"Nationalism and Culture", Los Angeles, 1937.
Einleitung zur italienischen Ausgabe: "Nazionalismo e Cultura", Catania, 1977.
Rudolf Rocker
Nationalismus und Kultur
Einführende Notizen des Herausgebers
Einleitung zur italienischen Ausgabe von 1977
Vorwort des Autors zur ersten deutschen Ausgabe
I. Die Unzulänglichkeit aller Geschichtsauffassungen
III. Der Kampf zwischen Kirche und Staat
V. Die Entstehung des nationalen Staates
VI. Die Roformation und der neue Staat
VII. Politischer Absolutismus als Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung
VIII. Die Lehre vom sozialen Kontrakt
IX. Liberale Ideen in Europa und Amerika
X. Liberalismus und Demokratie
XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
XII. Die Demokratie und der nationale Staat
XIII. Die Romantik und der Nationalismus
XV. Der Nationalismus als politische Religion
XVI. Die Nation als Gemeinschaft von Sitte, Gewohnheit und gleichen Interessen
XVII. Die Nation als Sprachengemeinschaft
XVIII. Die Nation im Lichte der modernen Rassentheorien
XIX. Politische Einheit und kulturelle Entwicklung
XX. Politische Denzentralisation in Griechenland
XXI. Der römische Zentralismus und sein Einfluss auf die Gestaltung Europas
XXII. Die nationale Einheit und der Verfall der Kultur
XXIII. Die Illusion nationaler Kulturbegriffe
XXIV. Der Nationalismus und die Entwicklung des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens
XXV. Architektur und Nationalität
XXVII. Soziale Probleme unserer Zeit
Nachwort zur zweiten amerikanischen Ausgabe
Einführende Notizen des Herausgebers
Als Anarchisten müssen wir fähig sein unsere Debatte klar und kritisch betrachten zu können, um damit Werkzeuge zur Subversion entstehen zu lassen. In revolutionären Diskussionen stoßen wir häufig auf das Argument alles, was die Herrschaft und ihre Untertanen tun, sei rein wirtschaftlich motiviert. Wir weisen aber schon seit längerer Zeit darauf hin, dass dem nicht so ist und, dass es eine Differenzierung geben muss und darüber hinaus eine Klärung der marxistischen Einflüsse auf die anarchistische Debatte der letzten Jahrzehnte, wobei diese aus einer Verlegenheit entstehen. In dem Sinne, dass von Seiten der anarchistischen Debatte vieler Länder einige Jahrzehnte lang eine Art Schwarzes Loch geherrscht hat und es an einer Aufarbeitung fehlt. Wer sich in einer solchen Verlegenheit wiederfindet, greift oftmals zum nächstbesten Werkzeug, um Kämpfe möglich zu machen. Dieses vermeintliche Werkzeug, das vielfach Anwendung fand, war aber ein im Autoritarismus entstandenes Handbuch; diese vermeintlichen Werkzeuge sind unterschiedliche Ausformungen des Marxismus und linker Gedankengänge, statt derer wir unsere eigenen Motivationen für die Kämpfe erarbeiten hätten müssen. Dieser Faulheit sind viele zum Opfer gefallen, die sich später in Frustrationen wiederfanden, um sich infolgedessen von den anarchistischen Debatten zu verabschieden. Wir eröffnen hier eine Basisdiskussion, die längst, auf so hohem Niveau wie möglich, geführt werden muss, um endlich Klarheit zu schaffen über die Motivationen der Macht, Herrschaft zu erzeugen. Nur mit dieser Debatte werden wir uns selbst ermächtigen, adäquate Werkzeuge, physischer und theoretischer Natur, in die Hand zu nehmen, um der Macht das Genick zu brechen. Das Märchen davon, dass alle Machtbeziehungen wirtschaftlich motiviert seien, ist eines das es abzulegen gilt. Innerhalb der Debatten, die Anarchisten mit autoritären Sozialisten vor etwa hundert Jahren geführt haben, wird sichtbar, worauf wir den Finger heute nicht legen «dürfen». Denn sowohl von den Nachfahren der Sozialisten, der Linken, Die Nation als Gemeinschaft vonSitte, Gewohnheit und gleichenInteressenals auch von vielen Anarchisten kommt ein Aufschrei, sobald man die Unterschiede in den Harangehensweisen aufzeigt und man als Anarchist Ideologien offenlegt, unter denen die anarchistische Debatte leidet bzw. durch die sie unter die Fuchtel der linken Ideologien gerät. Es ist nachvollziehbar, dass die betroffenen Personen sich vor solch einer Offenlegung scheuen, da damit ihre Identität zu Grunde gehen könnte. Aber genau darauf wollen wir hinaus, Identitäten unmöglich zu machen und stattdessen endlich wieder über Ideen zu diskutieren, die uns nicht genommen werden können.
Rocker gibt uns eine Einleitung zu dieser Diskussion in der wir uns in Zukunft streiten werden können und eine Basis, die nicht so leicht wegzuschieben sein wird. Darum veröffentlichen wir seine Arbeit. Er wird uns eine lange Liste an Überschneidungen der sowohl marxschen als auch hegelschen Denkweise aufzeigen und der autoritären Hintergründe, die diese mit sich bringen.
Wir finden Ansätze, um die Geschichte herumzudrehen, um anzufangen auf einer anderen Basis zu Kämpfen zu kommen und gegen die Herrschaft vorzugehen. Die Geschichte funktioniert nicht nach rein wirtschaftlichen Prinzipien, wie uns das sowohl über die marxistischen Ideologien als auch über die hegelschen Ansätze weisgemacht werden soll. Ebenso wenig nach einem geschichts-wissenschaftlichen Prinzip. Dieser Zugang ist letztlich eine von vielen möglichen Interpretationen der Menschheitsgeschichte. Hierbei finden sich viele unserer Probleme wieder, die uns dazu bringen die Revolte sowie den Kampf für die individuelle Freiheit wieder und wieder zu verschieben. «Wer an die Zwangsläufigkeit alles historischen Geschehens glaubt, der opfert der Vergangenheit die Zukunft, er deutet die Erscheinungen des sozialen Lebens, doch er ändert sie nicht. In dieser Hinsicht ist sich jeder Fatalismus gleich, ob er nun religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Natur ist. Wer immer sich in seinen Fallstricken verfängt, dem raubt er das kostbarste Gut des Lebens, den Drang des Handelns nach eigenen Notwendigkeiten.»[1] Rocker arbeitet dieses Argument auf und räumt damit mit der Illusion auf, die Welt funktioniere nach den ökonomischen Notwendigkeiten, wie uns das die marxistische Diskussion erklären will. Denn erst wenn wir uns entzweien können von dieser Illusion, werden die wahren Unzulänglichkeiten unserer Diskussion offengelegt und auf gewisse Weise werden wir erst dann sehen woran wir sind, weil wir uns nicht mehr Motivationen für Kämpfe von marxistischen Strömungen «ausborgen». «Es ist nur eine Nachahmung der hegelschen Spiegelfechterei, wenn besonders die Träger des deutschen Sozialismus bisher stets geneigt waren, in jedem gesellschaftlichen Übel eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu erblicken, mit dem man sich wohl oder übel abfinden müsse, bis die Zeit für eine Änderung reif sei oder – um mit Hegel zu sprechen – bis die These in die Antithese umschlägt. Was anderes liegt dieser Auffassung zugrunde als hegelscher Fatalismus ins ökonomische übersetzt?»[2] Wir werden sehen, dass all das Gefasel von den richtigen Bedingungen für eine Handlung oder Aktion, genau diesem Fatalismus entstammt. Es ist eine Form der Kontrolle des Gemeinwillens über das Individuum, die wir genauso in jeder Gemeinde, jedem Dorf und jedem noch so kleinen sozialen Zirkel auffinden können, der immer dasselbe besagt; «Handle nicht jetzt, handle nie, tue nur und nur das was die Gemeinschaft sagt, wann die Gemeinschaft es sagt.» Wir lernen über diese Diskussion das Individuum und seine Eigenheiten zu schätzen, denn nicht mehr die Politik, die von außen auf das Individuum einwirkt, ist das Diktat, nein des Individuums eigene Einschätzung und Begierde wird zum Motor der Handlung. Und damit wird es unkontrollierbar und mit dieser Basis werden Revolten möglich.
Was sind die neuen Leitlinien nach denen wir zu leben haben? Und wer bürdet sie uns auf? Wer erschafft die neuen Religionen, die uns nicht mehr als Religionen erscheinen sollen? Und wie können wir uns wappnen, um mit der Logik der Unterdrückung zu brechen? Es reicht nicht aus, über einzelne Revolutionäre und Philosophen zu lästern, es liegt daran deren Gesagtes zu sezieren, um sie damit selbst und ihre Anhänger hinters Licht zu führen. Damit werden wir uns langsam aber sicher mit Waffen in den Händen wiederfinden, die wir gegen unsere Feinde einsetzen können, um uns individuell und in Verbindung zueinander von jeglichem Joch zu befreien, in das die Macht versucht uns zu pressen. Dies gilt sowohl für die Gegenwart, als auch für die Geschichte. Nur durch das Stöbern im eigenen Denkmuster, und durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte können wir Schlussfolgerungen ziehen, die eine befreiende Wirkung auf uns haben.
Es existiert keine Wunderpille gegen die Autorität. Es gibt nur den Kampf für die eigene Existenz, ein Kampf der sich im Kampf gegen den Alltag ausdrückt. Der Alltag aber wiederum ist erschaffen durch die konsequente Reproduktion der Lebensumstände, in denen wir uns tagein, tagaus wiederfinden. Die neuen Formen der Macht drängen uns, wie schon die alten, zu einem ständigen Aufschub des eigenen inneren Aufbegehrens, sowie der aktiven Handlungen, in denen sich dieses Aufbegehren ausdrückt. Es ist dies ein in die Zukunft oder in die Vergangenheit gerichtetes Schwelgen nach dem Unerreichbaren, durch das dessen Umrisse schon selbst nicht mehr begriffen werden können. Und demnach wird das Unerreichbare durch das Erreichbare ersetzt. Durch das was realistisch erscheint, weil es von den Händen derer ausgeht, die die Logik bestimmen und damit den Rahmen in dem wir uns bewegen müssen. (Technologie etwa kann nie zu einem Befreiungsinstrument werden, weil sie in ihrem Ursprung als Kontrollinstrument erzeugt wurde und in dieser Logik fungiert. Diese kann nicht durch eine andere Funktionalität gesprengt werden, sondern nur durch die physische Zerstörung bzw. Sabotage des Kontrollmittels, also der technologischen Instrumente). Uns als revolutionären Anarchisten liegt es daran diesem Rahmen seine Berechtigung zu stehlen. Das heißt ihn auf allen Ebenen in Frage zu stellen. Wer das zu tun vermag, steht vor der Gesamtheit des Problems und lässt sich nicht in eine Nische drängen, die er zu bearbeiten hat, wie das im Fortschrittsgedanken so festgeschrieben steht. Es sind nicht so sehr unsere klaren Feinde vor denen wir uns schützen müssen, sondern unsere vermeintlichen Freunde und deren Versuche, uns nicht mehr direkt handeln, sondern eben genau in dieses Schwelgen verfallen zu lassen, damit wir uns mit fadenscheinigen Verbesserungen dieses Alltags abgeben, anstatt mit diesem ein für alle Mal zu brechen und ihn zu zerstören. «Hegels Spiel mit leeren Worten, deren Gehaltlosigkeit er durch eine ebenso schwülstige als unverständliche Symbolik zu verbergen wusste, hat in Deutschland auf Jahrhunderte hinaus, den inneren Drang nach echtem Wissen künstlich unterbunden und manchen fähigen Kopf dazu verführt, den Schattenbildern müßiger Spekulation nachzujagen anstatt der Wirklichkeit des Lebens nahezutreten und Herz und Geist für eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen einzusetzen.»[3] In diesem Zitat ist die Figur Hegels relativ beliebig austauschbar durch klar oder weniger klar agierende linke und «antiautoritäre» Führungspersonen, gegen die wir uns nicht zu wehren gelernt haben.
Wenn wir uns nun in die Arbeit von Rocker fallenlassen, bemerken wir einen Bezug zur Realität, wie er in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum langsam wieder vermehrt zu finden ist, ein Bezug zur Realität der sich in einem klaren Gegenstandpunkt zur Wirklichkeit bemerkbar macht. Einer der sich nicht nur durch eine Kritik am Alltag zeigt, sondern durch das Aushebeln der Macht, die den Alltag reproduziert, also einen direkten Angriff auf diesen. Dieser direkte Angriff ist eine Form des Handelns, ein aktives Eingreifen in die Wirklichkeit in der wir leben müssen, ein Eingreifen, das für sich die materiellen Bedingungen in deren Logik verändert. Ein Eingreifen, das die Beziehung des eingreifenden Individuums mit der Wirklichkeit verändert und neu definiert. Ein Bruch mit der Realität also. Diese Realität ist sowohl das Materielle, in dem wir leben, als auch die philosophischen Stränge, die der Wirtschaft diktieren, dass sie sich zu entwickeln hat und wie sie sich zu entwickeln hat. Dieser Entwicklung liegt der Mythos vom Fortschritt auf der Befreiung durch der Politik zugrunde, die nur eine scheinbare Befreiung ist, weil sie nie die Befreiung des Individuums darstellt, sondern die Freiheit des Gemeinwillens, der Gemeinschaft und des Staates im Auge hat; sie wird geschürt von Theorien und Thesen die Rocker schafft uns näherzubringen. Jene Basis, die Friedrich Hegel zum preußischen Staatsphilosophen werden ließ, der uns heute noch diktiert, wie unsere «Rebellion» auszusehen hat (immer eine «Rebellion», die auf langer Sicht über seine erfundene Dialektik zum Schüren der Wirklichkeit beiträgt, nicht zu ihrer Zerstörung, da bei seiner Form der Handlung das Individuum immer negiert wird und die Gemeinschaft, der gemeinsame staatstragende und staatsfördernde Aspekt diktiert, was wir tun dürfen und können). Von Beginn der Lektüre an finden wir uns in einem gegen die Linke gerichteten Text wieder, der durch seine Herleitung der jeweiligen Umstände, die zu Staaten und Nationen führten, die Basis des Fortschrittsglauben sowohl der autoritären also auch der tendenziell freiheitlich denkenden, in der Tradition Hegels stehenden Revolutionäre, abgräbt. Die Absicht unserer Arbeit des Widerauflegens von Rockers Gedanken und Ideen, ist es Revolten zu schüren, die nicht dialektisch funktionieren. Rocker leistet uns dabei eine große Hilfe und deshalb schenken wir diesem Text große Beachtung und hauchen ihm mit dieser Veröffentlichung neues Leben ein.
Durch Rockers Werk lässt sich eine Linie zwischen jenen Positionen ziehen, die einerseits die staatstragenden geworden sind – und damit auch heute noch gültig – und andererseits radikal dagegen angekämpft haben. Die speziell aus dem Blickwinkel der anarchistischen Debatte unterbelichtete deutsche Geschichte der Macht, wird so etwas klarer. Durch Rockers detaillierte Arbeit wird auch ersichtlich, wo die heute aktiven sogenannten Anarchisten stehen und, dass diese in vielen Fällen nach wie vor von der Logik Hegels und ähnlicher folgender Philosophen und autoritärer Analytiker, wie Karl Marx oder Friedrich Engels, agieren und durch diese Vorgehensweise oftmals unbewusst nicht so sehr Gegner eines Systems darstellen, sondern vielmehr ihre subtilen Förderer. Von der radikalen Linken und der Ultralinken nicht zu sprechen, die meist mit preußischer Arroganz ihre Weisheit predigen, wie wir uns zu verhalten haben, damit wir zur Befreiung von der Herrschaft kommen, wenn wieder und wieder klar wird, dass auch sie auf der Basis des Gemeinwillens vorgehen und damit das Individuum von vorneherein negieren. Das ideologische Kreisargument, das in den marxistischen Zirkeln so üblich ist, wurde offensichtlich schon von Hegel praktiziert, wenn nicht erfunden. «Das was ich sage, ist richtig, weil ich es sage. Wer dagegen Kritik übt, liegt weil er Kritik übt, falsch; weil das was ich sage die Wahrheit ist. Der Wahrheitsanspruch kommt daher, weil ich mich auf einer historischen Mission befinde und darum ist alles was ich sage, wahr», so ließe sich Hegels Zugang beschreiben. Auf diese Weise werden von allen militanten linken Sekten bzw. sektenartigen Gebilden, Kreisargumente aufgebaut. Mit unserer Basis des Individuums für unsere Kämpfe, können wir uns damit nicht identifizieren.
Wer es schafft die Logik seiner Zeit zu durchbrechen, sowie die eigene Logik in der man aufwachsen musste, hat den Schlüssel zur eigenen Befreiung in der Hand. Die Angriffsziele auf die herrschende Macht ergeben sich so zwangsläufig, wie die Punkte, um den «Wächtern über den richtigen Widerstand» zu entwischen. Durch diese Vorgehensweise lernen wir kaltblütig zu handeln, weil wir nicht mehr von unserer Wut abhängig sind, um eine einschneidende Handlung zu setzen.
Genauso wie Hegel, hat Rousseau profunden Anteil am Elend der postmodernen Ausformungen sowohl des Bürgertums, der Herrschaft als auch des sogenannten Widerstandes dagegen. Bakunin nannte Rousseau den «wahren Schöpfer der modernen Reaktion».4 Rocker schrieb über Rousseau und Hegel, «war er [Rousseau] doch einer der geistigen Väter jener ungeheuerlichen Idee einer alles beherrschenden, alles umfassenden politischen Vorsehung, die den Menschen nie aus dem Auge läßt und ihm unbarmherzig den Stempel ihres höheren Willens aufdrückt. Rousseau und Hegel sind – jeder in seiner Art – die beiden Torhüter der modernen Staatsreaktion, die sich später anschickte, im Faschismus die höchste Stufe ihrer Allmacht zu erklimmen. Nur war der Einfluß des ‹Bürgers von Genf› auf den Gang dieser Entwicklung größer, da sein Werk die öffentliche Meinung Europas tiefer aufwühlte, als die dunkle Symbolik Hegels es tun konnte».[5]
Rousseau beginnt auch damit den Menschen zur Maschine zu reduzieren, indem er die Gesellschaft, die Ausdruck des «Gemeinwillens» ist, als Maschine bezeichnet. Somit also jedes Mitglied der Gesellschaft, jeden Bürger, auf etwas mechanisches reduziert. Der Gesetzgeber ist laut Rousseau der Mechaniker, der die Maschine erfindet. Rousseaus Ideen zum Gesellschaftsvertrag geben weitere Aufschlüsse, seines autoritären Ansatzes: «Damit demnach der Gesellschaftsvertrag keine leere Form sei, enthält er stillschweigend folgende Verpflichtung, die allein den übrigen Kraft gewähren kann; sie besteht darin, daß jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll, das hat keine andere Bedeutung, als daß man ihn zwingen werde, frei zu sein.»[6] Wir dürfen so beiläufig die Basis des heutigen Bürgers erforschen, der auf genau diesen, zu jener Zeit erarbeiteten, Prinzipien basiert. Wir kommen zwangsläufig auf eine Kritik, die alle zerschmettert, die sich wütend gegen das Unrecht der heutigen Zeit empören, während sie im Schatten ihrer Gesten die Schöpfer und Stützen der neuen Staatsmacht werden und sind. Beispiele dafür haben wir in den letzten Jahren viele gesehen; Bürger, die durch die explodierenden gesellschaftlichen Spannungen verängstigt werden und versuchen sich über Entwicklungen neuer Staatsansätze zu retten. Sowie diejenigen radikalen Kritiker der Lebensumstände, die durch spezifische Organisationen versuchen den Alltag zu verbessern und so fortschrittlich die Herrschaft in Frage stellen.
Rockers Beschreibung der von Rousseau und seinen Zeitgenossen erarbeiteten Themen, führt uns immer wieder darauf zurück, wie die Gemeinschaft über den Freiheitsbegriff manipuliert wurde und wird. Im Falle Rousseaus muss der Mensch für sein Dasein als Sklave für die Gesellschaftsmaschine dankbar sein. Es steht ihm nicht einmal zu auf gedanklicher Ebene der gesellschaftlichen Totalität zu entfliehen. Er ist Teil eines Codes, Teil eines Programmes, das von den Philosophen und Denkern entwickelt und von den Herrschern exekutiert wurde und, wie die heutige Gesellschaft beweist, auch nach wie vor exekutiert wird. «Für den wirklichen Menschen hatte Rousseau ebensowenig Verständnis wie Hegel. Sein Mensch war ein in der Retorte erzeugtes Kunstprodukt, der Homunkulus eines politischen Alchimisten, der allen Anforderungen entspricht, die der Gemeinwille für ihn vorbereitet hat. Er ist weder Herr seines eigenen Lebens noch seines eigenen Denkens; er fühlt, denkt, handelt mit der mechanistischen Präzision einer Maschine, die von einer fixen Idee in Bewegung gesetzt wird. Wenn er überhaupt lebt, so geschieht es nur durch die Gnade einer politischen Vorsehung, solange diese an seinem persönlichen Daseins keinen Anstoß nimmt.»7 Wenn Rousseau von den Aufgaben des Einzelnen für den Gemeinwillen spricht, meint er damit das, was der Einzelne tun muss, um dem Gemeinwillen zu dienen. Sein Freiheitsbegriff spielt sich in diesem Rahmen ab. Alles Individuelle muss geopfert werden für die Abstimmung des menschlichen Empfindens auf einen Ton, genauso wie die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens und eine mögliche Erwartungshaltung dahingehend von sich aus beseitigt werden muss. Rousseaus Idee des Lebens ist, dass sich alle menschliche Aktivität auf das mechanistische Streben für eine bestimmte Norm reduziert. Er nimmt damit die heutige Gesellschaft vorweg, die auf diesen Prinzipien basiert. Die technologische Entwicklung ist lediglich die Erweiterung davon. Darum sind von Seiten der Kritik an der Technologie diese Debatten von großer Bedeutung. Die Idee der Maschine wurde schon zu diesem Zeitpunkt geboren. Die Informationstechnologie von heute enthält diese Diskurse. Der Mensch wurde zuerst in eine politische Maschine gepresst und zu einem Teil davon gemacht, nur um ihn in logischer Folge physisch mit ihr zu verschmelzen. Mittlerweile haben sich die technologischen Geräte mit unserer Psyche verschmolzen. «Die politische Technik frißt alles Eigenleben, wie die Technik der modernen Wirtschaft die Seele des Produzenten frißt.»[8]
Rockers Arbeit ist aber nicht nur für die Analyse der Gesellschaft von großer Bedeutung, sie lässt sich im Speziellen gut verwenden, um zu einer Selbstreflektion, in Bezug auf die anarchistische Debatte in unserem engeren Umfeld, zu kommen. Im deutschsprachigen Raum der letzten Jahre, speziell in Österreich, fühlte sich der anarchistische Diskurs an, wie geführt von einem Haufen vorauseilend gehöriger Biedermänner. Es genügt, dass der Staat seine Hand erhebt, um jede ernsthaft geführte Diskussion zum Schweigen zu bringen. Der Anarchist hat offensichtlich noch nicht gelernt den Bürger in sich zu sezieren und die Diskussion bzw. die dabei notwendigerweise folgenden Konsequenzen auf eine Ebene zu bringen, mit der man der Macht entgegentreten kann. Statt Vereinen von egoistischen Anarchisten sehen wir Armeen von sich selbst als ehemalige Anarchisten bezeichnenden, die aktiv der anarchistischen Idee abschwören, weil die Erfahrungen in ihren Leben nicht das gebracht haben, was sie sich erhofften. Die Repression hat also ihre Arbeit gut getan, denn jene können sich nicht eingestehen, dass dies eine Reaktion auf die Folgen der Repressionen des Staates ist, da sie sich selbst als souveräne Individuen betrachten wollen, die niemals von der Repression gelenkt wurden, sondern ihre Entscheidungen zur Aufgabe ihrer Spannung «bewusst und aktiv» gefällt haben. In vielen Fällen hat der Staat den Wohlstand als Repressionsmittel herangezogen, wessen sich die jeweiligen Anarchisten oft nicht einmal bewusst geworden sind. Das Elend im Milieu der Ex-Anarchisten könnte trister nicht ausfallen. Anstatt Ideen zu diskutieren, diskutieren sie warum ihr Eingeständnis der inhaltlichen und mentalen Schwäche – was natürlich nicht in diese Worte gefasst wird – gerade zur rechten Zeit kam, bevor auch sie Opfer ihrer eigenen ungeklärten Fragen geworden wären. Wir werden uns den Details dieser Armseligkeit anderswo zuwenden.
Einerseits sehen wir, wie die Gesellschaft über Begriffe wie Gemeinwille und Weltgeist autoritär aus dem Boden gestampft wurde, auf der anderen Seite aber sehen wir, wie sehr diese demokratische Gesellschaftsordnung wankt. Wie oft die demokratischen Führer selbst in die politische Trickkiste greifen müssen, um das Konstrukt sowohl des Weltgeists als auch des Gemeinwillens jedes Mal wiederzubeleben und dessen Autorität zu unterstreichen. Die herrschende Ordnung wird von vielen Seiten nicht ernst genommen. Die in diesen Tagen verstärkt geheuchelte Einigkeit der Politiker und Medien ist der Versuch die wankende Gesellschaftsordnung, den fallenden Gemeinwillen, den die Basis der Demokratie darstellt, gesund zu beschwören. Die Zeichen stehen schlecht für die Staatsidee, der in «maximaler Freiheit» lebenden Bürger. Darum wird hinterrücks der Faschismus bestärkt und geschürt, um erneut langsam aber sicher zum Frontalangriff auf die Gesellschaft überzugehen. Die Mittelklasse ist einerseits nicht darauf vorbereitet, wird aber andererseits klar benutzt, um die Macht zu verfestigen. Die armseligen Proteste, die von der Mittelklasse ausgehen, sind letztlich immer darauf ausgerichtet, die Gesellschaftsordnung zu erhalten. Teil dieses Spiels ist es einen Feind der Gesellschaft zu erschaffen, der im eigenen Hause zu Gemeinsamkeit führt. Ohne es direkt in Worte zu fassen hilft uns Rocker dabei die Basis für den heutigen Terrorismus zu erörtern, der ein so wichtiges Lebenserhaltungsmittel des Gemeinwillens darstellt: «Man darf nicht hoffen, dass es besser werde, solange noch ein Feind der Freiheit atmet. Nicht nur die Verräter müsst ihr züchtigen, sondern auch die Lauen und Gleichgültigen, jeden, der teilnahmslos ist in der Republik und keinen Finger rührt für sie. Nachdem das französische Volk seinen Willen kundgetan, steht alles, was diesem Willen entgegen ist, außerhalb der Souveränität der Nation; wer aber außerhalb des Souveräns steht, ist sein Feind.»[9] Das alte Europa versucht sich selbst in diesen Tagen über die bewusste Hervorhebung der Gefahr einiger Dschihadisten, die diese für die europäischen Gesellschaften bedeuten, wieder zu konsolidieren. Genauso wie die Idee, sich über einen gemeinsamen Feind wieder zu stärken, nicht neu ist, ist auch die bewusste Produktion solcher Feinde nicht neu, um den Staat wieder als stark zu präsentieren. Wir wollen mit der Herausgabe dieses Buches dazu beitragen, dass speziell die deutsche Herrschaftsphilosophie, die als stiller Akteur das Politische des deutschen Raumes, sowie in vielen Fällen international, stützt und bestimmt, in seinen Grundfesten erschüttert wird und angegriffen werden kann. Schließlich ist es von Kants autoritärer Rechtslehre zu Carl Schmitts «Die Diktatur» nur ein kleiner logischer Schritt eines konsequenten Denkers. Eine nunmehr historische Figur, die aber enormen Einfluss auf die heutige Herrschaft nimmt, wie sie Carl Schmitt darstellt, ist nur durch all die Vorarbeit vorstellbar, die von Seiten der deutschen Philosophie geleistet, und offenbar nicht ausreichend bekämpft wurde. Leo Strauss fasst über Carl Schmitt zusammen: «weil der Mensch von Natur böse ist, darum braucht er Herrschaft. Herrschaft aber ist nur herzustellen, d.h. Menschen sind nur zu einigen in einer Einheit – gegen andere Menschen. Jeder Zusammenschluss von Menschen ist notwendig ein Abschluss gegen andere Menschen. Die Abschließungstendenz (und damit die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit) ist mit der menschlichen Natur gegeben; sie ist in diesem Sinne das Schicksal.»[10]
Bekannterweise wurden Carl Schmitts Theorien und Vorschläge eine Art Vorlage für die Besetzung Iraks durch die USA. Der Machtaustausch zwischen Großmächten wie Deutschland und den USA wird dadurch leichter nachvollziehbar und ist wie eine Logik, die auf der einen Seite erzeugt und von der anderen in Verwendung gebracht wird. Carl Schmitt war bekannt als der «Kronjurist des Dritten Reiches». Schmitt seinerseits war beeinflusst von Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli und Jean-Jaques Rousseau. «Die Freund-Feind-Unterscheidung ist die volonté générale der politischen Einheit. Sie ist als Entscheidung das Wesen dieser Einheit selbst. Wie die volonté générale ist die Freund-Feind-Unterscheidung Erkenntnis und Entscheidung. Sie ist der voluntative Akt, in dem sich die politische Einheit selbst erkennt; und zwar erkennt sie sich, weil sie ihren Feind erkennt.»[11] Wir sehen auch hier wie die Macht sich über einen seiner Jünger selbst erschafft und durch diese Erschaffung Legitimität erzeugt, obwohl sie ausschließlich dazu benutzt wird, das Individuum gefügig zu machen und unter den Gemeinwillen zu pressen bzw. über den Gemeinwillen der Politik und den Politikern Macht zu geben.
Schon Immanuel Kant brachte die Idee auf der Mensch wäre von Natur aus böse: «Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiss seine Freiheit in Ansehnung anderer Seinesgleichen; und ob er gleich als ein vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszudehnen. Er bedarf also eines Herrn der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einen allgemein gültigen Willen, wobei, jeder frei sein kann, zu gehorchen.»[12] Wir sehen deckungsgleiche Ansätze bei Schmitt und bei Kant, sowie eine Definition von Freiheit, die nur dazu dient das Individuum zu negieren und zu unterdrücken.
Im Vergleich zu Immanuel Kant hatte Johann Gottlieb Fichte zwar eine revolutionäre Ader, aber sie überschneiden sich letztlich in wesentlichen Punkten. Auch Fichte glaubt, dass der Mensch von Grund auf böse sei: «Fichtes Staatslehre enthält alle Voraussetzungen einer staatskapitalistischen Wirtschaftsordnung, unter der politischen Leitung einer Regierung nach dem Muster des altpreußischen Ständestaates, die man heute als ‹Sozialismus› umzufälschen versucht. Dem Bürger soll zwar die materielle Existenz gesichert werden, aber nur auf Kosten jeglicher persönlicher Freiheit und aller kulturellen Bindungen mit anderen Völkern. Auch an Fichte bestätigte sich die alte Wahrheit, dass kein Gebilde gesellschaftlicher Unterdrückung von den Menschen auch nur annähernd so unerträglich empfunden würde, wie eine Verwirklichung der staatsphilosophischen Vernunftpläne unserer Weisen.»[13]
Wenn wir näher betrachten, wie sich Carl Schmitts Theorien durch die herrschenden Mächte Anwendung finden, kommen wir zu den letzten Entwicklungen, um die wankende Hegemonie der demokratischen Herrschaft zu rekuperieren, also das Erzeugen von Ausnahmezuständen, um das was offiziell unter demokratischen Umständen nicht machbar ist, hinter dem Vorhang des Ausnahmezustandes möglich zu machen.
Werner Binder schreibt zum Problem des Ausnahmezustands: «Der souveräne Politiker entscheidet nicht nur über den Ausnahmezustand, sondern ist Souverän, gerade weil er über ihn entscheidet. Und der Feind wird durch den grausamen Übergriff erst als Feind kenntlich gemacht. Es dominiert eine selbstreferentielle Begründungsstrategie: ‹die Praxis rechtfertigt sich durch sich selbst›.»[14] Wir stoßen immer wieder auf die Kreisargumentation, die nur in sich selbst schlüssig ist, sich selbst erfindet und sich dabei durch sich selbst begründet und legitimiert.
Rocker zeigt auf, dass die Basis für die heutige Terrorismusbekämpfung bzw. die Definition des Terroristen auf inhaltlicher Ebene bereits bei der Gründung der Staatsstrukturen zu finden ist: Der Diskurs zum Terrorismus hat als Basis die Gründung des Bürgertums und des Gemeinwillens. Wer nicht für den Gemeinwillen unserer Gesellschaft ist und potentiell Gewalt gegen die herrschende Gewalt anwendet, ist von der Gesinnung her Terrorist. Das kann im mindestens auf Kant zurückgeführt werden, insofern zumindest als seine Positionen starke zeitgenössische Verwendung finden. «Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich.»[15] Wenn wir Regierungen bekämpfen wollen, müssen wir sowohl deren wirtschaftliches Funktionieren angreifen als auch ihre Logik und ihre Philosophie. Wenn wir das nicht zeitgleich mit der materiellen Zerstörung tun, ist es ein leichtes für die Regierungen bzw. den herrschenden Machtapparat, ihre materiellen Bedingungen ausgehend von ihrer Logik und den Prinzipien die philosophisch festgelegt sind, zu reproduzieren. Und dem müssen wir zuvorkommen.
Rocker leitete den politischen Einfluss der historischen Figuren der deutschen Philosophie her. Seine Arbeit zeigt uns die Zusammenhänge zwischen der Arroganz der deutschen Philosophie und der Arroganz der deutschen Politik. Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die heutige Situation anwenden. Deutschland etwa sieht sich seit jeher als Verwirklicher einer geschichtlichen Aufgabe. Dies ist eine erfundene Aufgabe, wird aber dargestellt als eine Art natürliche Entwicklung. Die dazu notwenige Arroganz und Mentalität wurde teilweise von bereits erwähnten Philosophen erarbeitet und von der deutschen bzw. seinerseits preußischen Politik autoritär durchgesetzt. Fichtes «Reden an die deutsche Nation» sind ein Zeugnis davon. Rocker gibt darüber etwas Aufschluss «Seit Luther spukt dieser seltsame Wahn durch die deutsche Geschichte, aber bei Fichte und Hegel tritt diese kranke besonders deutlich hervor, die sogar ihren Weg in die Literatur des deutschen Sozialismus gefunden hat und besonders von Lasalle liebevoll gepflegt wurde.»[16] Weiters, sehen wir, – «Von den großen Vertretern der klassischen Philosophie in Deutschland hat Hegel die Zeitgenossen am tiefsten beeinflusst. Während seiner letzten Jahre thronte er wie ein absoluter Monarch im Reiche des Geistes, und kaum einer wagte es, sich gegen ihn aufzulehnen. Männer, die sich bereits auf den verschiedensten Gebieten einen Namen erworben hatten, und solche, denen eine führende Rolle für die Zukunft vorbehalten war, saßen ihm zu Füßen und lauschten seinen Worten wie einem Orakel. Seine Gedanken beeinflußten nicht bloß die besten Köpfe in Deutschland, sie fanden auch in Rußland, Frankreich, Belgien, Dänemark und Italien einen deutlichen Widerhall. Es wird uns heute nicht leicht, jene mächtige Ideenausstrahlung einzuschätzen; noch seltsamer mutet es an, daß Hegels Einfluß sich auf Menschen aller politischen und sozialen Richtungen erstrecken konnte: eingefleischte Reaktionäre und zukunftsschwangere Revolutionäre, Konservative und Liberale, Absolutisten und Demokraten.»[17] – dass die auf Hegel aufbauende Interpretation der Geschichte, durch seine wissenschaftliche Darstellung dieser, sowohl philosophisch, als auch politisch, tonangebend wurde. Aber nicht weil sie «wahr» gewesen wäre sondern, weil sie mit Gewalt durchgesetzt wurde. Darum liegt es an uns, mit allem zu brechen, was sich wie diese Strömung autoritär durchsetzt und im gleichen Augenblick den Begriff der Freiheit zu ihren Gunsten verzerrt, um dann die Verwirklichung dieses so erzeugten verzerrten Freiheitsbegriffes zum Dogma zu machen und damit die Massen einzulullen. Das gilt sowohl für Hegel, als auch für Marx, Engels und sämtliche von ihnen ausgehenden Doktrinen. Engels schrieb in einem Moment der Erleuchtung: «Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, dass wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.»[18] Diese Abstammung erklärt das virulente Problem des Autoritarismus unter den Marxisten. Und damit kommen wir auf die Spur der deutschen Linken, die in der weltweiten Diskussion selbst anmaßend thront und ihre wissenschaftliche Herangehensweise als Wahrheit darstellt, um damit ihren Beitrag zu leisten, die Großmacht Deutschland noch mächtiger zu machen und zu unterstreichen, dass die deutsche Philosophie, die «richtige» Philosophie ist. Der deutsche Linke an sich stellt fest. Er liefert gleichzeitig eine Erklärung, die das geschriebene als wissenschaftlich darstellt und somit unumwerfbar macht, oder nur «umwerfbar» über die Akzeptanz der von ihm selbst erschaffenen Regeln, wie etwa der Dialektik. Wer sich nicht an diese Regeln hält, wird als unwissenschaftlich diskreditiert und somit missachtet. Dies ist der autoritäre Arbeitsstil, der aus Hegels Feder kommt und sowohl bei Marx als auch bei Engels zu finden ist. Alles was Marx (oder der deutsche Linke) damit sagt ist die Wahrheit. Schon zu Lebzeiten von Marx waren seine Kritiker genau das Beschriebene; unwissenschaftliche Nörgler, die der Wahrheit nicht ins Auge blicken wollten. Rocker legt an verschiedenen Punkten seinen Blickwinkel zur Beziehung zwischen Marx und Hegel offen. Rocker sagt von Hegel, «weniger der Inhalt war faszinierend, als die seltsame dialektische Art seines Denkens».[19] Hegel erwirkte die Durchsetzung seiner «Idee des ewigen Werdens», die bis heute den Zeitgeist dominiert und damit sowohl die politische Entwicklung ankurbelt, als auch die wirtschaftliche und die damit verknüpfte Fortschrittsideologie der Technologie. Wir sehen so, über das Studium von Rockers Arbeit, wie ein Zahn der Macht in den anderen greift und wie sowohl die Politik, die Wirtschaft, als auch die, in der gleichen Logik agierenden, Wirtschaftskritiker und die Technologie, letztlich religiös motiviert sind. Es wird ebenso deutlich welche Funktion der Faschismus hat, welche Motivationen und welche inhaltliche Basis. Der deutsche Faschismus, der hitlerianische Faschismus ist fundamental von den Ideen der deutschen Philosophie abhängig; diese Idee des ewigen Werdens, sowie die geschichtliche Aufgabe der Deutschen, ist somit eng verknüpft mit der deutschen bürgerlichen Philosophie des 18ten und 19ten Jahrhunderts. Es kann also niemals ausreichen, Faschismus für sich zu bekämpfen, sondern man muss die Logik des deutschen Bürgertums angreifen lernen, um antifaschistisch zu sein. Das gelingt konsequenterweise aber über den Aufbau eines eigenen Projektes, das jenseits der herrschenden Logik agiert und damit wahrlich unabhängig sein kann, durch die ständige Auseinandersetzung und den ständigen Angriff auf die Wirklichkeit und den Alltag, in dem wir leben müssen. «Derselbe Geist, der in der trostlosen Erniedrigung des Menschen zur toten Maschine die höchste Weisheit aller Staatskunst erblickt und den ödesten Kadavergehorsam als höchste Tugend anpreist, feiert heute seine schamlose Wiedergeburt in Deutschland und vergiftet die Herzen der Jugend, deren Gewissen er totschlägt, deren Menschlichkeit er vor die Hunde schickt.»[20]
Rocker bemerkt auch, Hegels Position sei eine «rein spekulative Anschauung, die sich anbiedert als Entwickler der Entwicklungstheorie». Er fährt fort: «Dieser ausgeklügelte Gedanke, der nur mit These und Antithese zu arbeiten wußte, hat nicht nur keinerlei Beziehungen zu den wirklichen Erscheinungen des Lebens, er steht auch im schreienden Widerspruch mit der eigentlichen Entwicklungsidee, die auf die Vorstellung eines organischen Werdens fußt und schon aus diesem Grunde jede Möglichkeit, dass eine Art sich in ihr Gegenteil verwandeln könnte, als müssige Spekulation einer verstiegenen Einbildung ablehnen muss.»[21] Damit stoßen wir auf eine fundamentale Kontraposition Rockers gegenüber Hegel in der er aufzeigt, dass Hegel lehrte in Kategorien zu denken. Hegel ebnete damit den Weg zu Rassentheorie und Werturteilen, sowie der Völkerpsychologie. Für Hegel hat jeder Volksgeist seinen Beitrag zum Weltgeist zu leisten. Für das Individuum bleibt aber in dieser Struktur kein Raum. So sehen wir wie Deutschland sich berufen fühlen kann zur Erfüllung seiner geschichtlichen Aufgaben, und wie diese Theorie umgemünzt im Marxismus weiterlebt, indem Marxisten behaupten wir müssten durch den Kapitalismus gehen, um zur Diktatur des Proletariats zu kommen, anstatt hier und jetzt mit der Macht zu brechen und die Herrschaft jetzt und heute zu beenden. Wir sehen hier wieder wie andere Zeiten, in diesem Fall die Zukunft, verwendet werden, um in ihnen zu schwelgen. Genauso wie Hegel als auch Marx die fatalistische Akzeptanz der Realität predigen anstatt mit ihr zu brechen. «[...], daß in jedem Volke, in dem der ‹Weltgeist› sich ein Werkzeug zur Ausführung seiner geheimnisvollen Pläne geschaffen hat, ein besonderer Geist lebe, der es für seine vorgedachte Aufgabe erst befähigt, so folgt daraus, daß jedes Volk mit einer besonderen ‹historischen Mission› betraut ist, die jede Äußerung seiner geschichtlichen Betätigung im voraus bestimmt. Diese Mission ist sein Schicksal, seine Bestimmung, die nur ihm allein und keinem anderen Volke vorbehalten ist und die es aus eigener Kraft nicht ändern kann.»[22] Wir stossen ein paar Zeilen weiter erneut auf Hinweise vom kreistheoretischen Vorgehen Hegels: «Nach Hegel aber ist die Sendung eines Volkes kein Ergebnis seiner Geschichte; die Sendung mit der es vom Weltgeist betraut wurde, bildet vielmehr den Inhalt seiner Geschichte; und all dies geschieht damit der Geist endlich zum ‹Bewusstsein seiner selbst› gelange. Damit wurde Hegel zum modernen Schöpfer jener blinden Schicksalstheorie, deren Träger in jedem Vorgang der Geschichte eine ‹historische Notwendigkeit›, in jedem Ziel, das Menschen ausgedacht, eine ‹geschichtliche Sendung› erblicken.»[23] Hegel erfindet den Weltgeist, und leitet von ihm seine Theorien ab, die diese geschichtlichen Sendungen der Völker beschreiben und rechtfertigen. Wir können Völker durch Rassen oder Klassen ersetzen und kommen immer wieder auf das gleiche Schema. Auf das Schema einer Kontrollinstanz, die definiert, wann was getan werden muss und wer was zu tun hat. Derjenige, der sich als der Interpret aufspielt ist plötzlich mächtig. Und die Herrschenden werden solchen Leuten dabei helfen, ihre Theorien zu verbreiten, weil diese die Macht schüren. Die Macht kann damit im praktischen Sinne alles rechtfertigen, von Besatzungen zu politischen Morden, bis hin zum Genozid. Die anarchistische Position, an deren Anfang wir hier stehen, ist es diese Kreisargumentationen zu beenden und auch nicht mehr zuzulassen. Dafür wird speziell im deutschsprachigen Raum zwar einiges an Debatte notwendig sein, aber das ist nur eine Frage der Konsequenz, die eigene Mentalität zu verändern und die fatalistische Mentalität des Marxismus aus dem Anarchismus zu verbannen. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen ist ein gestärktes Individuum notwendig. Damit kann, auch wenn es speziell am Anfang mühsam erscheint, dem Sklavendasein der beschriebenen Denkfabrik ein Ende gemacht werden.
