfechter, die anderen Gegner der zentralistischen Organisation; die einen arbeiten auf die unmittelbare Revolution hin, die anderen glauben an die friedliche Entwicklung oder erwarten die Revolution von einer vermeintlichen historischen Fatalität; die einen muntern zur gemeinsamen Aktion auf und erkennen nur dann das individuelle Handeln an, wenn es dazu dient, die Empörung der Massen vorzubereiten und auszulösen, die anderen beschränken sich darauf, das individuelle Vorgehen an sich zu preisen; die einen glauben, daß die Revolution seitens derer, die sie beginnen, ein Werk der Ergebenheit und der Aufopferung sein muß, die anderen gehen hauptsächlich auf die Verbesserung ihrer persönlichen Lage aus.

Nun, solange es sich darum handelte, die bürgerlichen Parteien oder die Pseudosozialisten zu bekämpfen, neue Wege zu bahnen und auf andere Lösungen der sozialen Frage als die von den Autoritären gegebenen hinzuweisen, schadeten diese Meinungsverschiedenheiten nicht, im Gegenteil: Sie dienten dazu, den Geist zur Unabhängigkeit zu erziehen und alle Seiten des Problems aufzuzeigen. Heutzutage ist unsere Aufgabe aber eine andere: Die Revolution kommt näher, die sozialistisch-autoritären Parteien haben sich gänzlich dem Staate überliefert, und wir sind jetzt berufen, tätig zu sein oder zu verschwinden. Es gibt kein Mittel, dieser Situation auszuweichen. Wir haben zu wählen: Entweder werden wir Anarchisten die Seele der Revolution, oder wir entschließen uns, die Bewegung einer neuen Heuschreckenschar von Politikern auszuliefern. Der gegenwärtige Moment ist besonders bedeutend und entscheidend. Wenn wir unseren Blick auf die politische und ökonomische Lage der verschiedenen Länder werfen, so sehen wir überall Streiks, Aufstände, Repressionen, den nahenden Bankrott. Die Mittelchen, die erfunden werden, um die arbeitenden Massen zu täuschen und zu lähmen, sind erschöpft.

Dank ihren ständigen Versprechungen, die nie erfüllt werden, haben die Regierungshäuptlinge und Parteikönige jedes Vertrauen der Arbeiter verloren.

Im Herzen der sozialdemokratischen Parteien hat sich eine Oppositionsströmung herangebildet, die sich nach unserer Seite hin richtet. Wenn wir es verstehen werden, von dieser Strömung zu profitieren, in Berührung mit den Massen zu kommen und uns definitiv denselben anzuschließen, so werden wir in kurzer Frist im Stande sein, der Bourgeoisie eine entscheidende Schlacht zu liefern. Aber wir müssen uns dazu gegenseitig verständigen, denn die Aufgabe ist groß und schwer und erfordert Einigkeit und außerordentliche Anstrengung. Reden wir offen. Die Anarchie ist von ihren Anhängern nie gut behandelt worden. So wie der Sozialismus, der zu allerletzt bis zum kleinlichen Umfange einer Arbeitsstundenfrage und eines Minimallohnes herabgesunken ist, so ist auch die Anarchie oft geschmälert, entstellt und unerkenntlich gemacht worden.

Ein Teil von uns hat sich darauf verlegt, über die Zukunft zu dogmatisieren, die Schwierigkeiten mit Formeln zu entscheiden, während die anderen sich damit beschäftigen, das zu erreichende Ziel zu verschleiern, und zwar unter dem Vorwand, nicht über die Zukunft bestimmen zu wollen.

Es gibt darunter Leute, die jedes Prinzip der Organisation, d.h. die Seele, das Wesen der Anarchie, die ja organisierte Gesellschaft ohne Autorität bedeutet, verneinen und sich folglich auf ein rein individuelles Vorgehen beschränken, dessen Ergebnisse sie in den Rang großer anarchistischer Heldentaten erheben. Doch handelt es sich dabei um Taten, wie sie seit jeher als Reaktion auf die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten üblich waren, die aber die Ursache der Ungerechtigkeiten nicht berühren und sie daher auch nicht beseitigen können. Der Angriff auf das Eigentum meines Nachbars z.B. stellt an sich keinen Angriff auf die Institution des Eigentums dar, wie der Kampf gegen die Personen, die sich einer gewissen Volkstümlichkeit erfreuen, kein Kampf gegen das Autoritätsprinzip ist. Die individuelle Aktion, die gut ist, wenn sie die Sympathien der Massen weckt, ist im Gegenteil sehr schädlich, wenn sie deren Gefühle verletzt und ihnen als vom individuellen Interesse inspiriert erscheint.

Übrigens kann sie sich ohnehin nicht verallgemeinern. Gewiß, wenn es sich erreichen ließe, daß jeder sich weigert, seine Miete und Steuern zu zahlen, den Militärdienst zu leisten und den Befehlen der Autoritäten zu gehorchen, dann müßte das zwangsläufig zur Revolution führen. Aber das ist unmöglich; es gibt nur wenige Individuen, die dank einer besonderen Lage, in der sie sich befinden, und auf Grund gewisser persönlicher Eigenschaften so handeln können, und selbst diese werden nicht jeden Tag, nicht bei jedem Lebensakt revoltieren. Was die Masse anbetrifft, so begreift sie nur die kollektive, gemeinsame Empörung, und in diesem Falle erhebt sie sich nicht gegen die Zahlung einer Steuer oder eines Mietzinses, sondern für ihre vollständige Emanzipation.

Fügen wir hinzu, daß es Taten gibt – den Diebstahl –, die, wenn sie nicht durch eine große Not gerechtfertigt werden, weit davon entfernt sind, von den Massen belobt und nachgeahmt zu werden, die, im Gegenteil, die Täter isolieren, sie mit Mißtrauen und Widerwillen umgeben. In der Tat, dort, wo diese Art der «individuellen Aktion» vorherrschend war, fanden sich die Anarchisten abgesondert von den Massen, unfähig, die kleinste Bewegung zu versuchen, und in ihre Reihen drängten sich Personen, die mehr unter den Bourgeois und den Ausbeutern am Platze gewesen wären.