Amsterdam, Februar 2015
Einleitung zur italienischen Ausgabe von 1977
Nationalismus und Kultur ist ein großes Werk, das sehr harmonisch strukturiert ist und sich in den zwei Bänden, aus denen es besteht, mit der Geschichte der Macht und der Ausbeutung auseinandersetzt. Aufgrund der Breite der Recherche, der Gesamtheit der historischen und philosophischen Mittel, die benutzt werden, als auch der konsequenten Untersuchung und der Originalität der gezogenen Schlüsse ist Nationalismus und Kultur einer der wichtigsten Beiträge zum Aufbau eines revolutionären Gedankens, daher also kritisch, sowie es im gleichen Augenblick diese Kritik in die Wirklichkeit umsetzt. Ein Gedanke, der sich selbst zur Fähigkeit ermächtigt, den wesentlichen Charakteristiken der Macht entgegenzutreten und diese zu verweigern, selbst wenn sie sich hinter den Symbolen der scheinbaren Freiheit bürgerlicher Couleur verbirgt. Nationalismus und Kultur ist eines der bedeutendsten Werke der deutschen Philosophie, das vom Kontrast gekennzeichnet ist, der vom Anfang des 19ten Jahrhunderts an das gesamte philosophische Denken dieses Volkes prägt.
Anarchist und Mann der Tat, Revolutionär, Organisator und Autodidakt Rocker bleibt, wie könnte es anders sein, ein bemerkenswertes Beispiel dieser deutschen Kultur, die um die Jahrhundertwende dazu ansetzt, ständig neue, sich modifizierende Vorschläge zum idealistisch/materialistischen Stamm zu machen, welcher seinen Ursprung bei Hegel findet, in die sich auch die marxistische Reflexion mit revolutionären Merkmalen eingereiht hat. Rocker arbeitet fast 40 Jahre an seinem Buch, sicherlich nicht auf kontinuierliche Art, da ihn viel zu viele Aktivitäten und Verfolgungen vom Schreibtisch ferngehalten haben. Wir müssen die Ausarbeitung dieses Werks jedoch in den Kontext des Zeitraums zwischen dem letzten Jahrzehnt des 19ten Jahrhunderts und den Dreißigerjahren stellen. Nationalismus und Kultur ist ein sehr wichtiges Buch und das nicht nur für die Anarchisten. Deshalb müssen wir seine Entstehungsphase in einer bestimmten historischen Situation sehen, denn es trägt gar keine der oberflächlich utopischen Spuren, die oft die Lektüre gewisser libertärer Werke stört. Dieses Mal stehen wir vor einem Werk von kolossalem Einsatz, das sich damals, wie auch heute, vor eine objektive, in Verwandlung befindliche, Struktur stellt, wodurch sich in Anbetracht der möglichen Verbindungen zwischen dem Text und jenen vergangenen oder möglichen kontingenten Situationen, denen wir begegnen müssen, unterschiedliche, mögliche Änderungen der Form des Lektüre ergeben können.
Deutschland beendet mit der Gründung des deutschen Reiches seine Rolle als aufstrebende, kapitalistische Nation, nur um jene Entwicklung in die Wege zu leiten, die sie innerhalb von nur einem Jahrzehnt sogar zum Überholen von England führen wird. Die optimalen Bedingungen, die Marx erörterte, um den Kapitalismus zu analysieren und anzugreifen, ziehen von England nach Deutschland um. Aber das deutsche Volk ist dem englischen nicht ähnlich. Die verbindenden Strukturen Englands kommen nicht zwangsläufig auf, selbst bei ökonomischen Ereignissen, die sich auch in Deutschland ähneln (das ist sowohl ein weiterer Beweis der Haltlosigkeit der mechanistischen Vision eines gewissen historischen Materialismus, als auch eine indirekte Rückbestätigung von Rockers Thesen). Sicher, die deutsche Bourgeoisie beeilt sich der beinahe mittelalterlichen Vision der Kleinstädte zu entkommen und getrieben von der Liebe zum Gewinn und der Macht, stürzt sie sich in die Konstruktion der kapitalistischen Vision eines nationalen Marktes, was den ersten Schritt zu einer kolonialistischen und imperialistischen Bindung darstellt. Es ist sowohl der Wille zur Herrschaft, der sie bewegt (denn dieser ist in ihren politischen Vertretern offensichtlich), als auch der Wille sich der äußeren Welt bemerkbar zu machen. Dieselben deutschen bürgerlichen Intellektuellen jener Periode heften sich daran mit der Außenwelt auf allmögliche Art und Weise Kontakt aufzunehmen, mit Ausnahme von Kant, der in seiner Zeit nie seine Stadt verlassen hatte. Dabei werden sie boshaft, geschwätzig, unverschämt und zankhaft (Lasalle lässt sich im Duell umbringen). Sie lassen sich im Zuge dessen leicht von der politischen und wirtschaftlichen Macht kaufen, die sich langsam aber sicher bewusst wird, welche Wichtigkeit sie über die Herrschaft des Volkes innehat. Aber das deutsche Volk, dieses riesige, schläfrige Wesen, hat seine geistigen Strukturen nicht wirklich verändert. Es bleibt von allen verschiedenen Völkern der Erde, eines derjenigen, das zu beherrschen am einfachsten ist. Es ist fähig, intelligent, ziemlich gelehrt aber nicht zur Kritik an der Autorität fähig. Es wartet passiv darauf organisiert zu werden, kämpft sogar dafür und wenn es Angst hat, keinen «Mann des Schicksals» zu finden, versucht es alles mögliche, sich so schnell wie möglich eine solche Figur zu erschaffen.
Wenn die deutsche Kultur, zwischen der Niederlage von Frankreich 1870 und dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, einen großen Rahmen der Debatte zwischen Rationalismus und Irrationalismus beherbergt, heißt das nicht, dass es nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln darauf beharrt, dass es «die großen Männer sind, die die Geschichte schreiben». Ob diese Geschichte als fortschrittliche Linie bezeichnet wird (hegelianisch oder marxistisch geleitet) oder als Herrschaft des Chaos und des Absurden (Verwalter dieser Vision: Schopenhauer und Nietzsche), es wird jener Teil der Debatte nicht verrückt, der besagt, dass sich das Volk zu unterwerfen hat. Die externe Beziehung zwischen Hegel und Marx ist durch die Idee des Fortschritts gewährleistet, die interne Beziehung zwischen Schopenhauer (der konsequentere) und Nietzsche (der weniger konsequente) durch die Negation des Fortschritts. Deutschland, das sich entlang der kapitalistischen Linie entwickelt hat, empfängt seltsamerweise unterschiedliche kulturelle Elemente, die dazu fähig sind, diese Linie auszulegen und in starkem Kontrast zu ihr zu stehen. Der alte deutsche Romantizismus sah in der Hervorhebung einer rückständigen Vision des Bestehenden eine schmale Tür, wodurch er sogar das makroskopische Phänomen der französischen Revolution begreifen konnte (und zwar besser als solch ein Engländer, der Burke hieß). Dies auf solche Weise, dass im Wandel des objektiven Ereignisses (Entwicklung des Kapitalismus) ein gewaltsamer und schneller Wandel, wie kein anderer in der Geschichte, ein Widerspruch durch die Jahrzehnte der großen bürgerlichen Konstruktion erhalten bleibt: die sozio-politische Struktur, die wechselseitigen Modelle der vorangegangenen Periode, wie etwa die Haltlosigkeit des Parlamentarismus und das Festhalten der Macht an den preußischen Junkern (folglich das Festhalten der Macht an gewissen agrarischen Beziehungen), alles begünstigt durch die endemische Aufrechterhaltung des deutschen Volkes. Die alte Trennung in Staaten, sonst gut dazu fähig Widersprüche im Inneren des post-vereinigten, sich parallel dazu entwickelnden Italien, zu entfesseln, endet in Deutschland damit, zur neuen kapitalistischen Struktur, der parlamentarischen, politischen Führung durchzusickern. Die besten Intellektuellen betrachten den philosophischen Kampf, der durch den diesen beherrschenden Schopenhauer vertreten wird, als einen möglichen Lösungsschlüssel für das Schlechte, das sie in einer Gesellschaft erahnen, die nicht fähig ist, dem Standardmodell der englischen, kapitalistischen Entwicklung zu folgen. Wenn Kapitalismus innerhalb eines historischen Fortschrittprozesses, als eine Sache, die zeitlich begrenzt ist und deshalb als ein ökonomisches Phänomen, das durch eine materielle Analyse interpretiert wird, eingegliedert wird, öffnet sich der Weg für die Dialektik. Dabei kann man sich nicht immer vor dem mechanistischen Determinismus retten, der sich durch eine angenäherte Begeisterung für die Wissenschaften (und vor allem für die Mechanik) am Ende des 19ten Jahrhunderts breit gemacht hatte. Wenn Kapitalismus vom historischen Fortschritt durch die Negation letztgenannten getrennt wird, öffnet sich der Weg zum Irrationalismus, indem das kapitalistische Phänomen verewigt wird. Man tröstet das falsche Gewissen des Kleinbürgertums und schafft ein großes Alibi für dessen Unfähigkeit, den Abgrund zu überwinden, der zwischen diesem und dem Proletariat liegt. Wenn wir aber das Problem umkehren, pflichtet die Annahme des dialektischen Mechanismus nicht nur einer klareren Vision des historischen Prozesses bei (wenn auch oft die reformistischen Extremismen dazu führen, diesen Prozess in einen vagen Positivismus oder Darwinismus aufzulösen, nennen wir es wie wir wollen, der jegliche Fähigkeit des Menschen zur Intervention leugnet, weil er bloß ein Opfer der natürlichen und sozialen Kräfte sei) und unterstreicht nicht nur die aktiven Fähigkeiten des Menschen im historischen Prozess, dessen Beziehung zur Gemeinschaft und dessen Ablehnung der entscheidenden Handlungen gegenüber der «großen Persönlichkeit»; sondern verfestigt, als neues Gefahrenelement, genau im umfassenden Konzept der Gemeinschaft, das die Geschichte im Inneren des fortschrittlichen Schemas verwandelt, die Idee des «neuen Chefs», eines kollektiven Chefs, der sich Partei nennt, der jedoch immer noch ein Chef ist, und der dahingegen immer noch den Anspruch erhebt, stellvertretend für andere zu sprechen. Deshalb gibt es seitens des deutschen Volkes diese breite Akzeptanz, das immerzu willig ist, die minimalen Schimmer seiner Freiheit in die Hände von irgendjemanden zu legen (hier sei auf die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie seit Bebel hingewiesen). Der Irrationalismus, die Verweigerung eines Schemas, auch jenes, das die Geschichte als einen ewigen Fortschritt sieht, erlaubt es, aus der Gefahr einer mechanistischen Gefangennahme einer bestimmten Dialektik zu entfliehen; er öffnet jeglichen Weg für das Überschwemmen des philosophischen Abenteurertums , von Bergson bis Sorel, von Nietzsche bis Simmel; mit ihm kommt ein anderer, positiver Aspekt, durch den er es schafft eine große Anzahl von Gemeinplätzen zu verbreiten, deren Vermittlung wesentlich ist und die für den Gaumen des durchschnittlichen deutschen Großbürgers sehr verlockend sind: das Konzept der Macht und der Gefahren, die mit ihrer Beschäftigung verbunden sind.
Es ist die Periode der Blütezeit des Imperialismus. Das kulturelle Deutschland macht sich zum Träger der aggressiven Gewalt der ökonomischen Grundstruktur. Die breite und schnelle kapitalistische Akkumulation macht einen Diskurs über die Eroberung und den «Lebensraum» möglich, d.h. begründet diesen. Die deutsche Kultur zeigt sich davon durchdrungen. Weil Deutschland keine Kolonialmacht sein kann, da es im Vergleich zu allen anderen Nationen zu spät gekommen ist, wirft es sich mit allem Hunger und Durst auf das imperialistische Projekt, welche typisch für jene sind, die beim Bankett zu spät ankommen, um dabei seine inneren kulturellen Kräfte durch eine Art nationalistischen Kreuzzug in die Ecke zu drängen. Die zwei Adern der kulturellen und (im speziellen Sinne) philosophischen Debatte liefern zwei Produkte: auf der einen Seite schafft der hegelianische Idealismus, der sich durch einen Kontakt mit dem Neukantianismus erneuert hat, eine fortschrittliche Kritik der bürgerlichen Demokratie (es wäre doch sehr interessant, sich die Beziehungen zwischen Neukantianern und den deutschen Marxisten während der Zeit der Zweiten Internationale anzusehen); auf der anderen Seite produziert der Irrationalismus des späten Schopenhauers, der bis zu Nietzsche durch neue Großdenker belebt wird (vor allem Dilthey und Simmel), eine extreme Kritik an der Demokratie, egal in welcher Form sie sich manifestiert. Ein weiteres Mal muss man unterscheiden, um Fehler zu vermeiden, die aus zu einfachen Schlussfolgerungen entstehen. Die Revolution ist die Frucht einer vertiefenden Kritik an der Demokratie, eine Vereinbarung der politischen Frucht der historisch determinierten, revolutionären Bourgeoisie in ihrem wahren Sinne, mit allen sozialen Konsequenzen, die mit ihr verbunden sind. Aber wenn diese Kritik, filtriert durch den marxistischen Kontrollapparat, ankommt, muss man sich zwei Fragen stellen: a) beurteilt man die historische Tatsache mit dem reformistischen Schlüssel (die sozialdemokratischen Formen dieser Kritik, die heute sehr in Mode sind); b) beurteilt man sie mit dem revolutionären Schlüssel, der aber auch autoritär ist (Formen die auch heute in begrenzten Anteilen bei leninistischer Herkunft präsent sind)? Die Antwort auf diese Fragen öffnet uns den Weg, wahrhaftig und nicht nur von ungefähr zu einer Kritik am dialektischen Prozess zu kommen und unter anderem auch den Diskurs Rockers über den Willen zur Macht zu begreifen. Wenn hingegen, diese Kritik durch die irrationale Verweigerung filtriert wird (auch dies ist heute immer zunehmender in Mode, in einem Klima einer solchen Aufwertung der orientalischen Kulturen, dass dies sogar den sehr bescheidenen Buddhismus von Schopenhauer erblassen lässt), muss man hingegen zwei andere Dinge fragen: a) wird die physische und natürliche Tatsache als primär und in absoluter Art aus dem historischen Kontext herausgerissen betrachtet? b) gibt es eine wahrhaftige und richtige Negation des Fortschritts, und zwar eine Negation der Demokratie im absoluten Sinn, ohne jegliche Möglichkeiten partieller Verbesserungen, die mit der Zeit anhäufbar sind? Diese doppelte Problemstellung war innerhalb der deutschen Situation der imperialistischen Explosionen anwesend und half dabei, die Unzufriedenheit bestimmter oberer Schichten zu nähren – in erster Linie Professoren der Universitäten und Erzieher, die einige ehrliche Versuche mit marxistischen Wurzeln, wie die Rätekommunisten oder die Spartakisten, immer mehr isoliert hätte und sie dabei zwangen, sich in einer sektiererischen Anschauung des Proletariats einzuschließen (zumindest der zu ihrer Zeit eigentlichen Möglichkeiten Deutschlands gegenüber).
Der vorherrschende Diskurs war jener der radikalen Kritik an der Demokratie, ein Diskurs irrationaler Ausformung also, der auch noch rekuperierbar gewesen wäre, wenn er in Folge einiger bestimmter Ereignisse nicht den Händen einer intellektuellen Minderheit überlassen worden wäre, die ein sehr wichtiges Element für die herrschende Bourgeoisie schuf, ein Element auf dem sich in Folge der Nationalsozialismus konstruieren konnte. Die Wahrheit war, dass diese radikale Kritik keine Belohnung in einer fortgeschrittenen Organisierung des Proletariats fand, organisiert höchstens aus dem Blickwinkel der Sozialdemokratie; noch fand sie in einer psychologischen Situation des durchschnittlichen Deutschen eine solche Übereinstimmung, durch die sie, im speziellen unter Jugendlichen, auf eine prompte praktische Antwort auf gewisse theoretische Vorahnungen der Fäulnis der damaligen bürgerlichen Demokratie gegenüber zählen konnte. Genau deshalb wurden so viele Schriften Nietzsches von den Nazis ausgebeutet, wenn sie im Gegenteil einen Ausgangspunkt für eine redliche Analyse der Bedingungen des kapitalistischen Krebsgeschwürs darstellen hätte können. Eine Analyse, die in den Dienst eines organisatorischen Projekts der proletarischen Kräfte gestellt hätte werden können, auf solche Weise, dass man damit aus der revolutionäre Sackgasse herausfinden hätte können, in der man steckte. Es ist wichtig zu verstehen, wie die Dinge in diesen Jahrzehnten um die Jahrhundertwende in Deutschland standen. Das Volk war bezüglich seines bewussteren Anteils an eine sozialdemokratische und syndikalistische Vision geknüpft und forderte nichts Geringeres als seine Vollmachten abzugeben. Die radikale politische Klasse (die Marxisten eingeschlossen) akzeptierte all das als den Übergang in Richtung einer neuen Phase des Kampfes: die des fortgeschrittenen Kapitalismus. Sie hielt sich selbst für fähig, die kommenden Veränderungen des deutschen Imperialismus der Epoche zu erahnen. Die Bourgeoisie leitete das imperialistische Projekt und war bemüht einen Konsens durch die Verherrlichung des traditionellen Kanons des deutschen Romantizismus zu erreichen, indem sie erst alles nationalistische kulturelle Material anhäufte, um es dann vollständig in die Hände des Nationalsozialismus zu legen. Der Mittelstand rationalisierte den nationalistischen Mythos indem er den Gürtel enger schnallte und Opfer ertrug, die sogar grösser waren, als die des Proletariats (auch wenn er sein Gesicht bewahren musste, was für die Deutschen etwas sehr wichtiges ist) und vom Anbruch eines definitiven Reichs der Ordnung träumte, das möglich erachtet wurde, genau wegen der Kraft jener irrationalistischen Theorien, über die man in den Büchern von Schopenhauer las, der in dieser Klasse der Gesellschaft Verbreitung fand. Die Intellektuellen waren sich der wichtigen Rolle bewusst, welche vorzutragen sie aufgerufen waren und des Diskurses, den sie den Deutschen gegenüber verrichten mussten, sowie der großen Möglichkeiten, die sie hatten, von diesem wortkargen und nachdenklichen Volk gehört zu werden. Und ihr Diskurs schöpfte wahllos aus dem rationalistisch-hegelianischen Projekt oder aus dem irrationalistischen Schopenhauers (das durch die originelle Verarbeitung von Nietzsche erneut auflebte). Eine winzige Gruppe von Denkern und militanten Revolutionären bahnte sich ihren Weg durch das große Elend. Und Rocker war einer von ihnen.
Die allgemeinen politischen und sozialen Lebensumstände Deutschlands dieser Periode sind gezeichnet davon, dass das System antidemokratisch, in gewissen Gesichtspunkten absolutistisch (jene, die das Fortbestehen der Strukturen der vergangenen, in viele kleine Staaten geteilte, Welt ermöglichen) und unter gewissen anderen, einfach bürokratisch bleibt (jene neuen, die unter eine oberflächliche Kritik des effizientistischen Typs fallen, geleitet von jenen demokratischen Bürgerlichen, die ihre Pflicht als getan bezeichnen, wenn sie um einen Vorgang des Innenministeriums fertigzubringen, diesen statt bisher in 75 Passagen, nunmehr in 32 machen). Und dieses große Volk, das dazu fähig war, originellste und hervorragendste theoretische Arbeiten hervorzubringen, möglicherweise die passendsten zu ihrem Geist, schaffte es nicht einmal die Arbeiten der kritischen Bürgerlichen ihrer Gegenwart maßgerecht zu lesen, die ihnen den satirischen Scherz und den Roman empfahlen. Die Landwirtschaft besteht (und entwickelt sich weiter) während sie in ihren überholten Formen an der Seite des Bürokraten bleibt, und kein Land (außer vielleicht Russland) hat so verfeinerte Beispiele der Bürokratie wie Deutschland. Wenn der deutsche Arbeiter sich selbst dem Gutdünken seines Gewerkschaftsvertreters überlässt, und damit zufrieden ist, so überlässt der deutsche Bürokrat sich selbst den Händen seines Vorgesetzten und sieht sich damit für verwirklicht an: all seine Beschäftigung findet seinen Höhepunkt in der perfekten Erfüllung (beim Militär handelt es sich um preußische Perfektion) der Anordnungen der Rundschreiben und der ausgeteilten Befehle.
Die Tragödie des Ersten Weltkriegs ändert das soziale Bild, das wir in groben Zügen skizziert haben nicht ausschlaggebend. Die wilhelminische Struktur fällt, aber die Weimarer Republik generiert nicht die Kapazität die Demokratie zu akzeptieren und eine positive Debatte im Inneren der demokratischen Strukturen zu etablieren um eine revolutionäre Veränderung der sozialen Organisation zu erwirken. Der eigenartige Kontrast zwischen Alt und Neu bleibt bestehen, es bleiben sowohl die janusköpfigen Kritiken des demokratischen Prozesses, sowie die Bereitschaft an der bedingungslosen Akzeptierung der Befehle bestehen. Der Kampf um den sich die wenigen militanten Revolutionäre, in erster Linie die Anarchisten bemühten lief zutiefst erbittert und endete mit dem Tod einiger und später mit dem Exil für den Rest. Aber die Wirklichkeit der sie sich stellen mussten, hatte ihre recht steife Struktur: In erster Linie eine ideologisch schwache Ausbildung des Proletariats. Daraus folgt, dass sobald die Minderheit der Proletarier und intellektuell Selbstbewussten sich dazu entschließt die Bourgeoisie und ihre Partner auf der revolutionären Stufe anzugreifen, sich der Rest des Proletariats (die Mehrheit) von seinen reformistischen Chefs dazu gedrängt sieht, sich mit der Seite der Bourgeoisie zu verbünden. Es mag diese seltsame Union sein, typisch für eine abnormale Situation der Entwicklung und der Rückständigkeit, der Ambivalenz und der Zweideutigkeit also, die von den Nationalsozialisten ausgebeutet werden wird, um die Massenbasis für ihre Partei aufzubauen.
Rocker, der 1893 im Zuge der Bismarck’schen Gesetze dazu gezwungen war Deutschland zu verlassen, kehrt dorthin nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zurück. Er kämpft beidseitig, sowohl gegen den Militarismus, als auch gegen die autoritären Tendenzen des Marxismus. Es ist der Moment der fortgeschrittenen Erarbeitung des Buches, das beginnt in groben Zügen Form anzunehmen, bis zur Fertigstellung des deutschen Originals. In der Zwischenzeit vermehren sich die Kampferfahrungen. Das Ende der wilhelminischen Epoche hat den Einzug der Kapitalisten in das deutsche Monopol gekennzeichnet, das bis dahin über Mittelspersonen, von großen politischen Persönlichkeiten verwaltet wurde. Nicht dass es später an solchen fehlen wird (denken wir nur an Hindenburg), jedoch werden sie eine Nebenrolle spielen. Das Kapital schickt seine Männer direkt aus, um die staatlichen Posten zu besetzen, indem es eine Politik etabliert, die liberal und demokratisch sein will (im bürgerlichen Sinne), die aber aufgrund der objektiven Bedingungen nur zur Unterstreichung der Widersprüche führt. Die preußischen Gutsbesitzer und die Militärkaste beharren darauf ihre Vormacht nicht aufzugeben, die neue Klasse baut Druck auf und beweist die eigene Unfähigkeit sich bestimmter Werkzeuge zu bedienen (wie jenes faszinierende Werkzeug des romantischen Nationalismus), welche die Gutsbesitzer und Militärs angewandt haben. Diese neuen Bosse sprechen in Begriffen des Effizientismus und des Produktivismus. Die Masse der Arbeiter öffnet sich ein bisschen für die Idee der Revolutionären Organisation, im Speziellen nach den Ereignissen in Russland. Es kommt zu einer Spiralbewegung in Richtung des Sozialismus und dem Phänomen der Arbeiter- und Bauernräte, welches nicht nur einen Augenblick in der deutschen Geschichte darstellt, sie bleiben ein Zeichen, das nicht so leicht auszulöschen ist. Große Hoffnungen im Jahre 1918, große Enttäuschungen in den darauffolgenden Jahren. Es bleiben die antikapitalistischen Stimuli, die natürlich von den neokapitalistischen Kräften erkannt und in reaktionärer Richtung kanalisiert werden. Um das zu erreichen, erweist sich das Werkzeug der Propaganda als notwendig, das irrationale Gefühle in den Massen anspricht und sich als fähig erweist, die Stimuli der Sozialisierung, die sich bemerkbar gemacht haben, mundtot zu machen. Die kleinbürgerlichen Intellektuellen begeben sich an die Arbeit: Ihre Kunden sind das Großkapital, die militärischen Überreste und die preußischen Agrarkräfte. Eigenartigerweise, aber nicht zu eigenartig, wenn man den Charakter des deutschen Volkes kennt; diese irrationalen Diskurse, diese Appelle an den Mythos des Vergangenen, an das große Deutschland, an die Willenskraft, an die Weigerung die Gegenwart zu analysieren, an die (verbale) Verurteilung des Kapitalismus, werden auch von den großen Massen und einem Teil der Arbeiterbewegung aufgenommen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass für diese «Öffnung» hin zum Irrationalismus in gewisser Hinsicht genau jene Vertreter der Möglichkeitspolitik verantwortlich waren, die an jenem Punkt anlangten, an dem die Arbeiter begannen, diese abstoßend zu finden. Diese waren vom Programm der Zweiten Internationalen angezogen gewesen und haben über mögliche fortschrittliche Siege sowie konkrete Verbesserungen nachgedacht. Sie träumten von einem zukünftigen (und nicht in Frage kommenden) Zerfall des Kapitalismus; sie betrachteten ihre eigene historische Entwicklung als etwas, das Teil eines harmonischen, rationalen Ganzen sei. Folglich haben sie jegliches revolutionäre, aufständische, anarchistische Konzept des sozialen Kampfes aufgegeben. Als die Situation (wie etwa der Hamburger Matrosen) sie dazu drängte anzugreifen, waren die Gründe dafür klar ersichtlich und gegenwärtig und als sie nicht vorankommen konnten, versuchten sie vorübergehend einen anderen Pfad einzuschlagen. Da sie sich nicht in einem letzten nutzlosen Endkampf massakrieren lassen konnten (von dem im «Untergang der Götter» geträumt wurde, welcher der Traumtänzerei der deutschen Bourgeoisie so teuer war und von den romantischen Urahnen der Intellektuellen im Dienste der Bosse so lobgepreist wurde), haben die Matrosen den Pfad der Revolution gewählt, ihre Räte gegründet und sich wie ein Ölteppich auf dem ganzen deutschen Territorium ausgebreitet. Aber schließlich, als der maßgebliche Beweggrund nicht mehr vorhanden war, wurde das Phänomen wieder rückeingegliedert. Der Fluss der Arbeiterbewegung verlief nach seinen vorhergehenden Bahnen des Reformismus und des Possibilismus. Und am Ende noch eine letzte Enttäuschung mit der Weimarer Republik, ohne die geringste Spur von Demokratie und Republik, mit einer Kritik am Kapitalismus ohne Revolutionäre, einer Kritik der bürgerlichen Demokratie, gemacht von den Bürgerlichen, die an deren Restauration interessiert waren, oder von an den Rand gedrängten Nihilisten, die jedoch schwierig zu deuten sind.
Die Epoche die Rocker erlebt ist ein schwieriger Moment der Geschichte. Einer von jenen Momenten, die anhand von Fakten erklären, wie sie perfekte Theorien (a priori) zerstören, wie jene eines gewissen Marxismus, von interessierten Nachkommen wiederbelebt, um ihn zu kristallisieren und damit unschädlich zu machen, oder ihn von den Parteimitgliedern und von jakobinischen Fanatikern in seine sektiererischen Komponenten zu zergliedern, die es ausschließlich darauf abgesehen haben, die Macht an sich zu reißen. In diesem Moment, und noch mehr in Anbetracht der Krise von 1929 hört das deutsche Proletariat auf das irrationalistische Geschwätz, während es akzeptiert zur Massenunterstützung des Willens zur Macht einer beschränkten Minderheit von Betrügern zu werden. Der marxistische Mythos versagt und andere Analysen werden erforderlich. Jene von Rocker ist im Gesamtbild der anarchistischen Analysen eine der ausführlichsten und überzeugendsten.
Wie wir bereits erwähnten, richtet sich dieses erste Buch auf das Studium des Konzeptes der Macht und der historischen Verwirklichung der Ausbeutung. Das erste Hindernis, das sich findet ist die Grundthese des ökonomischen Materialismus. Er schreibt: «Es gibt tausende Erscheinungen in der Geschichte, die sich nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen oder aus diesen allein erklären lassen. Man kann schließlich alles in einem bestimmten Schema unterbringen, aber die Ergebnisse die dabei herauskommen rechtfertigen nicht den Aufwand.» Das was in Rockers Nachforschungen deutlich wird, ist seine anfängliche Weigerung sich in das marxistische Schema zu begeben. Für einen deutschen, revolutionären Denker bringt das die Verweigerung von Hegel mit sich oder eine Reevaluierung von Kant (und jene normative Interpretation der Wissenschaft, die durch viele Ereignisse die neue, moderne Wissenschaft nähren wird), oder eine Verherrlichung des Irrationalimus von Schelling bis Heidegger, oder die Verwendung einer Methodologie die sich darauf beschränkt, das Entwickeln von einigen Fakten mit dem Vorbehalt festzustellen, nur jene Schlussfolgerungen herauszunehmen, die der Praxis der Intervention des konkreten Kampfes gegen die Macht nützlich erscheinen. Rocker wählt die letztgenannte Richtung. Seine Wahl entspricht nicht nur seinem politischen Einsatz, sondern auch seiner sozialen Herkunft. Dieser Proletarier, Sohn von Proletariern und Autodidakt, stellt sich der «geschlossenen Welt» gegenüber, der offiziellen, deutschen Kultur des Moments und untersucht diese kalt und objektiv, genau mit jener Haltung die nur derjenige annehmen kann, der sie nicht als etwas eigenes anerkennt, sondern als Frucht der Aktivität des Feindes, der Macht. Trotzdem muss man diese Kultur untersuchen, wenn man sie auch nicht akzeptieren kann, man muss sie auf ihre Kapazität hin studieren, die Wirklichkeit zu Gunsten der herrschenden Klasse zu transformieren, und die Möglichkeiten dahingehend sind enorm.
Die Aufgabe Rockers wäre also viel einfacher gewesen wenn die offizielle deutsche Kultur eine einzige Entwicklungsströmung aufzuweisen hätte: und zwar die hegelsche, innerhalb derer man auch das wissenschaftliche Neustudium von Kant festmachen könnte. Wäre es so gewesen, wäre der Kampf gegen Marx der Versuch gewesen, eine Linke neu zu bemessen (in Deutschland im übrigen klar reformistisch), diese wieder zurück zu ihrer revolutionären Verantwortlichkeit zu bringen und die methodischen sowie strategischen Fehler aufzuzeigen (die Selbstauflösung des Staates); während der Kampf gegen Schopenhauer, also gegen den Irrationalismus, der vom Großbürgertum angewendet wurde, um den Mittelstand und das Kleinbürgertum anzusprechen, der Versuch gewesen wäre, eine reaktionäre Rechte ohne Kontakte mit der gelebten Kultur zum Schweigen zu bringen (was auf die eine oder andere Weise immer aus den gefühlten Bedürfnissen der Massen hervorkommt). Die deutsche Wirklichkeit hingegen akzeptierte sowohl den hegelianischen Rationalismus, von dem der Marxismus der deutschen Reformisten ein großes Beispiel darstellt, als auch den bürgerlichen Irrationalismus, mit all seinen nationalistischen, romantischen und mystischen Ableitungen. Der erste Schritt den Rocker also macht, ein entschiedener Schritt, der gut verstanden sein will, ist die Verweigerung des Konzepts der Totalität. Es wird Lukács sein der später schreiben wird: «Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet den Marxismus entscheidend von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität.» (Geschichte und Klassenbewusstsein).
Das gesamte Werk Rockers geht von dieser Verweigerung aus, daher beruht es auf einer Methodologie, die essentiell anders als die marxistische ist. Auch wenn man strikt gesprochen bezüglich seiner Kritik des historischen Materialismus diskutieren muss, bleibt er trotzdem und vielleicht umso mehr, einer der sehr wenigen anarchistischen Denker, die sich umfassend über die marxistische Methodologie zu stellen wussten, und dies genau mit der Basis der Verweigerung des Totalitätskonzepts.
Wenn Rocker schreibt: «Der Wille zur Macht, der stets von Einzelnen oder von kleinen Minderheiten in der Gesellschaft ausgeht, ist überhaupt eine der bedeutsamsten Triebkräfte in der Geschichte», will er damit ein Teilelement zur Untersuchung vorschlagen, um dazu zu gelangen, ein generelles Bild der historischen Entwicklung zu zeichnen, das sich daher als Entwicklung des Kampfes zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern ergibt, aber ohne, dass diese Entwicklung von der Zugehörigkeit an eine methodologische, globalisierte Dimension in seiner Totalität von Anfang bis Ende bedingt ist; das ist gemeint mit «gedacht in seiner Totalität». Auch Rocker schlägt parallele Untersuchungen vor, wie zum Beispiel jene zwischen Macht und Religion, bei der er abschließend einschätzt, dass die Religion die primäre Wurzel der Idee von der Macht sei; diese Untersuchungen sind jedoch nicht (wie das bei Max Weber etwa der Fall ist) eine neben die andere gestellt, um eine normative, dogmatische Schlussfolgerung herauszuziehen, um sich im Inneren einer totalisierenden Hypothese durchzusetzen; diese Untersuchungen dienen dazu die Beziehung zwischen dem fundamentalen Prinzip der Macht und der Geschichte darzustellen. Genau deshalb sind wir mit dem Anfang von Rockers Arbeit einverstanden, der richtigerweise den marxistischen ökonomischen Materialismus angreift, auch wenn sich die angewandten Werkzeuge heute zu neuen Betrachtungen und neuen Interventionsmethoden erweitern; wir sind deshalb einverstanden, weil der Kern der Kritik große Gültigkeit besitzt: die Verweigerung der marxistischen Methodologie und die Verweigerung des Konzeptes der Totalität. Das erfordert die Kritik Hegels und die der deutschen Philosophie der kantianischen, fichteschen und hegelianischen Strömung. «Hegel ist deshalb der moderne Schöpfer dieser blinden Theorie des Schicksals, deren Anhänger sowohl ‹historische Notwendigkeit› in jeglichen Ereignissen als auch eine «historische Mission» in jedem durch den Menschen konzipierten Ziel sehen. Hegel ist auch im Geist unserer Zeit immer noch lebendig, weil es auch heute diejenigen gibt oder gab, die ernsthaft über die historische Mission einer Rasse oder einer Nation oder einer Klasse sprechen.» Wo das Konzept einer historischen Mission, wie schon Bakunin richtigerweise sagte, in Widerspruch mit dem revolutionären Kampf tritt, der ausgefochten werden muss, auch dann wenn er sich auf Grundlage einer a priori Überlegung den «historischen Interessen» des Volkes der ihn vollzieht, als widersprüchlich erweist, genau deshalb, weil der revolutionäre Kampf dieses Volk vor die eigene Verantwortlichkeit stellt, erzieht er es, sich selbst zu regieren, er macht es tauglich die Klassengegensätze auszufechten, durch die es ausgebeutet werden soll. All das kann in der hegelschen Philosophie nicht angetroffen werden und erweist sich sachbedingt auch dem Marxismus fremd.
Die Analyse der Beziehungen zwischen Macht und Religion, also den Beziehungen zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Politischen, Bereiche die von Rocker als antagonistisch betrachtet werden, erlauben es ihm eine Analyse der Macht zu präzisieren. Er begründet sie auf der historischen Erforschung der Verwirklichung dieser Macht im Laufe der Jahrhunderte, eine Verwirklichung die sich nach und nach verändert, die aber unter einigen Gesichtspunkten Beständigkeit zeigt: zuallererst das «aktive Bewusstsein der Autorität». «Jede Art von Macht – bestätigt Rocker – ist angelegt durch das Erlangen der einzigen Macht, denn in ihrer Natur sieht sie sich als absolut und deshalb stellt sie sich gegen zeitliche Hindernisse, die sich als mögliche Grenze ihres Einflusses darstellen könnten.» Und hier noch einmal der Wille zur Macht, der als Werkzeug zur Interpretation der Geschichte verwendet wird. Sicher, auch bei Hegel (demnach auch bei Marx) spielt die Macht eine Rolle, aber im Marxismus als Doktrin, wie im Hegelianismus der Schule, spielt sie keinerlei Rolle, sie ist schlicht eine intellektuelle Behauptung, ein Wille der nichts will, er verbleibt restlos in einer abstrakten, durch das dialektische Vorgehen historisch rationalisierten, Universalität haften. Rocker will den Spieß nicht umdrehen, wie das Nietzsche auf gewisse Weise gemacht hatte, um das Diktat mit einem Willen zu versehen, wiederum abstrakt, einem Willen, der alles will und aus diesem einfachen Grund damit fortfährt nichts konkretes zu wollen. Er identifiziert den Willen zur Macht als einen der Motoren der Geschichte, demnach als einen der fixen Bezugspunkte, um Taten und Aktionen zu begreifen, die sonst nur durch auslegbare Methodologien verständlich blieben, wie jene marxistischer Art oder jene irrationalistischer.
Die Realität ist wesentlich anders, viel vollständiger, viel reicher als es sich die dialektische Vorgehensweise erträumen könnte, sowie es ebenso das Werkzeug des «Willen zur Macht» erklären könnte, wenn Rocker den Vorwand gehabt hätte diesen im dogmatischen Sinne zu verwenden. Im Gegenteil, er schlägt uns eine parallele Leseart vor, wobei «auch» das ökonomische Element zum Tragen kommt, richtigerweise vor seinem Alter Ego platziert, d.h. dem politischen Element.
Demnach folgt die starke Negierung der Fortschrittsidee im verabsolutierten Sinne. So schreibt Rocker: «Man hat des Öfteren behauptet, dass die Entwicklung der sozialen Gestaltung Europas in Richtung des Nationalstaats auf der Linie des Fortschritts gelegen habe. In der Wirklichkeit entspringt dieses Märchen keineswegs einer ernsten Würdigung der geschichtlichen Tatsachen, sondern vielmehr dem vergeblichen Bestreben, die gesellschaftliche Umgestaltung Europas im Lichte einer aufsteigenden Entwicklung sehen zu wollen». Der Aufwand zur Verweigerung, die von Rocker betrieben wird, darf nicht unterschätzt werden, sie richtet sich gegen eine Tradition, die in der modernen, intellektuellen Welt Bedeutung hatte und hat, sei es im post-wilhelminischen Deutschland, sei es im Europa jener Zeit oder in unseren Tagen. Außerdem machten in dieser Zeit die objektiven Situationen der kulturellen Debatte und die Bedingungen der Entwicklungen der Arbeiterkämpfe das Problem noch komplexer und voll von gefährlichem Nachhall. Die Verteidiger des Fortschritts waren zu jener Zeit die reformistischen Marxisten, die republikanischen Demokraten (mehr oder weniger in der Minderheit), die fortschrittlichen Bürgerlichen sowie die Kapitalisten, die selbst gedachten die Leitung des Staates zu übernehmen. Die Unterstützer jener These der Negation des historischen Fortschrittkonzeptes waren die Irrationalisten, Romantiker und die Metaphysiker, die nationalistischen Gutsbesitzer sowie die Militaristen. Mit Mut Stellung zu beziehen, in einem solchen Aufgebot die Kraft zu haben zu sagen, dass alle willentlich im Unrecht sind, allen voran die marxistischen Reformisten, war keine leichte Aufgabe. Heute, wo wir gut auf die theoretischen Interventionen vorbereitet sind, wo wir viel Erfahrung haben, heute wo der totalitäre russische Staat vor allen Augen gegenwärtig ist, um unsere Blicke etwaiger Restillusionen mit Faustschlägen zu traktieren: wie viele befinden sich unter uns, die im Entwickeln der eigenen Analysen befreit sind von der Manipulation einer gewissen marxistischen Mentalität? Sicherlich nicht viele. In einer historisch im Blickwinkel der kulturellen Verbindungen viel komplexeren Situation, als der unseren, hatte Rocker also die Kapazität den richtigen Pfad der anarchistischen Kritik an der Macht auszuwählen, und dieser Pfad führt durch die Kritik des Konzeptes des historischen Determinismus, der historischen Totalität, der historischen Notwendigkeit; allesamt Konzepte die den Mythos des Fortschritts schüren. Aber seine war nicht einfach eine einfache kulturelle Reaktion auf das dialektische Muster, wie es hätte sein können, wie wir es irgendeinem rückständigen deutschen Universitätsprofessors dieser Zeit unterstellen. Es war das Annehmen der Position eines militanten Anarchisten und Revolutionärs, der die Basis einer kulturellen Mystifizierung erkannte, mit bedeutenden Konsequenzen auf die Praxis der Intervention in die Realität. Genau im Bezug auf die notwendige Verdeutlichung dieses letzten Punktes, d.h. was die konkrete Aktion anbelangt, wird seine Analyse geführt und zu Ende gebracht.
Der Unterschied zu den deutschen, irrationalistischen Denkern, die scheinbar einen ähnlichen Diskurs wie jenen von Rocker führen (Negierung des Fortschritts, Hervorhebung des Willens, Kritik an der bürgerlichen Demokratie, etc.) muss deutlich unterstrichen werden. Nicht dass es Zweifel geben könnte, dass das ganze Leben Rockers ein konkreter, wesentlich wirksamerer als irgendein theoretischer, Beweis für seine Beschäftigung als militanter Anarchist war; sondern weil man auf eine Weise vorgehen muss, mit der man Spekulationen vermeiden kann, die von den Marxisten gemacht werden, die versuchen mit diesen zu spielen, um die Einflüsse der anarchistischen Thesen zu reduzieren. Wir stellen also fest, wenn Schopenhauer mit seinen Thesen über den Willen hervortritt, befinden wir uns vor einem bürgerlichen Philosophen, der den Willen auf abstrakte Weise rühmt, er betrachtet ihn als die Kraft die zu allem fähig ist, alles auf den Kopf zu stellen vermag, aber im Wesentlichen sich darauf beschränkt das Problem zu erkennen und zu analysieren, um daraufhin das Problem mit seiner Lösung zu verwechseln. Hier liegt der unumstrittene Beweis für die Gefährlichkeit einer These. Ein konservativer Bürgerlicher kann jegliche theoretische Formel benutzen, auch jene marxistische, dennoch bleibt er konservativ und bürgerlich, wenn er verbirgt, dass er das Problem mit seiner Lösung verwechselt, um damit abzuschließen, dass die Unlösbarkeit des Problems selbst schon eine Lösung ist. Demnach ist für Schopenhauer der Wille zur selben Zeit Werkzeug (Problem) und Zweck (Lösung des Problems), aber er kann die Welt nicht verändern, er kann diese nur repräsentieren (d.h. das Problem ist unlösbar und bleibt genau deshalb definitiverweise gelöst). Im Gegensatz dazu, nach wie vor bezüglich des selben Arguments vom Willen, sagt Rocker dort, dass der Wille zur Macht das Werkzeug ist (Problem) aber nicht Zweck, dass dieser Zweck die Macht ist (Lösung des Problems), dass dieser Wille jedoch keine Totalität ist, demnach nicht deterministischen Gesetzen unterworfen, sondern sich im Konkreten in der Geschichte durch jene Zufälligkeiten verwirklicht, die sich über die grenzenlose Konfrontation zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten fächerartig eröffnen. Hier findet sich die Lösung des Problems: darauf ausgerichtet, dass diese Konfrontation sich zum Vorteil der Ausgebeuteten wendet und damit den Willen zur Macht zum schlichten Instrument der Macht reduziert und den Willen zur Solidarität, Gerechtigkeit und Menschheit preist, in einem solchen Maße, um ein Hindernis, zu erschaffen, das groß genug ist, um das erste zu behindern; keine banale Repräsentation, sondern echte Konfrontation, keine Reproduktion eines intellektuellen Musters, sondern Ausarbeitung von Analysen, um diese im konkreten Kampf anzuwenden. Diese Klarstellung ist von großer Bedeutung und man muss sie sich in unseren Auseinandersetzungen mit den Marxisten immer vor Augen halten, um die Kritiken die gegen uns gerichtet werden, abwenden zu können. Die bloße Wahl eines methodologischen Instrumentes kennzeichnet den Analytiker nicht, sie steckt ihn in eine Schublade, die unzählige Überraschungen hervorbringen könnte. Es ist notwendig darüber hinaus zu gehen, es ist notwendig zu sehen, ob jemand wahrhaftig eine methodologische Dimension einnimmt, ob er das im Blickwinkel darauf tut, sich «tatsächlich» an die Wirklichkeit anzunähern, jedoch nicht, um ihr zu entkommen und sich hinter den Deckmantel der Methode, Parolen und Symbole zu flüchten.
Diese Art und Weise sich vor ein Problem zu stellen wird jedoch erst unter der Bedingung eine wirksame Realität, dass man jenen gefährlichen Stolperstein vermeidet, der aus der Schwierigkeit besteht, die Analyse auf der Ebene der konkreten revolutionären Anforderungen zu übermitteln. Im Hinblick auf eine abstrakte Hypothese kann jeglicher Diskurs, zum Beispiel jener über die Gewalt, auf rationaler Basis sowie auf irrationaler gemacht werden. Aber erst auf das konkrete Problem hin angewendet, d.h. bezüglich der Frage «auf welcher Grundlage macht man Gebrauch von der Gewalt?» entkommt man dem rhetorischen Kreis der Übereinanderlagerung von Lösung und Problem, der typisch bürgerlichen Verkleidung der Unlösbarkeit des Problems durch das Problem selbst. Die nicht in Realität umgesetzte Absicht kann man nur vermeiden indem sich die gesamte Person des Analysators am Akt der Analyse selbst beteiligt, sie innerlich mitreißt, ohne ihre Arbeit in Bereiche aufzuspalten (Universitätsprofessor oder professioneller Guerillero oder Parteifunktionär, auf dieser Ebene macht das keinen Unterschied).
Indem man den Kreis der Fraktionierung in Arbeitsbereiche aufbricht und indem man die Kameraden von einer Methodologie der Intervention wegreißt, die dazu neigt Spezifikationen zu schaffen wo keine sein sollten, stellt sich das Problem sofort vor seine objektive Lösungsmöglichkeit (begrenzt, wenn man will schrittweise, aber stets Lösung).
Bleibt ein letztes Hindernis: der mögliche Kontrast zwischen dem realen Inhalt der vorherrschenden, sozialen Beziehungen und die methodologische Wahl, die die revolutionäre Intervention leitet. An dieser Stelle kann sich erneut eine Irreführung verbergen. Die Wahl (mit Hinweis auf das Werkzeug des Willens, oder auf jenes der Gewalt oder ein anderes Werkzeug) kann den Kameraden, der sie trifft, umfassend beschäftigen, seine Analyse kann in eine adäquate Beziehung mit der Aktion treten aber gleichzeitig kann eine Unzulänglichkeit (vielmehr ist das gewöhnlich der Fall) zwischen der Wahl des Werkzeugs und der wirkenden Realität existieren, d.h. eine Empfangsschwierigkeit, gerade abhängig von jenem realen Inhalt der vorherrschenden sozialen Beziehungen (etwa im Falle der Arbeiterbewegung). Dieses Hindernis kann nur mit dem Erkennen von dessen Existenz bewältigt werden, mit dem kritischen Eingeständnis häufig auftretenden Begrenztheit der getroffenen Auswahlen, durch die stete und stufenartige Verbindlichkeit. Es kann keinesfalls durch die einfache Geste es zu ignorieren vernichtet werden, durch das Fortfahren damit den Kopf in den Sand zu stecken, durch die fingierte Totalitätspolitik oder die spezifische Organisation, die niemals nicht Recht haben kann und die immerzu stur ihren Weg geht.
Und das ist die fundamentale Lehre, die wir aus der Lektüre von Rockers Arbeit entnehmen können. Die beständige Überprüfung der Positionen der Gegenseite befreit uns nicht von der Überprüfung unserer Positionen, die harmonische Wahl der Mittel im Bezug auf die anarchistische Methode garantiert die Erreichung der anarchistischen Ziele nicht. Es ist erforderlich stets auf der Hut zu sein, es ist notwendig die Bewegungen der Macht genau unter die Lupe zu nehmen, sowie auch die Auswirkungen, die die Aktionen der Macht auf uns haben. Nur so können wir Klarheit in den Ideen und Reinheit der Entscheidungen haben, nur so können wir, wenn wir das als notwendig betrachten, unsere Ideen durchsetzen, ohne uns dazu gezwungen zu sehen, aus Scham oder Einsicht der eigenen Beschränktheit uns mit einer Hand an den wankenden Wagen der marxistischen Theorien anzuhängen.
Catania, 14. Januar 1977
Alfredo M. Bonanno
Vorwort des Autors zur ersten deutschen Ausgabe
Dieses Werk, das bereits in verschiedenen Sprachen erschienen ist, war zunächst für einen deutschen Leserkreis bestimmt. Es sollte im Herbst 1933 in Berlin erscheinen, allein die furchtbare Katastrophe, die über Deutschland gekommen war und die folgerichtig in eine Weltkatastrophe ausmündete, setzte jeder freien Behandlung sozialer Probleme in meinem Heimatland ein jähes Ende. Daß ein Werk wie dieses im sogenannten Dritten Reiche keinen Platz finden konnte, war selbstverständlich. Standen doch die Gedankengänge, die hier vertreten wurden, im schärfsten Gegensatz zu allen geistigen Voraussetzungen, die der Idee des totalitären Staates zugrunde lagen. Der wahnwitzige Versuch, alle geistigen und sozialen Lebensäußerungen eines Volkes auf den Takt einer politischen Maschine abzustimmen und alles menschliche Tun und Denken der Staatsräson zu unterordnen, mußte unwiderruflich zum Rückfall in die brutalste Barbarei führen, da jede geistige Kultur ohne freien Willensausdruck überhaupt undenkbar ist.
Der Niedergang der Literatur im Dritten Reiche, das Festlegen der Wissenschaft auf einen öden Rassenfatalismus, der alle ethischen Grundsätze durch ethnologische Begriffe ersetzen zu können glaubte, der Verfall des Theaters, die Vergewaltigung der öffentlichen Meinung, die Kneblung der Presse und aller anderen Organe des freien Meinungsausdrucks, die Verwilderung der Gerichtsbarkeit und allen Rechtswesens, die schamlosen Judenverfolgungen, die an die schlimmsten Auswüchse des Mittelalters gemahnten, die rücksichtslose Unterdrückung der gesamten Arbeiterbewegung, die Einmischung des Staates in die intimsten Beziehungen der Geschlechter, die Beseitigung jeder politischen und religiösen Gewissensfreiheit, die namenlosen Greuel der Konzentrationslager und eines allmächtigen Polizeisystems, der politische Mord im Dienste des Staates, die Vertreibung der wertvollsten Elemente aus Deutschland, die seelische Vergiftung der Jugend durch eine vom Staate betriebene Propaganda des Hasses und der Unduldsamkeit, der stete Appell an die niedrigsten Instinkte der Masse durch ein skrupelloses Demagogentum, dem der Zweck jedes Mittel heiligte, die ständige Bedrohung des Friedens in Europa, die schließlich zur größten Katastrophe führte, von der die Menschheit bisher befallen wurde, eine innerlich verlogene, auf die bewußte Täuschung von Freund und Feind berechnete Politik, die weder Rechtsgrundsätze noch geschlossene Verträge achtete - dies alles waren die unvermeidlichen Ergebnisse eines Systems, dem der Staat alles, der Mensch nichts war.
Täuschen wir uns nicht, diese neueste Reaktion, die noch lange nicht überwunden ist und der durch die Unsicherheit der bestehenden Wirtschaftsbedingungen und eine immer wachsende Zentralisation des politischen Lebens der Weg geebnet wurde, ist nicht zu vergleichen mit den periodischen reaktionären Rückfällen, wie sie die Geschichte jedes Landes vorübergehend aufzuweisen hat. Es ist die Reaktion als Prinzip, die Reaktion gegen die Kultur überhaupt, die Reaktion gegen alle geistigen und sozialen Errungenschaften der letzten dreihundert Jahre, die jede Freiheit des Gedankens zu ersticken droht und deren Trägern die brutale Gewalt zum Maßstab aller Dinge wurde. Es ist der Rückfall in ein neues Barbarentum, dem alle Voraussetzungen einer höheren gesellschaftlichen Kultur fremd sind und dessen Vertreter dem fanatischen Glauben huldigen, daß alle Entscheidungen im nationalen und internationalen Leben der Völker mit dem Schwerte ausgetragen werden müssen.
Ein geistloser Nationalismus, der alle natürlichen Bindungen des gemeinschaftlichen Kulturkreises grundsätzlich ignoriert, hat sich zur politischen Religion dieser neuesten Tyrannei im Gewände des totalitären Staates entwickelt und schätzt den Wert des Einzelwesens lediglich auf den Nutzen ein, der dem politischen Machtapparat daraus erwächst. Die Folge dieser aberwitzigen Auffassung ist die Mechanisierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens, in dem der einzelne bloß noch Rad oder Schraube einer alles nivellierenden Staatsmaschine ist, die zum Selbstzweck wurde und deren Lenker weder ein privates Recht noch irgendeine Meinung tolerieren, die sich den Grundsätzen des Staates nicht bedingungslos unterwirft. Der Begriff des Ketzertums, der den dunkelsten Perioden der menschlichen Geschichte entsprungen ist, wurde von den Trägern des totalitären Staates aller Richtungen ins Politische übertragen und wirkt sich in den fanatischen Verfolgungen aller aus, die sich der neuen politischen Kirche nicht unterwerfen wollen und die Achtung vor menschlicher Würde und Freiheit des Tuns und Denkens noch nicht verloren haben. Eine allmächtige Staatspolizei, wie die Gestapo und ihre verwandten Ableger in anderen totalitären Staaten, ersetzt heute die Rolle der Inquisition, die in vergangenen Jahrhunderten über die «Reinheit des Glaubens» oder, wie man es heute nennt, – die «rechte Linie» – wachte und jede Abweichung mit Liquidation und Kerker bedroht. (Das Wort Liquidation ist besonders hübsch gewählt und ungemein charakteristisch für die Ideengänge unserer Totalitären.)
Es ist eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, zu glauben, daß solche Erscheinungen sich nur in bestimmten Ländern auswirken können, welche durch die besondere Veranlagung ihrer Bevölkerung dazu geeignet sind. Dieser Afterglaube an kollektive geistige und seelische Eigenarten von Völkern, Rassen und Klassen, dem man heute im Ausland häufig, besonders den Deutschen gegenüber, begegnet, hat schon viel Unheil angerichtet und verstellt uns jeden tieferen Einblick in die Entwicklungsvorgänge sozialer Erscheinungen. Die engen Beziehungen der verschiedenen Menschengruppen desselben Kulturkreises bringen es mit sich, daß Ideen und Bewegungen nicht an die politischen Grenzen besonderer Staaten gebunden sind und überall zur Herrschaft gelangen können, wo sie durch die Zuspitzung sozialer Lebensverhältnisse begünstigt werden. Diese Bedingungen aber sind heute in vielen Ländern gegeben, die durch den Krieg und seine furchtbaren Auswirkungen heimgesucht wurden und wo verzweifelte, moralisch und physisch zermürbte Völker nur allzu leicht geneigt sind, Einflüsterungen Folge zu leisten, die sie ohne große Widerstände dem Verhängnis ausliefern können und es zum Teil schon getan haben. Das Reich Hitlers, das tausend Jahre währen sollte, ist zwar heute bloß noch eine Trümmerstätte, doch der Geist oder Ungeist, der diese Stätten einst belebte, ist noch lange nicht geschwunden, denn Machtpolitik und organisierte Selbstsucht eines bis auf die Spitze getriebenen Nationalismus ziehen noch immer ihre Kreise, wenn auch die Rollen heute vertauscht sind.
Unser heutiges Wirtschaftssystem und die immer wachsende zentralistische Gliederung auf allen Gebieten des politischen und sozialen Lebens haben der totalitären Reaktion in jeder Weise Vorschub geleistet, bis sie uns endlich zum furchtbaren Verhängnis wurde. Sie haben das Gesamtinteresse der menschlichen Gemeinschaft den Sonderinteressen schmaler Schichten geopfert und die natürlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch systematisch untergraben. Auf diese Weise wurde der gesellschaftliche Organismus in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst und das soziale Empfinden des Einzelwesens abgestumpft und in seiner freien Entfaltung behindert. Während die Gesellschaft in jedem Lande nach innen hin in feindliche Klassen gespalten wurde, wurde der gemeinschaftliche Kulturkreis nach außen hin in feindliche Nationen zerteilt, die sich stets mißtrauisch und häufig haßerfüllt gegenüberstehen und durch ihre ununterbrochenen Kämpfe die Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenlebens fortgesetzt erschüttern.
Es ist unsinnig, die Lehre vom Klassenkampf, welche Bedeutung man ihr immer beimißt, für diesen Zustand der Dinge verantwortlich zu machen, solange man keinen Finger rührt, um die wirtschaftlichen Voraussetzungen, welche dieser Lehre zugrunde liegen, zu beseitigen und die soziale Entwicklung in andere Bahnen zu lenken. Ein System, das in allen seinen Lebensäußerungen das Wohl und Wehe breiter Volksschichten und ganzer Nationen den wirtschaftlichen und politischen Machtinteressen kleiner Minderheiten zum Opfer darbringt, mußte notwendigerweise alle sozialen Bindungen lockern und zu einem fortgesetzten Kampf aller gegen alle führen. Wer sich dieser Einsicht verschließt, dem werden die großen Probleme, welche die Zeit uns gestellt hat, stets unverständlich bleiben. Ihm bleibt lediglich die brutale Gewalt als letzter Ausweg, um einen Zustand aufrechtzuerhalten, der durch die Entwicklung der Dinge moralisch längst gerichtet ist.
Wir haben vergessen, daß die Wirtschaft nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel ist, um dem Menschen seine materielle Existenz zu sichern und ihm die Segnungen einer höheren geistigen Kultur zugänglich zu machen. Wo die Wirtschaft alles und der Mensch nichts ist, dort beginnt das Reich eines rücksichtslosen Wirtschaftsdespotismus, der in seinen Auswirkungen nicht minder verhängnisvoll ist als jeder politische Despotismus. Beide ergänzen sich gegenseitig und werden aus derselben Quelle gespeist. Die Wirtschaftsdiktatur der Monopole und die politische Diktatur des totalitären Staates entspringen denselben asozialen Bestrebungen, deren Träger für die große ethische Bedeutung der menschlichen Arbeit überhaupt kein Verständnis besitzen und sich vermessen, die ungezählten Äußerungen des gesellschaftlichen Lebens dem mechanischen Tempo einer toten Maschine unterzuordnen und organisches Werden in starre Formen zu pressen, die jede Entwicklungsmöglichkeit künstlich verhindern.
Solange man nicht den Mut aufbringt, dieser Gefahr ins Auge zu blicken und sich einer Entwicklung der Dinge zu widersetzen, die uns unwiderruflich neuen sozialen Katastrophen entgegentreiben muß, helfen auch die besten Verfassungen nichts, und alle gesetzlich garantierten Rechte des Bürgers verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung. Das erkannte bereits Daniel Webster, einer der Vorkämpfer des amerikanischen Liberalismus, wenn er sagte:
«Auch die freieste Regierung kann nicht lange bestehen, wenn die Tendenz der Gesetze eine sich in immer rascherem Tempo vollziehende Ansammlung der sozialen Reichtümer in den Händen kleiner Minderheiten begünstigt und die breiten Massen des Volkes arm und abhängig bleiben.»
Seitdem hat die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Europa Formen angenommen, die auch die schlimmsten Befürchtungen einzelner weit übertroffen haben und sich heute zu einer Gefahr verdichten, deren Tragweite kaum zu ermessen ist. Diese Entwicklung in der Richtung zu einem öden Staatskapitalismus, der mit den ursprünglichen Zielen des Sozialismus auch nicht die geringste Gemeinschaft besitzt, und die wachsende Macht einer geistlosen politischen und sozialen Bürokratie, welche das Leben des Menschen von der Wiege bis zum Grabe reglementiert und bevormundet, haben das solidarische Zusammenwirken der Menschen und das persönliche Freiheitsgefühl des Einzelwesens grundsätzlich unterbunden und der Bedrohung der menschlichen Kultur durch die Tyrannei des totalitären Staates in jeder Weise den Weg geebnet.
Die beiden Weltkriege und ihre furchtbaren Auswirkungen, die selber nur die Folgen der politischen und wirtschaftlichen Machtbestrebungen innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems gewesen sind, haben diesen Prozeß der geistigen Entmündigung und der Erschlaffung des sozialen Empfindens in hohem Grade beschleunigt. Der Schrei nach dem Diktator, der aller Not der Zeit ein Ende machen sollte, war nur das Ergebnis dieser seelischen und geistigen Entartung einer aus tausend Wunden blutenden Menschheit, die das Vertrauen in sich selbst verloren hatte und daher von angeblichen Übermenschen, die in der Wirklichkeit nur Untermenschen waren, erhofften, was nur durch den Zusammenschluß der eignen Kräfte zu erzielen ist.
Daß man dieser katastrophalen Entwicklung der Dinge, trotz aller furchtbaren Erfahrungen, sogar heute noch so wenig Verständnis entgegenbringt und vielfach bereit ist, neuen Rattenfängern Folge zu leisten, nachdem die alte Pfeife ihre lockende Kraft kaum verloren hat, ist nur ein Beweis, daß jene Kräfte, die Europa einst vom Fluche des fürstlichen Absolutismus befreit und der gesellschaftlichen Entwicklung neue Bahnen gewiesen hatten, bedenklich schwach geworden sind und das lebendige Handeln ihrer großen Vorgänger bloß noch in der Überlieferung feiern. Es war das große Verdienst der liberalen Gedankenströmungen der vergangenen beiden Jahrhunderte und der aus ihnen hervorgegangenen großen sozialen Volksbewegungen, daß sie die Macht der absoluten Monarchie gebrochen hatten, die jahrhundertelang jeden geistigen und sozialen Fortschritt lähmte und den Machtgelüsten ihrer Träger das Leben und Wohlergehen der Völker opferte. Der Liberalismus jener Periode war die Empörung des Menschen gegen das Joch einer unerträglichen Gewaltherrschaft, die keine Menschenrechte achtete und ganze Völker nur als Herden behandelte, die gerade gut genug waren, vom Staate und den herrschenden Kasten gemolken zu werden. Deshalb erstrebten seine Vertreter einen sozialen Zustand, der die Macht des Staates auf ein Minimum begrenzen und seinen Einfluß auf die Gebiete des geistigen und kulturellen Lebens ausschalten wollte – eine Tendenz, die in den bekannten Worten Thomas Jeffersons ihren Ausdruck fand: «Jene Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert.»
Heute aber stehen wir einer Reaktion gegenüber, die alle Machtansprüche der absoluten Monarchie weit in den Schatten stellt und bereit ist, dem nationalen Staat jede Sphäre menschlicher Betätigung auszuliefern und alle Errungenschaften, die durch jahrhundertelange Kämpfe unter den größten Opfern erzielt wurden, bedingungslos preiszugeben. Wie für die Theologie der verschiedensten Religionsbekenntnisse Gott alles und der Mensch nichts ist, so ist für diese moderne politische Theologie heute die Nation alles und der Bürger nichts. Und wie sich hinter dem Willen Gottes stets die Machtansprüche privilegierter Kasten verborgen hielten, so muß auch heute der Wille der Nation als Vorwand herhalten, um den brutalen Gelüsten eines neuen Machthabertums, das sich berufen fühlt, diesen Willen in seinem Sinne zu deuten und den Völkern aufzuzwingen, als äußere Verputzung zu dienen. Auf diese Weise entstanden in Europa, aber auch in einer ganzen Reihe süd- und zentralamerikanischer Länder die Machtgebilde eines neuen Absolutismus, denen alle menschlichen Erwägungen fremd sind, die weder Rechtsgrundsätze noch persönlichen Meinungsausdruck respektieren und die man am besten als moderne Gangsterstaaten bezeichnen könnte.
Es war die Aufgabe dieses Werkes, den verschlungenen Pfaden dieser seltsamen Entwicklung nachzugehen und ihre Wurzeln bloßzulegen. Daß ich dabei auch manches andere Gebiet berühren mußte, um die Gestaltung und Bedeutung des modernen Nationalismus und seiner Beziehungen zur Kultur klar herauszuarbeiten, war selbstverständlich für den inneren Zusammenhang der Dinge. Wieweit mir dies gelungen ist, darüber muß der Leser selbst entscheiden.
Die ersten Ideen zu dieser Arbeit kamen mir geraume Zeit vor dem ersten Weltkriege und fanden zunächst ihren Ausdruck in einer Serie von Vorträgen und später in einer Reihe schriftlicher Abhandlungen, die in verschiedenen europäischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Durch eine lange Internierung zur Zeit des ersten Weltkrieges und später durch mannigfache literarische Arbeiten wurde die Vollendung des Werkes immer wieder unterbrochen, bis ich endlich kurz vor dem Machtantritt Hitlers das letzte Kapitel fertigstellen und mein Buch für den Druck vorbereiten konnte. Dann kam die sogenannte nationale Revolution über Deutschland, die mich wie so viele andere zwang, ins Ausland zu flüchten, wobei ich nichts anderes retten konnte als das Manuskript dieser Arbeit.
Da ich auf die Veröffentlichung des umfangreichen Werkes, dem dazu noch der Leserkreis in Deutschland gesperrt war, nicht mehr rechnen durfte, so hatte ich bereits die Hoffnung aufgegeben, daß es in absehbarer Zeit überhaupt erscheinen könnte. Mit diesem Gedanken mußte ich mich eben abfinden wie mit so vielem anderen, das mit dem Leben im Exil verbunden ist. Schließlich waren ja die kleinen Ungelegenheiten eines enttäuschten Schriftstellers viel zu bedeutungslos der großen Not der Zeit gegenüber, unter deren Joch Millionen Menschen ächzen mußten.
Da trat plötzlich eine unerwartete Wendung ein. Auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten und Kanada kam ich mit einer Menge alter und neuer Freunde in Berührung, die sich lebhaft für meine Arbeit erwärmten. Ihrer selbstlosen Tätigkeit hatte ich es hauptsächlich zu verdanken, daß die erste englische Ausgabe 1937 in New York erscheinen konnte, der bereits ein Jahr vorher eine spanische Ausgabe in Barcelona vorausging. So wurde das Werk im Laufe der Jahre in fünf verschiedene Sprachen übertragen, während der deutsche Originaltext bisher unveröffentlicht blieb. Um so freudiger begrüße ich nun die Gelegenheit, das Werk einem deutschen Leserkreise unterbreiten zu können. Möge es der Sache der Freiheit in der alten Heimat gute Dienste leisten in dieser Not der schweren Zeit und im Kampfe für ein neues Menschentum, damit das Dichterwort sich einst erfülle:
«Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel macht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.»
Crompond, New York, Juli 1947
Rudolf Rocker
Biographie
1873 - Am 25. März wird Rudolf Rocker in Mainz unter sehr armen Verhältnissen geboren. Der Vater arbeitet als Buchdrucker.
In jungen Jahren arbeitet er als Buchbinder. Wird von seinem Onkel Rudolf Naumann den Sozialdemokratischen Gruppen vorgestellt. Reist zu Fuß durch Europa.
1890 - Tritt der oppositionellen Partei Die Jungen bei aus der er im Oktober 1891 ausgeschlossen wird.
1893 - Ist gezwungen Deutschland im Zuge der bismarckschen Gesetze zu verlassen und begibt sich nach Frankreich wo er die ersten Kontakte mit französischen Anarchisten hat.
1895 - Kommt in London an.
1896 - Lernt Englisch und Jiddisch, um mit jüdisch-englischen Gruppen zu arbeiten und beginnt für den Arbeter Fraynd (Arbeiterfreund) zu schreiben.
1898 - Begibt sich nach Liverpool, um mit Dos Freie Vort zusammenzuarbeiten, das vom 29. Juli bis 27. September 1898 herauskommen wird. Er akzeptiert die Einladung dazu den Arbeter Fraynd herauszugeben wofür er bis 1914 arbeitet. Die Zeitung wird bis 1932 herauskommen. Sie war von 1895 an tendenziell anarchistisch geworden.
1900 - Entwickelt in Arbeter Fraynd in 25 Abhandlungen seine kritischen Thesen zum historischen Materialismus. Das Magazin Germinal wird veröffentlicht, das der Zeitung beigelegt wird. Dies repräsentiert die ideologische Reifung von Rocker in Richtung einer Art Neukropotkinismus.
1907 - Nimmt am Kongress in Amsterdam teil
1908 - Unterbrechung der Veröffentlichung von Germinal.
1912 - Nach einem langen Streik wird der Arbeter Fraynd zur Tageszeitung.
1914 - Wird in ein Internierungslager gesperrt.
1919 - Kehrt nach Berlin zurück und organisiert die FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands), die sich bis zum Anbruch der Nationalsozialisten hält.
1922 - Ist einer der Mitbegründer der revolutionären Syndikalisten AIT und bleibt dabei eine der Schlüsselpersonen.
1928 - Lernt in Berlin Durruti und Ascaso kennen.
1933 - Nationalismus und Kultur ist beinahe fertiggestellt und könnte in Deutschland veröffentlicht werden, wozu es vorgesehen war.
1936 - Ray E. Chase vervollständigt die englische Übersetzung der ersten Arbeit Rockers.
1937 - Die englische Ausgabe von Nationalismus und Kultur erscheint.
1949 - Die deutsche Ausgabe von Nationalismus und Kultur erscheint.
1958 - Rudolf Rocker stirbt am 19. September in Crompond, New York.
Nationalismus und Kultur
I. Die Unzulänglichkeit aller Geschichtsauffassungen
Der Wille zur Macht als Geschichtsfaktor. Wissenschaft und Geschichtsauffassung. Die Unzulänglichkeit des ökonomischen Materialismus. Die Gesetze des physischen Geschehens und die «Physik der Gesellschaft». Die Bedeutung der Produktionsverhältnisse. Die Züge Alexanders. Die Kreuzzüge. Papismus und Ketzertum. Die Macht als Hemmnis und Störung der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Fatalismus der «historischen Notwendigkeiten» und der «geschichtlichen Sendungen». Wirtschaftsstellung und gesellschaftliche Betätigung des Bürgertums. Sozialismus und Sozialisten. Psychische Voraussetzungen aller Wandlungen in der Geschichte. Krieg und Wirtschaft. Monopolismus und Herrentum. Der Staatskapitalismus.
Je tiefer man den politischen Einflüssen in der Geschichte nachgeht, desto mehr gelangt man zu der Überzeugung, daß der «Wille zur Macht» bisher eine der stärksten Triebfedern in der Entwicklung menschlicher Gesellschaftsformen gewesen ist. Die Auffassung, daß alles politische und soziale Geschehen nur ein Ergebnis der jeweiligen Wirtschaftsverhältnisse ist und aus diesen restlos zu erklären sei, hält keiner tieferen Betrachtung stand. Daß die wirtschaftlichen Bedingungen und die besonderen Formen der gesellschaftlichen Produktion in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine Rolle spielen, weiß jeder, der sich ernstlich bemüht, den gesellschaftlichen Erscheinungen auf den Grund zu kommen. Diese Tatsache war längst bekannt, ehe Marx sich anschickte, sie auf seine Art zu deuten. Eine ganze Reihe hervorragender französischer Sozialisten, wie Saint-Simon, Considérant, Louis Blanc, Proudhon und manche andere, haben in ihren Schriften daraufhingewiesen, und es ist bekannt, daß Marx gerade durch das Studium jener Schriften zum Sozialismus gelangte. Übrigens liegt die Erkenntnis von der Bedeutung der wirtschaftlichen Umstände auf die Lebensgestaltung der Gesellschaft ja schon im Wesen des Sozialismus selbst.
Es ist nicht die Feststellung dieser geschichtsphilosophischen Auffassung, die bei der Marxschen Formulierung am meisten auffällt, sondern die unbedingte Form, in welcher diese Erkenntnis zum Ausdruck gelangt und die Art des Denkens, die Marx seiner Auffassung zugrunde legte. Man fühlt hier deutlich den Einfluß Hegels, dessen Schüler Marx gewesen ist. Nur der «Philosoph des Absoluten», der Erfinder der «historischen Notwendigkeiten» und der «geschichtlichen Sendungen», konnte ihm eine solche Selbstsicherheit des Urteils einflößen und ihm den Glauben beibringen, daß er den «Gesetzen der sozialen Physik» auf den Grund gekommen sei, denen zufolge jedes geschichtliche Ereignis als gesetzmäßige Kundgebung eines naturnotwendigen Geschehens zu betrachten ist. In der Tat haben die Nachfolger von Marx den «ökonomischen Materialismus» mit den Entdeckungen des Kopernikus und Kepler verglichen, und es war kein Geringerer als Engels selbst, der die Behauptung aufstellte, daß mit dieser neuen Erklärung der Geschichte der Sozialismus eine Wissenschaft geworden sei.
Der fundamentale Irrtum dieser Auffassung liegt darin, daß er die Ursachen gesellschaftlicher Gegebenheiten den Ursachen des mechanischen Geschehens in der Natur gleichstellt. Die Wissenschaft beschäftigt sich ausschließlich mit den Erscheinungen, die sich innerhalb des großen Rahmens, den wir Natur nennen, vollziehen, infolgedessen an Raum und Zeit gebunden und den Berechnungen des menschlichen Denkens zugänglich sind. Denn das Reich der Natur ist die Welt der inneren Zusammenhänge und der mechanischen Notwendigkeiten, in der jeder Vorgang sich dem Gesetz von Ursache und Wirkung gemäß abspielt. In dieser Welt gibt es keinen Zufall, ist jede Willkür undenkbar. Aus diesem Grunde rechnet die Wissenschaft nur mit strengen Tatsachen; eine einzige Tatsache, die den bisher gemachten Erfahrungen zuwiderläuft, sich nicht in die Theorie eingliedern läßt, kann das scharfsinnigste Lehrgebäude über den Haufen werfen. In der Welt des metaphysischen Denkens und des praktischen Handelns mag der Grundsatz, daß die Ausnahme die Regel bestätige, Geltungsrecht besitzen, für die Wissenschaft niemals. Zwar sind die Formen, welche die Natur hervorbringt, von unendlicher Verschiedenheit, doch ist jede ihrer Formen denselben unabänderlichen Gesetzen unterworfen; jede Bewegung im All vollzieht sich nach strengen unerbittlichen Regeln, ebenso wie das physische Dasein jeder Kreatur auf dieser Erde. Die Gesetze unserer physischen Existenz unterstehen nicht der Willkür des menschlichen Wollens; sie sind ein Teil unserer selbst, ohne den unser Dasein undenkbar wäre. Wir werden geboren, nehmen Nahrung auf, scheiden die verbrauchten Stoffe wieder aus, bewegen uns, zeugen und gehen der Auflösung entgegen, ohne daran etwas ändern zu können. Es vollziehen sich hier Notwendigkeiten, denen unser Wollen nicht gewachsen ist. Der Mensch kann die Kräfte der Natur seinen Zwecken dienstbar machen, er kann ihre Wirkungen bis zu einem gewissen Grade in bestimmte Bahnen lenken, aber er kann sie nicht aufheben. Ebensowenig sind wir imstande, die einzelnen Vorgänge, die unser physisches Dasein bedingen, auszuschalten. Wir können ihre äußeren Begleiterscheinungen verfeinern und sie häufig unserem persönlichen Wollen anpassen, aber die Vorgänge selbst können wir aus unserem Leben nicht ausscheiden. Wir sind nicht gezwungen, die Nahrung, die wir zu uns nehmen, so zu verzehren, wie die Natur sie uns bietet, oder uns auf dem ersten besten Platz zur Ruhe auszustrecken, doch können wir nicht verhindern, daß wir essen und schlafen müssen, wenn anders unsere physische Existenz kein vorzeitiges Ende finden soll. In dieser Welt unerbittlicher Notwendigkeiten ist kein Raum für menschliche Zielsetzungen.