Der «unmittelbare» Zweck der Verfechter der individuellen Aktion ist an und für sich die Verbesserung des Schicksals der Person. Der «unmittelbare» Zweck der Staatssozialisten ist die gesetzliche Reform. Unser «unmittelbarer» Zweck ist aber die soziale Revolution. Natürlich behaupten diejenigen, die auf Verbesserung ihrer persönlichen Lage hinzielen, daß, wenn ein jeder seinen gegenwärtigen Ausbeuter übervorteilte, die Aufgabe für die ganze Welt gelöst sein würde, so wie die Staatsozialisten vorgeben, daß man von Gesetz zu Gesetz, von Reform zu Reform schließlich in der vollkommensten der möglichen Welten landen würde.

Wir wissen aber, daß die versprochenen Reformen nicht verwirklicht werden oder daß, wenn sie sogar verwirklicht wären, sie nur das Schicksal einer Kategorie von Arbeitern auf Kosten der anderen verbessern würden. Und wir wissen auch, daß alles, was eine Person in der modernen Gesellschaft gewinnt, die anderen verlieren. Wenn man also dazu gelangen würde, alle Bourgeois «individuell» zu enteignen, so würde man sie nur wieder ersetzt haben. Wir finden keinen anderen Ausweg als die Revolution; wir sondern uns sowohl von den Reformern als auch von den sogenannten Verfechtern der individuellen Aktion vollständig ab, weil wir glauben, daß jedes andere Interesse der Revolution untergeordnet und gegen alles gekämpft werden muß, was die Revolution verzögern oder uns mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge aussöhnen könnte. Tatsächlich sind wir schon seit langer Zeit von den Reformern getrennt; was die Partisanen der individuellen Aktion anbetrifft, von der wir eben gesprochen haben, so ist der Zeitpunkt gekommen, mit ihnen vollständig zu brechen. Nichts verbindet uns. Es ist augenscheinlich, daß, da sie weder eine Organisation noch eine kollektive Aktion billigen, wir nichts gemein haben. Andererseits ist die Art und Weise der Propaganda, die sie verfolgen, mehr dazu geeignet, die Sympathien der Massen von uns abzuwenden, als sie zu gewinnen. Das Volk mit seinem gesunden Verstand begreift nicht, wie man zum Sozialismus gelangen kann, wenn man sich der individuellen Aneignung nach dem Vorbild der Bourgeoisie bedient.

Wenn wir im praktischen Bereich das Bedürfnis fühlen, uns abzusondern von denjenigen, die sich zwar fortwährend Anarchisten und Revolutionäre nennen, in der Praxis aber die Isolierung und das «Jeder-für-sich» predigen, so ist es kaum nötig zu sagen, daß wir in der Theorie und in der Praxis Gegner der individualistischen Anarchisten sind. Wir – Kommunisten und Kollektivisten – sind vor allem Sozialisten, d.h., wir wollen die Ursache aller Ungleichheiten, aller Ausbeutung, allen Elends und aller Verbrechen – das individuelle Eigentum – zerstören.

Die individualistischen Anarchisten dagegen wollen es aufrechterhalten, da sie es als eine Vervollständigung der menschlichen Freiheit betrachten. Sonderbare Freiheit, die einerseits auf der Sklaverei, andererseits auf der Herrschaft und Ausbeutung beruht! Es ist wahr, die individualistischen Anarchisten behaupten, daß, wenn man der individuellen Freiheit keine Zügel anlegt und die Unterdrückungsmaschine Staat vernichtet, daraus natürlicherweise eine neue Ordnung, wenn auch nicht der Gleichheit, so doch wenigstens der Gerechtigkeit, folgen würde. Aber solange das individuelle Eigentum besteht oder sich wieder erzeugen kann, wird es immer so ein Ding wie den Staat geben. Die Besitzenden werden sich immer verbinden, um die Arbeitenden unterdrückt zu halten; wenn die öffentliche Polizei nicht mehr sein sollte, werden sie eine Privatpolizei, wie die Pinkertons[2] in den Vereinigten Staaten, konstituieren; und sie werden immer die Regierung stellen. Nur wenn man gleichzeitig das Eigentum und die Regierung unterdrückt, wird man sie wirklich verschwinden lassen. Jede Spur von Eigentum zieht notwendigerweise einen Rest von Regierung nach sich, und umgekehrt wird der kleinste Überrest einer Regierung Ausbeutung, Usurpationen hervorrufen, die darauf hinauslaufen werden, das Privateigentum wieder herzustellen.

Es wird behauptet, daß die Revolution, wie der Blitz und der Wind, ein Naturereignis ist. Man sagt, der Mensch könne sie in keinem einzigen Augenblick beschleunigen. Das ist eine der vielen philosophischen Spitzfindigkeiten, die uns die gelehrten Vertreter der Bourgeoisie eingetrichtert haben. Hammer oder Amboß, der Mensch ist immer die handelnde, die wichtigste Kraft der sozialen Veränderungen. Die Geschichte wird von Menschen gemacht; je bewußter sie sich ihrer Ziele sind, und je mehr bewußte Menschen sich an deren Erreichung beteiligen, desto sicherer und schneller wird sich der Fortschritt entwickeln. Der einzelne kann wenig ausrichten, aber die Massen können alles. Auch wenn man annimmt, daß wir nur blinde Werkzeuge des historischen Geschicks sind, dann ist es eben das historische Geschick, das uns veranlaßt zu handeln, uns zusammenzuschließen und uns aufzuopfern. Wenn man diese Deutung akzeptiert, macht man sich das allgemein bevorzugte philosophische System zu eigen; aber schließen wir uns zusammen und, wenn nötig, opfern wir uns!

Gleichermaßen zerbricht sich mancher den Kopf, um herauszufinden, ob sich der Mensch für sein Interesse oder sein Wohl opfert oder ob er sich gegen sein Interesse und trotz seines Leidens aufopfert. Auch das ist eine spitzfindige Streitfrage, eine Diskussion über den Ursprung von Ei und Henne. Zunächst einmal müßte man festlegen, was unter Wohl zu verstehen ist. Der einzelne, der, um das Leben eines anderen zu retten, sein eigenes Leben opfert, tut sicher nichts Gutes[3]. Und es ist nicht wahr, daß der Mensch, der sein Leben für eine Idee hingibt, keine Angst vor dem Tod hat, und daß es ihm gleichgültig ist, wenn er die Menschen, die ihn gern haben, leiden sieht. Die Großmütigen handeln so, obwohl sie wissen, daß sie sich Leid zufügen, denn sie fühlen sich durch unsichtbare, aber wirklich existierende Bande mit ihren Nächsten verbunden, und sie folgen dem Gefühl, für den Nächsten verantwortlich zu sein, das ihrer Natur innewohnt. Doch was man auch immer von diesem wissenschaftlichen Streit denken mag, es bleibt die Tatsache, daß es Menschen gibt, die ihr persönliches Wohl dem gesellschaftlichen Wohl opfern; und es gibt Menschen, die umgekehrt ihre Nächsten für sich opfern. Die ersteren sind zu loben, die letzteren zu verachten. Die ersteren verdienen Sympathie, Freundschaft, Dankbarkeit; die letzteren Mißbilligung.