Es war gerade diese eiserne Gesetzmäßigkeit im ewigen Wandel des kosmischen und physischen Geschehens, die manch geistreichen Kopf auf die Idee brachte, daß die Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens der Menschen denselben eisernen Notwendigkeiten des Geschehens unterworfen seien und sich infolgedessen nach wissenschaftlichen Methoden berechnen und deuten lassen. Die meisten Geschichtsauffassungen fußen auf dieser irrtümlichen Vorstellung, die sich nur deshalb im Hirne des Menschen einnisten konnte, weil er die Gesetze des physischen Seins den Zielsetzungen, die jedem gesellschaftlichen Vorgang zugrunde liegen, gleichsetzte, mit anderen Worten: weil er die mechanischen Notwendigkeiten des Naturgeschehens mit den Absichten und Zielsetzungen der Menschen verwechselte, die lediglich als Ergebnisse ihres Denkens zu bewerten sind.
Wir bestreiten nicht, daß es auch in der Geschichte innere Zusammenhänge gibt, die sich ebenso wie in der Natur auf Ursache und Wirkung zurückführen lassen; doch handelt es sich bei gesellschaftlichen Vorgängen stets um eine Kausalität menschlicher Zielsetzungen, in der Natur aber stets um eine Kausalität physischer Notwendigkeiten. Die letzteren vollziehen sich ohne unser Zutun, die ersteren sind nur Kundgebungen unseres Wollens. Religionsvorstellungen, ethische Begriffe, Sitten, Gewohnheiten, Überlieferungen, Rechtsanschauungen, politische Gestaltungen, Eigentumsverhältnisse, Produktionsformen usw. sind keine notwendigen Voraussetzungen unseres physischen Seins, sondern lediglich Ergebnisse unseres Zwecksetzungsdranges. Jede Zwecksetzung aber ist eine Sache des Glaubens, die sich der wissenschaftlichen Berechnung entzieht. Im Reiche des physischen Geschehens gilt nur das Muß; im Reiche des Glaubens aber besteht nur die Wahrscheinlichkeit: es kann sein, doch es muß nicht sein.
Jeder Vorgang, der unserem physischen Sein entspringt und auf dieses Bezug hat, ist ein Geschehen, das außerhalb unseres Wollens liegt. Jeder gesellschaftliche Vorgang aber entspringt menschlichen Absichten und menschlichen Zielsetzungen und spielt sich innerhalb der Grenzen unseres Wollens ab, unterliegt also nicht dem Begriff des Naturnotwendigen.
Wenn eine Flathead-Indianerin den Schädel ihres neugeborenen Kindes zwischen zwei Brettchen klemmt, damit er eine gewünschte Form erhalte, so liegt dafür keinerlei Notwendigkeit vor, wohl aber eine Sitte, die im Glauben des Menschen ihre Erklärung findet. Ob Menschen im Zustand der Polygamie, der Einehe oder des Zölibats leben, ist eine Frage menschlicher Zwecksetzung, die mit den Notwendigkeiten des physischen Geschehens nichts gemein hat. Jede Rechtsanschauung ist eine Sache des Glaubens, die durch keinerlei physische Notwendigkeit bedingt wird. Ob der Mensch Mohammedaner, Jude, Christ oder Satansanbeter ist, hat mit seiner physischen Existenz nicht den kleinsten Zusammenhang. Der Mensch kann unter jedem Wirtschaftsverhältnis leben, er kann sich jeder Form des politischen Lebens anpassen, ohne daß dadurch die Gesetze, denen sein physisches Sein unterworfen ist, berührt würden. Ein plötzliches Versagen der Schwerkraft wäre in seinen Folgen nicht auszudenken; ein plötzliches Aussetzen unserer Körperfunktionen ist gleichbedeutend mit dem Tode. Doch die physische Existenz des Menschen hätte nicht die kleinste Einbuße erlitten, wenn er von der Gesetzgebung des Hammurabi, vom pythagoreischen Lehrsatz oder von der materialistischen Geschichtsauffassung nie etwas erfahren hätte.
Es soll damit kein Werturteil gefällt, sondern lediglich eine Tatsache festgestellt werden. Jedes Ergebnis menschlicher Zielsetzung ist für die gesellschaftliche Existenz des Menschen von unbestreitbarer Wichtigkeit, aber man sollte es endlich aufgeben, gesellschaftliche Ereignisse als gesetzmäßige Kundgebungen eines naturnotwendigen Geschehens zu betrachten, da eine solche Auffassung zu den schlimmsten Trugschlüssen führen muß und nur dazu beiträgt, unser Verständnis für geschichtliche Vorgänge heillos zu verwirren. Zweifellos ist es die Aufgabe des Geschichtsforschers, den inneren Zusammenhängen des historischen Geschehens nachzugehen und ihre Ursachen und Wirkungen klarzulegen; doch darf er dabei nie vergessen, daß diese Zusammenhänge ganz anderer Art sind als die Zusammenhänge des physischen Naturgeschehens und deshalb eine ganz andere Wertung erfahren müssen. Ein Astronom ist imstande, eine Sonnenfinsternis oder das Erscheinen eines Kometen auf die Sekunde vorauszusagen. Ist doch die Existenz des Planeten Neptun auf diese Weise errechnet worden, bevor ein menschliches Auge ihn gesehen hatte. Doch ein solches Voraussehen ist nur möglich, wenn es sich um Vorgänge des physischen Geschehens handelt. Für die Berechnung menschlicher Motive und Zielsetzungen findet sich kein Gegenstück, weil diese überhaupt keiner Berechnung zugänglich sind. Es ist unmöglich, das Schicksal von Völkern, Rassen, Nationen oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zu errechnen und vorauszusagen; es ist uns sogar nicht möglich, für alles Vergangene eine restlose Erklärung zu finden. Die Geschichte ist nun einmal nichts anderes als das große Gebiet menschlicher Zielsetzungen: deshalb ist jede Geschichtsauffassung nur eine Sache des Glaubens, der im besten Falle auf Wahrscheinlichkeiten fußen kann, aber nie die unerschütterliche Gewißheit für sich hat.
Die Behauptung, daß sich das Schicksal gesellschaftlicher Gebilde aus den angeblichen Gesetzen einer «sozialen Physik» erkennen lasse, hat keine größere Bedeutung als die Beteuerungen jener weisen Frauen, die da vorgeben, das Schicksal des Menschen aus dem Kaffeesatz oder aus den Linien der Hand ablesen zu können. Allerdings kann man auch Völkern und Nationen ein Horoskop stellen, doch stehen die Weissagungen der politischen und sozialen Astrologie nicht höher im Kurswert als die Voraussagungen jener, die das Schicksal des Menschen aus der Konstellation der Gestirne erkennen wollen.
Daß eine Geschichtsauffassung auch Gedanken enthalten kann, die für die Erklärung historischer Ereignisse von Bedeutung sind, sei unbestritten; wir widersetzen uns nur der Behauptung, daß der Gang der Geschichte denselben oder ähnlichen Gesetzen unterliegt wie alles physische und mechanische Geschehen in der Natur. Diese falsche, durch nichts begründete Behauptung birgt aber noch eine andere Gefahr in sich: Hat man sich erst daran gewöhnt, die Ursachen des Naturgeschehens und jene der gesellschaftlichen Wandlungen in einen Topf zu werfen, so ist man allzu geneigt, nach einer Grundursache Ausschau zu halten, in der sich gewissermaßen das Gesetz der gesellschaftlichen Gravitation verkörpert, das allem historischen Geschehen zugrunde liegt. Ist man aber erst soweit, so übersieht man um so leichter alle anderen Ursachen der gesellschaftlichen Gestaltung und die Wechselwirkungen, die daraus hervorgehen.
Jede Auffassung des Menschen, die sich auf die Verbesserung seiner gesellschaftlichen Lebensbedingungen bezieht, ist zunächst eine Wunschvorstellung, die nur Wahrscheinlichkeitsgründe für sich hat. Wo es sich aber um solche handelt, dort findet die Wissenschaft ihre Grenze, da jede Wahrscheinlichkeit nur auf Vermutungen beruht, die sich weder berechnen, wägen oder messen lassen. Gewiß kann man zur Begründung einer Weltanschauung, wie z. B. des Sozialismus, auch Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung mit heranziehen, doch wird dadurch die Weltanschauung selbst noch keine Wissenschaft, da die Verwirklichung ihrer Ziele keinen gesetzmäßig feststellbaren Vorgängen unterliegt wie alles Geschehen in der physischen Natur. Es gibt kein Gesetz in der Geschichte, das jeder gesellschaftlichen Betätigung des Menschen seine Bahn weist. Wo bisher der Versuch gemacht wurde, die Existenz eines solchen Gesetzes als wahr zu unterstellen, hat sich die ganze Unzulänglichkeit solcher Bemühungen sehr bald herausgestellt.
Der Mensch ist nur den Gesetzen seines physischen Seins bedingungslos unterworfen. Er kann seine Konstitution nicht ändern, die Grundbedingungen seines physischen Daseins nicht aufheben oder nach seinem Wunsche umgestalten. Er kann sein Erscheinen auf der Erde nicht verhindern, wie er das Ende seines Erdenwallens nicht verhindern kann. Er kann den Lauf des Gestirnes, auf dem er seines Lebens Kreise zieht, nicht aus der Bahn drängen und muß alle Folgen dieser Bewegung der Erde im Weltall auf sich nehmen, ohne das Geringste daran ändern zu können. Allein die Gestaltung seines gesellschaftlichen Lebens ist diesen Notwendigkeiten des Geschehens nicht unterworfen, da sie nur das Ergebnis seines Wollens und Handelns ist. Er kann die sozialen Bedingungen, unter denen er lebt, als Voraussetzungen eines göttlichen Willens hinnehmen oder sie als Ergebnisse unabänderlicher Gesetze betrachten, die seinem Wollen nicht unterstehen. In diesem Falle wird der Glaube seinen Willen lähmen und ihn dazu verleiten, sich mit den gegebenen Verhältnissen abzufinden. Aber er kann sich auch davon überzeugen, daß alles gesellschaftliche Sein nur einen bedingten Daseinswert besitzt und durch Menschenhand und Menschengeist geändert werden kann. In diesem Fall wird er versuchen, die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebt, durch andere zu ersetzen und durch sein Handeln einer neuen Gestaltung des sozialen Lebens den Weg zu bahnen.
Der Mensch mag die Gesetze des Alls noch so tief erfassen, doch wird er sie nie ändern können, denn sie sind nicht sein Werk. Doch jede Form seines gesellschaftlichen Daseins, jede soziale Einrichtung, die ihm die Vergangenheit als Erbe grauer Ahnen hinterlassen hat, ist Menschenwerk und kann durch menschliches Wollen und Handeln umgestaltet oder neuen Zwecken dienstbar gemacht werden. Nur eine solche Erkenntnis ist wahrhaft revolutionär und vom Geiste kommender Zeiten getragen. Wer an die Zwangsläufigkeit alles historischen Geschehens glaubt, der opfert der Vergangenheit die Zukunft; er deutet die Erscheinungen des sozialen Lebens, doch er ändert sie nicht. In dieser Hinsicht ist sich jeder Fatalismus gleich, ob er nun religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Natur ist. Wer immer sich in seinen Fallstricken verfängt, dem raubt er das kostbarste Gut des Lebens: den Drang des Handelns nach eigenen Notwendigkeiten. Besonders gefährlich ist es, wenn der Fatalismus im Gewände der Wissenschaft auftritt, das heute so häufig den Talar des Theologen ersetzt. – Drum noch einmal: Die Ursachen, welche den Vorgängen des gesellschaftlichen Lebens zugrunde liegen, haben mit den Gesetzen des physischen und mechanischen Naturgeschehens nichts gemein, da sie nur die Ergebnisse menschlicher Zielrichtungen sind, die sich rein wissenschaftlich nicht erfassen lassen. Diese Tatsache zu verkennen, ist eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, aus der nur eine verzerrte Auffassung der Wirklichkeit hervorgehen kann.
Das gilt für alle Geschichtsauffassungen, die von einem zwangsläufigen Geschehen aller gesellschaftlichen Vorgänge ausgehen; das gilt besonders von dem historischen Materialismus, der jedes Ereignis in der Geschichte auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse zurückführt und vorgibt, aus diesen alles erklären zu können. Kein denkender Mensch wird heute verkennen, daß es unmöglich ist, eine geschichtliche Periode richtig zu beurteilen, ohne ihren wirtschaftlichen Bedingungen Rechnung zu tragen. Aber ganz einseitig ist es, wenn man die ganze Geschichte nur als ein Ergebnis wirtschaftlicher Verhältnisse gelten lassen will, unter deren Einfluß alle anderen sozialen Lebenserscheinungen erst Form und Prägung erhalten.
Es gibt tausende Erscheinungen in der Geschichte, die sich nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen oder aus diesen allein erklären lassen. Man kann schließlich alles in einem bestimmten Schema unterbringen, aber was dabei herauskommt, ist in der Regel nicht weit her. Es gibt kaum ein geschichtliches Ereignis, bei dessen Zustandekommen nicht auch wirtschaftliche Ursachen mitgewirkt haben; doch sind die wirtschaftlichen Kräfte nie die einzige Triebfeder, die alles andere in Bewegung setzen. Alle gesellschaftlichen Erscheinungen kommen durch eine Reihe verschiedener Ursachen zustande, die in den meisten Fällen so innig miteinander verwachsen sind, daß es überhaupt nicht möglich ist, jede für sich fein säuberlich neben den anderen herauszuschälen. Immer handelt es sich um Wechselwirkungen verschiedener Ursachen, die sich in der Regel zwar deutlich erkennen, aber nicht nach wissenschaftlichen Methoden berechnen lassen.
Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die für Millionen von Menschen von weitgehendster Bedeutung gewesen sind, sich aber rein wirtschaftlich betrachtet nicht erklären lassen. Wer wollte z. B. behaupten, daß die Eroberungszüge Alexanders von Mazedonien durch die Produktionsverhältnisse der Zeit verursacht wurden? Schon die Tatsache, daß das ungeheure Reich, das Alexander mit dem Blute von Hunderttausenden zusammengeschweißt hatte, bald nach seinem Tode wieder in Trümmer fiel, beweist, daß die militärischen und politischen Errungenschaften des mazedonischen Weltbezwingers nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeiten «historisch bedingt» waren. Ebensowenig haben sie die Produktionsverhältnisse der Zeit irgendwie gefördert. In den sinnlosen Kriegszügen Alexanders spielte die Machtlüsternheit eine weitaus größere Rolle als die wirtschaftlichen Bedingungen. Der Drang, die Welt zu beherrschen, hatte bei dem ehrgeizigen Despoten geradezu krankhafte Formen angenommen. Seine rasende Machtbesessenheit war die treibende Kraft seiner ganzen Politik, das Leitmotiv all seiner kriegerischen Unternehmungen, die große Teile der damals bekannten Welt mit Mord und Brand erfüllten. Seine Machtbesessenheit war es auch, die ihm den Cäsaro-Papismus der orientalischen Despoten so erstrebenswert erscheinen ließ und ihm den Glauben an seine Gottähnlichkeit beibrachte.
Der Wille zur Macht, der stets von einzelnen oder von kleinen Minderheiten in der Gesellschaft ausgeht, ist überhaupt eine der bedeutsamsten Triebkräfte in der Geschichte, der in seiner Tragweite bisher viel zuwenig beachtet wurde, obwohl er häufig einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens hatte.
Die Geschichte der Kreuzzüge wurde ohne Zweifel von starken wirtschaftlichen Motiven beeinflußt. Der Traum von den reichen Ländern des Morgenlandes mag für manchen Walter von Habenichts ein stärkerer Ansporn gewesen sein, das Kreuz zu nehmen, als die religiöse Überzeugung. Aber wirtschaftliche Gründe allein wären nie imstande gewesen, jahrhundertelang Millionen von Menschen aller Länder in Bewegung zu setzen, wären sie nicht von jener Besessenheit des Glaubens durchdrungen gewesen, die sie immer wieder mit fortriß, wenn das «Gott will es!» erscholl, obwohl sie nicht die kleinste Ahnung hatten, mit welch ungeheuren Schwierigkeiten ein so abenteuerliches Unternehmen verbunden war. Wie mächtig dieser unbändige Glaube auf die Menschen jener Zeiten einwirkte, beweist der sogenannte Kinderkreuzzug (1212), der ins Werk gesetzt wurde, als die Mißerfolge der früheren Kreuzfahrerheere immer augenscheinlicher zutage traten und fromme Eiferer die Botschaft verkündeten, daß das Heilige Grab nur von den Unmündigen befreit werden könnte, an denen Gott der Welt ein Wunder zeigen wolle. Es waren sicherlich keine wirtschaftlichen Motive, die viele Tausende von Eltern dazu bewogen haben, das Liebste einem sicheren Tode entgegenzuschicken.
Aber auch das Papsttum, das sich zunächst nur ungern dazu entschlossen hatte, die christliche Welt zum ersten Kreuzzug aufzurufen, wurde dabei viel mehr von machtpolitischen als von wirtschaftlichen Beweggründen geleitet. In seinem Kampf um die Vorherrschaft der Kirche kam es seinen Trägern sehr zustatten, daß manch weltlicher Herrscher, der ihnen zu Hause unbequem werden konnte, auf lange Zeit hinaus im fernen Morgenlande beschäftigt wurde, wo er die Kirche in der Verfolgung ihrer Pläne nicht stören konnte. Zwar haben andere, wie z.B. die Venezianer, bald erkannt, welche großen wirtschaftlichen Vorteile ihnen die Kreuzzüge verschaffen mußten; sie haben diese sogar dazu benutzt, ihre Herrschaft an der dalmatischen Küste und auf die ionischen Inseln und Kreta auszudehnen, aber daraus zu schließen, daß die Kreuzzüge unvermeidlich und durch die damalige Produktionsweise bedingt waren, wäre offene Torheit.
Als die Kirche sich anschickte, ihren Vernichtungskampf gegen die Albigenser ins Werk zu setzen, der vielen Tausenden das Leben kostete und das freieste, geistig fortgeschrittenste Land Europas in eine Wüste verwandelte, seine hochentwickelte Kultur und Industrie zerstörte, seinen Handel lahmlegte und eine dezimierte blutarme Bevölkerung zurückließ, wurde sie in ihrem Kampfe gegen das Ketzertum von keinerlei wirtschaftlichen Beweggründen geleitet. Was sie erstrebte, war die Einheit des Glaubens, der ihren machtpolitischen Bestrebungen zugrunde lag. Aber auch das französische Königtum, das die Kirche später in diesem Kampf unterstützte, wurde dabei hauptsächlich von politischen Erwägungen geleitet. Die Krone wurde in diesem blutigen Streite der Erbe der Grafen von Languedoc, wodurch ihr der ganze südliche Teil des Landes in die Hände fiel, was ihren Zentralisationsbestrebungen zum größten Vorteil gereichen mußte. Es waren also vornehmlich machtpolitische Motive seitens der Kirche und des Königtums, durch welche die wirtschaftliche Entwicklung eines der reichsten Länder Europas gewaltsam unterbunden und die alte Heimstätte einer glänzenden Kultur in ein wüstes Trümmerfeld verwandelt wurde.
Die großen Eroberungszüge und namentlich der Einfall der Araber in Spanien, der einen siebenhundertjährigen Krieg entfesselte, lassen sich durch ein noch so gründliches Studium der Produktionsverhältnisse jener Zeit nicht erklären. Ganz vergeblich aber wäre es, beweisen zu wollen, daß die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse die treibende Kraft jener gewaltigen Epoche gewesen sei. Das Gegenteil tritt hier unverkennbar zutage. Nach der Eroberung von Granada, der letzten Feste des erlöschenden Halbmonds, entstand in Spanien eine neue politisch-religiöse Macht, unter deren verderblichem Einfluß die gesamte wirtschaftliche Entwicklung des Landes auf Jahrhunderte hinaus zurückgedrängt und so gründlich unterbunden wurde, daß die Folgen sich noch heute auf der ganzen Iberischen Halbinsel bemerkbar machen. Sogar die ungeheuren Goldströme, die sich nach der Entdeckung Amerikas viele Jahre lang aus Mexiko und dem gewesenen Inkareiche nach Spanien ergossen, konnten den wirtschaftlichen Niedergang nicht aufhalten, sie beschleunigten ihn nur.
Durch die Heirat Ferdinands von Kastilien mit Isabella von Aragonien wurde die Grundlage der christlichen Monarchie in Spanien gelegt, deren rechte Hand der Großinquisitor war. Der endlose Krieg gegen die maurische Herrschaft, der unter dem Banner der Kirche geführt wurde, hatte die seelische und geistige Einstellung der christlichen Völker in Spanien von Grund aus umgestaltet und jenen grausamen religiösen Fanatismus erzeugt, der Spanien jahrhundertelang in Finsternis hüllte. Nur unter dieser Voraussetzung konnte sich jener furchtbare klerikal-politische Despotismus entwickeln, der, nachdem er die letzten Freiheiten der spanischen Städte im Blut erstickt, drei Jahrhunderte lang wie ein grausiger Alpdruck auf dem Lande lastete. Unter dem tyrannischen Einfluß dieses eigenartigen Machtgebildes wurden die letzten Reste der maurischen Kultur zu Grabe getragen, nachdem man vorher die Juden und Araber aus dem Lande vertrieben hatte. Ganze Provinzen, die früher blühenden Gärten glichen, verwandelten sich in unfruchtbare Einöden, weil man die von den Mauren angelegten Bewässerungsanlagen verkommen und die Landstraßen in Verfall geraten ließ. Die Industrie aber, die einst zu den ersten in Europa gehörte, verschwand fast vollständig im Lande und kehrte zu längst veralteten Methoden der Produktion zurück.
Nach den Angaben Fernando Garridos gab es zu Anfang des 16. Jahrhunderts in Sevilla 16.000 Seidenwebstühle, die 30.000 Arbeiter beschäftigten. Zu Ende des 17. Jahrhunderts waren davon bloß noch 300 Webstühle in Betrieb.
«Wieviel Webstühle es zu Ende des 16. Jahrhunderts in Toledo gab, ist nicht bekannt, aber es wurden dort 435.000 Pfund Seide im Jahr gewebt, womit 38.484 Personen beschäftigt wurden. Ende des 17. Jahrhunderts war dieses Gewerbe dort vollständig verschwunden. In Segovia gab es Ende des 16. Jahrhunderts 6.000 Webstühle für Tuch, welches damals als das beste in Europa galt. Anfangs des 18. Jahrhunderts war dieses Gewerbe so gesunken, daß man vom Ausland fremde Arbeiter einführte, um die Segovier das Weben und Färben der Tücher zu lehren. Die Ursachen dieses Niederganges waren die Vertreibung der Mauren, die Entdeckung und Besiedlung Amerikas und, der religiöse Fanatismus, der die Werkstätten leerte und die Zahl der Priester und, Mönche anschwellen ließ. Als es in Sevilla bloß noch 300 Webstühle gab, war die Zahl der Mönchskloster dort auf 62 gestiegen, und die Geistlichkeit umfaßte 14.000 Personen.»[24]
Und Zancada berichtet über jene Periode:
«Im Jahre 1655 verschwanden siebzehn Zünfte in Spanien; zusammen mit ihnen die Handwerke der Eisen-, Stahl-, Kupfer-, Zinn-, Blei-, Schwefel-, Alaunindustrie und anderer.»[25]
Aber auch die Eroberung Amerikas durch die Spanier, welche die Iberische Halbinsel entvölkerte und Millionen Menschen in die Neue Welt hinüberführte, läßt sich nicht ausschließlich durch «den Durst nach dem Golde» erklären, wie lebendig die Gier bei dem einzelnen immer gewesen sein mochte. Liest man die Geschichte der berühmten Conquista, so erkennt man mit Prescott, daß sie weniger einer treuen Erzählung wirklicher Begebenheiten gleicht, sondern vielmehr wie einer der zahllosen Romane der irrenden Ritterschaft anmutet, die gerade in Spanien so beliebt und geschätzt waren.
Wirtschaftliche Gründe allein waren es nicht, die immer wieder neue Scharen verwegener Gesellen nach dem märchenhaften Dorado jenseits der großen Wasserwüste hinüberlockten. Wenn große Reiche wie Mexiko und der Inkastaat, die nach Millionen zählten und dazu eine ziemlich hoch entwickelte Kultur besaßen, von einer Handvoll waghalsiger Abenteurer bezwungen werden konnten, die vor keinem Mittel und keiner Gefahr zurückschreckten und das eigene Leben nicht allzu hoch einschätzten, so läßt sich das nur erklären, wenn man das eigentümliche Menschenmaterial näher ins Auge faßt, das in einem siebenhundertjährigen Kriege allmählich herangereift und in steten Gefahren gehärtet wurde. Nur eine Epoche, in welcher die Vorstellung des Friedens den Menschen wie ein Märchen aus längst entschwundener Zeit erscheinen mußte und in welcher ein jahrhundertelanger, mit aller Grausamkeit geführter Kampf der normale Zustand des Lebens war, konnte jenen wilden Glaubensfanatismus zur Entfaltung bringen, der für den Spanier jener Zeit so bezeichnend ist. Daraus aber erklärt sich auch jener seltsame Drang, der fortgesetzt nach Taten lechzte und jeden Augenblick bereit war, für einen verstiegenen Ehrbegriff, dem häufig jeder ernste Hintergrund fehlte, das Leben in die Schanze zu schlagen. Es ist kein Zufall, daß die Gestalt des Don Quichote gerade in Spanien entstehen mußte. – Vielleicht geht die Auffassung zu weit, die da glaubt, alle und jede Soziologie durch Erkenntnisse der Psychologie ersetzen zu können; daß aber der seelische Zustand der Menschen auf die Gestaltung seiner gesellschaftlichen Umwelt einen starken Einfluß hat, ist unbestreitbar.
Man könnte noch Hunderte anderer Beispiele anführen, aus denen klar hervorgeht, daß die Wirtschaft durchaus nicht der Gravitationspunkt der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung ist, wenn auch nicht bestritten werden soll, daß sie in den Gestaltungsvorgängen der Geschichte eine Rolle spielt, die man nicht übersehen, aber auch nicht maßlos überschätzen darf. Es gibt Epochen, in denen der Einfluß der wirtschaftlichen Umstände auf den Gang des gesellschaftlichen Geschehens überraschend klar hervortritt; aber es gibt auch andere, in denen religiöse und machtpolitische Bestrebungen mit offensichtlicher Willkür in den normalen Gang der Wirtschaft eingreifen und ihre natürliche Entwicklung auf lange Zeit hinaus völlig unterbinden oder in andere Bahnen drängen. Geschichtliche Ereignisse wie die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, die großen Revolutionen in Europa und viele andere kann man rein wirtschaftlich überhaupt nicht erfassen, wenn auch jeder ohne weiteres zugeben wird, daß in allen diesen Ereignissen Vorgänge wirtschaftlicher Natur eine Rolle gespielt und zu ihrem Zustandekommen beigetragen haben.
Noch bedenklicher aber ist es, wenn man in den verschiedenen Gesellschaftsschichten einer bestimmten Epoche lediglich die typischen Vertreter ganz bestimmter Wirtschaftsbelange zu erkennen vorgibt. Eine solche Auffassung verengt nicht nur das allgemeine Blickfeld des Forschers, sie macht aus der Geschichte überhaupt ein Zerrbild, das immer wieder zu neuen Trugschlüssen führen muß. Der Mensch ist nicht lediglich der Träger ausgesprochener Wirtschaftsinteressen. Das Bürgertum z. B. hat sich in allen Ländern, wo es zur gesellschaftlichen Bedeutung gelangte, vielfach für Bestrebungen eingesetzt, die keineswegs durch seine wirtschaftlichen Interessen bedingt waren, sondern zu diesen nicht selten in offenem Gegensatz standen. Sein Kampf gegen die Kirche, seine Bemühungen für die Herstellung eines dauernden Friedens unter den Völkern, seine liberalen und demokratischen Auffassungen über das Wesen der Regierung, die seine Vertreter in die schärfste Kampfstellung gegen die Überlieferungen des Gottesgnadentums brachte, und viele andere Erscheinungen, für die es sich einst begeisterte, sind Beweise dafür.
Man wende nicht ein, daß das Bürgertum unter dem stets wachsenden Einfluß seiner Wirtschaftsbelange die Ideale seiner Jugend rasch vergessen oder schnöde verraten habe. Vergleicht man die Sturm-und-Drang-Periode der sozialistischen Bewegung in Europa mit der nüchternen Realpolitik der heutigen Arbeiterparteien, so wird man sich sehr bald davon überzeugen, daß die angeblichen Vertreter des Proletariats durchaus nicht berechtigt sind, dem Bürgertum seine inneren Wandlungen vorzuhalten. Fast keine dieser Parteien hat nach dem ersten Weltkriege in der schlimmsten Krise, welche die kapitalistische Welt je erlebte, auch nur den kleinsten Versuch gemacht, auf die bestehenden Wirtschaftsverhältnisse im Geiste des Sozialismus einzuwirken. Nie zuvor waren die wirtschaftlichen Verhältnisse reifer für eine Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft. Die ganze kapitalistische Wirtschaft war aus Rand und Band geraten. Die Krise, früher nur eine periodisch wiederkehrende Erscheinung in der kapitalistischen Welt, wurde auf Jahre hinaus der normale Zustand des gesellschaftlichen Lebens: Krise der Industrie, Krise der Landwirtschaft, Krise des Handels, Krise der Währung! Alles vereinigte sich, um die Unzulänglichkeit des kapitalistischen Systems darzutun. Doch es fehlte der Geist, die sozialistische Inspiration, die nach einer gründlichen Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens strebte und sich nicht mit kleinlichem Flickwerk begnügte, das die Krise nur verlängern, aber ihre Ursachen nicht heilen konnte. Nie vorher hat es sich so klar erwiesen, daß die wirtschaftlichen Bedingungen allein das gesellschaftliche Gefüge nicht verändern können, wenn bei den Menschen selbst nicht die seelischen und geistigen Voraussetzungen dazu vorhanden sind, die ihrer Sehnsucht Flügel geben und ihre zerstreuten Kräfte zum gemeinsamen Werke zusammenballen.
Allein, die sozialistischen Parteien und die gewerkschaftlichen Organisationen, die von ihrem Geiste getragen sind, haben nicht nur versagt, soweit die wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft in Frage kommt, sie haben sich sogar als unfähig erwiesen, das politische Erbe der bürgerlichen Demokratie zu wahren und überall längst erworbene Rechte und Freiheiten kampflos preisgegeben, wodurch der Vormarsch des Faschismus in Europa, wenn auch gegen ihren Willen, wesentlich gefördert wurde.
In Italien wurde einer der hervorragenden Vertreter der sozialistischen Partei zum Vollstrecker des faschistischen Staatsstreichs, und eine ganze Reihe der bekanntesten Arbeiterführer mit d’Aragona an der Spitze marschierte mit wehenden Fahnen in das Lager Mussolinis.
In Spanien war die sozialistische Partei die einzige, die ihren Frieden mit der Diktatur Primo de Riveras machte, wie sie später, in der Zeit der Republik, sich als die beste Schutzwehr zur Verteidigung der kapitalistischen Belange erwies und zu jeder Beschränkung der politischen Rechte willig ihre Dienste anbot.
In England erlebte man das sonderbare Schauspiel, daß die beiden bekanntesten und begabtesten Führer der Arbeiterpartei urplötzlich ins nationale Lager einschwenkten und durch ihre Haltung der Partei, der sie jahrzehntelang angehörten, eine vernichtende Niederlage beibrachten, bei welcher Gelegenheit Philipp Snowden gegen seine früheren Genossen den Vorwurf erhob, «daß sie die Interessen ihrer Klasse mehr im Auge hätten als die Belange der Nation», ein Vorwurf, der zwar nicht zutrifft, aber immerhin bezeichnend ist.
In Deutschland hat die Sozialdemokratie zusammen mit den Gewerkschaften die kapitalistische Großindustrie in ihren bekannten Rationalisierungsversuchen der Wirtschaft, die sich für die deutsche Arbeiterschaft geradezu katastrophal auswirkten, mit allen Kräften unterstützt und dieser stockreaktionären Klasse die Gelegenheit gegeben, sich von den Erschütterungen wieder zu erholen, die sie durch den verlorenen Krieg erlitten hatte. Sogar eine angeblich «revolutionäre Arbeiterpartei», wie die Kommunistische Partei Deutschlands, machte sich die nationalistischen Parolen der neuen Reaktion zu eigen, um durch diese schnöde Verleugnung aller sozialistischen Grundsätze dem drohenden Faschismus den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Man könnte diesen Beispielen noch eine Menge anderer hinzufügen, um zu zeigen, daß die Vertreter der übergroßen Mehrheit der organisierten sozialistischen Arbeiterschaft kaum ein Recht haben, dem Bürgertum seine politische Unzuverlässigkeit oder den Verrat seiner gewesenen Ideale vorzuwerfen. Die Vertreter des Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie zeigten bei ihren späteren Wandlungen immer noch das Bestreben, den Schein zu wahren, während viele angeblichen Verteidiger der proletarischen Belange ihre früheren Ideale nicht selten mit geradezu schamloser Selbstverständlichkeit preisgaben und die Arbeit des Gegners besorgten.
Eine ganze Reihe führender Wirtschaftspolitiker, die von keinerlei sozialistischen Erwägungen geleitet wurden, hatten schon damals der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß das kapitalistische System seine Zeit gehabt habe und an die Stelle einer ungezügelten Profitwirtschaft eine von neuen Grundsätzen geleitete Bedarfswirtschaft treten müsse, wenn Europa nicht zugrunde gehen solle. Trotzdem zeigte es sich immer deutlicher, daß der Sozialismus als Bewegung der Lage in keiner Weise gewachsen war. Die meisten seiner Vertreter sind über seichte Reformen nicht hinausgekommen und verzettelten ihre Kräfte in ebenso zwecklosen als gefährlichen Fraktionskämpfen, die in ihrer blöden Unduldsamkeit an das Gebaren geistig versteinerter Kirchengebilde erinnern. Kein Wunder, wenn schließlich Hunderttausende am Sozialismus verzweifelten und sich von den Rattenfängern des Dritten Reiches betören ließen.
Man könnte hier einwenden, daß die Notwendigkeit des Lebens selbst, auch ohne das Zutun der Sozialisten, auf eine Änderung der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse hinarbeite, da eine Krise ohne Ausweg auf die Dauer nicht tragbar sei. Wir bestreiten das nicht, doch befürchten wir, daß bei der heutigen Einstellung der sozialistischen Arbeiterbewegung eine Umgestaltung der Wirtschaft vor sich gehen dürfte, bei der die Produzenten überhaupt nichts zu sagen haben. Man wird sie vor vollendete Tatsachen stellen, die andere für sie schaffen werden, so daß sie auch fernerhin sich mit der Rolle des Kulis abfinden müssen, die man ihnen die ganze Zeit zugemutet hat. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so marschieren wir mit Riesenschritten einer Epoche des Staatskapitalismus entgegen, die für die Arbeiterschaft die Form eines neuen Hörigkeitssystems annehmen dürfte, in welcher der Mensch lediglich als Betriebsstoff der Wirtschaft gewertet und jede persönliche Freiheit restlos ausgetilgt wird.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse können sich unter Umständen so zuspitzen, daß eine Änderung der bestehenden Gesellschaftslage zur Lebensnotwendigkeit wird. Es fragt sich nur, welche Richtung man dabei einschlagen wird. Wird es ein Weg zur Freiheit sein, oder wird nur eine andere Form der Sklaverei dabei herauskommen, die dem Menschen zwar ein kärgliches Dasein sichert, aber ihn dabei jeder Selbständigkeit des Handelns berauben wird. Darauf aber, und nur darauf kommt es an. Die soziale Verfassung des Inkareiches sicherte jedem seiner Untertanen das notwendige Auskommen, aber das Land unterstand einem unbeschränkten Despotismus, der jeden Widerstand gegen seine Befehle grausam bestrafte und das Einzelwesen zum willenlosen Werkzeug der staatlichen Macht erniedrigte.
Auch der Staatskapitalismus könnte ein Ausweg aus der heutigen Krise sein, doch ein Weg zur sozialen Befreiung wäre er sicher nicht. Im Gegenteil, er würde die Menschen in einem Sumpfe der Knechtschaft versinken lassen, die jeder menschlichen Würde hohnspricht. In jedem Gefängnis, jeder Kaserne besteht eine gewisse Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen: jeder hat die gleiche Wohnung, das gleiche Futter, dieselbe Kleidung, leistet dieselben Dienste oder verrichtet dasselbe Arbeitspensum; doch wer wollte behaupten, daß ein solcher Zustand ein erstrebenswertes Ziel sei?
Es ist ein Unterschied, ob die Glieder einer Gesellschaft gleiche Herren ihres Schicksals sind, ihre Angelegenheiten selbst besorgen und das unverbrüchliche Recht besitzen, an der Verwaltung der allgemeinen Belange teilzunehmen, oder ob sie nur die ausführenden Organe eines fremden Willens sind, auf den sie keinen Einfluß haben. Jeder Soldat hat das Anrecht auf die gleiche Ration, aber es steht ihm nicht zu, ein eigenes Urteil zu haben. Er muß sich den Befehlen seiner Vorgesetzten blindlings unterwerfen und, wo es nottut, die Stimme seines eigenen Gewissens unterdrücken, denn er ist nur ein Teil der Maschine, die andere in Bewegung setzen.
Keine Tyrannei ist unerträglicher als die einer mächtigen Bürokratie, die in alle Handlungen der Menschen eingreift und diesen ihren Stempel aufdrückt. Je unbeschränkter die Macht des Staates sich im Leben der Gesellschaft breitmacht, desto mehr lähmt sie alle schöpferischen Fähigkeiten und die Kraft des persönlichen Wollens. Der Staatskapitalismus aber, dieser gefährliche Gegenpol des Sozialismus, bedingt die Auslieferung aller gesellschaftlichen Lebensbetätigungen an den Staat; es ist der Triumph der Maschine über den Geist, die Rationalisierung des Denkens, Handelns und Empfindens nach den festgesetzten Normen der Behörde und folglich das Ende aller wahrhaft geistigen Kultur. Daß man die volle Tragweite dieser bedrohlichen Entwicklung bisher so wenig erfaßt hat oder sich gar mit dem Glauben abfindet, daß sie durch den Stand der wirtschaftlichen Verhältnisse zwangsläufig bedingt sei, darf wohl mit Recht als das verhängnisvollste Zeichen der Zeit betrachtet werden.
Die gefährliche Manie, in jeder gesellschaftlichen Erscheinung ein unvermeidliches Ergebnis der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sehen zu wollen, hat bisher nur dazu geführt, den Menschen die Überzeugung einzupflanzen, daß alles soziale Geschehen bestimmten Notwendigkeiten entspringt und wirtschaftlich unabänderlich ist. Diese fatalistische Auffassung konnte nur dazu führen, ihre Widerstandskraft zu lähmen und sie dafür empfänglich zu machen, sich mit den gegebenen Zuständen abzufinden, wie abscheulich und menschenunwürdig diese immer sein mochten. Jedermann weiß, daß wirtschaftliche Bedingungen auf die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse einen Einfluß haben; viel bedeutsamer aber ist es, wie die Menschen in ihrem Denken und Tun auf diesen Einfluß reagieren, zu welchen Schritten sie sich entschließen, um eine als notwendig erkannte Umwälzung der sozialen Lebensbedingungen in die Wege zu leiten. Gerade das Denken und Tun der Menschen erhält seine Prägung nicht durch rein wirtschaftliche Motive. Wer wollte z. B. behaupten, daß der Puritanismus, welcher die gesamte geistige Entwicklung der anglosächsischen Völker bis zum heutigen Tage entschieden beeinflußt hat, ein zwangsläufiges Ergebnis der in ihren Anfängen begriffenen kapitalistischen Wirtschaftsordnung gewesen sei? Oder wer wollte den Beweis erbringen, daß der erste Weltkrieg unter allen Umständen aus dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hervorgehen mußte und infolge dessen unvermeidlich war?
Ohne Zweifel haben wirtschaftliche Interessen in diesem wie in allen anderen Kriegen eine wichtige Rolle gespielt, doch wären sie allein nie imstande gewesen, die folgenschwere Katastrophe zu entfesseln. Durch die nüchterne Darstellung konkreter Wirtschaftsbestrebungen hätte man die breiten Massen wohl kaum in Bewegung setzen können. Deshalb mußte man ihnen beweisen, daß die Sache, für die sie andere totschlagen sollten und für die sie von den anderen totgeschlagen wurden, die «gute und gerechte» Sache war. So kämpfte man auf der einen Seite «gegen den russischen Despotismus», für die «Befreiung Polens» und selbstverständlich für die «vaterländischen Belange», die zu vertilgen «die alliierten sich verschworen hatten». Und auf der anderen Seite schlug man sich für den «Triumph der Demokratie» und für die «Überwindung des preußischen Militarismus», damit «dieser Krieg der letzte sei».
Man könnte einwenden, daß hinter all den Schaumschlägereien, mit denen man die Völker vier Jahre lang betörte, trotz alledem die wirtschaftlichen Interessen der besitzenden Klassen standen. Aber darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist der Umstand, daß ohne diese fortgesetzte Berufung an das ethische Empfinden der Menschen, an ihr Gerechtigkeitsgefühl, ein Krieg überhaupt nicht möglich wäre. Die Losung «Gott strafe England!» und die Parole «Tod den Hunnen!» haben im ersten Weltkriege größere Wunder bewirkt als die nackten Wirtschaftsbelange der Besitzenden. Der Umstand, daß Menschen zuerst in eine gewisse Stimmung hineingepeitscht werden müssen, um sie zum Kriege anzuregen, und der weitere Umstand, daß diese Stimmung sich nur durch das Einsetzen seelischer und geistiger Belange hervorbringen läßt, beweisen es.
Mußten wir es nicht erleben, daß gerade diejenigen, die den werktätigen Massen seit Jahr und Tag verkündet hatten, daß jeder Krieg in der Ära des Kapitalismus rein wirtschaftlichen Ursachen entspringe, beim Ausbruch des Weltkrieges ihre geschichtsphilosophische Theorie an den Nagel hängten und die Belange der Nation über die Belange der Klasse stellten? Sie, die bis dahin mit marxistischem Bekennermut den Satz des Kommunistischen Manifestes befürworteten: «Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.»
Lenin und andere haben den Umfall der meisten sozialistischen Parteien bei Ausbruch des Krieges auf die Furcht der Führer vor der Verantwortung zurückgeführt und diesen mit bitteren Worten ihren Mangel an moralischem Mut ins Gesicht geschleudert. Zugegeben, daß dieser Behauptung ein guter Teil Wahrheit zugrunde liegt, wenn man sich auch in diesem Falle vor Verallgemeinerungen hüten muß: was wird damit bewiesen?
Wenn die Furcht vor der Verantwortung, der Mangel an moralischem Mut die Mehrzahl der sozialistischen Führer in der Tat dazu bewogen hatten, für die nationalen Belange ihrer respektiven Länder einzutreten, so ist das nur ein neuer Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung. Mut und Feigheit werden nicht durch die jeweiligen Formen der Produktionsweise bestimmt, sondern wurzeln im psychischen Empfinden des Menschen. Wenn aber rein psychische Qualitäten auf die Führer einer nach Millionen zählenden Bewegung einen so zwingenden Einfluß haben konnten, daß sie, noch ehe der Hahn dreimal krähte, ihre alten Grundsätze bedingungslos preisgaben, um mit den schlimmsten Gegnern der sozialistischen Arbeiterbewegung gegen den sogenannten Erbfeind zu marschieren, so beweist das nur, daß die Handlungen der Menschen sich nicht aus rein wirtschaftlichen Verhältnissen erklären lassen und zu diesen nicht selten im schärfsten Gegensatz stehen. Jede Epoche in der Geschichte legt tausendfach Zeugnis dafür ab.
Aber es ist auch ein offenbarer Irrtum, den Krieg lediglich als zwangsläufiges Ergebnis gegensätzlicher Wirtschaftsinteressen aufzufassen. Der Kapitalismus wäre auch ganz gut denkbar, wenn die sogenannten «Kapitäne der Weltindustrie» sich in gütlicher Weise über die Benutzung der Absatzgebiete und Rohstoffquellen einigten, ebenso, wie die Träger der verschiedenen Wirtschaftsbelange innerhalb desselben Landes sich zu einigen pflegen, ohne ihre Gegensätze jedesmal mit dem Schwerte auszutragen. Es gibt heute bereits eine ganze Anzahl internationaler Produktionsgebilde, in denen sich die Kapitalisten bestimmter Industrien zusammengefunden haben, um für die Herstellung ihrer Erzeugnisse in jedem Lande eine bestimmte Quote einzufahren und auf diese Weise die Gesamtproduktion ihrer Wirtschaftszweige nach gegenseitigen Übereinkommen und festgelegten Grundsätzen zu regeln. Durch eine solche Regelung verliert der Kapitalismus nichts von seinem eigentlichen Wesen; seine Vorrechte bleiben unberührt, seine Herrschaft über das Heer seiner Lohnsklaven würde durch einen solchen Ausgleich sogar wesentlich gestärkt werden.
Rein wirtschaftlich betrachtet, war also der Weltkrieg durchaus nicht unvermeidlich. Der Kapitalismus hätte auch ohne ihn auskommen können. Man kann sogar mit Sicherheit annehmen, daß, wenn die Träger der kapitalistischen Ordnung die Folgen vorausgeahnt hätten, der Krieg niemals stattgefunden hätte.
Aber im vergangenen Kriege haben nicht bloß rein wirtschaftliche, sondern auch machtpolitische Erwägungen für die Hegemonie in Europa eine mächtige Rolle gespielt und letzten Endes am meisten zur Entfesselung der Katastrophe beigetragen. Nach dem Niedergange Spaniens und Portugals war die Vormacht in Europa an Holland, Frankreich und England gefallen, die sich bald als Rivalen gegenüberstanden. Holland verlor rasch seine führende Stellung, und nach dem Frieden von Breda wurde sein Einfluß auf den Gang der europäischen Politik immer geringer. Aber auch Frankreich hatte nach dem Siebenjährigen Kriege einen großen Teil seiner gewesenen Vormachtstellung eingebüßt und konnte nie wieder hochkommen, um so weniger, als seine finanziellen Schwierigkeiten sich immer mehr zuspitzten und zu jener beispiellosen Bedrückung des Volkes führten, aus der die Revolution hervorging – Napoleon machte ungeheure Anstrengungen, um die verlorene Stellung Frankreichs in Europa zurückzugewinnen, doch blieben seine gigantischen Versuche erfolglos. England blieb der unversöhnlichste Gegner Napoleons, und dieser erkannte sehr wohl, daß seine Weltmachtpläne nie in Erfüllung kommen konnten, solange die «Nation der Krämer», wie er die Engländer verächtlich genannt hatte, nicht bezwungen war. Napoleon verlor das Spiel, nachdem England ganz Europa gegen ihn auf die Beine gebracht und seitdem seine Vormachtstellung in Europa und der Welt behaupten konnte.
Allein das Britische Weltreich ist kein zusammenhängendes Gebiet wie andere Reiche vor ihm; seine Besitzungen sind über alle fünf Erdteile verstreut, und ihre Sicherheit ist abhängig von der Machtstellung, welche das Britische Reich in Europa innehat. Jede Bedrohung dieser Stellung ist eine Bedrohung der Kolonien, soweit ihr Besitz für England in Frage kommt. Solange auf dem Festlande die mächtigen Gebilde der modernen Großstaaten mit ihren riesigen Armeen und Flotten, ihrer Bürokratie, ihrem kapitalistischen Getriebe, ihren hochentwickelten Industrien, ihren auswärtigen Handelsverträgen, ihrer Ausfuhr und ihrem wachsenden Ausdehnungsbedürfnis noch nicht in Erscheinung getreten waren, blieb die Weltmachtstellung des Britischen Reiches ziemlich unberührt. Doch je stärker der kapitalistische Großstaat auf dem Festlande hervortrat, desto mehr mußte sich England in seiner Vormachtstellung bedroht fühlen. Jeder Versuch einer europäischen Großmacht, neue Absatz- und Rohstoffgebiete zu erwerben, ihre Ausfuhr durch Handelsvertrage mit nichteuropäischen Ländern zu sichern und ihren Expansionsbestrebungen möglichst breiten Raum zu schaffen, mußte früher oder später irgendwo zu einem Zusammenstoß mit der britischen Interessensphäre führen und den offenen oder versteckten Widerstand Englands zur Folge haben.
Aus diesem Grunde mußte die englische Außenpolitik vor allem darauf bedacht sein, keine Großmacht mit überragendem Einfluß auf dem Festlande aufkommen zu lassen oder, wo sich dieses nicht vermeiden ließ, ihre ganze Geschicklichkeit darauf einstellen, eine Macht gegen die andere auszuspielen. So konnten die Niederlage Napoleons III. durch die preußische Heeresleitung und die Diplomatie Bismarcks England nur willkommen sein, da Frankreich dadurch auf Jahrzehnte hinaus geschwächt wurde. Doch der rasche und unerwartete Aufschwung Deutschlands als moderner Industriestaat, die systematische Ausbildung seiner militärischen Kräfte, die Anfänge seiner Kolonialpolitik und vor allem der Ausbau seiner Flotte und seine in stetem Wachsen begriffenen Expansionsbestrebungen, die sich in dem «Drang nach Osten» den Engländern immer unangenehmer bemerkbar machten, hatten für das Britische Weltreich eine Gefahr heraufbeschworen, die seine Vertreter nicht gleichgültig lassen konnte.
Daß die englische Diplomatie unbedenklich nach jedem Mittel griff, um dieser Gefahr zu begegnen, ist kein Beweis dafür, daß ihre Träger von Natur aus hinterhältiger oder skrupelloser waren als die Diplomaten anderer Länder. Das müßige Gerede vom «perfiden Albion» ist ebenso albern wie das Geflunker von einer «zivilisierten Kriegsführung». Wenn die englische Diplomatie sich der deutschen überlegen zeigte und in ihrem geheimen Ränkespiel gerissener als diese war, so nur deshalb, weil ihre Vertreter über eine viel längere Erfahrung verfügten und zu ihrem Glück die Mehrzahl der verantwortlichen Staatsmänner in Deutschland seit Bismarck nur willenlose Lakaien der kaiserlichen Macht gewesen sind, von denen keiner den Mut fand, den gefährlichen Treibereien eines unverantwortlichen Psychopathen und seiner feilen Kamarilla entgegenzutreten.
Der Grund des Übels liegt eben nicht in einzelnen Personen, sondern in der Machtpolitik selbst, einerlei, von wem sie betrieben wird und welche unmittelbaren Ziele sie verfolgt. Machtpolitik ist nur denkbar unter Anwendung aller Mittel, wie verwerflich diese dem Privatgewissen immer erscheinen müssen, solange sie Erfolg verheißen, den Gründen der Staatsräson entsprechen und deren Zwecken förderlich sind.
Machiavelli, der den Mut hatte, die Methoden des machtpolitischen Strebens systematisch zusammenzufassen und im Namen der Staatsräson zu rechtfertigen, hat dies bereits in den Discorsi klar und deutlich ausgesprochen: «Wenn man sich überhaupt mit dem Wohl des Vaterlandes beschäftigt, so darf man sich weder von Recht oder Unrecht, Mitleid oder Grausamkeit, Lob oder Schande beeinflussen lassen. Man darf an nichts Anstoß nehmen und muß immer nur nach dem Mittel greifen, das dem Lande das Leben retten und seine Freiheit erhalten kann.»
Jedes Verbrechen im Dienste des Staates ist für den vollendeten Machtpolitiker eine verdienstvolle Tat, wenn es Erfolg bringt. Denn der Staat steht außerhalb von Gut und Böse; er ist die irdische Vorsehung, deren Entschlüsse dem gewöhnlichen Untertan in ihrer Unergründlichkeit ebenso unbegreiflich sind wie dem Gläubigen das Schicksal, das die Macht Gottes über ihn verhängt. Wie nach der Lehre der Theologen und Schriftgelehrten Gott in seiner unergründlichen Weisheit sich oft der grausamsten und furchtbarsten Mittel bedient, um seine Pläne auszureifen, so ist auch der Staat nach den Lehren der politischen Theologie nicht an die Grundsätze gewöhnlicher Menschenmoral gebunden, wenn es sich für seine Träger darum handelt, bestimmten Zielen nachzugehen und das Glück und Leben von Millionen kaltblütig aufs Spiel zu setzen.
Wer als Diplomat dem anderen in die Falle geht, dem steht es schlecht an, sich über die Tücke und Gewissenlosigkeit des Gegners zu beklagen, da er ja selber dieselben Absichten mit vertauschten Rollen verfolgte und nur deshalb unterlag, weil sein Gegenspieler die Rolle der Vorsehung besser zu spielen verstand. Wer da glaubt, ohne die organisierte Gewalt, die sich im Staate verkörpert, nicht auskommen zu können, der muß auch bereit sein, alle Folgen dieses Afterglaubens auf sich zu nehmen und dem Moloch das Wertvollste opfern, das er besitzt – die eigene Persönlichkeit.
Es waren vornehmlich machtpolitische Gegensätze, die aus der verhängnisvollen Entwicklung der kapitalistischen Großstaaten hervorgingen und mit am meisten zum Ausbruch des Weltkrieges beigetragen haben. Nachdem die Völker und besonders die werktätigen Schichten in den verschiedenen Ländern weder das Verständnis für den Ernst der Lage hatten noch den moralischen Mut aufbringen konnten, den unterirdischen Treibereien der Diplomaten, Militaristen und Profitjäger in geschlossener Abwehr entgegenzutreten, gab es in der Welt keine Macht mehr, die der Katastrophe Einhalt gebieten konnte. Jahrzehntelang glich jeder Großstaat einem riesigen Heerlager, der den anderen bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstand, bis schließlich ein Funke die Mine springen ließ. Nicht weil alles so kommen mußte, wie es gekommen ist, trieb die Welt mit offenen Augen dem Abgrund entgegen, sondern weil die breiten Massen in jedem Lande nicht die geringste Ahnung hatten, welch schnödes Spiel hinter ihrem Rücken vor sich ging. Ihrer unbegreiflichen Sorglosigkeit und vor allem ihrem blinden Glauben an die unfehlbare Überlegenheit ihrer Regierer und sogenannten geistigen Führer hatten sie es zu danken, daß man sie vier Jahre lang wie eine willenlose Herde zur Schlachtbank treiben konnte.
Aber auch die schmale Schicht der Hochfinanz und der Großindustrie, deren Träger so unverkennbar zur Entfesselung der roten Sintflut beigetragen haben, auch sie wurden in ihrem Tun nicht ausschließlich durch die Aussicht auf materielle Gewinne geleitet. Die Vorstellung, die in jedem Kapitalisten nur ein Profitorgan zu sehen vermag, mag den Anforderungen der Propaganda sehr wohl entsprechen, aber sie ist viel zu eng gefaßt und entspricht nicht der Wirklichkeit. Auch bei dem modernen Großkapitalismus spielt das machtpolitische Interesse häufig eine größere Rolle als die rein wirtschaftlichen Belange, obgleich man beide schwer voneinander trennen kann. Seine Träger haben das Lustgefühl der Macht kennengelernt und frönen ihm mit derselben Leidenschaft wie die großen Eroberer vergangener Zeiten, ob sie sich nun im Lager der Feinde gegen die eigene Regierung befinden, wie Hugo Stinnes und sein Anhang zur Zeit des deutschen Währungsverfalls, oder ob sie als gewichtiger Faktor in die Außenpolitik ihres Landes eingreifen.
Die kranke Sucht, Millionen Menschen einem bestimmten Willen gefügig zu machen und ganze Reiche auf Wege zu drängen, die den verborgenen Absichten kleiner Minderheiten zweckdienlich erscheinen, tritt bei den typischen Vertretern des modernen Großkapitalismus häufig deutlicher hervor als rein wirtschaftliche Erwägungen und die Aussicht auf größere materielle Vorteile. Es ist nicht bloß der Wunsch, immer größere Gewinne anzuhäufen, in dem sich heute die Ansprüche der großkapitalistischen Oligarchie erschöpfen. Jeder ihrer Träger weiß, welch ungeheure Macht der Besitz großer Reichtümer dem einzelnen und der Kaste, der er angehört, in die Hände gibt. Diese Erkenntnis hat einen verführerischen Reiz und erzeugt jenes typische Herrenbewußtsein, dessen Folgen häufig verderblicher sind als die Tatsache des Monopolismus an sich. Es ist diese geistige Einstellung des modernen Seigneurs der Großindustrie oder der Hochfinanz, die jeden Widerspruch verdammt und keine gleichberechtigten Menschen neben sich duldet.
In den großen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit spielt dieser brutale Herrengeist oft eine entscheidendere Rolle als die unmittelbaren Wirtschaftsinteressen. Der kleine Unternehmer vergangener Zeiten hatte noch gewisse Beziehungen zu den werktätigen Schichten der Bevölkerung und war daher imstande, mehr oder weniger Verständnis für ihre Lage aufzubringen. Die moderne Geldaristokratie hat zu den untersten Klassen des Volkes heute keine engeren Beziehungen als der Feudalbaron des 18. Jahrhunderts zu seinen Leibeigenen. Sie kennt die Massen lediglich als kollektives Ausbeutungsobjekt für ihre wirtschaftlichen und machtpolitischen Belange und hat im allgemeinen kein Verständnis für die harten Bedingungen ihres Lebens. Daher ihre herzlose Brutalität, ihre menschenverachtende Herrschsucht und ihre gefühllose Gleichgültigkeit für das Leid ihrer Opfer.
Durch seine gesellschaftliche Stellung ist dem Machtgelüste des modernen Großkapitalisten keine Grenze mehr gesetzt. Er kann mit rücksichtslosem Egoismus in das Leben seiner Mitmenschen eingreifen und ihnen gegenüber die Rolle der Vorsehung spielen. Nur wenn man diesen leidenschaftlichen Drang nach machtpolitischem Einfluß über das eigene Volk und fremde Nationen mit in Rechnung stellt, wird man das eigentliche Wesen der typischen Vertreter des modernen Großkapitalismus richtig erfassen lernen. Es ist gerade diese Seite, die ihn für die gesellschaftliche Gestaltung der Zukunft so gefährlich macht.
Nicht umsonst unterstützte der heutige Monopolkapitalismus die nationalsozialistische und faschistische Reaktion. Sie sollte ihm helfen, jeden organisierten Widerstand des werktätigen Volkes niederzuschlagen, um ein Reich industrieller Hörigkeit zu errichten, in dem der schaffende Mensch nur noch als Automat der Wirtschaft in Frage kommt, der auf die innere Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen keinerlei Einfluß hat. Dieser Cäsarenwahn macht vor keiner Schranke halt: er setzt sich ohne Bedenken über alle Errungenschaften der Vergangenheit hinweg, die mit dem Herzblut der Völker erkauft werden mußten, und ist bereit, jedes Recht, jede Freiheit, die seine Kreise stören könnten, mit brutaler Gewalt zu erdrosseln, um jede gesellschaftliche Betätigung in die starren Formen seines Machtwillens einzuspannen. Daß er bei dieser unheiligen Allianz mit dem Faschismus die Rechnung ohne den Wirt machte, war wahrlich nicht seine Schuld.Und diese Gefahr einer vollständigen Vertrustung des Wirtschaftslebens ist um so größer, als sie das natürliche Übergangsstadium zu einer allgemeinen staatskapitalistischen Versklavung der Völker bildet, die durch die blinde Manie der Verstaatlichung, die heute breiten Schichten der sozialistischen Bewegung als Vorbild vorschwebt, in jeder Weise gefördert wird. Das Beispiel Rußlands hat uns in dieser Hinsicht einen Anschauungsunterricht gegeben, den jeder Mensch mit etwas Einsicht kaum mißverstehen kann. Proudhon sagte bereits vor hundert Jahren: «Das Schlimmste, das dem Sozialismus geschehen könnte, wäre eine Allianz mit dem politischen Absolutismus, die zur größten Versklavung aller Zeiten führen müßte.»
Es ist diese Gefahr, die uns heute am meisten bedroht und von deren Erfolg oder Mißerfolg die nächste Zukunft der Menschheit abhängen wird.
II. Religion und Politik
Religion und Politik. Die Wurzeln des Machtgedankens. Der Ursprung des religiösen Empfindens. Seelenglaube und Fetischismus. Das Opfer. Das Gefühl der Abhängigkeit. Wirkung irdischer Machtverhältnisse auf die Gestaltung des religiösen Bewußtseins. Religion und Sklaverei. Die religiösen Grundlagen alles Herrschertums. Die Überlieferung. Moses. Hammurabi. Das Pharaonentum. Das Gesetzbuch des Manu. Persisches Gott-Königtum. Der Lamaismus. Alexander und der Cäsaro-Papismus. Der Casarismus in Rom. Der Inka. Dschingis Chaghan. Macht und Priestertum. Kirche und Staat. Rousseau. Robespierre. Napoleon. Mussolini und der Vatikan. Faschismus und Religion.
Wer an das Studium menschlicher Gesellschaftsgebilde ohne eine vorgefaßte Lehrmeinung oder Geschichtsauffassung herantritt und sich vor allem darüber klar ist, daß menschliche Zielsetzungen und Zweckbegriffe den mechanischen Gesetzen des kosmischen Geschehens nicht gleichzustellen sind, der wird sehr bald erkennen, daß sich in allen Epochen der uns bekannten Geschichte zwei Mächte gegenüberstanden, die auf Grund ihrer inneren Wesensverschiedenheit und ihrer sich daraus ergebenden typischen Betätigungsformen und praktischen Auswirkungen im steten offenen oder versteckten Kampfe miteinander lagen. Es ist hier von dem politischen und dem wirtschaftlichen Element in der Geschichte die Rede, die man auch als das staatliche und gesellschaftliche Element im historischen Geschehen bezeichnen könnte. Streng genommen sind die Begriffe des Politischen und des Wirtschaftlichen in diesem Falle etwas zu eng gefaßt, denn alle Politik wurzelt letzten Endes in der religiösen Vorstellungsweise des Menschen, während alles Wirtschaftliche kultureller Natur ist und daher in innigster Berührung mit allen wertschaffenden Kräften des gesellschaftlichen Lebens steht; so daß man schlechthin von einem inneren Gegensatz zwischen Religion und Kultur sprechen müßte.
Natürlich bestehen zwischen politischen und wirtschaftlichen, staatlichen, und gesellschaftlichen oder im weiteren Sinne zwischen religiösen und kulturellen Erscheinungen mancherlei Berührungspunkte: sie alle entspringen der Natur des Menschen, folglich gibt es zwischen ihnen auch innere Beziehungen. Es handelt sich also lediglich darum, das Verhältnis, das zwischen diesen Erscheinungen besteht, näher ins Auge zu fassen. Jede politische Form in der Geschichte hat ihre bestimmten wirtschaftlichen Unterlagen, die besonders in den neueren Phasen der gesellschaftlichen Vorgänge sehr scharf hervortreten. Andererseits ist es unbestreitbar, daß die Formen der Politik den Wandlungen der wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Lebensbedingungen unterliegen und sich zusammen mit diesen ändern. Doch das innerste Wesen aller und jeder Politik bleibt sich stets gleich, ebenso wie sich der Wesensinhalt aller und jeder Religion stets gleich bleibt und von der Umgestaltung ihrer äußeren Formen nicht berührt wird.
Religion und Kultur wurzeln beide im Selbsterhaltungstriebe des Menschen, der ihnen Leben und Gestalt verlieh; doch einmal ins Leben getreten, folgt jede ihrer eigenen Bahn, da es keine organischen Bindungen zwischen ihnen gibt, so daß sie wie feindliche Gestirne entgegengesetzten Richtungen zustreben. Wer diesen Gegensatz übersieht oder ihm aus irgendeinem Grunde nicht die Beachtung schenkt, die er verdient, dem wird die tiefere Bedeutung der geschichtlichen Zusammenhänge und der gesellschaftlichen Vorgänge im allgemeinen nie richtig klarwerden.
Wo das Gebiet der eigentlichen Religion beginnt, darüber sind die Meinungen auch heute noch geteilt. Zwar ist man sich so ziemlich einig darüber, daß die Ergründung der religiösen Vorstellungswelt des Menschen auf dem Wege der spekulativen Philosophie unmöglich ist. Man hat eingesehen, daß die Auffassung Hegels, derzufolge alle Religion nur die innere Erhebung des Geistes zum Absoluten darstellt und mithin bestrebt ist, die Einheit des Göttlichen und Menschlichen zu finden, nur als leere Redensart zu bewerten ist, aus der sich das Werden der Religion in keiner Weise erklären läßt. Ebenso willkürlich ist es, wenn der «Philosoph des Absoluten», der jede Nation mit einer besonderen geschichtlichen Sendung beglückte, die Behauptung aufstellte, daß jedes Volk in der Geschichte der Träger einer typischen Religionsform sei: die Chinesen der Religion des Maßes, die Chaldäer der Religion des Schmerzes, die Griechen der Religion der Schönheit usw., bis endlich die Reihe der verschiedenen Religionssysteme im Christentum, der «offenbarten Religion», ausmündete, dessen Bekenner durch die Person Christi die Einheit des Göttlichen und Menschlichen erkannt haben.
Die Wissenschaft hat die Menschen kritischer gemacht. Man begreift heute, daß alles Forschen nach dem Ursprung und der allmählichen Gestaltung der Religion nach denselben Methoden vorgenommen werden muß, deren sich die Soziologie und Psychologie bereits bedient, um die Erscheinungen des gesellschaftlichen und seelischen Lebens in ihren Anfängen zu erfassen.
Die früher verbreitete Auffassung des englischen Sprachforschers Max Müller, der in der Religion den inneren Drang des Menschen, sich das Unendliche zu deuten, erkennen wollte und den Standpunkt vertrat, daß der Eindruck der Naturgewalten die ersten religiösen Empfindungen im Menschen auslöste und man daher nicht fehlgehe, wenn man den Naturkult als die erste Form der Religion überhaupt betrachte, findet heute kaum noch Anhänger. Die meisten Vertreter der ethnologischen Religionsformen sind heute der Auffassung, daß der Animismus, der Glaube an die Geister oder Seelen der Abgeschiedenen, als die erste Stufe des religiösen Bewußtseins im Menschen zu betrachten sei.
Die ganze Lebensweise des herumschweifenden primitiven Menschen, seine relative Unwissenheit, der seelische Einfluß seiner Traumbilder, sein Unverständnis dem Tode gegenüber, die erzwungenen Fasten, zu denen er sich häufig bequemen mußte, das alles machte ihn zu einem geborenen Hellseher, dem der Geisterglaube sozusagen im Blute lag. Was er den Geistern gegenüber, mit denen seine Einbildungskraft die Welt bevölkerte, empfinden mußte, war zunächst Furcht. Diese Furcht setzte ihm um so mehr zu, als er es hier nicht mit einem gewöhnlichen Feinde, sondern mit unsichtbaren Gewalten zu tun hatte, denen auf einfachem Wege nicht beizukommen war. Damit aber entstand ganz von selbst das Bedürfnis, sich das Wohlwollen jener Mächte zu sichern, ihrer Tücke zu entgehen und sich durch irgendwelche Mittel ihre Zuneigung zu erwerben. Es ist der nackte Selbsterhaltungstrieb des primitiven Menschen, der hier zum Ausdruck kommt.
Dem Seelenglauben entsprang der Fetischismus, die Vorstellung, daß der Geist in irgendeinem Gegenstand oder an einem bestimmten Orte seinen Aufenthalt genommen habe; ein Glaube, der auch heute noch in den abergläubischen Vorstellungen vieler zivilisierter Menschen weiterlebt, die fest davon überzeugt sind, daß es spukt und Orte gibt, wo es nicht geheuer ist. Auch der Reliquiendienst im Lamaismus und in der katholischen Kirche ist seinem Wesen nach Fetischismus. – Ob man den Animismus und die ersten rohen Vorstellungen des Fetischismus bereits als Religion bezeichnen kann, darüber gehen, wie gesagt, die Meinungen auseinander; daß aber hier der Ausgangspunkt aller religiösen Vorstellungen zu suchen ist, dürfte wohl kaum einem Zweifel unterliegen.
Die eigentliche Religion beginnt mit dem Bund zwischen Mensch und «Geist», der im Kult seinen Ausdruck findet. Für den primitiven Menschen ist der «Geist» oder die «Seele» kein abstrakter Begriff, sondern eine durchaus körperhafte Vorstellung. Es ist daher ganz natürlich, daß er den Geistern durch greifbare Beweise seiner Verehrung und seiner Unterwürfigkeit beizukommen sucht. So entstand in seinem Hirn die Idee des Opfers, und da die Erfahrung ihm immer wieder vor Augen führte, wie das Leben des erlegten Tieres oder des erschlagenen Feindes mit dem ausströmenden Blute den Körper verläßt, so lernte er schon früh erkennen, daß Blut in der Tat ein ganz besonderer Saft ist. Diese Erkenntnis gab auch der Idee des Opfers ihren wesentlichen Charakter. Das Blutopfer war sicherlich die erste Form des Opferdienstes, was überdies schon durch den Jägerberuf des primitiven Menschen bedingt war. Die Idee des Blutopfers, die zweifellos zu den ältesten Ergebnissen des religiösen Bewußtseins gehört, lebt auch heute noch in den großen Religionssystemen der Gegenwart fort. Die symbolische Verwandlung von Brot und Wein im christlichen Abendmahl in das Fleisch und Blut Christi ist ein Beweis dafür.
Das Opfer wurde zum Mittelpunkt aller religiösen Gebräuche und Feierlichkeiten, die sich in Beschwörungen, Tänzen und Gesängen kundgaben und sich allmählich zu einem bestimmten Ritus verdichteten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Opferdienst zunächst einen rein persönlichen Charakter hatte, insofern jeder einzelne, von seinem Bedürfnis geleitet, das Opfer darbringen konnte; doch dürfte dieser Zustand nicht allzulange bestanden haben, bis er durch ein berufliches Priestertum nach der Art der Schamanen, Medizinmänner, Gangas usw. abgelöst wurde. Die Entwicklung des Fetischismus zum Totemismus, wie man den Glauben an eine Stammesgottheit nach einem indianischen Wort benennt, die sich gewöhnlich in einem Tiere verkörpert, von dem der Stamm seinen Ursprung ableitet, hat die Entwicklung eines besonderen Zauberpriestertums sehr begünstigt. Damit bekam aber die Religion einen sozialen Charakter, den sie vordem nicht hatte.
Betrachtet man das allmähliche Werden der Religion im Lichte ihrer eigenen Entwicklung, so gelangt man zu der Erkenntnis, daß zwei Erscheinungen ihren Wesenskern bestimmen: Religion ist zunächst das Gefühl der Abhängigkeit des Menschen von höheren unbekannten Mächten. Und um sich diese Mächte geneigt zu machen und sich vor ihren unheilvollen Einflüssen zu bewahren, treibt der Selbsterhaltungsinstinkt den Menschen, nach Mitteln und Wegen Ausschau zu halten, die ihm die Möglichkeit bieten, diesen Zweck zu erreichen. So entsteht der Ritus, welcher der Religion ihren äußeren Charakter verleiht.
Ob die Idee des Opfers sich wirklich darauf zurückführen läßt, daß in den menschlichen Gruppierungen der Urzeit bereits die Einrichtung bestand, den Stammesführern oder Häuptlingen freiwillige oder erzwungene Geschenke darzubringen, ist eine Vermutung, die manche Wahrscheinlichkeit für sich hat. Doch scheint uns die Behauptung, daß der primitive Mensch ohne diese Einrichtung nie auf die Idee des Opfers verfallen wäre, zu gewagt. Religiöse Vorstellungen konnten immerhin erst entstehen, als die Frage nach dem Warum der Dinge im Hirne des Menschen auftauchte. Dieses setzt aber bereits eine ziemlich geistige Entwicklung voraus. Es ist daher anzunehmen, daß eine lange Zeit vergehen mußte, bevor diese Frage den Geist des Menschen beschäftigen konnte. Die Auffassung, die sich der Urmensch über seine Umwelt formte, war zunächst rein sinnlicher Natur, wie ja auch das Kind die Gegenstände seiner Umgebung zuerst rein sinnlich wahrnimmt und sich ihrer bedient, lange bevor ihm die Frage über die Ursache ihres Daseins aufdämmert. Außerdem besteht auch heute noch bei vielen wilden Völkerschaften der Brauch, die Geister der Abgeschiedenen am Mahle teilnehmen zu lassen, wie ja auch fast alle Festlichkeiten primitiver Stämme mit Opferdienst verbunden sind. Es ist daher sehr wohl möglich, daß die Idee des Opfers auch ohne eine vorausgegangene soziale Einrichtung verwandter Natur entstehen konnte.
Doch wie dem auch immer sei, fest steht, daß in jedem Religionssystem, das im Laufe der Jahrtausende in die Erscheinung trat, sich das Abhängigkeitsverhältnis des Menschen von einer höheren Macht widerspiegelte, die seine eigene Einbildungskraft ins Leben gerufen hatte. Alle Götter hatten ihre Zeit, doch die Religion selbst ist sich im Grunde ihres Wesens stets gleich geblieben, trotz aller Wandlungen ihrer äußeren Formen. Immer war es der Schein, dem das wirkliche Sein des Menschen als Opfer dargebracht wurde; der Schöpfer wurde zum Knecht seines eigenen Geschöpfes, ohne daß ihm die innere Tragik dieses Geschehens auch nur zum Bewußtsein gekommen wäre. Nur weil sich im tiefsten Wesenskern aller und jeder Religion nie eine Änderung vollzogen hat, konnte der bekannte deutsche Religionspädagoge König sein Lehrbuch für den katholischen Religionsunterricht auch heute noch mit den Worten einleiten: «Religion im allgemeinen ist die Erkenntnis und Verehrung Gottes und überhaupt das Verhältnis der Menschen zu Gott als ihrem höchsten Herrn.»
So war die Religion bereits in ihren ersten kümmerlichen Anfängen mit der Vorstellung der Macht, der übernatürlichen Überlegenheit, der Gewalt über den Gläubigen, mit einem Wort des Herrentums auf das innigste verwachsen. Die moderne Sprachforschung hat denn auch in zahlreichen Fällen feststellen können, daß selbst die Namen der verschiedenen Gottheiten sich ursprünglich mit jenen Begriffen deckten, in denen sich die Vorstellung der Macht verkörperte. Nicht umsonst führen alle Befürworter des Autoritätsprinzips dessen Ursprung auf Gott zurück, erscheint ihnen doch die Gottheit als der Inbegriff aller Macht und Stärke. Schon im frühesten Mythos treten die Helden, Eroberer, Gesetzgeber. Stammesahnen als Götter oder Halbgötter auf; denn ihre Größe und Überlegenheit konnte nur göttlichen Ursprungs sein. Damit gelangen wir aber zur tiefsten Ursache jedes Herrschaftssystems und erkennen, daß alle und jede Politik letzten Endes Religion ist und als solche danach strebt, den Geist des Menschen in den Ketten der Abhängigkeit festzuhalten.
Ob das religiöse Empfinden schon in seinen frühesten Anfängen nur eine abstrakte Abspiegelung irdischer Machtverhältnisse gewesen ist, wie Nordau und andere behauptet haben, ist eine Frage, über die sich streiten läßt. Wer sich den Urzustand der Menschheit nur als den «Krieg aller gegen alle» vorzustellen vermag, wie Hobbes und seine zahlreichen Nachfolger es getan haben, der wird leicht geneigt sein, in dem bösartigen und gewalttätigen Charakter der ursprünglichen Gottheiten ein getreues Abbild despotischer Häuptlinge und kriegsgewandter Führer zu erblicken, die ihre eigenen Stammesgenossen und fremde Menschengruppen in Furcht und Schrecken setzten. Sahen wir doch bis nicht lange zurück die heutigen Wilden in einem ganz ähnlichen Lichte, als heimtückische, grausame Gesellen, die stets auf Raub und Mord erpicht sind. Bis die hundertfältigen Ergebnisse der modernen Ethnologie aus allen Weltteilen uns den Beweis lieferten, wie grundfalsch diese Auffassung gewesen ist.
Daß sich der primitive Mensch seine Geister und Götter in der Regel so gewalttätig und furchterregend vorstellt, muß nicht unbedingt auf irdische Vorbilder zurückgeführt werden. Alles Unbekannte, das dem einfachen Verstand unfaßbar ist, wirkt unheimlich und beunruhigend auf den Geist. Vom Unheimlichen bis zum Grauenerregenden und Furchterweckenden aber ist nur ein Schritt. Das mußte in jenen längst entschwundenen Zeiten um so mehr der Fall sein, wo die Einbildungskraft des Menschen noch nicht durch Jahrtausende aufgestapelter Erfahrungen beeinflußt wurde, die ihn zu logischen Gegengründen anregen konnten. Aber wenn auch nicht jede religiöse Vorstellung auf irdische Machtverhaltnisse zurückgeführt werden muß, so steht doch fest, daß in späteren Epochen der menschlichen Entwicklung die äußeren Formen der Religion vielfach durch die Machtbedürfnisse einzelner oder kleiner Minderheiten in der Gesellschaft bestimmt wurden.
Jeder Herrschaft bestimmter Menschengruppen über andere ging der Wunsch voraus, sich die Arbeitsprodukte, Werkzeuge oder Waffen jener anderen anzueignen oder sie von einem gewissen Gebiet zu vertreiben, das zur Gewinnung des Lebensunterhaltes vorteilhafter erschien. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die Sieger längere Zeit hindurch mit dieser einfachen Form des Raubes begnügten und den Gegner, falls er Widerstand leistete, einfach niedermetzelten. Bis man allmählich fand, daß es zweckdienlicher sei, die Besiegten tributpflichtig zu machen oder sie einer neuen Ordnung der Dinge zu unterwerfen, indem man über sie regierte und damit die Grundlage zur Sklaverei legte. Dies war umso leichter, da die gegenseitige Solidarität sich nur auf die Glieder desselben Stammes erstreckte und dort ihre Grenze fand. Alle Herrschaftssysteme sind ursprünglich Fremdherrschaften gewesen, wo die Sieger eine besondere privilegierte Kaste bildeten, welche die Besiegten ihrem Willen Untertan machte. In der Regel waren es herumstreifende Jägerstämme, die ihre Herrschaft bereits seßhaften und ackerbautreibenden Völkerschaften aufzwangen. Der Beruf des Jägers, der fortgesetzt große Ansprüche an die Tatkraft und Ausdauer des Menschen stellt, machte ihn von Natur aus kriegerischer und beutelustiger, was im Grunde genommen dasselbe ist. Der Ackerbauer aber, der an die Scholle gebunden ist und dessen Leben sich in der Regel gefahrloser und friedlicher abspielt, ist in den meisten Fällen kein Freund von gewaltsamen Auseinandersetzungen. Deshalb ist er dem Anprall kriegerischer Stämme selten gewachsen und unterwirft sich verhältnismäßig leicht, wenn die fremde Herrschaft nicht gar zu drückend ist.
Der Sieger aber, der einmal den Reiz der Macht gekostet hatte und den Vorteil ihrer wirtschaftlichen Ergebnisse schätzen lernte, wird leicht berauscht von seiner ausübenden Gewalt. Jeder Erfolg stachelt ihn zu neuen Unternehmungen an: denn es liegt im Wesen aller und jeder Macht, daß ihre Träger fortgesetzt bestrebt sind, die Sphäre ihres Einflusses zu erweitern und ihr Joch schwächeren Völkern aufzudrängen. So entwickelte sich allmählich eine besondere Kaste, weicher der Krieg und die Herrschaft über andere zum Beruf wurde. Keine Herrschaft aber kann sich auf die Dauer lediglich auf brutale Gewalt stützen. Brutale Gewalt kann die unmittelbare Veranlassung zur Unterjochung von Menschen sein, doch ist sie allein nie imstande, die Macht einzelner oder die einer besonderen Kaste über ganze Menschengruppen dauernd zu gestalten. Dazu gehört mehr, gehört der Glaube der Menschen an die Unvermeidlichkeit der Macht, der Glaube an ihre gottgewollte Sendung. Ein solcher Glaube aber wurzelt zutiefst im religiösen Empfinden der Menschen und gewinnt mit der Überlieferung an Stärke. Denn über allem Überlieferten schwebt der verklärende Schimmer religiöser Vorstellungen und mystischer Gebundenheit.