Zuviel individualistische Philosophie würde uns dazu führen, den Bourgeois, unsern Feind, zu umarmen. Außerdem wird man durch die philosophische Beschäftigung mit dem Egoismus selbst zum Egoisten. Ohne Menschen, die sich aufopfern, gibt es keine Revolution, nicht einmal einen Streik. Warum sollte sich der Arbeiter ohne Arbeit weigern, an die Stelle des Streikenden zu treten? Vielleicht mit Rücksicht auf seine Zukunft? Aber er kämpft für die Existenz des Augenblicks, und wenn er unterliegt, gibt es keine Zukunft mehr für ihn. Ebenso ist es auch eine Illusion, von den vielen Tausenden von Opfern der kapitalistischen Ausbeutung zu erwarten, daß sie sich erheben, daß sie eher ins Gefängnis gehen und sich töten lassen, als sich jeden Tag berauben, quälen, mit Füßen treten zu lassen. Es wird nämlich viele geben, die lieber die Sklaverei und das Elend ertragen werden als ins Gefängnis zu gehen. Die Theorie vom persönlichen Interesse ist falsch und höchst antirevolutionär. Sie ist für die Bourgeoisie von Vorteil, deren Neigungen sie ausgezeichnet verkörpert; aber sie schadet den Arbeitern, deren Stärke und Hoffnung in der Solidarität liegen, unendlich.

Es ist an der Zeit, darauf einzugehen, was wir unter Revolution verstehen.

Die Staatssozialisten, wenn sie sich zuweilen Revolutionäre nennen (meistens verwahren sie sich dagegen), verstehen unter Revolution einen Aufstand, der ihnen die Macht verschaffen wird. Das Volk wird sich schlagen, später wird ein Ausschuß oder ein Rat, groß oder klein, zentral oder lokal, erwählt oder konstituiert; und das Volk wird diesen Ausschuß oder diesen Rat beauftragen, die Revolution zu vollenden, d.h. das Eigentum zu vergesellschaften, die Produktion zu organisieren usw., behält sich aber vor, den Ausschuß zu stürzen und einen anderen an seine Stelle zu setzen, wenn er nicht treu die gegebene Aufgabe erfüllt[4].

Wir Anarchisten glauben, daß der Rat oder der Ausschuß zuerst nichts von alledem tun, sondern vielmehr dafür sorgen wird, sich eine Partei zu schaffen und mit einer Militärmacht zu versehen, um am Ruder zu bleiben und um das Volk zu verhöhnen. Hierauf, wenn der Ausschuß doch etwas zu tun bestrebt sein sollte, wird er sich als Repräsentant des Staates und zum Großbesitzer aller gesellschaftlichen Reichtümer ernennen, er wird fortlaufend Verwalter und Direktoren einsetzen, er wird die für alle Arbeiter obligatorischen Arbeitsstunden festsetzen, Steuern auf die Produktion legen, sich und seine Anhänger und Verteidiger bereichern und die Masse in einen Zustand der Sklaverei, schlimmer als der gegenwärtige, versetzen. Und das alles, weil das Volk, nachdem es auf eigenes Risiko und eigene Gefahr hin die Revolution angefangen hatte, nach dem Sieg zugunsten einiger Personen abgedankt hat.

Eben darum, weil das Volk instinktiv die Gefahr, getäuscht zu werden, fühlt, zögert es, den Kampf zu beginnen. Es glaubt manchmal, dazu verdammt zu sein, der Sklave und Spielball einiger weniger zu bleiben. Man muß es vom Gegenteil überzeugen; man muß ihm in der klarsten und genauesten Weise erklären, wie es vermeiden kann, die Beute einer neuen herrschenden Klasse zu werden, die aus dem Schoße irgendeiner Partei, einer Arbeiterpartei, einer sozialistischen oder selbst anarchistischen Partei hervorgehen könnte.

Hier nähern wir uns den wichtigsten prinzipiellen und taktischen Fragen. Es handelt sich hier darum zu wissen, wie wir uns am Tage der Revolution verhalten werden; wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sein werden, wann wir zur Gewalt Zuflucht nehmen sollen und wann wir uns dagegen verwahren müssen, sie anzuwenden. Dieser Punkt ist noch nicht genügend diskutiert worden, weil man optimistisch genug war zu glauben, daß sich alles, wenn die Revolution erst einmal begonnen habe, zum Besten wenden werde und daß, wenn jeder auf seine Art und Weise handelte, ohne sich im geringsten um die anderen zu kümmern, die Gesellschaft sich nichtsdestoweniger eines schönen Tages auf einer Grundlage der vollkommensten Gerechtigkeit und der vollkommenen Gleichheit organisiert finden würde. Das ist eine Utopie – eine gefährliche Utopie. Die Gesellschaft wird sich organisieren, aber nur, wenn die Individuen sich gemeinsam engagieren. Zweifellos werden große Tugenden zum Vorschein kommen, aber auch unübersteigbare Hindernisse. Man darf nicht eine wunderbare Umwandlung der menschlichen Natur erwarten, diese Umwandlung wird sich erst in der Folge, mehr oder weniger langsam, unter der Wirkung der neuen Existenzbedingungen vollziehen; sie plötzlich, gleichzeitig mit der Revolution, voraussetzen, hieße die Wirkung vor die Ursache stellen.

Eine der Hauptgefahren für die Revolution wird durch die Tendenz der Menschen, ihren Willen, ihre Ansichten im Guten oder im Bösen durchzuführen, geschaffen. Die Gewalt, anfangs für einen lebenswerten Zweck angewendet, erzeugt bei den einen die Gewohnheit des Befehlens, bei den anderen die Geneigtheit zu gehorchen. Wenn das eintrifft, dann ist die Revolution verloren. Andererseits können wir auf die Anwendung von Gewalt beim Beginn der Revolution nicht verzichten, denn wir werden uns zu verteidigen und unsern Sieg zu sichern haben nicht nur gegen unsere geheimen Feinde, nicht nur gegen das Überbleibsel der Bourgeoisie, sondern auch gegen die neuen Herrn, die aus unseren Reihen oder aus den Reihen der Sozialdemokraten kommen dürften. Auch ist es wichtig, uns gut zu orientieren, genau zu wissen, was wir zu bekämpfen und was wir zu respektieren haben – wenigstens in allgemeiner Andeutung. Ausschreitungen und Schwächen sind unausbleiblich; wenn wir aber Prinzipien zu Führern haben, werden wir uns rechtzeitig bessern können, bevor wir unsererseits von dem Strudel ergriffen werden, in dem alle früheren Revolutionen untergegangen sind.