Das ist die Ursache, weshalb die Sieger den Besiegten häufig ihre eigenen Götter aufdrängen; erkannten sie doch sehr wohl, daß eine Vereinheitlichung der religiösen Riten ihrer eigenen Macht nur von Nutzen sein konnte. Dabei kam es ihnen in der Regel gar nicht darauf an, wenn die Götter der Unterjochten auch weiterhin ein beschauliches Dasein führten, solange sie ihrer Herrschaft nicht gefährlich wurden und sich der neuen Gottheit gegenüber in die Rolle untergeordneter Größen schickten. Dieses konnte aber nur geschehen, wenn die Priester die Herrschaft der Sieger begünstigten oder sich selber an deren politischen Machtbestrebungen beteiligten, wie dies in der Geschichte häufig der Fall gewesen ist. So läßt sich der politische Einfluß auf die spätere Religionsgestaltung der Babylonier, Chaldäer, Ägypter, Perser, Inder und vieler anderer sehr gut nachweisen. Ebenso ist auch der vielgerühmte Monotheismus der Juden auf die politischen Einheitsbestrebungen der aufkommenden Monarchie zurückzuführen.
Alle Herrschaftssysteme und Dynastien des Altertums leiteten ihren Ursprung von einer Gottheit ab; denn ihre Träger lernten früh erkennen, daß der Glaube der Untertanen an den göttlichen Ursprung des Herrschers die unerschütterlichste Grundlage jeder wie immer gearteten Macht ist. Gottesfurcht war von jeher die geistige Voraussetzung jeder freiwilligen Unterwerfung; nur auf diese kommt es an, denn sie bildete von jeher das ewige Fundament jeder Tyrannei, unter welcher Maske diese immer in Erscheinung treten mochte. Freiwillige Unterwerfung aber läßt sich rein physisch nicht erzwingen, nur der Glaube an die Gottähnlichkeit des Herrschers kann sie erzeugen. Deshalb war es bisher das vornehmste Ziel aller und jeder Politik, diesen Glauben im Volke zu wecken und seelisch zu festigen. Die Religion ist das beharrende Prinzip in der Geschichte; sie bindet den Geist des Menschen und zwingt sein Denken in bestimmte Formen, so daß er sich gewohnheitsmäßig für die Erhaltung des Überlieferten einsetzt und jeder Neuerung mißtrauisch gegenübersteht. Denn es ist die innere Furcht, im Bodenlosen versinken zu müssen, die den Menschen an die alten Formen des Bestehenden kettet. – Louis de Bonald, der unentwegte Verfechter des absoluten Machtprinzips, hatte die inneren Zusammenhänge zwischen Religion und Politik wohl verstanden, als er die Worte prägte: «Gott ist die souveräne Macht über alle Wesen, der Gottmensch ist die Macht über die ganze Menschheit, das Staatsoberhaupt ist die Macht über alle Untertanen, das Familienhaupt ist die Macht in seinem Hanse. Da aber alle Macht nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und von Gott stammt, deshalb ist alle Macht absolut.»
Alle Macht wurzelt in Gott; alles Herrschertum ist seinem innersten Wesen nach göttlich. Moses empfängt die Tafeln des Gesetzes, die mit den Worten beginnen: «Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter neben mir haben», und die den Bund des Herrn mit seinem Volke besiegelten, unmittelbar aus den Händen Gottes. Der berühmte Stein, auf dem die Gesetze des Hammurabi verewigt sind, die den Namen des babylonischen Königs durch die Jahrhunderte getragen haben, zeigt uns Hammurabi vor dem Antlitz des Sonnengottes Schamasch. Die Einleitung aber, welche der Fassung der Gesetze vorausgeht, beginnt mit den Worten: «Als Amt, der Erhabene, König der Anunnaki, und Bel, der Herr des Himmels und der Erde, der das Schicksal der Welt in seinen Händen trägt, die Scharen des Menschengeschlechtes Marduk, dem Erstgeborenen von Ea, dem göttlichen Herrn des Gesetzes, zugeteilt, da machten sie ihn groß unter den Igigi. Sie verkündeten seinen hehren Namen in Babylon, der gepriesen ist in allen Landen, die sie ihm als Königreich bestimmt, und der unvergänglich ist wie Himmel und Erde. Danach beglückten Anu und Bel den Leib der Menschheit, da sie mich berufen haben, den ruhmvollen Herrscher und gottesfürchtigen Hammurabi, auf daß ich Gerechtigkeit schaffe auf Erden, vertilge die Schlechten und Ruchlosen, den Starken wehre, zu bedrücken die Schwachen, und wie der Gott der Sonne strahle über den schwarzhäuptigen Menschen und erleuchte das Land.»
In Ägypten, wo der religiöse Kultus sich unter dem Einfluß einer mächtigen Priesterkaste in allen gesellschaftlichen Einrichtungen bemerkbar machte, hatte die Vergötterung des Herrschers ganz unheimliche Formen angenommen. Der Pharao oder Priester-König galt nicht nur als Stellvertreter Gottes auf Erden, er war selber ein Gott und genoß göttliche Ehren. Schon in der Zeit der ersten sechs Dynastien wurden die Könige als Söhne des Sonnengottes Ra betrachtet. Chufu, unter dessen Regierung die große Pyramide gebaut wurde, nannte sich den «fleischgewordenen Hor». In einem Höhlengewölbe zu Ibrim ist der König Amenhotep III. als Gott im Kreise anderer Götter dargestellt. Derselbe Herrscher ließ auch den Tempel von Soleb errichten, wo seiner eigenen Person religiöse Verehrung erwiesen wurde. Wenn sein Nachfolger Amenhotep IV. später in Ägypten jede Verehrung anderer Gottheiten untersagte und den Kultus des strahlenden Sonnengottes Aton, der in der Person des Königs lebendig wurde, zur Staatsreligion erhob, so waren es zweifellos politische Gründe, die ihn dazu bewogen hatten. Die Einheit des Glaubens mußte der Einheit der irdischen Macht in der Hand des Pharao Vorspanndienste leisten.
In dem altindischen Gesetzbuch des Manu steht geschrieben: «Gott hat den König erschaffen, daß er die Schöpfung beschütze. Zu diesem Zwecke nahm er Teile von Indra, vom Winde, von Jama, von der Sonne, dem Feuer, dem Himmel, dem Monde und dem Herrn der Schöpfung. Da nun der König aus Teilen dieser Herren der Götter geschaffen ist, überstrahlt sein Glanz den aller erschaffenen Wesen, und sonnengleich blendet er die Augen und Herzen, und niemand kann ihm ins Antlitz sehen. Er ist Feuer und Luft, Sonne und Mond. Er ist der Gott des Rechts, der Genius des Reichtums, der Beherrscher der Fluten und der Gebieter des Firmaments.»
In keinem anderen Lande, außer Ägypten und Tibet, hatte eine organisierte Priesterkaste eine solche Macht errungen wie in Indien. Sie hat der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung des riesigen Landes ihren Stempel aufgedrückt und durch eine listige Kastenteilung der gesamten Bevölkerung alles Geschehen in eiserne Formen gepreßt, die sich um so dauerhafter erwiesen, als sie in den Überlieferungen des Glaubens verankert waren. Schon frühzeitig hatten die Brahmanen mit der Kaste der Krieger ein Bündnis geschlossen, um sich mit dieser die Macht über die Völker Indiens zu teilen, wobei die Priesterkaste stets darauf bedacht war, daß die eigentliche Macht in ihrer Hand blieb und der König als Werkzeug ihrer Wünsche diente. Priester und Krieger waren beide göttlichen Ursprungs. Der Brahmane entsprang dem Haupte Brahmas, der Krieger aber Brahmas Brust. So hatten sie beide dieselben Bestrebungen, und das Gesetz gebot, daß «beide Kasten einig sein müssen, da sie einander nicht entbehren können». Auf diese Weise entstand das System des Cäsaro-Papismus, in dem die Einheit der religiösen und politischen Machtbestrebungen am vollkommensten zum Ausdruck gelangte.
Auch im alten Persien galt der Herrscher als die lebendige Verkörperung der Gottheit. Wenn er in eine Stadt kam, empfingen ihn die Magier in weißen Gewändern und unter den Klängen religiöser Gesänge. Der Weg. auf dem er getragen wurde, war mit Myrtenzweigen und Rosen bestreut, und an den Seiten standen silberne Altäre, auf denen Weihrauch verbrannt wurde. Seine Gewalt war unbeschränkt, sein Wille das höchste Gesetz, sein Befehl unwiderruflich, wie es im Zendavesta, dem heiligen Buch der alten Perser, heißt. Nur bei seltenen Gelegenheiten zeigte er sich dem Volke, und wo er erschien, mußte sich alles in den Staub werfen und das Antlitz verhallen.
Auch im Persien gab es Kasten und eine organisierte Priesterklasse, die zwar nicht dieselbe unbeschränkte Macht besaß wie in Indien, nichtsdestoweniger aber die erste Kaste im Lande war, deren Vertreter als die nächsten Ratgeber des Königs stets die Möglichkeit hatten, ihren Einfluß geltend zu machen und mitbestimmend auf die Geschicke des Reiches einzuwirken. Über die Rolle des Priesters in der Gesellschaft unterrichtet eine Stelle im Zendavesta, wo es heißt.
«Wenn eure guten Werke zahlreicher wären als das Laub der Bäume, als die Tropfen des Regens und die Sterne des Himmels oder der Sand, am Meere, so würden sie euch doch nichts nützen, wenn sie dem Destur [Priester] nicht wohlgefällig sind. Um das Wohlgefallen dieses Leiters auf dem Wege des Heils zu erlangen, müßt ihr ihm treulich den Zehnten geben von allem, was ihr besitzt: von euren Gütern, euren Ländereien und eurem Gelde. Habt ihr den Destur befriedigt, so wird eure Seele den Qualen der Hölle entgehen; ihr werdet Ruhe in dieser und Glückseligkeit in jener Welt ernten; denn die Desturen sind die Lehrer der Religion; sie wissen alle Dinge, und sie sprechen alle Menschen frei.»
Fu-hi, der von den Chinesen als der erste Herrscher des Himmlischen Reiches bezeichnet wird und nach ihren Chroniken ungefähr 2800 Jahre vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, wird im Chinesischen Mythos als übernatürliches Wesen gefeiert und erscheint auf den Abbildungen in der Regel als Mensch mit einem Fischschwanz, der wie ein Triton aussieht. Die Legende feiert ihn als den eigentlichen Erwecker des chinesischen Volkes, das vor seinem Kommen in zerstreuten Gruppen wie Rudel Tiere in der Wildnis lebte und erst durch ihn auf den Weg der gesellschaftlichen Ordnung gebracht wurde, die in der Familie und in der Verehrung der Ahnen wurzelt. Alle Herrschergeschlechter, die seit jener Zeit im Reiche der Mitte einander folgten, leiteten ihre Herkunft von den Göttern ab. Der Kaiser nannte sich «Sohn des Himmels», und da es in China nie eine organisierte Priesterkaste gab, so ruhte auch die Ausübung des Kultus, soweit die Staatsreligion in Frage kam, deren Einfluß sich allerdings nur auf die oberen Schichten der chinesischen Gesellschaft erstreckte, in der Hand der höchsten kaiserlichen Beamten.
In Japan wurde der Mi-kado, das «Hohe Tor», als Abkömmling der Sonnengöttin Amaterasu angesehen, die im Lande als höchste Gottheit verehrt wird. Durch die Person des Herrschers gibt sie ihren Willen kund und regiert in seinem Namen das Volk. Der Mi-kado ist die lebendige Verkörperung der Gottheit, weshalb auch sein Palast «miya», d. h. Seelenschrein, genannt wird. Sogar in der Zeit des Schogunats, als die Führer der militärischen Kaste jahrhundertelang die eigentliche Herrschaft im Lande ausübten und der Mi-kado nur die Rolle einer dekorativen Figur spielte, blieb die Heiligkeit seiner Person in den Augen des Volkes unberührt.
Auch die Gründung des mächtigen Inkareiches, dessen dunkle Geschichte der modernen Forschung so viele seltsame Rätsel aufgibt, wird von der Legende als Werk der Götter bezeichnet. Die Sage erzählt, wie Manco Capac mit seinem Weibe Ocllo Huaco eines Tages unter den Eingeborenen der Hochebene von Cuzco erschien, sich ihnen als Intipchuri, d.h. als Sohn der Sonne, vorstellte und sie bewog, ihn als ihren König anzuerkennen. Und er lehrte sie den Ackerbau und brachte ihnen viele nützliche Kenntnisse, die sie befähigten, die Schöpfer einer großen Kultur zu werden.
In Tibet entstand unter dem mächtigen Einfluß einer machtlüsternen Priesterkaste jener seltsame Kirchenstaat, dessen innere Organisation mit dem römischen Papismus eine so eigentümliche Verwandtschaft hat und wie dieser die Ohrenbeichte, den Rosenkranz, die rauchenden Weihrauchfässer, die Verehrung der Reliquien und die Tonsur des Priesters kennt. An der Spitze des Staatswesens stehen der Dalai-Lama und der Bogdo-Lama oder Pen-tschen-rhin-po-tsche. Der erste gilt als die Inkarnation des Gotama, des heiligen Begründers der buddhistischen Religion; der letztere als die lebendige Verkörperung des Tsong-kapa, des großen Reformators des Lamaismus, dem man ebenso wie dem Dalai-Lama göttliche Ehren erweist, die sich bis auf die intimsten physischen Bedürfnisse erstrecken.
Dschingis Chaghan, der mächtige Mongolenherrscher, dessen gewaltige Kriegszüge und Eroberungen einst die halbe Welt in Schrecken setzten, benutzte ganz offenkundig die Religion als vornehmstes Mittel seiner Machtpolitik, obwohl er selbst allem Anschein nach zu der Klasse der «aufgeklärten Despoten» gehörte. Seinem eigenen Stamme galt er als Abkömmling der Sonne, aber da in seinem ungeheuren Reiche, das sich vom Dnjepr bis zum chinesischen Meere ausdehnte, Menschen der verschiedensten Religionsbekenntnisse lebten, so erkannte er mit klugem Instinkt, «daß seine Macht bei den unterworfenen Völkern ebenso wie bei dem Kernvolk des Reiches nur durch seine Priestermacht befestigt werden konnte. Sein Sonnenpapsttum genügte nicht mehr. Nestorianische Christen, Mohammedaner, Buddhisten, Konfutsisten und Juden bewohnten seine Länder nach Millionen. Er mußte Großpriester jeder Religionsform sein. Mit seinen nordasiatischen Schamanisten trieb er Magie und befragte das Orakel der Risse ins Feuer geworfener Schulterblätter von Schafen. Sonntags ging er zur Messe, kommunizierte mit Wein und diskutierte mit christlichen Priestern. Am Sabbat ging er in die Judenschule und zeigte sich als Chahan, als Cohan. Am Freitag hielt er eine Art Selamik und war ein ebenso guter Chalife wie später der Türke in Konstantinopel Mit Vorliebe war er Buddhist; er führte mit Lamas religiöse Gespräche, berief sogar den Großlama von Ssatya zu sich und ging, da er den Kern seines Reiches auf buddhistisches Gebiet, nach Nordchina, verschieben wollte, mit dem politisch großartigen Plane um, den Buddhismus zur Staatsreligion zu erheben.»[26]
Und handelte Alexander von Mazedonien, den die Geschichte den Großen nennt, nicht ebenso berechnend und augenscheinlich von denselben Motiven geleitet wie lange nach ihm Dschingis Chaghan? Nachdem er sich eine Welt erobert und durch Ströme Blutes zusammengekittet hatte, mochte er wohl auch empfunden haben, daß ein solches Werk durch brutale Gewalt allein nicht Bestand haben konnte. Deshalb versuchte er, seine Herrschaft in dem religiösen Glauben der besiegten Völker zu verankern. So opferte er, der «Hellene», den ägyptischen Göttern im Tempel zu Memphis und zog mit seinem Heere durch die glühende Wüste von Libyen, um das Orakel des Jupiter-Ammon in der Oase von Siwah zu befragen. Die gefälligen Priester begrüßten ihn als den Sohn des großen Gottes und erwiesen ihm göttliche Ehren. So wurde Alexander ein Gott und erschien den Persern auf seinem zweiten Kriegszuge gegen Darius als Abkömmling des mächtigen Zeus-Ammon. Nur so läßt sich die restlose Unterwerfung des ungeheuren Reiches durch die Mazedonier erklären, die bis zu einem solchen Grade sogar den persischen Königen nie gelungen war.
Alexander hatte sich dieses Mittels nur bedient, um seine politischen Pläne zu fördern; doch allmählich berauschte ihn der Gedanke seiner Gottähnlichkeit so sehr, daß er nicht nur von den unterworfenen Völkern göttliche Ehren heischte, sondern auch von seinen eigenen Landsleuten, denen ein solcher Kultus fremd war, da sie ihn nur als den Sohn Philipps kannten. Der kleinste Widerspruch konnte ihn bis zum Wahnsinn reizen und verleitete ihn nicht selten zu den abscheulichsten Verbrechen. Sein unersättliches Verlangen nach immer größerer Machtvollkommenheit, bestärkt durch seine militärischen Erfolge, raubten ihm jedes Maß für die Einschätzung seiner eigenen Person und machten ihn blind für jede Wirklichkeit. Er führte an seinem Hofe das Zeremoniell der persischen Könige ein, das die absolute Unterwerfung alles Menschentums unter den Machtwillen des Despoten symbolisierte. Bei ihm, dem Hellenen, gelangte der Größenwahn des barbarischen Tyrannentums zum unverfälschtesten Ausdruck.
Alexander war der erste, der das Gott-Königtum, den Cäsarismus, nach Europa verpflanzte, der bis dahin nur auf asiatischer Erde gediehen war, da der Staat sich dort am ungehemmtesten entwickelt hätte und die inneren Beziehungen zwischen Religion und Politik am frühesten ausreiften. Doch darf man daraus nicht schließen, daß es sich hier um eine besondere Veranlagung der Rasse handelt. Die Verbreitung, welche der Cäsarismus seitdem in Europa gefunden hat, ist ein offenkundiger Beweis, daß wir es hier mit einer besonderen Art des religiösen Verehrungsdranges zu tun haben, der unter ähnlichen Verhältnissen bei Menschen aller Rassen und Nationen in Erscheinung treten kann, wenn auch nicht verkannt werden soll, daß seine äußeren Formen an die Bedingungen der gesellschaftlichen Umwelt gebunden sind.
Vom Orient haben auch die Römer den Cäsarismus übernommen und ihn in einer Weise ausgebildet, wie dies vorher kaum in einem anderen Lande der Fall gewesen ist. Als Julius Cäsar sich zum Diktator von Rom aufgeschwungen hatte, versuchte er bald, seine Herrschaft in den religiösen Vorstellungen des Volkes zu verwurzeln. Er leitete den Ursprung seines Geschlechtes von den Göttern ab und erklärte Venus für seine Ahnfrau. Sein ganzes Streben war darauf gerichtet, sich zum unbeschränkten Herrscher des Reiches und unmittelbar zum Gott zu machen, den keine innere Beziehung mit den gewöhnlichen Sterblichen verbindet. Man setzte sein Standbild zwischen die Statuen der sieben Könige Roms, und seine Anhänger verbreiteten geflissentlich das Gerücht, das Orakel habe ihn zum Alleinherrscher über das Reich bestimmt, um die Parther zu besiegen, die bisher den römischen Waffen Trotz geboten hatten. Sein Abbild wurde unter die unsterblichen Götter der pompa circensis versetzt. Man errichtete ihm eine Statue im Tempel des Quirinus, auf dessen Sockel die Inschrift prangte: «Dem unbesiegbaren Gotte!» Zu Luperci wurden ihm zu Ehren ein Collegium gebildet und besondere Priester ernannt, die seiner Göttlichkeit huldigten.
Die Ermordung Cäsars setzte seinen ehrgeizigen Plänen ein jähes Ende, doch seine Nachfolger setzten sein Werk fort, und bald erstrahlte der Imperator im Heiligenschein der Gottheit. Man errichtete ihm Altäre und erwies ihm religiöse Verehrung. Caligula, der den Ehrgeiz besaß, sich zum kapitolinischen Jupiter, zum höchsten Schutzgott des römischen Staates aufzuschwingen, begründete die Göttlichkeit des Cäsars mit den Worten:
«Gleichwie die Menschen, die Schafe und Ochsen hüten, selber weder Schafe noch Ochsen sind, sondern von Natur aus höherstehen als diese, so sind auch jene, die als Herrscher über die Menschen gesetzt werden, nicht Menschen wie die anderen, sondern Götter.»
Die Römer, die nichts dagegen einzuwenden fanden, wenn ihre Heerführer im Orient und in Griechenland sich göttliche Ehren erweisen ließen, sträubten sich anfangs zwar dagegen, daß man von römischen Bürgern dasselbe verlangte, doch gewöhnten sie sich ebenso rasch an den neuen Zustand wie die Hellenen in der Zeit ihres gesellschaftlichen Niederganges und erstarben förmlich in feiger Selbsterniedrigung. Nicht nur, daß Scharen von Dichtern und Künstlern das Lob des «göttlichen Cäsar» unausgesetzt im Lande verkündeten; auch Volk und Senat überschlugen sich in kriechender Demut und würdeloser Unterwürfigkeit. Virgil verherrlichte den Cäsar Augustus in seiner Äneis in knechtseliger Weise, und Legionen anderer folgten seinem Beispiel. Der römische Astrologe Firmicus Maternus, der unter der Regierung Konstantins lebte, erklärte in seinem Werk De erroribus profanarum religosum:
«Nur der Cäsar ist nicht abhängig von den Gestirnen. Er ist der Herr der ganzen Welt, die er durch den Machtspruch des höchsten Gottes leitet. Er selbst gehört dem Kreise der Götter an, welche die Urgottheit zur Erhaltung und Vollbringung alles Geschehens bestimmt hat.»
Die göttlichen Ehren, welche den byzantinischen Kaisern erwiesen wurden, drücken sich noch heute in der Bedeutung des Wortes Byzantiner aus. In Byzanz gipfelte die religiöse Verehrung des Imperators im Kotau, jener orientalischen alten Sitte, die den gewöhnlichen Sterblichen zwingt, sich, auf den Boden zu werfen und mit dem Gesicht die Erde zu berühren.
Das Römische Reich fiel in Trümmer. Der Machtwahn seiner Herrscher, der im Laufe der Jahrhunderte bei den Millionen ihrer Untertanen zur Auslöschung jeder Menschenwürde führte, die grauenhafte Ausbeutung aller unterdrückten Völker und die wachsende Fäulnis im ganzen Reiche hatten die Menschen moralisch zermürbt, ihr soziales Gefühl ertötet und ihnen jede Kraft des Widerstandes genommen. So konnten sie dem Ansturm der sogenannten Barbaren auf die Dauer nicht widerstehen, die das mächtige Reich von allen Seiten bedrohten. Doch der «Geist Roms», wie Schlegel es nannte, lebte weiter, wie auch der Geist des Cäsaro-Papismus nach dem Untergange der großen orientalischen Reiche weiterlebte, und vergiftete allmählich die junge, ungezügelte Kraft der germanischen Völkerschaften, deren militärische Führer das verhängnisvolle Erbe der Cäsaren übernommen hatten. Und Rom lebte weiter in der Kirche, die das Cäsarentum in der Gestalt des Papismus zur höchsten Machtvollkommenheit entwickelte und mit zäher Energie das Ziel verfolgte, die ganze Menschheit unter das Zepter des Oberpriesters von Rom zu zwingen.
Vom römischen Geiste getragen waren alle politischen Einheitsbestrebungen, die später in der deutschen Kaiseridee, in den mächtigen Reichen der Habsburger, Karls V. und Philipps II, der Bourbonen, der Stuarts und der zaristischen Dynastien Gestalt angenommen haben. Zwar wird die Person des Herrschers nicht mehr unmittelbar als Gott verehrt, aber er ist König «von Gottes Gnaden» und genießt die stumme Ehrfurcht seiner Untertanen, denen er als Wesen höherer Art erscheint. Der Gottesbegriff wandelte sich im Laufe der Zeiten, ebenso wie der Begriff des Staates mancherlei Wandlungen erlebt hat; aber das innere Wesen der Religion blieb stets unberührt, wie auch der Wesenskern aller und jeder Politik nie eine Änderung erfahren hat. Es ist stets das Prinzip der Macht, das die Träger himmlischer und irdischer Autorität den Menschen gegenüber zur Geltung brachten, und es ist stets das religiöse Gefühl der Abhängigkeit, das die Massen zum Gehorsam zwingt. Das Staatsoberhaupt wird nicht länger in öffentlichen Tempeln als Gott verehrt, aber es sagt mit Ludwig XIV. «Der Staat bin ich!» Der Staat aber ist die irdische Vorsehung, die über dem Menschen wacht und seine Schritte leitet, damit er nicht vom Wege des Gesetzes abweiche. Deshalb ist der Träger der staatlichen Gewalt nur der Hohepriester der Macht, die in der Politik ihren Ausdruck findet wie die Gottesverehrung in der Religion.
Der Priester aber ist der Mittler zwischen dem Menschen und jener höheren Macht, von der der Untertan sich abhängig fühlt und die ihm daher zum Schicksal wird. Zwar schießt die Behauptung Volneys, daß die Religion eine Erfindung der Priester sei, weit über das Ziel; denn es gab religiöse Vorstellungen, lange bevor es eine Priesterkaste gab. Es kann sogar mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß der Priester von der Richtigkeit seiner Erkenntnisse ursprünglich selbst überzeugt war. Bis ihm mählich der Gedanke aufdämmerte, welch unbegrenzte Macht ihm der blinde Glaube und die dumpfe Furcht der Mitmenschen in die Hände spielte und welche Vorteile ihm daraus erwachsen mußten. So erwachte im Priester das Machtbewußtsein und mit diesem die Machtlust, die um so größer wurde, je mehr sich das Priestertum als besondere Kaste in der Gesellschaft auftat. Aus der Machtlust aber formte sich der «Wille zur Macht». Damit entwickelte sich im Priestertum ein ganz besonderes Bedürfnis. Von diesem geleitet, versuchte es, das religiöse Empfinden der Gläubigen in bestimmte Bahnen zu lenken und ihrem Glaubensdrange Formen zu verleihen, die seinen eigenen Machtbestrebungen dienlich waren.
Jede Macht war zunächst Priestermacht und ist es in ihrem innersten Wesen noch bis heute geblieben. Die alte Geschichte kennt eine Menge Beispiele, wo die Rolle des Priesters sich mit der des Herrschers und Gesetzgebers paarte und in einer Person zusammenfloß. Schon die Abstammung zahlloser Herrschertitel von Namen, aus denen die priesterliche Funktion ihrer gewesenen Träger mit aller Deutlichkeit hervorgeht, weist mit Sicherheit auf den gemeinsamen Ursprung der religiösen und weltlichen Macht hin. Alexander Ular, der in seinem geistvollen Schriftchen Die Politik die Behauptung aufstellt, daß das Papsttum niemals weltliche Politik getrieben habe, daß aber jeder weltliche Herrscher bisher bestrebt war, Papstpolitik zu treiben, trifft den Nagel auf den Kopf. Das ist auch der Grund, weshalb jedem Regierungssystem, ohne Unterschied der Form, ein gewisser theokratischer Charakter zugrunde liegt.
Jede Kirche hat das Bestreben, die Grenzen ihrer Machtbefugnisse fortgesetzt zu erweitern und den Menschen das Gefühl der Abhängigkeit tiefer in die Brust zu pflanzen. Jede weltliche Macht aber ist von demselben Drange beseelt, da es sich in beiden Fällen um gleichgerichtete Bestrebungen handelt. Wie in der Religion Gott alles, der Mensch nichts ist, so ist in der Politik der Staat alles, der Untertan nichts. Die beiden Maximen himmlischer und irdischer Autorität, das «Ich bin der Herr, dein Gott» und das «Seid Untertan der Obrigkeit!» entspringen derselben Quelle und sind miteinander verwachsen wie das siamesische Zwillingspaar.
Je mehr der Mensch in Gott den Inbegriff aller Vollkommenheit verehren lernte, desto tiefer sank der eigentliche Schöpfer Gottes zum erbärmlichen Erdenwurm herab, zur lebendigen Verkörperung aller irdischen Nichtigkeit und Schwäche. Die Theologen und Schriftgelehrten aber wurden nicht müde, ihm immer wieder zu beteuern, daß er «ein Sünder von Haus aus» sei, der nur durch die Offenbarung und die strengste Betätigung der Gebote Gottes vor der ewigen Verdammnis zu retten ist. Und indem der frühere Untertan und heutige Bürger den Staat mit allen Eigenschaften irdischer Vollkommenheit ausgestattet hatte, degradierte er sich selber zum Spottbild der Ohnmacht und Unmündigkeit, dem die Rechtsgelehrten und Staatstheologen immer wieder die schmachvolle Überzeugung einhämmerten, daß er im Grunde seines Wesens mit den dunklen Trieben des geborenen Übeltäters behaftet sei, der nur durch das Gesetz des Staates auf den Pfad der offiziell festgelegten Tugend gelenkt werden könne. Die Idee der Erbsünde liegt nicht nur allen großen Religionssystemen, sondern auch jeder Staatstheorie zugrunde. Die völlige Erniedrigung des Menschen, der folgenschwere Glaube an die Nichtigkeit und das Sündhafte des eigenen Daseins war von jeher das stärkste Fundament aller göttlichen und weltlichen Autorität. Das göttliche «Du sollst!» und das staatliche «Du mußt!» ergänzen sich aufs beste: Gebot und Gesetz sind nur verschiedene Ausdrücke desselben Begriffes.
Das ist die Ursache, weshalb kein weltlicher Herrscher die Religion bisher missen konnte, da sie die fundamentale Voraussetzung der Macht an sich ist. Dort, wo die Träger des Staates sich aus politischen Gründen gegen ein bestimmtes Religionssystem aufgelehnt haben, geschah es stets, um ein anderes System des Glaubens einzuführen, das ihren Machtbestrebungen besser entsprach. Auch die sogenannten «aufgeklärten Herrscher», die selber an nichts glaubten, machen von dieser Regel keine Ausnahme. Friedrich II. von Preußen mochte immerhin behaupten, daß in seinem Reiche «jeder nach seiner eigenen Façon selig werden könne», wobei er natürlich voraussetzte, daß das Seligwerden seiner Macht keinen Abbruch tat. Die vielgerühmte Duldsamkeit des Großen Friedrich hätte anders ausgesehen, wenn seine Untertanen oder auch nur ein Teil davon sich hätten einfallen lassen, ihre Seligkeit durch die Herabsetzung seines königlichen Ansehens oder durch die Nichtbeachtung seiner Gesetze zu erringen, wie es die Duchoborzen in Rußland versucht hatten.
Napoleon I., der als junger Artillerie-Offizier die Theologie die «Kloake alles Aberglaubens und aller Verirrung» genannt hatte und den Standpunkt vertrat, daß man «dem Volke an Stelle des Katechismus einen Leitfaden der Geometrie in die Hände geben sollte», lernte gründlich um, nachdem er sich zum Kaiser der Franzosen aufgeschwungen hatte. Nicht allein, daß er sich nach seinem eigenen Geständnis lange Zeit mit dem Gedanken getragen hatte, mit Hilfe des Papstes die Weltherrschaft zu erringen, stellte er sich auch die Frage, ob eine Staatsordnung ohne Religion Bestand haben könnte. Worauf er sich selbst die Antwort gab: «Die Gesellschaft kann nicht ohne Ungleichheit des Besitzes bestehen, die Ungleichheit nicht ohne Religion. Wenn ein Mensch vor Hunger stirbt neben einem, der übersatt ist, könnte er sich unmöglich damit abfinden, gäbe es nicht eine Macht, die ihm sagt: Das ist Gottes Wille; hier auf Erden muß es Reiche und Arme geben, dort, in der Ewigkeit, wird es anders sein.»
Die schamlose Offenherzigkeit dieses Ausspruches wirkt um so wahrhaftiger, als er von einem Manne kam, der selbst an nichts glaubte, doch genug Geist besaß, um zu erkennen, daß keine Macht auf die Dauer bestehen kann, wenn sie nicht fähig ist, im religiösen Bewußtsein der Menschen Wurzel zu schlagen.
Das enge Verhältnis zwischen Religion und Politik beschränkt sich aber nicht bloß auf die fetischistische Periode des Staates, wo die öffentliche Macht noch in der Person des absoluten Monarchen ihren höchsten Ausdruck fand. Es wäre bittere Selbsttäuschung, anzunehmen, daß der moderne Rechts- oder Verfassungsstaat dieses Verhältnis wesentlich geändert habe. Wie in den späteren Religionssystemen der Begriff der Gottheit abstrakter und unpersönlicher geworden ist, so hat auch die Vorstellung vom Staate vieles von ihrem einstigen mehr körperhaften, auf die Person des Herrschers abgestimmten Charakter eingebüßt. Aber sogar in jenen Ländern, wo die Trennung zwischen Staat und Kirche öffentlich vollzogen wurde, haben die inneren Beziehungen zwischen der weltlichen Macht und der Religion als solcher keinerlei Änderungen erfahren. Nur daß die heutigen Träger der Macht vielfach bestrebt sind, den religiösen Verehrungsdrang ihrer Bürger ausschließlich auf den Staat zu konzentrieren, um ihre Macht nicht mit der Kirche teilen zu müssen.
Tatsache ist, daß die großen Bahnbrecher des modernen Verfassungsstaates die Notwendigkeit der Religion für das Gedeihen der staatlichen Macht ebenso energisch betont haben wie vor ihnen die Befürworter des fürstlichen Absolutismus. So erklärte Rousseau, der mit seinem Werk vom «Gesellschaftsvertrag» der absoluten Monarchie so unheilbare Wunden geschlagen hatte, ganz offenherzig:
«Damit ein im Entstehen begriffenes Volk die heiligen Grundsätze der Staatskunst schätzen und die elementarsten Prinzipien des Staatsrechts befolgen könnte, wäre es nötig, daß die Wirkung zur Ursache würde und der soziale Geist, der erst das Ergebnis der Verfassung sein soll, selbst die führende Rolle in der Verfassung spielte; daß also die Menschen schon vor der Entstehung der Gesetze das wären, was sie erst durch diese werden sollen. Da aber der Gesetzgeber die Menschen weder zwingen noch überzeugen kann, so muß er notwendigerweise zu einer Autorität höherer Ordnung seine Zuflucht nehmen, die imstande ist, ohne äußeren Zwang zu überreden und die Menschen hinzureißen, ohne sie erst überzeugen zu müssen. Das ist der Grund, weshalb die Väter der Nationen sich zu allen Zeiten gezwungen sahen, ihre Zuflucht zum Himmel zu nehmen und die Götter aus Klugheit zu ehren, damit die Menschen, die sowohl den Gesetzen des Staates als auch den Gesetzen der Natur unterworfen sind, freiwillig derselben Macht Gehorsam leisten, die sowohl den Menschen als auch den Staat geformt hat, und die Bürde des Staatsglücks mit Einsicht tragen möchten. Diese höhere Einsicht, die über den Gesichtskreis des gewöhnlichen Menschen hinausgeht, ist es, deren Entscheide der Gesetzgeber der Gottheit in den Mund legt, um solche, die sich durch menschliche Weisheit nicht erreichen lassen, durch den Respekt vor einer höheren Macht mit fortzureißen.»[27]
Robespierre folgte den Weisungen des Meisters auf den Buchstaben und sandte die Hebertisten und die sogenannten Enragés aufs Schafott, da sie mit ihrer antireligiösen Propaganda, die eigentlich nur antikirchlich war, das Ansehen des Staates schädigten und seine sittlichen Grundlagen untergruben. Die armen Hebertisten! Sie waren ebenso gute Gläubige wie der «Unbestechliche» und seine jakobinische Kirchengemeinde, nur daß sich ihr Verehrungsdrang auf einer anderen Linie bewegte und sie keine höhere Macht als den Staat anerkennen wollten, der für sie das Heiligste war. Sie waren gute Patrioten, und wenn sie von der «Nation» sprachen, so waren sie von derselben religiösen Inbrunst beseelt wie der fromme Katholik, wenn er mit seinem Gotte spricht. Aber sie waren nicht die Gesetzgeber des Landes, mithin fehlte ihnen jene famose «höhere Einsicht», die nach Rousseau über den Gesichtskreis des gewöhnlichen Menschen hinausgeht, und deren Entscheidungen der Gesetzgeber sich vorsichtigerweise aus dem Munde der Gottheit bestätigen läßt.
Robespierre freilich besaß diese «höhere Einsicht»; er fühlte sich als der Gesetzgeber der «einen und unteilbaren Republik», folglich erkannte er, daß der Atheismus eine «aristokratische Angelegenheit» sei und seine Anhänger im Solde Pitts stünden. Genau wie die heutigen Parteigänger des Bolschewismus jeden Gedanken, der ihnen nicht genehm ist, als «konterrevolutionär» verschreien, um das Entsetzen der Gläubigen wachzurufen. In bewegten Zeiten aber ist ein solches Brandmal lebensgefährlich und gleichbedeutend mit «Schlagt ihn tot, denn er hat Gott gelästert». Das mußten auch die Hebertisten erfahren, wie so viele andere vor und nach ihnen. Sie waren Gläubige, aber nicht Rechtgläubige, so mußte ihnen die Guillotine nachhelfen wie früher der Scheiterhaufen den Ketzern.
In seiner großen Rede im Konvent zur Verteidigung des Glaubens an ein höchstes Wesen entwickelte Robespierre kaum einen eigenen Gedanken. Er berief sich auf Rousseaus «Gesellschaftsvertrag», den er in seiner gewöhnlichen langatmigen Art kommentierte. Er fühlte die Notwendigkeit einer Staatsreligion für das republikanische Frankreich, und der Kultus des höchsten Wesens mußte ihm dazu dienen, die Weisheit seiner Politik der neuen Gottheit in den Mund zu legen, um ihr den Glorienschein des göttlichen Willens zu gehen.
Der Konvent beschloß, jene Rede in jedem Flecken Frankreichs öffentlich anzuschlagen und sie in alle Sprachen übersetzen zu lassen, um der abscheulichen Lehre des Atheismus den Todesstoß zu versetzen und der Welt das wahre (Glaubensbekenntnis des französischen Volkes zu verkünden. Der Pariser Jakobinerklub aber beeilte sich, seiner Ehrfurcht vor dem höchsten Wesen in einer besonderen Denkschrift Ausdruck zu geben, deren Inhalt, ebenso wie die Rede Robespierres, vollständig in Rousseauschen Gedankengängen wurzelte und in der mit besonderem Zartsinn auf eine gewisse Stelle im vierten Buche des «Gesellschaftsvertrags» hingewiesen wurde, die da sagt:
«Es gibt demnach ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, und die Festsetzung seiner Artikel ist lediglich Sache des Staatsoberhauptes. Es handelt sich hierbei also nicht eigentlich um Religionslehren, sondern um allgemeine Ansichten, ohne deren Befolgung man weder ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein kann. Ohne jemand zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt, verbannen, zwar nicht als einen Gottlosen, wohl aber als einen, der den Gesellschaftsvertrag verletzt, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und, im Notfalle sein Leben seiner Pflicht zu opfern. Sobald sich jemand nach öffentlicher Anerkennung dieser bürgerlichen Glaubensartikel doch als Ungläubiger zu erkennen gibt, so verdient er die Todesstrafe; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat einen wissentlichen Meineid im Angesichte des Gesetzes geleistet.»