Legen wir also gut unseren Ausgangspunkt fest. Wir werden gegen die moderne Gesellschaft nicht im Namen eines abstrakten Gerechtigkeitsprinzips (das sehr schwer zu etablieren ist) revoltieren, sondern für die wirkliche Verbesserung der Lage der Menschheit. Auch haben wir eine eindeutige Operationsbasis. Auf der einen Seite steht die weitgehend versklavte arbeitende Masse, auf der anderen die privilegierte Minderheit. Die letztere muß verschwinden, nicht physisch (es ist weder möglich noch wünschenswert, alle Angehörigen der Bourgeoisie und alle, die eine Neigung zeigen, sie zu ersetzen, zu töten), sondern gesellschaftlich, was besagen will, daß diejenigen, die aus ihren Reihen herausgetreten sind in die Reihen der Arbeiter, als Mitglieder in die neue Gesellschaft mit gleichen Rechten wie alle anderen eintreten werden. Die Arbeiter ihrerseits müssen vortreten und die Arbeitswerkzeuge, die Produktionsmittel in Besitz nehmen; sie müssen leben, ohne Tribut zu zahlen und ohne jemandem zu dienen.

Die Expropriation der Bourgeoisie kann sich nicht anders vollziehen (wir haben es schon oben gesagt) als durch die Gewalt, durch tätliche Mittel.

Die rebellierenden Arbeiter haben keinen um Erlaubnis zu fragen, um sich der Werkzeuge, der Fabriken, der Magazine, der Häuser bemächtigen und sich dort niederlassen zu können. Nur ist das kaum mehr als ein Anfang der Besitzergreifung, ein Vorspiel. Wenn jede Arbeitergruppe, nachdem sie sich eines Teiles des Kapitals oder des Reichtums bemächtigt hat, absoluter Herr darüber, unter Ausschluß der anderen bleiben will, wenn eine Gruppe von dem erworbenen Reichtum leben will und sich weigert zu arbeiten und sich mit den anderen zur Organisation der Arbeit zu verständigen, dann wird, nur unter anderem Namen und zum Profit anderer Personen, das gegenwärtige Regime fortbestehen. Die ursprüngliche Besitzergreifung kann also nur provisorisch sein: Der Reichtum wird tatsächlich erst in Gemeineigentum übergeben, wenn alle zu arbeiten anfangen, wenn die Produktion im allgemeinen Interesse organisiert wird.

Das Grundprinzip der Organisation der Produktion besteht darin, daß eine jede Person die Pflicht hat zu arbeiten, sich seinen Nächsten nützlich zu machen – sofern sie nicht krank oder unfähig ist. Wenn man an diesem Prinzip festhält, wird es leicht sein, die Ungleichheiten bei der Besitzergreifung zu korrigieren, denn man wird kein Interesse daran haben, mehr zu besitzen, als zur Arbeit notwendig wäre, und man wird der Gesellschaft in Form von Erzeugnissen zurückgeben, was man ihr in Form von Produktionsmitteln genommen hat.

Die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, die Uneinigkeit werden am selben Tage wieder auftauchen, an dem es Menschen geben wird, die sich der Arbeit entziehen wollen, um auf Kosten der anderen zu leben. Besonders beim Beginn der Revolution wird es Leute geben, die das versuchen werden; und sie sind es, gegen die sich alle aufrichtig revolutionären Menschen kehren werden.

Das Prinzip, daß jeder Mensch die Pflicht hat, sich der Gesellschaft durch Arbeit nützlich zu machen, braucht keine Erläuterung; es muß in die Sitten eindringen, die öffentliche Meinung inspirieren, sozusagen ein Teil der menschlichen Natur werden. Das wird der Felsen sein, auf dem die neue Gesellschaft errichtet wird. Jedes auf dieses Prinzip gegründete Übereinkommen wird keine schweren und dauerhaften Ungerechtigkeiten erzeugen, während die Vergewaltigung dieses Prinzips unfehlbar und in kurzer Zeit die Menschheit zur gegenwärtigen «Ordnung» zurückbringen würde.

Ist dieses Prinzip anerkannt, werden die Arbeiter die Arbeit zu organisieren und ihre gegenwärtigen Verhältnisse zu regeln haben. Hier kann die Gewalt nichts ausrichten; vielmehr ist gegenseitiges Verständnis notwendig. Dieses wird durch freie Vereinbarungen erreicht werden, die jederzeit geändert werden können und die innerhalb jeder Assoziation beschlossen und durch Verträge zwischen den Assoziationen festgelegt werden.

Die Assoziationsverträge dürften sehr verschiedenartig sein. In der einen Assoziation werden sich die Arbeiter gegenseitig zu einer gewissen Anzahl Arbeitsstunden verpflichten, in einer anderen, um in einer festgelegten Zeit ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen. Die Arbeiter der einen Gruppe werden es vorziehen, die Erzeugnisse ihrer Arbeit gemeinschaftlich zu verbrauchen, die anderen, daß sich jeder einen seiner Leistung entsprechenden Teil nimmt. Man wird den einen den Kommunismus, den anderen den Kollektivismus nicht aufzwingen können, solange in der Theorie das eine System dem anderen vorgezogen wird.

Kommunisten und Kollektivisten[5] werden kaum am gleichen Arbeitsplatz zusammenkommen wollen, weshalb man es am besten jedem überläßt, nach seinem Geschmack zu handeln. Wenn es irgendwo Leute geben sollte, die den Proudhonschen Mutualismus versuchen wollen, so lasse man auch ihnen die Freiheit, um so mehr, als wir davon überzeugt sind, daß dieses System zu künstlich und zu kompliziert ist, um mit Erfolg praktiziert zu werden. Selbst wenn die Bauern den Boden unter sich aufteilen und einzeln kultivieren wollten, würde es ein Unsinn sein, mit Gewalt gegen sie vorzugehen, weil es nicht die Gewalt ist, mit der man den Leuten Solidarität beibringt; man fördere die gegenseitige Freundschaft, dieses Gefühl, Glieder eines gesellschaftlichen Organismus zu sein, ein Gefühl, das es dem Starken als natürlich erscheinen lassen wird, mehr als der Schwache zu arbeiten, so wie es dem Menschen mit weniger Bedürfnissen natürlich erscheinen wird, seinen Nachbar mehr als er selbst verbrauchen zu sehen.