Die junge französische Republik war eine kaum entstandene Macht, die noch keine Traditionen hatte und dazu noch aus dem Sturze eines alten Herrschaftssystems hervorgegangen war, dessen tiefwurzelnde Überlieferungen noch immer in breiten Schichten des Volkes lebendig waren. Sie war daher mehr als jeder andere Staat darauf angewiesen, ihre junge Macht im religiösen Bewußtsein des Volkes zu vertiefen. Zwar hatten die Träger der jungen Macht den neuen Staat mit göttlichen Eigenschaften belehnt und den Kultus der «Nation» zu einer neuen Religion gestaltet, die Frankreich mit brausender Begeisterung erfüllte. Doch das geschah im Taumel der großen Umwälzung, in deren rauhen Stürmen eine alte Welt zerschellen sollte. Allein der Taumel konnte nicht ewig währen, und die Zeit war vorauszusehen, wann die eintretende Ernüchterung kritischen Erwägungen Platz machen würde. Denn etwas fehlte dieser neuen Religion – die Überlieferung, die eines der wichtigsten Elemente in der Gestaltung des religiösen Bewußtseins ist. Es war daher nur ein Akt der Staatsräson, wenn Robespierre die «Göttin der Vernunft» wieder aus dem Tempel jagte, um sie durch den Kultus des höchsten Wesens zu ersetzen, um der «einen und unteilbaren Republik» den nötigen Heiligenschein zu verschaffen.
Auch die neueste Geschichte zeigt uns typische Beispiele dieser Art. Man denke an das Bündnis Mussolinis mit der katholischen Kirche. Robespierre hatte niemals das Dasein Gottes in Frage gestellt, ebensowenig wie Rousseau. Mussolini aber war ein ausgesprochener Gottesleugner und grimmiger Hasser alles Kirchenglaubens, wie ja auch der Faschismus, den antiklerikalen Überlieferungen des italienischen Bürgertums folgend, zunächst als ausgesprochener Gegner der Kirche auftrat. Doch als gewiegter Staatstheologe erkannte Mussolini sehr bald, daß seine Macht nur Bestand haben konnte, wenn es ihm gelang, sie im Abhängigkeitsgefühl seiner Untertanen fest zu verankern und ihr nach außen hin einen religiösen Charakter zu verleihen. Aus diesem Grunde formte er den extremsten Nationalismus zu einer neuen Religion, die in ihrer egoistischen Ausschließlichkeit und in ihrer gewaltsamen Abgrenzung von allen anderen menschlichen Gruppierungen kein höheres Ideal anerkannte als den faschistischen Staat und seinen Propheten, den Duce.
Doch wie Robespierre, so fühlte auch Mussolini, daß seiner Lehre die Überlieferung fehlte und seine junge Macht noch keinen Schatten warf; das machte ihn vorsichtig. Die nationale Überlieferung in Italien war der Kirche nicht günstig. Man hatte noch nicht vergessen, daß das Papsttum sich einst als der gefährlichste Gegner der nationalen Einheitsbewegung betätigt hatte, die sich nur in offenem Kampfe mit dem Vatikan durchsetzen konnte. Doch die Männer des Risorgimento und die Schöpfer der nationalen Einheit Italiens waren keine antireligiösen Eiferer. Ihre Politik war antiklerikal, weil die Haltung des Vatikans sie dazu gedrängt hatte, allein sie waren keine Atheisten. Der glimme Pfaffenhasser Garibaldi, der in der Vorrede zu seinen Lebenserinnerungen die Worte niederschrieb: «Der Priester ist die Verkörperung der Lüge; der Lügner aber ist ein Räuber, der Räuber ein Mörder, und ich könnte dem Priestertum noch andere niederträchtige Eigenschaften nachweisen», sogar Garibaldi war nicht nur seinen nationalen Bestrebungen nach ein tiefreligiöser Mensch, seine ganze Lebensauffassung wurzelte im Glauben an Gott. So lautete denn auch der siebente jener zwölf Artikel, die er 1867 dem Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Genf vorlegte: «Der Kongreß macht sich die Religion Gottes zu eigen, und jedes seiner Mitglieder verpflichtet sich, dazu beizutragen, sie über die ganze Erde zu verbreiten.»
Mazzini aber, der Führer des Jungen Italien und neben Garibaldi die hervorragendste Gestalt im Kampfe für die nationale Einheit Italiens, war in allen Wurzeln seiner Seele vom tiefsten religiösen Glauben durchdrungen. Seine ganze Weltanschauung war eine seltsame Mischung von religiöser Ethik und national-politischen Bestrebungen, die trotz ihrer demokratischen Außenseite durchaus autoritärer Natur waren. Sein Wahlspruch «Gott und das Volk» war geradezu symbolisch für die Ziele, die er verfolgte, denn die Nation war für ihn eine religiöse Vorstellung, die er in den Rahmen einer politischen Kirche zu fassen versuchte.
Mussolini und mit ihm zahlreiche Führer des italienischen Faschismus befanden sich nicht in dieser beneidenswerten Lage. Sie hatten nicht nur die Kirche, sondern die Religion als solche grimmig befehdet. Eine solche Vergangenheit belastet, besonders in einem Lande, dessen Hauptstadt seit vielen Jahrhunderten der Mittelpunkt einer mächtigen Kirche war, der Tausende von Organen zur Verfügung stehen, die auf höheren Befehl stets bereit sind, die Erinnerung an die anrüchige Vergangenheit des faschistischen Staatsoberhauptes im Volke wachzuhalten. Es war daher geraten, sich mit dieser Macht auf guten Fuß zu stellen. Doch das war nicht so einfach, denn zwischen dem Vatikan und dem italienischen Staat lag der 20. September 1870, an dem die Truppen Viktor Emanuels in Rom einmarschierten und der weltlichen Macht des Kirchenstaates ein Ende machten. Doch Mussolini war zu jedem Opfer bereit. Um den Frieden mit dem Vatikan zu erkaufen, stellte er, wenn auch nur in kleinstem Formate, den Kirchenstaat wieder her, entschädigte den Papst finanziell für das Unrecht, das man einem seiner Vorgänger seinerzeit angetan hatte, anerkannte den Katholizismus als Staatsreligion und lieferte dem Priestertum einen beträchtlichen Teil der öffentlichen Erziehungsanstalten aus.
Es waren sicherlich keine religiösen oder moralischen Gründe, die Mussolini zu diesem Schritt veranlaßt, hatten, sondern nüchterne machtpolitische Erwägungen. Er brauchte eine moralische Stütze für seine imperialistischen Pläne und mußte ganz besonders darauf bedacht sein, das Mißtrauen, das ihm das Ausland entgegenbrachte, zu beseitigen. Deshalb suchte er Fühlung mit jener Macht, die bisher allen Stürmen der Zeit getrotzt hatte und deren mächtige, die ganze Welt umspannende Organisation ihm unter Umständen sehr gefährlich werden konnte. Ob er bei dem Handel auf seine Rechnung gekommen ist, ist eine Frage, die uns hier nicht berührt. Doch die Tatsache, daß es gerade der «allmächtige Duce» sein mußte, der die Tore des Vatikans wieder geöffnet hat und der «Gefangenschaft des Papstes» ein Ende machte, ist eine jener Grotesken in der Geschichte, die den Namen Mussolinis länger lebendig halten wird als alles andere, das sich an diesen Namen knüpft. Auch der Faschismus mußte schließlich zu der Erkenntnis gelangen, daß mit Rizinusöl, Meuchelmord und Pogromen – wie notwendig diese Mittel dem faschistischen Staate für seine innere Politik immer erscheinen mochten – keine dauernde Macht zu begründen ist. Deshalb vergaß Mussolini eine Zeitlang das «faschistische Wunde», aus dem das italienische Volk angeblich neugeboren wurde, damit «Rom zum dritten Male das Herz der Welt» würde, und suchte Anschluß bei einer Macht, deren geheime Stärke in ihrer tausendjährigen Überlieferung wurzelt und die gerade deshalb so schwer zu erschüttern ist.
In Deutschland, wo die Träger des siegreichen Faschismus weder die Anpassungsfähigkeit noch die kluge Einsicht Mussolinis besaßen und in blöder Verkennung der wirklichen Tatsachen glaubten, das gesamte Leben eines Volkes nach der Willkür blutarmer Theorien umformen zu können, mußten sie diesen Irrtum teuer bezahlen. Zwar erkannten auch Hitler und seine geistigen Berater, daß der sogenannte totalitäre Staat in den Überlieferungen der Massen verankert werden müsse, um Bestand zu haben; doch was sie Überlieferungen nannten, waren teils Hirngespinste ihrer kranken Einbildungskraft, teils Vorstellungen, die seit vielen Jahrhunderten im Volke erstorben waren. Auch Götter werden alt, und müssen sterben, um durch andere ersetzt zu werden, die dem Glaubensbedürfnis der Zeit besser entsprechen. Der einäugige Wotan und die liebliche Freia mit den goldenen Lebensäpfeln sind bloß noch Schattengebilde längst entschwundener Zeiten, die kein «Mythos des 20. Jahrhunderts» zu neuem Leben erwecken kann. Deshalb war die Illusion von einem neuen «deutschen Christentum auf germanischer Grundlage» so grenzenlos verbohrt und beschämend geistlos.
Es war keineswegs der gewalttätige und reaktionäre Charakter von Hitlers Politik, welcher Hunderte katholischer und protestantischer Priester veranlaßte, sich der Gleichschaltung der Kirche zu widersetzen; es war die sichere Erkenntnis, daß dieses hirnlose Unternehmen unwiderruflich Schiffbruch leiden mußte, und man war klug genug, um nicht eine Verantwortung zu übernehmen, deren Folgen der Kirche nur verhängnisvoll werden konnten. Was half es da, daß die Träger des Dritten Reiches die widerspenstigen Priester in die Konzentrationslager schleiften und in den blutigen Tagen des Juni einige der hervorragendsten Vertreter des deutschen Katholizismus nach Gangsterart niederknallten! Sie konnten den Sturm nicht beschwören und mußten sich schließlich zum Nachgeben entschließen. Hitler, dem es gelungen war, die nach Millionen zählende deutsche Arbeiterbewegung in wenigen Wochen zu erledigen, hatte hier den ersten Widerstand gefunden, gegen den ihm Wotan nicht helfen konnte.
Noch grotesker als im faschistischen Italien reiften sich die Dinge in Rußland unter der famosen Diktatur des Proletariats aus. Als die erste Auflage dieses Werkes 1936 herauskam, galt im «Roten Vaterland des Proletariats» noch das Wort von Marx, das die «Religion als Opium fürs Volk» bezeichnete, und der Bund der Gottlosen bemühte sich mit allen Mitteln, diese Erkenntnis dem Volke beizubringen. Seitdem hat die russische Regierung die Kirche wieder in ihre Rechte eingesetzt und den Patriarchen Sergei als Haupt der Kirche anerkannt. Der Bund der Gottlosen wurde liquidiert und stört nicht länger den Frieden zwischen Staat und Kirche. Nicht nur das: die Internationale ist nicht mehr die Nationalhymne des russischen Volkes. Der Internationalismus der alten Bolschewiki mußte nationalen Erwägungen das Feld räumen, und in den neuen Lehrbüchern für die Jugend werden Despoten wie Iwan der Schreckliche und Peter der Große als Verteidiger der nationalen Belange gefeiert.
Die Orthodoxe Kirche aber mit ihren hundert Millionen Gläubigen, die auch in Rumänien, Bulgarien, Serbien und Griechenland eine große Anhängerschaft besitzt, ist für die machtpolitischen Bestrebungen Rußlands ein Bundesgenosse, dessen Macht ein so kalter Realpolitiker wie Stalin sehr wohl zu schätzen weiß. Wie Mussolini, so erkannte auch er mit Voltaire, daß, wenn Gott nicht existierte, man ihn erfinden müsse. Wenn schon nicht für den Triumph der Kirche, so doch als physiologische Grundlage für die irdische Vorsehung des Staates, auch wenn dieser Staat sich eine proletarische Diktatur nennt.
III. Der Kampf zwischen Kirche und Staat
Das Grundprinzip der Macht. Christentum und Staat. Der Papismus. Der «Gottesstaat» des Augustinus. Die heilige Kirche. Der Kampf um die Weltherrschaft. Gregor VII. Wirkung der Macht auf ihre Träger. Rom und die Germanen. Germanischer Cäsarismus. Der Kampf um Rom. Die Fremdherrschaft. Der Untergang der alten Gesellschaftseinrichtungen. Aristokratie und Königtum. Lehnssystem und Hörigkeit. Das Frankenreich. Karl der Große und das Papsttum. Kampf zwischen Kaiser und Papst.
Jede Macht wird von dem Wunsche getragen, einzig zu sein, da sie sich ihrem Wesen nach absolut fühlt und jeder Schranke widerstrebt, die sie an die Grenzen ihres Einflusses gemahnt. Macht ist handelndes Autoritätsbewußtsein; sie kann, wie Gott, keine anderen Götter neben sich dulden. Das ist der Grund, weshalb sofort ein Kampf um die Hegemonie entbrennt, sobald verschiedene Machtgruppen zusammen auftreten oder gezwungen sind, ihre Kreise nebeneinander ziehen zu müssen. Sobald ein Staat die Stärke erreicht, die es ihm gestattet, von seinen Machtmitteln entscheidenden Gebrauch zu machen, wird er sich nicht eher zufrieden geben, bis er die Vormachtstellung über alle benachbarten Staaten errungen hat und diesen seinen Willen aufdrängen kann. Nur wenn er sich noch nicht stark genug fühlt, ist er zu Zugeständnissen bereit; kaum aber fühlt er sich mächtig genug, wird er kein Mittel unversucht lassen, um die Grenzen seiner Machtbetätigung zu erweitern. Denn der Wille zur Macht folgt seinen eigenen Gesetzen, die er zwar maskieren, aber nie verleugnen kann.
Das Bestreben, alles unter einen Hut zu bringen, jede gesellschaftliche Betätigung einem zentralen Willen zu unterwerfen und diesem mechanisch einzugliedern, liegt aller und jeder Macht zugrunde, ganz gleichgültig, ob es sich dabei um die Person des absoluten Monarchen vergangener Zeiten, um die nationale Einheit einer verfassungsmäßig erwählten Volksvertretung oder um die zentralistischen Bestrebungen einer Partei handelt, welche die Eroberung der Macht auf ihre Fahne geschrieben hat. Der Grundsatz, jede gesellschaftliche Betätigung auf eine bestimmte Norm festzulegen, die keiner Änderung zugänglich ist, ist die unvermeidliche Voraussetzung jedes Machtwillens. Daher der Drang nach äußeren Symbolen, die eine greifbare Einheit des Machtausdrucks vortäuschen, in dessen mystischer Größe die stumme Ehrfurcht des braven Untertanen Wurzel schlagen kann. Das hatte de Maistre wohl erkannt, wenn er sagte: «Ohne Papst keine Souveränität, ohne Souveränität keine Einheit, ohne Einheit keine Autorität, ohne Autorität kein Glaube.»
Ja, ohne Autorität kein Glaube, kein Abhängigkeitsgefühl des Menschen von einer höheren Macht, mit einem Wort: keine offenbarte Religion. Und der Glaube wächst mit der Größe des Einflußgebietes, über das die Autorität gebietet. Die Träger der Macht sind stets beseelt von dem Wunsche, ihren Einfluß zu erweitern und, falls sie dazu nicht in der Lage sind, den Untertanen die Unbegrenztheit dieses Einflusses wenigstens vorzutäuschen, um ihren Glauben zu stärken. Die phantastischen Titel orientalischer Despoten sind ein Beispiel dafür.
Wo aber die Möglichkeit dazu geboten ist, begnügen sich die Vertreter der Macht nicht mit ruhmredigen Titeln; sie versuchen vielmehr mit allen Mitteln diplomatischer Verschlagenheit und brutaler Gewalt, eine Erweiterung ihres Machtgebietes auf Kosten anderer Machtgruppen zu erringen. Selbst in dem kleinsten Machtgebilde schlummert wie ein verborgener Funke der Wille zur Weltherrschaft; und wenn er auch nur in besonders günstigen Fällen zur verzehrenden Flamme erwacht, so bleibt er doch immer lebendig, sei es auch nur als geheime Wunschvorstellung. Die Beschreibung, die uns Rabelais in seinem «Gargantua» von dem Duodezkönig Picrochole entwirft, dem die milde Nachgiebigkeit seines Nachbars Grandgousier so den Kamm schwellen läßt, daß er, verblendet durch die wahnwitzigen Ratschläge seiner Ratgeber, sich bereits als neuen Alexander fühlt, hat ihren tiefen Sinn. Solange der Träger der Macht noch ein Gebiet vor sich sieht, das seinem Willen noch nicht dienstbar ist, wird er sich nie zufrieden geben; denn der Wille zur Macht ist ein unstillbares Verlangen, das mit jedem Erfolg wächst und an Stärke gewinnt. Die Legende von dem trauernden Alexander, der in Tränen ausbricht, weil ihm in der Welt nichts mehr zu erobern übrigbleibt, hat symbolische Bedeutung und zeigt uns den tiefsten Kern aller Machtbestrebungen.
Der Traum von der Errichtung eines Weltreiches ist nicht bloß eine Erscheinung der alten Geschichte, er ist das logische Ergebnis jeder Machtbetätigung und an keinen bestimmten Zeitabschnitt gebunden. Seit dem Eindringen des Cäsarismus in Europa ist der Gedanke der Weltherrschaft nie mehr vom Horizonte des politischen Geschehens verschwunden, wenn er auch durch das Hinzutreten neuer gesellschaftlicher Bedingungen manche Wandlung erfahren hat. Alle großen Versuche, universale Machtgebilde zustande zu bringen, wie die mähliche Entwicklung des Papsttums, die Gestaltung des Reiches Karls des Großen, die Ziele, welche den Kämpfen zwischen der päpstlichen und kaiserlichen Macht zugrunde lagen, die Entstehung der großen Dynastien in Europa und der Wettstreit der späteren nationalen Staaten um die Vormachtstellung in der Welt, haben sich nach römischem Vorbild vollzogen. Und überall ging die politische und soziale Zusammenfassung aller Machtfaktoren nach demselben Schema vor sich, das für den Werdegang jeder Macht bezeichnend ist.
Das Christentum hatte als revolutionäre Massenbewegung begonnen und zersetzte mit seiner Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor dem Antlitz Gottes die Grundlagen des römischen Staates. Daher die grausame Verfolgung seiner Anhänger. Es war nicht die Neuheit des Glaubens, welche die römischen Machthaber gegen die Christen aufbrachte, es waren die staatsfeindlichen Bestrebungen der Lehre, die sie treffen wollten. Sogar nachdem Konstantin das Christentum bereits zur Staatsreligion erklärt hatte, lebten die ursprünglichen Bestrebungen der christlichen Lehre bei den Chiliasten und Manichäern noch lange Zeit fort, wenn diese auch auf die weitere Gestaltung des Christentums keinen entscheidenden Einfluß mehr ausüben konnten.
Schon im dritten Jahrhundert hatte sich die christliche Bewegung den bestehenden Verhältnissen völlig angepaßt. Der Geist der Theologie hatte über die lebendigen Bestrebungen der Massen den Sieg davongetragen. Die Bewegung war mit dem Staate in engere Berührung gekommen, den sie einst als das «Reich des Satans» bekämpft hatte, und hatte unter seinem Einfluß machtpolitische Bestrebungen angenommen. So entwickelte sich aus den christlichen Gemeinden eine Kirche, die den Machtgedanken der Cäsaren treulich hütete, als das Römische Reich in den Stürmen der Völkerwanderung in Trümmer fiel.
Der Sitz des Bischofs von Rom im Herzen des Weltreiches gab ihm von Anfang an eine Vormachtstellung über alle anderen christlichen Gemeinden. Denn Rom blieb auch nach dem Zerfall des Reiches das Herz der Welt, ihr Mittelpunkt, in dem das Erbe von zehn bis fünfzehn Kulturen lebendig war, das die Welt in seinen Bann zog. Von hier aus wurden auch die jungen, unverbrauchten Kräfte der sogenannten Barbaren aus dem Norden gezügelt, unter deren ungestümem Anprall das Reich der Cäsaren zusammengebrochen war. Die neue Lehre des bereits entarteten Christentums bändigte ihren wilden Sinn, legte ihrem Willen Fesseln an und zeigte dem Ehrgeiz ihrer Führer neue Wege, die ihren Machtgelüsten ungeahnte Aussichten eröffneten. Wobei das im mählichen Werden begriffene Papsttum nicht verfehlte, die unverbrauchten Energien der Barbaren mit kluger Berechnung seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen und mit ihrer Hilfe die Grundlagen einer neuen Weltmacht zu legen, die auf viele Jahrhunderte hinaus dem Leben der europäischen Völker eine bestimmte Richtung geben sollte.
Als Augustinus sich anschickte, seine Ideen in seinem Gottesstaat niederzulegen, hatte das Christentum bereits eine vollständige innere Wandlung durchgemacht. Aus einer antistaatlichen Bewegung war eine staatsbejahende Religion geworden, die eine Menge fremder Bestandteile in sich aufgenommen hatte. Doch die junge Kirche schillerte noch in allen Farben; es fehlte ihr das planvolle Streben nach einer großen machtpolitischen Einheit, die bewußt und mit voller Überzeugung dem festumrissenen Ziele einer neuen Weltmacht zusteuerte. Augustinus gab ihr dieses Ziel. Er fühlte die ungeheure Zerrissenheit der Zeit, sah, wie tausend Kräfte tausend verschiedenen Zielen zustrebten, im tollen Chaos durcheinanderwirbelten und, kaum geboren, wieder in alle Winde zerstoben oder fruchtlos verkümmerten, weil ihnen Ziel und Richtung fehlte. Nach mancherlei Anfechtungen gelangte er zu der Überzeugung, daß den Menschen eine einheitliche Macht fehle, die allem Widerstand ein Ende machen und alle zerstreuten Kräfte einem höheren Ziele nutzbar machen sollte.
Augustinus’ Gottesstaat hat mit den ursprünglichen Lehren des Christentums nichts mehr gemein. Gerade deshalb konnte dieses Werk die theoretische Grundlage einer alles umfassenden katholischen Weltanschauung werden, welche die Erlösung der darbenden Menschheit von den machtpolitischen Erwägungen einer Kirche abhängig machte. Augustinus wußte, daß die Herrschaftsstellung der Kirche tief im Glauben der Menschen Wurzeln schlagen mußte, wenn sie Bestand haben sollte. Und er mühte sich, diesem Glauben eine Basis zu geben, die kein Scharfsinn des Verstandes erschüttern konnte. So wurde er zum eigentlichen Begründer jener theologischen Geschichtsauffassung, die alles Geschehen unter den Völkern dieser Erde auf den Willen Gottes zurückführt, auf den der Mensch keinen Einfluß haben kann. Hatte das Christentum der ersten Jahrhunderte den grundlegenden Ideen des römischen Staates und seinen Einrichtungen den Krieg erklärt und dafür alle Verfolgungen dieses Staates auf sich genommen, so verkündete Augustinus, daß der Christ nicht gehalten sei, sich dem Übel dieser Welt zu widersetzen, da «alles Irdische vergänglich sei» und «der wahre Friede nur im Himmel eine Stätte habe». Somit darf der «wahre Gläubige auch den Krieg nicht verdammen, sondern muß ihn vielmehr als ein notwendiges Übel ansehen, als eine Strafe, die Gott den Menschen auferlegt. Denn der Krieg ist wie die Pest, der Hunger und alle anderen Übel nur eine Heimsuchung Gottes, um die Menschen zu züchtigen, zu bessern und für die Seligkeit vorzubereiten.»
Damit aber das Walten Gottes den Menschen verständlich werde, ist eine sichtbare Macht vonnöten, durch welche Gott seinen heiligen Willen kundgibt, um die Sünder auf den rechten Weg zu lenken. Keine weltliche Macht ist zu dieser Aufgabe berufen, denn das Reich der Welt ist das Reich Satans, das überwunden werden muß, damit den Menschen die Erlösung komme. Nur der una sancta ecclesia, der einen heiligen Kirche, ist diese hehre Aufgabe vorbehalten und von Gott selbst bestimmt worden. Die Kirche ist die einzige und wahre Stellvertreterin des göttlichen Willens auf Erden, die ordnende Hand der Vorsehung, die allein das Rechte tut, da sie von göttlichem Geiste erleuchtet ist.
Nach Augustinus vollzieht sich alles menschliche Geschehen in sechs großen Abschnitten, deren letzter mit der Geburt Christi begonnen hat. Mithin müssen die Menschen innewerden, daß der Weltuntergang unmittelbar vor der Tür steht. Daher ist die Gründung des Gottesstaates auf der Erde unter der Leitung der apostolischen Kirche um so dringender geboten, um die Seelen der Verdammnis zu entreißen und die Menschen auf das himmlische Jerusalem vorzubereiten. Da die Kirche die alleinige Verkünderin von Gottes Willen ist, so muß sie ihrem Wesen nach unduldsam sein, denn der Mensch kann aus sich selbst nicht wissen, was gut und böse ist. Sie darf der Logik des Verstandes nicht das kleinste Zugeständnis machen, denn alles Wissen ist eitel, und die Weisheit der Menschen kann vor Gott nicht bestehen. Deshalb ist der Glaube nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck; man muß glauben um des Glaubens willen und darf sich durch die Trugbilder der Vernunft nicht vom rechten Wege abdrängen lassen. Denn das Wort, das Tertullian zugeschrieben wird: «Credo quia absurdum est», «ich glaube, weil es gegen die Vernunft ist», besteht zu Recht und kann den Menschen allein aus den Krallen des Satans befreien.
Die Weltanschauung des Augustinus beherrschte jahrhundertelang die christliche Welt. Nur Aristoteles genoß das ganze Mittelalter hindurch eine ähnliche Autorität. Augustinus hatte den Menschen den Glauben an ein unentrinnbares Schicksal beigebracht und diesen Glauben mit den machtpolitischen Einheitsbestrebungen der Kirche verschmolzen, die sich berufen fühlte, die verlorene Weltherrschaft des römischen Cäsarismus wiederherzustellen und einem weit höheren Zwecke dienstbar zu machen.
Die Bischöfe von Rom hatten nun ein Ziel, das ihrem Ehrgeiz weite Grenzen steckte. Doch bevor dieses Ziel erreicht und die Kirche zum kraftvollen Werkzeug eines machtpolitischen Zweckes umgeformt werden konnte, mußten die Vorsteher der übrigen christlichen Gemeinden diesen Bestrebungen zugänglich gemacht werden. Solange dies nicht geschehen konnte, blieb die Weltherrschaft des Papstes nur ein Traum; die Kirche mußte zunächst in sich selbst geeint sein, bevor sie daran denken konnte, den Trägern der weltlichen Macht ihren Willen aufzuzwingen.
Diese Aufgabe war nicht leicht, denn die christlichen Gemeinden blieben lange Zeit nur lose Gruppierungen, die ihre Priester und Vorsteher selbst ernannten und diese jederzeit absetzen konnten, wenn sie ihrem Amte nicht gewachsen waren. Dazu besaß jede Gemeinde das gleiche Recht wie alle anderen; sie besorgte ihre eigenen Angelegenheiten und war unbestrittener Herr im eigenen Hause. Fragen, die über die Befugnisse der Ortsgruppen hinausgingen, wurden durch die Landessynoden oder Kirchenversammlungen geschlichtet, die von den Gemeinden frei gewählt wurden. In Sachen des Glaubens aber konnte nur das ökumenische Konzil, die allgemeine Kirchenversammlung, Entscheidungen treffen.
Die ursprüngliche Organisation der Kirche war also ziemlich demokratisch und in dieser Form viel zu lose, als daß sie dem Papsttum als Grundlage für seine machtpolitischen Bestrebungen hätte dienen können. Wohl erlangten die Bischöfe der größeren Gemeinden allmählich ein größeres Ansehen, was durch ihren breiten Wirkungskreis bedingt war. So wurde ihnen bereits durch den Nikäanischen Kanon des Jahres 381 ein gewisses Aufsichtsrecht über die Vorsteher kleinerer Gemeinden zugestanden, indem man sie zu Metropoliten oder Erzbischöfen ernannte. Allein die Rechte des römischen Metropoliten gingen nicht weiter als die seiner Brüder; er hatte keine Möglichkeit, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen; und sein Ansehen wurde zeitweilig sogar durch den Einfluß des Metropoliten von Konstantinopel sehr in den Schatten gestellt.
Die Aufgabe der römischen Bischöfe war daher mit großen Schwierigkeiten verbunden, denen nicht jeder unter ihnen gewachsen war, und es mußten Jahrhunderte vergehen, bevor sich ihr Einfluß bei der Mehrheit der Geistlichkeit durchsetzen konnte. Dieses war um so schwieriger, als die Bischöfe der einzelnen Länder in ihren Befugnissen und Lehnsrechten häufig völlig von den Trägern der weltlichen Macht abhängig waren. Doch die Bischöfe von Rom verfolgten ihr Ziel mit kluger Berechnung und zäher Beharrlichkeit, wobei sie sich über die Wahl der Mittel keine Sorgen machten, solange sie Erfolg versprachen.
Wie ungeniert die Vorsteher des römischen Stuhles auf ihr Ziel lossteuerten, beweist der geschickte Gebrauch, den sie von den berüchtigten Isidorischen Dekretalen zu machen wußten, die der bekannte Geschichtsschreiber Ranke als «sehr bewußte, sehr wohlangelegte, aber doch handgreifliche Fälschung» bezeichnete, ein Urteil, das heute kaum noch Widerspruch finden dürfte. Doch bevor man die Möglichkeit einer solchen Fälschung zugab, hatten jene Dokumente bereits ihren Zweck erfüllt. Auf Grund ihrer wurde der Papst als der Statthalter Gottes auf Erden bestätigt, dem Petrus die Schlüssel zum Himmelreich hinterlassen hatte. Die gesamte Geistlichkeit wurde seinem Willen unterstellt; er erhielt das Recht, Konzile einzuberufen, deren Beschlüsse er nach eigenem Ermessen bestätigen oder verwerfen konnte. Vor allem aber wurde durch die gefälschten Isidorischen Dekretalen bekundet, daß in allen Streitfragen zwischen dem weltlichen Staat und der Geistlichkeit die letzte Entscheidung beim Papste liege. Dadurch sollte der Klerus den Rechtsurteilen der weltlichen Macht völlig entzogen werden, um ihn desto fester an den Päpstlichen Stuhl zu ketten. Versuche dieser Art wurden schon früher gemacht. So erklärte bereits der römische Bischof Symachus (498-514), daß der Bischof von Rom außer Gott keinem anderen Richter verantwortlich sei, und zwanzig Jahre vor dem Auftauchen der Isidorischen Dekretalen verkündete das Konzil von Paris (829), daß der König der Kirche unterworfen sei und die Macht des Priesters über jeder weltlichen Macht stehe. Die gefälschten Dekretalen konnten also nur den Zweck haben, den Ansprüchen der Kirche den Stempel der Rechtsgültigkeit aufzudrücken.
Mit Gregor VII. (1073-1085) beginnt die eigentliche Oberherrschaft des Papsttums, die Ära der triumphierenden Kirche. Er war der erste, der in voller Öffentlichkeit und ohne Vorbehalt das unveräußerliche Vorrecht der Kirche über jede weltliche Macht geltend machte, nachdem er schon vor seiner Besteigung des Päpstlichen Stuhles mit eiserner Beharrlichkeit auf dieses Ziel hingearbeitet hatte. Er führte vor allem in der Kirche selbst einschneidende Änderungen durch, um sie zu einem brauchbaren Werkzeug seiner Bestrebungen zu machen. Seine unerbittliche Strenge brachte es fertig, daß das Zölibat der Priester, das bereits häufig vor ihm angeregt, aber nie durchgeführt werden konnte, nunmehr befolgt wurde. Auf diese Weise schuf er sich eine internationale Armee, die durch keine intimen Bande an die Welt gefesselt war und von der sich der Geringste als Vertreter des päpstlichen Willens fühlte. Seine bekannten Worte, daß sich «die Kirche nie von ihrer Dienstbarkeit der weltlichen Macht gegenüber befreien könnte, solange der Priester nicht frei vom Weibe werde», zeigen deutlich das Ziel, das er mit seiner Reform verfolgte.
Gregor war ein schlauer und äußerst verschlagener Politiker, der von der Richtigkeit seiner Ansprüche fest überzeugt war. In seinen Briefen an den Bischof Hermann von Metz entwickelte er seine Auffassung mit voller Klarheit, wobei er sich hauptsächlich auf den Gottesstaat des Augustinus berief. Von der Voraussetzung ausgehend, daß die Kirche von Gott selbst eingesetzt wurde, folgerte er, daß sich in jeder ihrer Entschließungen der Wille Gottes offenbare; der Papst aber, als der Statthalter Gottes auf Erden, ist der Künder dieses heiligen Willens. Deshalb ist jeder Ungehorsam gegen ihn Ungehorsam gegen Gott. Jede weltliche Macht ist nur schwaches Menschenwerk, was schon daraus hervorgeht, daß der Staat die Gleichheit unter den Menschen beseitigte und sein Ursprung nur auf brutale Gewalt und Ungerechtigkeit zurückzuführen ist. Jeder König, der sich den Geboten der Kirche nicht restlos unterwirft, ist ein «Sklave des Teufels» und ein Feind des Christentums. Deshalb hat Gott den Papst über alle Könige gesetzt, denn nur er kann wissen, was den Menschen frommt, da er vom Geiste des Herrn erleuchtet ist. Es ist die Aufgabe der Kirche, die Menschheit in einem großen Bunde zusammenzufassen, in dem nur das Gesetz Gottes herrscht, das den Menschen durch den Mund des Papstes offenbart wird.
Gregor kämpfte mit der ganzen Unduldsamkeit seines heftigen Charakters für die Verwirklichung dieser Ziele, und wenn er auch schließlich das Opfer seiner eigenen Politik wurde, so war es ihm nichtsdestoweniger gelungen, die Vormacht der Kirche zu begründen und sie auf Jahrhunderte hinaus zum mächtigsten Faktor der europäischen Geschichte zu machen. Seine unmittelbaren Nachfolger besaßen weder den mönchischen Ernst noch die ungebundene Energie Gregors und holten sich manche Schlappe im Kampfe mit der weltlichen Macht; bis unter Innozenz III. (1198-1216) das päpstliche Zepter an einen Mann kam, der nicht nur von derselben Zielklarheit und demselben unbeugsamen Willen getragen wurde, die für Gregor so bezeichnend waren, sondern diesen durch seine natürliche Begabung noch weit überflügelte.
Innozenz III. hat für die Kirche das Höchste geleistet und ihre Macht bis zu einem Grade entwickelt, den sie vorher nie erreicht hatte. Er herrschte über seine Kardinäle mit der despotischen Laune eines Selbstherrschers, der niemand Verantwortung schuldig ist, und behandelte die Träger der weltlichen Macht mit einer Überheblichkeit, wie es keiner seiner Vorgänger je gewagt hatte. An den Patriarchen von Konstantinopel schrieb er die stolzen Worte: «Gott legte nicht nur die Regierung über die Kirche in Petri Hände, er ernannte ihn auch zum Herrscher über die ganze Welt.» Und dem Gesandten des französischen Königs Philipp August sagte er: «Den Fürsten ist nur die Gewalt über die Erde gegeben, doch der Priester gebietet auch über den Himmel. Der Fürst hat nur Gewalt über die Leiber seiner Untertanen, der Priester aber hat auch Gewalt über die Seelen der Menschen. Deshalb steht das Priestertum um so viel höher über jeder weltlichen Macht, als die Seele über dem Körper steht, in dem sie wohnt.»
Innozenz zwang die ganze weltliche Politik Europas unter seinen Willen; er mischte sich nicht bloß in alle dynastischen Angelegenheiten, er beanstandete sogar die Ehebündnisse der weltlichen Herrscher und zwang sie zur Scheidung, wenn die Verbindung ihm nicht genehm war. Über Sizilien, Neapel und Sardinien gebot er als eigentlicher Herrscher; Kastilien, León, Navarra, Portugal und Aragonien waren ihm tributpflichtig, sein Wille geschah in Ungarn. Bosnien, Serbien, Bulgarien, Polen, Böhmen und in den skandinavischen Ländern. Er mischte sich in den Streit zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. um die deutsche Kaiserkrone und sprach diese Otto zu, um sie auch diesem später wieder abzunehmen und Friedrich II. damit zu belehnen. Im Streite mit dem englischen König Johann ohne Land verhängte er das Interdikt über sein Reich und zwang den König nicht nur zur völligen Unterwerfung, sondern nötigte ihn sogar, sein eigenes Land vom Papste als Lehen anzunehmen und ihm für diese Gnade den geforderten Tribut abzuführen.
Innozenz fühlte sich als Papst und Cäsar in einer Person und sah in den weltlichen Herrschern nur Vasallen seiner Macht, die ihm zum Tribut verpflichtet waren. In diesem Sinne schrieb er an den König von England: «Gott hat in der Kirche Priestertum und Königtum so begründet, daß das Priestertum königlich und das Königtum priesterlich sei, wie dies aus den Episteln Petri und den Gesetzen Moses hervorgeht. Darum setzte der König der Könige einen über alle, den er zu seinem Statthalter auf Erden ernannt hat.»
Durch die Einführung der Ohrenbeichte und die Organisation der Bettelmönche schuf sich Innozenz eine Macht von ungeheurer Tragweite. Daneben benutzte er seine Hauptwaffe, den Kirchenbann, den er mit unnachgiebiger Entschlossenheit über ganze Länder verhängte, um sich die weltlichen Herrscher gefügig zu machen. In dem Lande, das vom Banne getroffen wurde, blieben alle Kirchen gesperrt, keine Glocke rief die Gläubigen zum Gebet, es gab weder Taufen noch Hochzeiten, keine Beichte wurde abgenommen, keinem Sterbenden die heiligen Sakramente verabreicht, kein Toter in geweihter Erde begraben. Man kann sich vorstellen, wie furchtbar der Eindruck eines solchen Zustandes auf den Geist der Menschen wirken mußte in einer Zeit, wo der Glaube als das Höchste galt.
Wie Innozenz keine gleichberechtigte Macht neben sich duldete, so duldete er auch keine Lehre, die von den Gebräuchen der Kirche im geringsten abwich, auch wenn sie ganz vom Geiste des Christentums erfüllt war. Der furchtbare Kreuzzug gegen das Ketzertum in Südfrankreich, der eines der blühendsten Länder Europas in eine Wüste verwandelte, legt blutiges Zeugnis dafür ab. Der herrschsüchtige Geist dieses furchtbaren Mannes schreckte vor keinem Mittel zurück, wenn es galt, die unbeschränkte Autorität der Kirche zu wahren. Und doch war auch er nur der Sklave einer fixen Idee, die seinen Geist gefangen hielt und ihn allen menschlichen Erwägungen entfremdete. Seine Machtbesessenheit machte ihn einsam und elend und wurde ihm zum persönlichen Verhängnis wie den meisten, die demselben Ziel nachjagen. So sprach er einmal von sich selbst: «Ich habe keine Muße, überweltlichen Dingen nachzugehen, kaum daß ich Zeit finde zu atmen. Fürwahr, so viel muß ich für andere leben, daß ich mir selber ein Fremder geworden hin.»
Das ist der geheime Fluch jeder Macht, daß sie nicht nur ihren Opfern, sondern auch ihren eigenen Trägern zum Verhängnis wird. Der wahnwitzige Gedanke, für etwas leben zu müssen, das jedem gesunden menschlichen Empfinden widerspricht und in sich selbst unfaßbar ist, macht den Träger der Macht mählich selber zur toten Maschine, nachdem er alle, die seiner Gewalt unterstehen, zur mechanischen Befolgung seines Willens gezwungen hat. Es liegt etwas Marionettenhaftes im Wesen jeder Macht, das ihrem eigenen Ungeist entspringt und alles, was mit ihr in Berührung kommt, in starre Formen bannt. Und diese Formen leben in der Überlieferung weiter, auch wenn der letzte Funke des Lebendigen längst in ihnen erloschen ist, und lasten wie ein Alpdruck auf dem Geiste, der sich ihrem Einfluß unterwirft.
Das mußten zu ihrem Schaden auch die germanischen und nach ihnen die slawischen Völkerschaften erfahren, die von den verderblichen Einflüssen des römischen Cäsarismus am längsten verschont geblieben waren. Sogar als die Römer sich die germanischen Lande bereits vom Rhein bis zur Elbe unterworfen hatten, erstreckte sich ihr Einfluß fast nur auf die westlichen Gebiete, da sie infolge der Unwirtlichkeit des mit ungeheuren Wäldern und Sümpfen bedeckten Landes nie Gelegenheit fanden, ihre Herrschaft zu befestigen. Als dann durch die Verschwörung deutscher Stämme das römische Heer im Teutoburger Walde fast gänzlich aufgerieben und die meisten Kastelle der fremden Eroberer zerstört wurden, war die Römerherrschaft über Germanien so gut wie gebrochen. Auch die drei Feldzüge, die Germanicus gegen die aufständischen Stämme Germaniens führte, konnten an der Lage nichts mehr ändern.