Das sozialistische Lager ist heute in zwei große Gruppen gespalten: Einerseits in diejenigen, die im Sinne der politischen Ökonomie das gerechte Maß der Arbeit zu finden suchen, um jede spezielle Anstrengung des Individuums zu bezahlen, zu belohnen und so in der Gesellschaft eine formelle, kalte und mehr scheinbare als wirkliche Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten; andererseits diejenigen, die denken, daß solche Berechnungen jede freie Gesellschaft unmöglich machen werden, daß die Menschen, indem sie Zusammenarbeiten, zufrieden sind, wenn sie genügend Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse haben, und daß sie, weit davon entfernt, immer auf dem Kriegsfuß miteinander zu leben, ein Vergnügen darin finden werden, sich gegenseitig zu helfen.

Wenn das richtig ist, so ist der reine und strenge Kollektivismus unmöglich, denn es fehlt ihm das Maß der individuellen Arbeit und des relativen Nutzens eines jeden Dinges. Der absolute Kommunismus ist aber auch nicht sofort anwendbar, denn es fehlt auch ihm das Maß der Bedürfnisse und der individuellen Kräfte; und übrigens wird es beim anarchistischen Kommunismus keine Autorität geben, die mit der Verteilung der Arbeit nach den vorhandenen Kräften und der Erzeugnisse und Vergnügungen entsprechend den Bedürfnissen beauftragt wäre. Damit das gut funktioniert, oder besser, damit es überhaupt funktioniert, muß jeder freiwillig arbeiten, so viel er kann, und in gerechtem Maße, die Bedürfnisse seiner Nächsten in Betracht ziehend, verbrauchen; das wird zweifellos in der Folge, aber nicht bei Beginn der Revolution eintreffen.

Man wird uns vielleicht erwidern, daß man viel mehr als notwendig produzieren wird und daß die Arbeit, die eine jede Person der Gesellschaft schuldig ist, so minimal ist, daß niemand sie zu vollbringen sich weigern wird. Man ist in der Tat so weit gegangen zu behaupten, man produziere schon heute genug, um alle Bedürfnisse und alle Menschen befriedigen, alle Hungernden sättigen, alle Nackten kleiden und, endlich, Wohlstand jenen Millionen Menschen, die heute im Elend schmachten, verschaffen zu können. Diese Behauptung scheint uns von der Wahrheit weit entfernt zu sein. Es mag wohl Anhäufungen von Erzeugnissen an einigen Plätzen, in einigen Magazinen vorübergehenden Überfluß geben; aber was hat das im Vergleich zu dem absoluten Mangel zu bedeuten, der in ganzen Distrikten, auf dem Lande, über weite Gebiete hinweg herrscht ?

Wenn es heutzutage Überfluß gibt, dann in der Produktion von Luxusartikeln und nicht in den Verbrauchsgütern des Arbeiters; denn der Grundbesitzer und der Kapitalist erlauben hier dem Boden und der Industrie gerade so viel zu produzieren, wie nötig ist, um den Arbeiter zu ernähren, damit die Arbeiter ihnen bestimmte Gegenstände zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse oder Launen produzieren. Ist diese Grenze erreicht, so läßt der Grundeigentümer den Boden brachliegen, der Kapitalist schließt die Fabrik, und der Arbeiter stirbt an Hunger. Das versteht sich, das ist sogar notwendig unter der jetzigen Ordnung, denn es ist unvermeidlich, damit der Arbeitgeber auf den Hunger des Arbeiters rechnen kann, um ihm seine Bedingungen zu stellen, damit der Kaufmann mit den Bedürfnissen der Arbeiter rechnen kann, um ihm seine Waren aufzuzwingen, damit der Großkapitalist, der Großhändler und der Bankier in gleicher Weise gegenüber ihren Kunden Vorgehen können.

Das Resultat ist, daß es tatsächlich auf allen Märkten kaum genügend Vorräte zum Leben für einige Tage gibt und daß der kleinste unvorhergesehene Umstand ein Land dem Hunger überliefern kann.

Man hat also nicht mit dem Überfluß der vorhandenen Vorräte zu rechnen, man darf nicht glauben, daß wir nur in die Magazine einzudringen brauchen, um deren Inhalt fröhlich Wochen oder Monate lang zu verbrauchen. Ist daher die Revolution einmal ausgebrochen, so muß es unsere erste Sorge sein, die Produktion zu organisieren; ehe man sich schlägt, muß man leben.

Sicher besitzt man schon heute genügend Produktionsmittel, um alle vernünftigen Bedürfnisse zu befriedigen, d.h. um allen einen sogar höheren Wohlstand als den mittleren der heutigen kapitalistischen Klasse zu verschaffen. Aber dieser ganze Wohlstand muß geschaffen werden durch Arbeit, durch Veränderung der Industrie, sogar der individuellen Technik, durch Instruktion usw. Übrigens (vielleicht einige Erzeugnisse ausgenommen) wird es nie einen absoluten Überfluß, eine wirkliche Überproduktion geben, weil es absurd sein würde, daß der Mensch arbeitet, um Dinge, die er nicht benötigt, zu produzieren; er wird vielmehr seine überflüssige Arbeitskraft auf neue Erzeugnisse zur Befriedigung neuer Bedürfnisse verwenden. Die Bedürfnisse der Menschen sind ja unendlich, wachsen fortwährend, und die Arbeit, anstatt weniger zu werden und auf Null herabzusinken, wie einige glauben, wird wahrscheinlich wachsen, immer angenehmer, abwechslungsreicher und freier werden.

Es wird nicht, wie heutzutage, Menschen geben, die zu langen Arbeitstagen verurteilt sind, zu Mühsal, die entwürdigt und abstumpft, und andererseits Müßiggänger, die sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man die «Zeit totschlagen» und sich amüsieren kann. Der Mensch wird von einer Arbeit zu anderen übergehen, von der Handarbeit zum Studium und zu künstlerischen Erholungen; aber bei alledem wird er immer den Zweck verfolgen, sich seinen Genossen nützlich zu machen.

Wir müssen also auf die Illusion, daß der Mensch in der Zukunft nicht mehr als einige Stunden oder einige Minuten arbeiten und sich den Rest seiner Zeit im Nichtstun zu Tode langweilen würde, verzichten.

Die Arbeit ist das Leben und gleichzeitig das Band, das die Menschen in der Gesellschaft vereint. Die Solidarität in der Arbeit ist nötig, damit es der Menschheit wohl ergeht.

Die Solidarität kann aber nicht durch ein Gesetz dekretiert werden, ausgenommen, sie wird durch die öffentliche Meinung hervorgerufen, dann muß aber die letztere im Einklang mit dem persönlichen Gefühl stehen. Der Kommunismus wird dort nicht etabliert werden können, wo die Menschen nicht geneigt sind, die Solidarität anzuerkennen.

Übrigens wird die Solidarität am Anfang auf eine gewisse Anzahl von Assoziationen oder Ortschaften begrenzt sein, sie wird sich wahrscheinlich nicht von einem Land zum anderen ausdehnen, wird nicht universell sein. Zwischen den Bewohnern der verschiedenen Gegenden wird es anfangs nur gewöhnliche Kontakte, zufälligen Beistand usw. geben. Die soziale Evolution wird der des individuellen Gefühls folgen.

Unsere Ideen zusammenfassend, können wir die «Besitzergreifung» als die revolutionäre Aufgabe par excellence ansehen; die «freienVerträge», geschlossen zwischen den verbündeten Arbeitern, werden die Grundlage der künftigen Organisation der Arbeit bilden; die «Föderation der Assoziationen», mehr oder weniger ausgedehnt, wird die Krönung des Gebäudes darstellen. Der Kommunismus, der Kollektivismus und andere Systeme werden versucht, vielleicht vermischt werden, und während man damit experimentieren wird, werden sich die Menschen langsam daran gewöhnen zusammenzuleben, einer für den anderen zu arbeiten und sich des Glücks zu freuen, das sie schaffen werden. Die Notwendigkeit der Dinge, das Bedürfnis nach gegenseitigem Beistand, die Entwicklung der Maschinerie, das Wachsen der Produktion und insbesondere die Erziehung des Menschen zur Solidarität werden die Menschheit zum Kommunismus führen, den man immer als das sichtbare Endziel der Revolution betrachten muß, denn er verkörpert den höchsten Grad der menschlichen Solidarität.

Im übrigen darf man nicht die Ausdehnung und Mannigfaltigkeit der Bewegung außer acht lassen. Man wird nicht nur arbeiten, sondern auch kämpfen müssen, nicht nur örtliche Organisationen, sondern auch regionale und internationale errichten müssen. Man denke dabei an die Lage der großen Städte, deren Ernährung von unzähligen Abmachungen mit den sie umgebenden Örtlichkeiten abhängt, die wiederum von den Städten abhängen. Man denke dabei an die gegenwärtige Teilung der Industrie, an die Handelsorganisationen, an die großen Verkehrsadern usw. Zweifellos wird das alles geändert werden müssen; aber das wird man nicht von heute auf morgen können. Es wird Versuche, Verbesserungen, Konflikte geben, ehe ein Vertrag vereinbart wird. Nur um zu bestimmen, wie viel produziert werden muß, welche Bedürfnisse den Vorzug verdienen und welche Grenzen jede Person ihren Wünschen setzen muß, wird eine gewisse Zeit vergehen. Man wird sich nicht plötzlich in einem vollkommenen System befinden. Keine göttliche Inspiration, sondern die Erfahrung und das Zusammenwirken werden dem einzelnen in der Arbeitsgruppe zeigen, ob die Gesellschaft dieses oder jenes braucht.

Wenn wir solche Schwierigkeiten nicht ignorieren, werden wir einen nützlichen Einfluß auf die Ereignisse ausüben; mit offenem Visier müssen wir unsere Aufgabe betrachten, im Vertrauen auf die menschliche Energie und die uns zur Verfügung stehenden Mittel.

Die Revolution, wie wir sie verstehen, kann nur durch das Volk und für das Volk gemacht werden, ohne falsche Bevollmächtigte. Wir haben kein Vertrauen in Gesetze; die Revolution muß eine Tatsache sein, kein auf dem Papier geschriebenes Ding. Wir glauben, daß die neue gesellschaftliche Organisation von unten nach oben ausgebaut werden muß, d.h. beginnend mit der Besitzergreifung und örtlichen Vereinbarungen, deren Anwendungsbereich dann immer weiter ausgedehnt wird; und nicht von oben nach unten, durch Dekrete einer zentralen Autorität, die von einem Heer von Funktionären ausgeführt werden.

So verstanden, kann die Revolution selbstverständlich kein Werk einer Partei oder einer Koalition von Parteien sein, sie erfordert vielmehr die Mitwirkung der ganzen Arbeitermasse. Ohne diese macht man Staatsstreiche, keine Revolution. Jede Partei oder jeder Zirkel von Personen, der – unter dem einen oder dem anderen Namen, sogar ohne offiziellen Titel, ohne sich öffentlicher Wohlfahrtsausschuß oder Generalrat zu nennen, aber durch die einfache Tatsache seiner Existenz, und vielleicht auch vermittelst des Terrors – die Leitung der Bewegung und die Oberhand über die Masse gewinnt, wird die Revolution töten und notwendigerweise seine eigene Herrschaft vorbereiten.

Diese Gefahr zu vermeiden, gibt es nur das eine Mittel, daß die Massen sich rasch organisieren und daß die verschiedenen Gruppen sofort an die Arbeit gehen.

Das Wohl der Revolution hängt von der spontanen und zum Teil von der vorausgegangenen Organisation der Arbeitermassen ab.

Die moderne Arbeiterorganisation ist schlecht, ist autoritär, sie hat zu eng begrenzte Ziele; oft ist sie der Spielball von Politikern; sie ist jedoch der Kern, aus dem die künftige gesellschaftliche Organisation entstehen wird. Man darf sie deshalb nicht im Stich lassen, man muß für sie und mit ihr arbeiten.

Wir Anarchisten können auf dreierlei Weise zur revolutionären Ausrichtung der Arbeiterorganisation beitragen. Erstens müssen wir die Assoziation wieder zu wirklichem und aktivem Leben erwecken: Dort, wo jede Tätigkeit in den Händen einiger Führer konzentriert ist, wo die Mitglieder der Assoziation nur aufgerufen sind, ihre Beiträge zu zahlen und den Anweisungen zu gehorchen, dort müssen wir auf die Überflüssigkeit der Autorität, auf die Gefahr, von den Führern verraten oder verlassen zu werden, auf die in der Assoziation herrschenden Rivalitäten, Streitigkeiten und Intrigen hinweisen.

Die Arbeiter brauchen keine Vorgesetzten: Sie können sehr gut einige aus ihrer Mitte mit irgendwelchen besonderen Aufgaben betrauen, allerdings nur unter der Bedingung, daß sie selbst nicht auf hören, sich darum zu kümmern, damit sie nicht von ihren Bevollmächtigten betrogen werden. Der Sitz der Assoziation muß ihr Haus sein: Hier müssen sie sich wie eine Familie zusammenfinden, hier ihre Freizeit verbringen und alle ihre Probleme diskutieren. Das ist eine neue Phase, in die die Arbeiterassoziationen eintreten müssen, um sich darauf vorzubereiten, die große Umwälzung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Zweitens müssen die Arbeiter dazu bewogen werden, ihre Ideen und die Ziele ihrer Assoziationen zu verbreiten. Jede Kategorie oder Schicht muß sich, anstatt an ihr eigenes Interesse zu denken, verbrüdern und Solidarität auf breiter Basis praktizieren, auch mit nichtorganisierten Arbeitern, mit Arbeitslosen und mit ungelernten Arbeitern. Es liegt im Interesse der besser behandelten Arbeiter, für die Sache der weniger begünstigten Arbeiter und Arbeitslosen einzutreten. Ihnen zu helfen, ihre Lage zu verbessern, ist vielleicht das einzige Mittel, um ihre eigene Lage dauerhaft zu verbessern. Der Arbeitslose darf seinerseits nicht die Forderungen der besser gestellten Arbeiter durchkreuzen. Indem wir begreifen, daß das Interesse der einen Kategorie von Arbeitern darin besteht, alle Forderungen der anderen Kategorien zu unterstützen, werden wir dem Arbeiter seine ganze Macht zeigen, die er noch nicht erkannt hat. Die Bourgeoisie muß wissen, daß ihr nicht einzelne und zersplitterte Gruppen gegenüberstehen, sondern alle Arbeiter, alle Proletarier, und daß jeder Streik notwendigerweise das Signal für die allgemeine Mobilisierung der Arbeiterklasse ist und der Beginn der Revolution sein kann; sie muß wissen, daß die Arbeiter über jedes Sonderinteresse das allgemeine Interesse und die gesamten Lohn- und Arbeitsfragen stellen, daß sie danach streben, sich vollständig zu emanzipieren und ohne Arbeitgeber und Ausbeuter auszukommen.

Schließlich müssen wir die Arbeiter auf die Notwendigkeit, sich gegenseitig zu unterrichten und sich wohlbegründete Überzeugungen anzueignen, hinweisen. Die wahre Organisation ist die, der gemeinsame Erwartungen und eine gemeinsame Idee zugrundeliegen. Nur unter dieser Voraussetzung solidarisieren sich die Arbeiter, selbst wenn sie nicht zur entsprechenden Organisation gehören. Die Opfer und Entbehrungen, die der Kampf gegen die Arbeitgeber fordert, können nur überzeugte Menschen auf sich nehmen. Der überzeugte Mensch wird nie seine Geführten verraten. Gerade in der Propaganda der Prinzipien aber liegt eine vielfach unbeachtete Kraftquelle der Arbeiterklasse. Die bestehenden Organisationen widmen sich stark den Interessen, aber viel zu wenig den Prinzipien. Die Prinzipien aber sind es, die den Triumph der mit Füßen getretenen Interessen sichern. In jeder Assoziation sollte es die Möglichkeit geben, die großen sozialen Fragen zu propagieren. Alle Ideen sollten zur Diskussion zugelassen werden, damit der Arbeiter sich intellektuell und moralisch auf die Aufgabe vorbereiten kann, die ihm zugefallen ist, nämlich die Gesellschaft zu erneuern.

Während wir auf diese Weise die Bewegung der organisierten Arbeiter anspornen und sie immer wieder in revolutionäre und anarchistische Bahnen lenken, müssen wir uns auch mit denen ernsthaft beschäftigen, die kein Gewerbe haben, immer aktiver und energischer an ihrer Agitation teilnehmen, denn von dort aus wird der Todesstoß gegen die bürgerliche Gesellschaft geführt werden; aus dieser niederen gesellschaftlichen Schicht wird das revolutionäre Feuer auflodern. Jeder anderen Kategorie von Arbeitern können Zugeständnisse gemacht werden, aber das Problem der Arbeitslosen ist unlösbar, ihre Zahl wächst immerzu. Außerdem ist die Agitation unter Arbeitslosen bedeutend revolutionärer als ein Streik, sie hat keine eng gezogenen Grenzen, sie setzt mehr Elend voraus – und in diesem Milieu ist jede revolutionäre Tat möglich und in besonderer Weise gerechtfertigt. Wir Anarchisten müssen unsere revolutionäre Aktion auf die Gefühle der Massen abstimmen, die während dieser Agitation natürlich erregter sind als in gewöhnlichen Zeiten.

Schließlich müssen wir überhaupt immer gemeinsam mit den Massen vorgehen.

Wenn die Arbeiter Verbesserungen, Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Abschaffung von Fabrikgesetzen fordern; wenn sie streiken, um ihre Würde zu schützen oder um ihre Solidarität mit verfolgten und mißhandelten Gefährten zum Ausdruck zu bringen, dann müssen wir ihnen wohl sagen, daß das alles das Problem nicht löst; wir müssen die Gelegenheit nutzen, um ausführlicher und energischer die Notwendigkeit der Revolution zur Abschaffung des Privateigentums und des Staates zu propagieren; wir müssen unser möglichstes tun, um die Bewegung auszudehnen und ihr revolutionären Charakter zu verleihen; vor allem uns für sie opfern, wenn nötig. Sich nicht mehr um die Bewegung zu kümmern hieße als Freund der Bourgeoisie erscheinen, die Stimmung der Masse gegen unsere Ideen und Persönlichkeiten richten und folglich auf das wichtigste Mittel zur moralischen und materiellen Förderung der Revolution, die Mitwirkung der Massen, verzichten.

Wenn auch die ökonomischen Auswirkungen der Streiks meist nur vorübergehend, manchmal gleich Null und manchmal katastrophal sind, so ändert das nichts daran, daß jeder Streik eine Äußerung der Selbstachtung, der moralischen Empörung ist und dazu dient, den Arbeiter daran zu gewöhnen, den Brotgeber als Feind zu betrachten und ihn zu bekämpfen anstatt von ihm Gnade zu erwarten. Der Streikende ist schon nicht mehr der Sklave, der seinen Herrn segnet; er ist schon ein Rebell, der den Weg des Sozialismus und der Revolution eingeschlagen hat. Wir müssen ihn dazu bewegen, auf diesem Weg weiterzugehen.

Das ist also in kurzen Worten unser Programm: Die soziale Revolution als Nahziel; die Agitation in der Arbeiterklasse als wichtigstes Mittel.

Jetzt einige Worte über uns selbst. Wir haben die Notwendigkeit der Organisation bewiesen, und zwar sowohl für die zukünftige Gesellschaft, in der alle Menschen und Bedürfnisse organisiert werden, als auch für den gegenwärtigen Kampf der Arbeiter gegen die Ausbeuter. Es wäre natürlich lächerlich, überall von der Notwendigkeit der Organisation zu sprechen und nur uns selbst auszunehmen.

Die Organisation, die uns vorschwebt, ist natürlich frei und anarchistisch, d.h. ohne Vorgesetzte. Das soll aber nicht heißen, daß wir die Bilderstürmerei soweit trieben, daß wir auf die unentbehrlichsten Mittel zur Existenz und zur Verfolgung unserer Ziele verzichteten. Wir lieben keine Abstraktionen, und Worte schrecken uns nicht. Wir streben ernsthaft und mit allen unseren Kräften nach der Revolution, und deshalb werden wir stets die Mittel auswählen, die uns am geeignetsten erscheinen, um die Revolution herbeizuführen. Wenn Vereinbarungen zwischen uns notwendig sind (und sie sind notwendig), wenn wir gegenseitige Verpflichtungen übernehmen müssen (und das müssen wir), wenn wir uns vor Spitzeln und Ausbeutern schützen müssen (und auch das wird sicher nötig sein), dann werden wir konsequent handeln. Wenn Leute, die sich einbilden, im Bereich der anarchistischen Theorie den Stein der Weisen gefunden zu haben, und die die Anarchie zum Synonym für Desorganisation und isolierte Einzelaktionen erklären, wenn diese Leute uns ausschließen, dann wird uns das völlig unberührt lassen. Wir wollen uns der Sache der sozialen Revolution widmen; unsere Kräfte sind begrenzt, aber wir wissen, daß wir sie durch Zusammenarbeit, gegenseitiges Vertrauen und Solidarität vermehren können, und wir – die, die es so wollen – werden uns in diesem Sinne verhalten. Das verpflichtet niemanden und hindert auch die anderen nicht, auf ihre Weise zu handeln.

Wir glauben, der Augenblick sei gekommen, unsere Kräfte zu sammeln, unsere Aktionen auf ein bestimmtes Ziel auszurichten, alle vagen Vorstellungen und jeden Dilettantismus, in den eine ganze Anzahl von Genossen verfallen ist, hinter uns zu lassen, um der Bourgeoisie eine große Schlacht zu liefern. Der Augenblick ist gekommen, um aus den Händen der Sozialdemokraten und der Politikaster aller Schattierungen das Erbe der Arbeiterbewegung zu übernehmen, die von der Internationale begonnen worden war und für die Anarchisten oft unter Einsatz ihres Lebens gekämpft haben, die aber in den letzten Jahren ganz in die Hände der legalen Sozialisten geraten ist, die sie jedoch nicht einen einzigen Schritt vorwärts gebracht haben. Wir sind berufen, es nun unsererseits zu versuchen; die Arbeitermassen wenden sich uns zu, um herauszufinden, ob wir in der Lage sind, mit ihnen zusammen die Revolution zu beginnen. Wir dürfen nicht zum Rückzug blasen. Selbst wenn der Versuch mißlingt – unser Leben im Handgemenge zu lassen ist besser als abseits zu stehen und über das historische Geschick und das Unrecht der anderen zu philosophieren. Wir haben genug Kritik geübt: Die ganze Welt weiß heute, daß der Parlamentarismus, die Reform, die partiellen Verbesserungen nichts wert sind. Wir streben weder nach offiziellen noch nach inoffiziellen Machtpositionen, und deshalb haben wir ein Anrecht auf die Sympathie der Massen. Aber das genügt nicht. Wir müssen handeln! Wir müssen in den Reihen des Volkes kämpfen. Wir müssen unsere Prinzipien durch die Aktion propagieren. Wir müssen der Welt beweisen, daß die Anarchie keine abstrakte Konzeption, kein wissenschaftliches Hirngespinst und keine ferne Vision, sondern daß sie ein Lebensprinzip ist, dazu bestimmt, die Welt auf der unerschütterlichen Grundlage des Wohlstands und der menschlichen Brüderlichkeit zu erneuern.


[1] Gemeint sind die «autoritären» Sozialisten, also etwa die verschiedenen Anhänger von Marx.

[2] Allan Pinkerton (1819-1884) war Gründer und Organisator einer erfolgreichen privaten Detektivorganisation in den USA. Bei den Anarchisten – und nicht nur bei ihnen – verband sich der Name Pinkterton allerdings mit dem Einsatz bewaffneter Banden, «Pinkertons» genannt, die sich gegen Bezahlung als Streikbrecher in den Dienst der in Arbeitskonflikte verwickelten Unternehmer stellten. Auch die Nachfolger Pinkertons behielten diesen Zweig seiner Tätigkeit bei. 1892 wurden z.B. in einem Gefecht auf dem Gelände eines der Carnegie Steel Company gehörenden Betriebs drei «Pinkertons» und zehn Arbeiter getötet.

[3] L’individuo che per salvare la vita d’un altro sacrifica la sua, non si fa certo del bene.

[4] Hier handelt es sich offensichtlich um eine Anspielung auf Marxsche Gedankengänge, wie sie etwa in «Der Bürgerkrieg in Frankreich» (1871) zu finden sind. Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. XVII, Berlin 1962, S. 313-365; hier besonders S. 335-344.

[5] Kommunisten sind hier diejenigen, die die produzierten Güter gemeinschaftlich verbrauchen (im Endstadium nach dem Grundsatz «Jedem nach seinen Bedürfnissen»), Kollektivisten diejenigen, die die Güter nach Maßgabe der Leistung verteilen.