Doch war den Germanen durch den römischen Einfluß im eigenen Lager ein viel gefährlicherer Feind entstanden, dem besonders ihre Führer sehr rasch unterlagen. Die germanischen Völkerschaften, deren Wohngebiet sich lange Zeit von der Donau bis zur Nordsee und vom Rhein bis zur Elbe erstreckte, erfreuten sich einer ziemlich weitgehenden Unabhängigkeit. Die meisten Stämme waren bereits seßhaft, als sie mit den Römern in Berührung kamen; nur in den östlichen Teilen des Landes blieben sie noch halbe Nomaden. Aus den römischen Belichten und späteren Quellen geht hervor, daß die gesellschaftliche Organisation der Germanen noch sehr ursprünglich war. Die einzelnen Völkerschaften teilten sich in Geschlechter, die durch Blutsverwandtschaft miteinander verbunden waren und von denen in der Regel an die hundert Familien in verstreuten Siedlungen auf einem Stück Land zusammenlebten, daher die Bezeichnung Hundertschaften. Zehn oder zwanzig Hundertschaften bildeten einen Stamm, dessen Gebiet als Gau bezeichnet wurde. Durch die Vereinigung verwandter Stämme entstand ein Volk. Die Hundertschaften verteilten das Land unter sich, und zwar so, daß periodische Umteilungen vorgenommen wurden, woraus hervorgeht, daß ein Privateigentum an Grund und Boden bei ihnen lange Zeit nicht bestanden hat und der Privatbesitz sich lediglich auf Waffen, selbstverfertigte Werkzeuge und andere Gegenstände des täglichen Gebrauches beschränkte. Der Ackerbau wurde hauptsächlich von Frauen und Sklaven betrieben. Ein Teil der Männer zog häufig auf Kriegs- und Beutezüge aus, während der andere Teil abwechselnd zu Hause blieb und nach dem Rechten sah.
Alle wichtigen Fragen wurden auf allgemeinen Volksversammlungen oder Things beraten und Beschlüsse darüber gefaßt. An diesen Versammlungen nahmen alle freien und wehrhaften Männer teil. Sie fanden in der Regel zur Zeit des Neu- oder Vollmondes statt und waren lange Zeit die oberste Einrichtung der germanischen Völker. Auf dem Thing wurden auch alle Streitigkeiten geschlichtet und die Vorsteher für die öffentliche Verwaltung sowie die Heerführer für den Krieg gewählt. Bei den Wahlen entschieden zunächst nur die persönliche Tüchtigkeit und die Erfahrungen des einzelnen. Später aber, besonders als die Beziehungen mit den Römern häufiger und enger wurden, wählte man die sogenannten «Vordersten» oder «Fürsten» fast nur noch aus den Reihen angesehener Familien, die auf Grund ihrer wirklichen oder vermeintlichen Verdienste um die Allgemeinheit durch größere Beuteanteile, Tribute und Geschenke allmählich zu einem gewissen Wohlstand gelangten, der ihnen erlaubte, sich eine Gefolgschaft von erprobten Kriegern zu halten, was ihnen ganz von selbst gewisse Vorrechte verschaffte.
Je häufiger die Germanen mit den Römern Fühlung bekamen, desto empfänglicher wurden sie für fremde Einflüsse, was gar nicht anders sein konnte, da ja die römische Kultur und Technik der germanischen in allen Stücken weit überlegen war. Manche Stämme hatten sich bereits vor der Eroberung Germaniens durch die Römer in Bewegung gesetzt und von den römischen Machthabern Gebiete zugewiesen bekommen, wofür sie sich verpflichten mußten, römische Heeresdienste zu leisten. In der Tat spielten germanische Soldaten bereits bei der Eroberung Galliens durch die Römer eine wichtige Rolle. Julius Cäsar nahm viele Germanen in sein Heer auf und war selbst stets von einer berittenen Leibwache von vierhundert germanischen Kriegern umgeben.
Manche germanischen Abkömmlinge, die früher in römischen Diensten standen, kehrten später in die Heimat zurück und benutzten die Beute, die sie gemacht, und die Erfahrungen, die sie bei den Römern gesammelt hatten, um ihre eigenen Landsleute in ihre Dienste zu pressen. So gelang es einem von ihnen, Marbod, seine Herrschaft eine Zeitlang über eine ganze Anzahl deutscher Stämme auszubreiten und von Böhmen aus alles Land zwischen Oder und Elbe bis zur Ostsee seinem Einfluß zu unterwerfen. Aber auch Armin, der Befreier, unterlag denselben unheilvollen Einflüssen des römischen Machtwillens, den er nach seiner Rückkehr an seinen eigenen Landsleuten zu erproben versuchte. Marbod und Armin hatten nicht umsonst in Rom gelebt und dort gelernt, welch ungeheure Anziehungskraft die Macht für den Ehrgeiz der Menschen besitzt.
Armins machtpolitische Bestrebungen, die nach der Vernichtung des römischen Heeres immer deutlicher hervortraten, lassen die Befreiung Germaniens von der Römerherrschaft in einem etwas eigentümlichen Licht erscheinen. Es zeigt, sich sehr bald, daß der edle Cherusker in Rom nicht bloß die Kunst einer überlegenen Kriegsführung erlernt hatte, sondern daß auch die Staatskunst der römischen Cäsaren seinem Ehrgeiz einen mächtigen Antrieb gab, der sich zum gefährlichsten Machtwillen auswuchs. Erfüllt von seinen Plänen, arbeitete er mit allen Mitteln darauf hin, daß der Bund der Cherusker, Chatten, Marser, Brukterer usw. auch nach der Vernichtung der römischen Legionen im Teutoburger Walde weiterbestehen blieb. Nach dem endgültigen Abzug der Römer geriet er bald in einen blutigen Krieg mit Marbod, in dem es lediglich um die Oberherrschaft in Germanien ging. Als bei Armin das Ziel seiner Wünsche, sich vom erwählten Heerführer der Cherusker zum König über diese und andere Stämme aufzuschwingen, immer deutlicher hervortrat, wurde er von seinen eigenen Verwandten heimtückisch ums Leben gebracht.
Übrigens waren die Germanen in ihrem Kampfe gegen die Römer keineswegs geeint. Es gab unter den edlen Familien eine ausgesprochene römische Partei. Eine ganze Anzahl von ihnen hatte römische Würden und Auszeichnungen empfangen, ja sogar römisches Bürgerrecht angenommen und hielt auch nach der sogenannten «Hermannsschlacht» noch fest zu Rom. Hermanns eigener Bruder Flavus gehörte zu ihnen und auch sein Schwiegervater Segest, der seine eigene Tochter, Hermanns Gattin Thusnelda, den Römern ausgeliefert hatte. Von jener Seite war auch der römische Statthalter Varus von der Verschwörung gegen ihn unterrichtet worden; allein sein Vertrauen zu Armin, den man seiner Zuverlässigkeit wegen zum römischen Ritter ernannt hatte, war so unbegrenzt, daß er alle Warnungen in den Wind schlug und blind in die Falle ging, die ihm Armin gestellt hatte. Ohne diesen mit verschlagener Heuchelei begangenen Vertrauensbruch Armins hätte die berühmte Befreiungsschlacht im Teutoburger Walde nie stattgefunden, die sogar ein den Germanen so wohlgesinnter Geschichtsschreiber wie Felix Dahn als «einen der treulosesten Völkerrechtsbrüche» bezeichnet hat. Den germanischen Stämmen, die an dieser Verschwörung teilgenommen hatten, um sich vom Joche einer verhaßten Fremdherrschaft zu befreien, ist wohl kaum ein Vorwurf zu machen. Für Armin persönlich aber wiegt jener schnöde Vertrauensbruch doppelt schwer, da die Vernichtung des römischen Heeres ihm nur als ein Mittel dienen sollte, seine eigenen machtpolitischen Pläne weiterzuspinnen, die darin gipfelten, den Befreiten ein neues Joch aufzulegen.
Doch es liegt nun einmal im Wesen aller machtpolitischen Bestrebungen, daß ihre Träger vor keinem Mittel zurückschrecken, das Erfolg verspricht, auch wenn der Erfolg durch Verrat, Lüge, schnöde Hinterlist und falsches Ränkespiel erkauft werden muß. Der Grundsatz, daß der Zweck das Mittel heiligt, war noch immer der erste Glaubensartikel aller und jeder Machtpolitik und brauchte nicht erst von den Jesuiten erfunden zu werden. Jeder machtlüsterne Eroberer und Politiker huldigte ihm, Semiten und Germanen, Römer und Mongolen; denn die Niedertracht des Mittels ist mit der Macht so eng verbunden wie die Fäulnis mit dem Tode.
Als später die Hunnen in Europa eindrangen und eine neue Wanderung der Völker einsetzte, wälzten sich immer dichtere Scharen germanischer Stämme nach dem Süden und Südwesten des Kontinents, wo sie überall mit den Römern zusammenstießen und massenweise in die römischen Legionen traten. Die römischen Heere wurden völlig von Germanen durchsetzt, und so konnte es nicht ausbleiben, daß endlich einer von ihnen, der germanische Heerführer Odoaker, 476 n. Chr., den letzten römischen Kaiser vom Throne stieß und sich von seinen Soldaten selbst zum Herrscher ausrufen ließ; bis auch er wieder nach jahrelangen blutigen Kämpfen von Theoderich, dem König der Ostgoten, gestürzt und von diesem nach einem mit aller Feierlichkeit geschlossenen Vertrage auf einem Gastmahl eigenhändig niedergestochen wurde.
Alle Staatsgebilde, die in jenen Zeiten durch die Macht des Schwertes geschaffen wurden – das Reich der Vandalen, der Ost- und Westgoten, der Langobarden, der Hunnen – wurden von der Idee des Cäsarismus getragen, und ihre Schöpfer fühlten sich als die Erben Roms. Doch zerfielen auch in jenem Kampf um Rom und um römischen Besitz die alten Einrichtungen und Stammessitten der Germanen, die für die neue Lage keine Bedeutung mehr hatten. Zwar nahmen einzelne Stämme manche ihrer alten Gepflogenheiten mit hinüber in die römische Welt, allein sie verkümmerten dort und gingen zugrunde, da ihnen der gesellschaftliche Boden fehlte, auf dem sie allein gedeihen konnten.
Diese Wandlung vollzog sich um so rascher, als schon geraume Zeit vor dem Beginn der eigentlichen Völkerwanderung ziemlich tiefgehende Änderungen im gesellschaftlichen Leben der germanischen Stämme vor sich gegangen waren. So spricht Tacitus bereits von einer neuen Art der Landesverteilung nach dem Ansehen der einzelnen Familien, eine Erscheinung, von der Cäsar noch nichts zu berichten wußte. Aber auch die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zeigte bereits ein anderes Bild. Der Einfluß der sogenannten Edlen und Heerführer war überall gewachsen. Jede Frage von gesellschaftlicher Bedeutung wurde zunächst auf Sondersitzungen der Edlen beraten und dann erst dem Thing vorgelegt, dem allerdings die letzte Entscheidung oblag. Aber die Gefolgschaften, welche die Edlinge um sich scharten und die vielfach mit ihnen zusammenwohnten und an ihren Tischen saßen, mußte ihnen naturgemäß einen größeren Einfluß in der Volksversammlung schaffen. Wie sich dieses auswirkte, geht aus folgenden Worten des Tacitus deutlich hervor:
«Für sein ganzes Leben ladet Schimpf und Schande auf sich, wer seinem Herrn in der Schlacht nicht in den Tod folgt. Ihn zu verteidigen, ihn zu schützen, auch die eigenen Heldentaten ihm zum Ruhm anzurechnen, gilt als die oberste Pflicht des Kriegers. Der Fürst kämpft um den Sieg, das Gefolge aber für seinen Herrn.»
Die stete Berührung mit der römischen Welt mußte natürlich auf die gesellschaftlichen Formen der germanischen Völkerschaften zurückwirken und besonders unter den sogenannten Edlingen machtlüsterne Bestrebungen wachrufen und nähren, wodurch allmählich eine Umschichtung der sozialen Lebensbedingungen herbeigeführt wurde. Als dann später die Völkerwanderung einsetzte, war bereits ein beträchtlicher Teil der germanischen Bevölkerung mit römischen Auffassungen und Einrichtungen durchsetzt. Die neuen Staatenbildungen, die aus den großen Wanderungen der Stämme und Völkerschaften hervorgingen, mußten die innere Zersetzung der alten Einrichtungen nur beschleunigen.
Überall in Europa entstanden neue Fremdherrschaften, innerhalb welcher die Sieger eine privilegierte Klasse bildeten, die der einheimischen Bevölkerung ihren Willen aufzwang und auf deren Kosten ein Schmarotzerdasein führten. Die siegreichen Eindringlinge verteilten große Gebiete der eroberten Länder unter sich und machten sich die Einwohner tributpflichtig, wobei es nicht ausbleiben konnte, daß die Heerführer ihre engere Gefolgschaft bevorzugten. Da die verhältnismäßig geringe Zahl der Eroberer diesen nicht mehr erlaubte, nach herkömmlicher Art in Geschlechtern zusammenzuleben, und sie vielmehr gezwungen waren, sich über das ganze Land zu verbreiten, um ihre Herrschaft zu festigen, so lockerten sich die alten Bande der Blutsverwandtschaft immer mehr, die ja in dem engen Zusammenleben der Geschlechter wurzelte. Die alten Gewohnheiten kamen allmählich außer Brauch, um neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens Platz zu machen.
Die Volksversammlung, die wichtigste Einrichtung der germanischen Stämme, wo alle öffentlichen Angelegenheiten beraten und entschieden wurden, verlor immer mehr ihren alten Charakter, was schon durch die räumliche Ausdehnung der besetzten Gebiete bedingt war. Damit aber erhielten die Fürsten und Heerführer immer größere Rechte, die sich folgerichtig zur königlichen Macht auswuchsen. Die Könige wieder, berauscht von dem Einfluß Roms, versäumten nicht, die letzten Reste der alten demokratischen Einrichtungen aus dem Wege zu räumen, da sie der Ausdehnung ihrer Macht nur hinderlich sein konnten.
Aber auch die Aristokratie, deren erste Ansätze sich bei den Germanen frühzeitig bemerkbar machten, hatte durch den reichen Grundbesitz, der ihr in den eroberten Ländern zur Beute gefallen war, eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Zusammen mit den Edlen der unterworfenen Völkerschaften, die der Fremdherrscher aus wohlerwogenen Gründen in seinen Dienst nahm, da ihm ihre kulturelle Überlegenheit nur von Nutzen sein konnte, waren die Träger dieser neuen Aristokratie zunächst nur die Vasallen des Königs, dem sie auf seinen Kriegszügen Heeresfolge leisteten, wofür sie durch reiche Lehnsgüter auf Kosten der Besiegten entschädigt wurden.
Doch das Lehnswesen, das den Adel zunächst an die königliche Macht fesselte, trug auch bereits die Keime in sich, welche dieser mit der Zeit gefährlich werden mußten. Die wirtschaftliche Macht, welche den Edlen durch das Lehnswesen allmählich in die Hände gespielt wurde, erweckte in ihnen neue Wünsche und Begierden, die ihre Träger in eine Sonderstellung drängten, welche den Zentralisationsbestrebungen der königlichen Macht nicht günstig war. Es widerstrebte dem Ehrgeiz der Edlinge, immer nur Gefolgsleute des Königs zu bleiben; die Rolle des grand seigneur, der auf seinem Besitztum ungestört schalten und walten konnte, ohne höheren Anweisungen gehorchen zu müssen, sagte ihnen mehr zu und öffnete ihnen vor allem bessere Ausblicke für eine mähliche Ausgestaltung ihrer eigenen Machtvollkommenheit. Denn auch in ihnen war der Wille zur Macht lebendig und drängte sie dazu, ihre wirtschaftliche Stärke in die Waagschale zu werfen, um der aufkommenden Macht des Königtums entgegenzuarbeiten.
Tatsächlich gelang es den Lehnsherren, die sich mit der Zeit zu kleineren und größeren Fürsten aufgeschwungen hatten, den König auf lange Zeit hinaus ihrem Willen gefügig zu machen. So entstand in Europa eine neue Schicht von Schmarotzern, die zu dem Volke keine inneren Beziehungen mehr hatte, um so weniger, als die fremden Eindringlinge mit den unterworfenen Völkerschaften auch nicht länger durch die Bande des Blutes verbunden waren. Aus Krieg und Eroberung erwuchs ein neues System menschlicher Sklaverei, das auf Jahrhunderte hinaus den gesellschaftlichen Zuständen auf dem flachen Lande ihr Gepräge gab. Durch die unersättliche Gier der adligen Grundherren wurde der Bauer immer tiefer ins Elend gestoßen, überhaupt kaum noch als Mensch betrachtet und der letzten Freiheiten beraubt, die ihm von früher her noch geblieben waren.
Doch die Herrschaft über fremde Völker wirkte nicht nur verheerend auf den unterworfenen Teil der Bevölkerung, sie zersetzte auch die inneren Beziehungen unter den Eroberern selbst und zerstörte ihre alten Überlieferungen. Die Macht, die man zunächst nur den unterworfenen Völkern aufgezwungen hatte, wendete sich allmählich auch gegen die ärmeren Schichten der eigenen Stammesgenossen, bis auch diese im Sumpfe der Hörigkeit versanken. So erstickte der Wille zur Macht mit unerbittlicher Folgerichtigkeit den Willen zur Freiheit und Unabhängigkeit, der bei den germanischen Stämmen einst so tief Wurzel gefaßt hatte. Durch die Verbreitung des Christentums und die engeren Beziehungen der Eroberer zur Kirche wurde diese verhängnisvolle Entwicklung noch beschleunigt, denn die neue Religion erstickte die letzten rebellischen Funken und gewöhnte die Menschen daran, sich mit den gegebenen Zuständen abzufinden. Wie der Wille zur Macht unter den römischen Cäsaren vorher eine ganze Welt ihrer Menschlichkeit entkleidete und sie in die Hölle der Sklaverei gestoßen hatte, so zerstörte er später die freiheitlichen Gesellschaftseinrichtungen der Barbaren und stürzte sie in das Elend der Hörigkeit.
Von den neugegründeten Reichen, die in den verschiedenen Teilen Europas emporwuchsen, erlangte das Reich der Franken die größte Bedeutung. Nachdem der Merowinger Chlodwig, König der salischen Franken, im Jahre 486 dem römischen Statthalter Syagrius in der Schlacht bei Soissons eine entscheidende Niederlage beigebracht hatte, konnte er sich ganz Galliens bemächtigen, ohne nennenswerten Widerstand zu finden. Wie jedem Machtbesessenen, so kam auch Chlodwig der Appetit beim Essen. Nicht nur, daß er sich bemühte, sein Reich im Inneren zu festigen, er nahm auch jede Gelegenheit wahr, seine Grenzen nach außen hin zu erweitern. Zehn Jahre nach seinem Siege über die Römer schlug er das Heer der Alemannen bei Zülpich und verleibte ihr Land seinem Reiche ein. Damals erfolgte auch sein Übertritt zum Christentum, der keiner inneren Überzeugung, sondern lediglich machtpolitischen Erwägungen entsprungen war.
Auf diese Weise entstand in Europa eine weltliche Macht neuen Stiles. Die Kirche, die nicht mit Unrecht glaubte, daß der fränkische Herrscher ihr gegen ihre zahlreichen Feinde gute Dienste leisten könnte, war bald bereit, sich mit Chlodwig zu verbünden, um so mehr, als ihre Stellung durch den Abfall der Arianer geschwächt und sie in Rom selbst durch gefährliche Gegner bedroht wurde. Chlodwig, einer der grausamsten und treulosesten Gesellen, die je auf einem Throne gesessen, war sich bald darüber klar, daß ihm ein solches Bündnis zur Förderung seiner ehrgeizigen, mit der ganzen Hinterhältigkeit seines verschlagenen Charakters betriebenen Pläne nur von Nutzen sein konnte. So ließ er sich in Reims taufen und von dem dortigen Bischof zum «allerchristlichsten König» ernennen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, seine Ziele mit den unchristlichsten Mitteln zu verfolgen. Die Kirche aber nahm seine blutigen Freveltaten mit in Kauf, an denen sie keinen Anstoß nehmen durfte, wenn sie Chlodwig ihrer Macht nutzbar machen wollte.
Als aber die Nachfolger Chlodwigs später nur noch ein Schattendasein führten und die Macht des Staates sich vollständig in den Händen des sogenannten «Hausmeiertums» konzentrierte, das unter Pippin von Herestal erblich wurde, verschwor sich der Papst mit dessen Enkel Pipin dem Kurzen und gab ihm den Rat, selbst König zu werden. Da steckte Pippin den letzten Merowinger in ein Kloster und wurde der Begründer einer neuen Dynastie des fränkischen Reiches. Unter seinem Sohn Karl dem Großen erreichte das Bündnis zwischen dem Papst und dem fränkischen Königshaus seine höchste Vollendung und sicherte dem fränkischen Herrscher die Vormachtstellung in Europa. Damit nahm auch der Gedanke einer europäischen Universalmonarchie, an deren Ausführung Karl den Inhalt seines ganzen Lebens gesetzt hatte, wieder greifbare Formen an. Der Kirche aber, der ein ähnliches Ziel vorschwebte, konnte ein solcher Bundesgenosse nur willkommen sein. Beide hatten einander nötig, um ihre machtpolitischen Pläne zur Reife zu bringen.
Die Kirche benötigte das Schwert des weltlichen Herrschers, um sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen; so wurde es ihr höchstes Ziel, das Schwert nach ihrem Willen zu lenken und mit seiner Hilfe ihr Reich auszubreiten. Karl aber konnte die Kirche nicht entbehren, die seiner Herrschaft erst die innere religiöse Bindung gab und die einzige Macht war, welche das geistige und kulturelle Erbe der römischen Welt bewahrt hatte. In der Kirche verkörperte sich die ganze Bildung der Zeit, sie hatte in ihren Reihen Rechtsgelehrte, Philosophen, Geschichtsschreiber, Politiker, und ihre Klöster waren lange Zeit die einzigen Orte, wo Kunst und Handwerk gedeihen konnten und das menschliche Wissen eine Stätte fand. Die Kirche war deshalb für Karl ein wertvoller Verbündeter, denn sie schuf für ihn die geistigen Voraussetzungen, die für den Bestand seines riesigen Reiches so unumgänglich waren. Aus diesem Grunde suchte er die Geistlichkeit auch wirtschaftlich an sich zu fesseln, indem er die unterworfenen Völker zwang, den Zehnten an die Kirche abzuführen, und dadurch ihren Vertretern ein ergiebiges Einkommen sicherte. Ein Bundesgenosse wie der Papst mußte Karl um so erwünschter sein, als ja die Vormacht noch fest in seinen Händen ruhte und der Papst klug genug war, sich vorläufig mit seiner Rolle als Vasall des fränkischen Herrschers abzufinden.
Als der Papst von dem Langobardenkönig Desiderius schwer bedrängt wurde, eilte ihm Karl mit seinem Heere zu Hilfe und machte der Herrschaft der Langobarden in Oberitalien ein Ende. Wofür die Kirche sich erkenntlich zeigte, indem Leo III. am Weihnachtstage des Jahres 800 dem betenden Karl in der Peterskirche die Kaiserkrone aufs Haupt setzte und ihn zum «Römischen Kaiser fränkischer Nation» ernannte. Dieser Akt sollte den Menschen dartun, daß die christliche Welt des Abendlandes fortan den Weisungen eines weltlichen und geistlichen Oberhauptes unterstand, die beide von Gott berufen waren, über das leibliche und seelische Heil der christlichen Völker zu wachen. So wurden Papst und Kaiser Symbole eines neuen Weltmachtgedankens mit verteilten Rollen, der in seinen praktischen Auswirkungen Europa jahrhundertelang nicht zur Ruhe kommen ließ.
So begreiflich es ist, daß der gleiche Wille, der aus römischen Überlieferungen gespeist wurde, die Kirche mit der Monarchie zusammenführen mußte, so unvermeidlich war es, daß eine ehrliche Verteilung der Rollen beider auf die Dauer keinen Bestand haben konnte. Es liegt im Wesen jedes Machtwillens, daß er eine gleichberechtigte Macht nur so lange duldet, als er glaubt, sie seinen eigenen Zwecken dienstbar machen zu können, oder so lange er sich noch nicht stark genug fühlt, den Kampf um die Vormacht mit ihr aufzunehmen. Solange Kirche und Kaisertum ihre Macht erst von innen heraus festigen mußten und infolgedessen stark aufeinander angewiesen waren, blieb die Einheit beider wenigstens nach außen hin gewahrt. Doch konnte es nicht ausbleiben, daß, sobald die eine oder die andere der beiden Mächte sich stark genug fühlte, um auf eigenen Füßen stehen zu können, der Kampf um die Vormachtstellung zwischen ihnen entbrennen und mit unerbittlicher Folgerichtigkeit zu Ende geführt werden mußte. Daß die Kirche in diesem Kampfe endlich Sieger blieb, war nach der Lage der Dinge nicht anders zu erwarten. Ihre geistige Überlegenheit, die in einer älteren und vor allem in einer viel höheren Kultur wurzelte, in die sich die sogenannten Barbaren erst mühsam einleben mußten, verschaffte ihr einen mächtigen Vorsprung. Dazu war die Kirche die einzige Macht, welche das christliche Europa gegen eine Überrennung durch mongolische oder islamitische Völker zur gemeinsamen Abwehr verschmelzen konnte. Das Kaisertum war dieser Aufgabe nicht gewachsen, da es durch eine Menge politischer Sonderinteressen gebunden war und aus eigener Kraft Europa diesen Schutz nicht gewähren konnte.
Solange Karl der Große lebte, schickte sich das Papsttum mit kluger Berechnung in die zweite Rolle, da es gänzlich auf den Schutz des fränkischen Herrschers angewiesen war. Sein Nachfolger aber, Ludwig der Fromme, ein beschränkter, abergläubischer Mensch, geriet völlig in die Hände der Priester und besaß weder die geistigen Fähigkeiten noch die rücksichtslose Tatkraft seines Vorgängers, um das durch Ströme Blutes und skrupellose Gewalt zusammengekittete Reich Karls des Großen zusammenzuhalten, das bald nach dessen Tod zerfiel um einer neuen Gliederung Europas Platz zu machen.
Das Papsttum triumphierte auf der ganzen Linie über die weltliche Macht und blieb für Jahrhunderte die oberste Herrschaftseinrichtung der christlichen Welt. Doch als diese Welt endlich aus ihren Fugen ging und überall in Europa der nationale Staat mehr und mehr in den Vordergrund trat, da zerrann auch der Traum einer allgemeinen Weltherrschaft unter dem Zepter des Papstes, den Thomas von Aquino geträumt hatte. Zwar stemmte sich die Kirche der neuen Entwicklung der Dinge mit aller Macht entgegen, doch konnte sie die neue politische Umformung Europas auf die Dauer nicht verhindern und mußte sich dazu bequemen, sich mit den neuen machtpolitischen Bestrebungen des entstehenden nationalen Staates in ihrer Weise abzufinden.
IV. Machtpolitik und Kultur
Kastenbildung als staatliche Notwendigkeit. Platos Lehre von der Klasseneinteilung des Staates. Die Abgrenzung nach außen als macht politische Voraussetzung. Die Staatslehre des Aristoteles und die Vorstellung von den «Minderwertigen». Geistige Unfruchtbarkeit der Macht. Macht und Kultur als Gegensätze. Staat und Gemeinschaft. Die Macht als Vorrecht der Minderheit. Macht und Recht. Naturrecht und «positives Recht». Die Doppelrolle des Gesetzes. Freiheit und Autorität. Das Recht als Gradmesser der Kultur. Der Kampf ums Recht in der Geschichte.
Jede Macht setzt irgendeine Form menschlicher Sklaverei voraus, denn die Teilung der Gesellschaft in höhere und niedere Klassen ist eine der ersten Vorbedingungen ihrer Existenz. Die aus jedem Machtgebilde hervorgehende Abgrenzung der Menschen in Kasten, Stände und Klassen entspricht einer inneren Notwendigkeit, um die Privilegierten vom Volke zu scheiden, und Legende und Überlieferung sorgen dafür, den Glauben an die Unvermeidlichkeit dieser Trennung in den Vorstellungen der Menschen zu nähren und zu vertiefen. Eine junge Macht kann der Herrschaft alter privilegierter Klassen ein Ende machen, aber sie kann es nur tun, indem sie unmittelbar eine neue privilegierte Kaste ins Leben ruft, die sie für die Ausführung ihrer Pläne benötigt. Wie heute die Begründer der sogenannten «Diktatur des Proletariats» in Rußland die Kommissariokratie ins Leben rufen mußten, die sich von den breiten Massen der werktätigen Bevölkerung ebenso abhebt wie die privilegierten Klassen von der Bevölkerung jedes anderen Landes.
Schon Plato, der im Interesse des Staates das seelische Empfinden des Einzelwesens auf einen von der Regierung festgelegten Tugendbegriff abstimmen wollte, indem er jede Moral aus der Politik ableitete und damit als erster die geistigen Voraussetzungen für die sogenannte Staatsräson geschaffen hatte, schon Plato war sich darüber klar, daß die Klassenteilung für den Bestand des Staates eine innere Notwendigkeit sei. Aus diesem Grunde machte er die Zugehörigkeit zu einem der drei Stände, auf denen sein erträumtes Staatswesen fußen sollte, zu einer Schicksalsfrage, auf die das Einzelwesen keinen Einfluß hatte. Um aber den Menschen den Glauben an ihre «natürliche Bestimmung» beizubringen, muß sich der Staatsmann einer «heilsamen Täuschung» bedienen, indem er ihnen sagt: «So viele unter euch der Herrschaft vorzustehen geschickt sind, denen ward von dem bildenden Gotte Gold in die zeugende Masse eingemischt, weshalb ihr Wert auch der köstlichste ist, Silber aber den Gehilfen derselben, Eisen und Erz den Landbauern und den anderen Handarbeitern» – Auf die Frage aber, wie man den Bürgern den Glauben an diese Täuschung beibringen könnte, lautet die Antwort: «Sie selbst davon zu überzeugen, halte ich für unmöglich, aber nicht für unmöglich, ihren Söhnen und Nachkommen und allen folgenden Geschlechtern die Sage glaubwürdig zu machen.»[28]
Hier wird das Schicksal des Menschen also durch die Mischung bestimmt, die er von Gott empfangen hat und von der es abhängt, ob er im Leben Herr oder Knecht sein wird. Diesen Glauben an ein unvermeidliches Schicksal in der Vorstellungskraft des Menschen zu vertiefen und ihm die mystische Weihe einer religiösen Überzeugung zu geben, war bisher das vornehmste Ziel aller und jeder Machtpolitik.
Wie der Staat bestrebt ist, innerhalb seiner Grenzen jede gesellschaftliche Gleichstellung seiner Untertanen zu unterbinden und durch Kasten- und Klassenschichtung die Trennung zwischen ihnen zu verewigen, so muß er auch darauf bedacht sein, sich nach außen hin von allen anderen Staatsgebilden abzusondern, um seinen Bürgern den Glauben an ihre nationale Überlegenheit allen anderen Völkern gegenüber beizubringen. Plato, der einzige griechische Denker, bei dem die Idee einer nationalen Einheit aller Hellenen ziemlich klar hervortritt, fühlte sich denn auch ausschließlich als Grieche und blickte mit unverhohlener Verachtung auf die Barbaren herab. Der Gedanke, daß man diese der Hellenen gleichstellen oder auch nur näherbringen könnte, schien ihm ebenso vermessen als unfaßbar. Aus diesem Grunde wollte er in seinem Idealstaat alle schweren und erniedrigenden Arbeiten von Fremden und Sklaven verrichtet sehen. Er erkannte darin nicht nur einen Vorteil für die hellenische Herrenkaste, sondern auch eine Wohltat für die Sklaven selbst, denen es seiner Auffassung nach als eine gütige Fügung des Schicksals erscheinen mußte, daß sie gerade den Griechen dienstbar sein mußten, da sie nun doch einmal dazu bestimmt waren, die niedrigen Dienste des Knechtes erfüllen zu müssen.
Aristoteles hat den Begriff von der «natürlichen Bestimmung» des Menschen noch klarer gefaßt. Auch für ihn gab es Völker und Klassen, die von der Natur dazu bestimmt sind, die niedrigen Arbeiten zu verrichten. Dazu gehören vorallem alle Barbaren und Nichtgriechen. Zwar machte er einen Unterschied zwischen «Sklaven nach der Natur» und «Sklaven nach dem Gesetz», wobei er unter den ersteren solche versteht, die auf Grund ihrer geistigen Unselbständigkeit von der Natur selbst dazu bestimmt wurden, anderen zu gehorchen, während er diejenigen, welche durch Gefangenschaft im Kriege ihre Freiheit verloren, als «Sklaven nach dem Gesetz» bezeichnete. In beiden Fällen aber ist ihm der Sklave nur eine «lebendige Maschine» und als solche «ein Teil seines Herrn». Nach den Grundsätzen, die Aristoteles in seiner Politik vertritt, ist die Sklaverei dem Beherrscher und dem Beherrschten gleich dienlich, weil die Natur dem einen höhere Fähigkeiten, dem anderen aber nur die rohe Kraft des Tieres verliehen hat, woraus die Rolle des Herrn und die des Sklaven sich ganz von selbst ergeben.
Für Aristoteles war der Mensch ein «staatsbildendes Wesen», das seiner ganzen Natur nach dazu berufen war, Bürger unter einer Regierung zu sein. Nur aus diesem Grunde verdammte er den Selbstmord, da er dem Einzelwesen das Recht absprach, sich dem Staate zu entziehen. Obgleich Aristoteles den Idealstaat Platos ziemlich abfällig beurteilte und besonders die Gütergemeinschaft, welche dieser erstrebte, als «den Gesetzen der Natur zuwiderlaufend» bezeichnete, so war ihm der Staat an sich trotz alledem der Mittelpunkt, um den sich alles Erdendasein drehte. Und da er, wie Plato, der Auffassung war, daß die Führung der Staatsgeschäfte stets in den Händen einer kleinen Minderheit auserwählter Menschen ruhen müsse, die von der Natur selbst für diesen Beruf bestimmt wurden, so mußte er notwendigerweise dazu gelangen, das Vorrecht der Auserwählten durch die angebliche Minderwertigkeit der breiten Schichten des Volkes zu rechtfertigen und diesen Zustand auf das eiserne Walten des Naturgeschehens zurückführen. In dieser Vorstellung aber wurzelt letzten Endes die «sittliche Berechtigung» jeder Tyrannei. Hat man sich erst dazu bequemt, die eigenen Volksgenossen in eine geistig minderwertige Masse und eine von der Natur selbst zur schöpferischen Betätigung berufene Minderheit zu scheiden, so ergibt sich daraus der Glaube an die Existenz minderwertiger und auserwählter Völker ganz von selbst, besonders, wenn die Auserwählten aus der Sklavenarbeit der Minderwertigen ihren Nutzen ziehen und sich durch diese der Sorge um die eigene Existenz entziehen können.
Und doch beruht der Glaube an die angeblichen schöpferischen Fähigkeiten der Macht auf einer grausamen Selbsttäuschung, da die Macht als solche überhaupt nichts schaffen kann und völlig auf die schöpferische Tätigkeit der Untertanen angewiesen ist. um überhaupt bestehen zu können. Nichts ist irreführender, als im Staate den eigentlichen Schöpfer des kulturellen Geschehens erkennen zu wollen, wie es leider fast immer geschieht. Gerade das Gegenteil ist wahr: der Staat war von Anbeginn die hemmende Kraft, welche der Entwicklung jeder höheren Kulturform mit ausgesprochenem Mißtrauen gegenüberstand. Staaten schaffen keine Kultur, wohl aber gehen sie häufig an höheren Formen der Kultur zugrunde. Macht und Kultur im tiefsten Sinne sind unüberbrückbare Gegensätze; die Stärke der einen geht stets mit der Schwäche der anderen Hand in Hand. Ein mächtiger Staatsapparat ist das größte Hindernis für jede kulturelle Entwicklung. Dort, wo Staaten sterben oder wo ihre Macht noch auf ein Minimum beschränkt ist, gedeiht die Kultur am besten.
Dieser Gedanke erscheint den meisten so vermessen, weil uns der tiefere Einblick in die eigentlichen Ursachen des kulturellen Geschehens durch eine verlogene Bildungsdressur völlig getrübt wurde. Um die Belange des Staates zu wahren, hat man uns das Hirn mit einer Unmasse falscher Begriffe und alberner Vorstellungen vollgepfropft, so daß die meisten überhaupt nicht mehr imstande sind, an geschichtliche Dinge unbefangen heranzutreten. Wir lächeln über die Einfalt der chinesischen Chronisten, die von dem sagenhaften Herrscher Fu-hi behaupten, daß er seinen Untertanen die Kunst des Jagens, der Fischerei und der Viehzucht beigebracht, die ersten Musikinstrumente für sie erfunden und sie den Gebrauch der Schrift gelehrt habe. Aber wir sprechen gedankenlos nach, was man uns von der Kultur der Pharaonen, von der Schöpfertätigkeit der babylonischen Könige oder von den angeblichen kulturellen Leistungen Alexanders von Mazedonien oder des «Alten Fritz» eingepaukt hat und ahnen nicht einmal, daß alles fauler Zauber ist, lügnerischer Humbug, der keinen Schimmer Wahrheit in sich birgt, uns aber so oft vorgekaut wurde, daß er den meisten zur inneren Gewißheit geworden ist.
Kultur wird nicht auf Befehl geschaffen; sie schafft sich selbst und entsteht spontan aus den Bedürfnissen der Menschen und ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken. Kein Herrscher konnte den Menschen je gebieten, die ersten Werkzeuge zu formen, sich des Feuers zu bedienen, Teleskop und Dampfmaschine zu erfinden oder die Ilias zu dichten. Kulturelle Werte entstehen nicht durch Weisungen höheren Ortes, sie lassen sich weder durch Diktate erzwingen noch durch die Beschlüsse gesetzgebender Versammlungen ins Leben zaubern. Weder in Ägypten noch in Babylonien noch in irgendeinem anderen Lande wurde die Kultur durch die Träger politischer Herrschaftsgebilde geschaffen; diese übernahmen nur eine bereits vorhandene und entwickelte Kultur, um sie ihren machtpolitischen Sonderbestrebungen dienstbar zu machen. Damit aber legten sie auch die Axt an die Wurzel aller kulturellen Fortentwicklung; denn in demselben Grade, wie die politische Macht sich festigte und alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens ihren Einflüssen unterwarf, vollzog sich die innere Erstarrung der alten Kulturformen, bis an der Stelle ihres früheren Wirkungskreises kein grünes Reis mehr treiben konnte.
Politische Herrschaft strebt immer nach Uniformität. In ihrer blöden Sucht, alles gesellschaftliche Geschehen nach bestimmten Grundsätzen ordnen und lenken zu wollen, ist sie stets darauf erpicht, alle Gebiete menschlicher Betätigung einer einheitlichen Schablone zu unterwerfen. Damit gerät sie in einen unlösbaren Gegensatz mit allen schöpferischen Kräften des höheren Kulturgeschehens, das stets neuen Formen und Gestaltungen Ausschau hält, infolgedessen an das Mannigfaltige und Vielseitige des menschlichen Strebens ebenso gebunden ist wie die politische Macht an die Schablone und die starre Form. Zwischen den politischen und wirtschaftlichen Machtbestrebungen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft und der kulturellen Betätigung des Volkes geht immer ein innerer Kampf vor sich, da beide nach verschiedenen Richtungen drängen, die sich freiwillig nie verschmelzen lassen und nur durch äußeren Zwang und geistige Vergewaltigung zu einer scheinbaren Harmonie zusammengefügt werden können. Schon der chinesische Weise Lao-tse erkannte diesen Widerspruch, wenn er sagte:
Die Gemeinschaft lenken ist, erfahrungsgemäß, unmöglich.
Die Gemeinschaft ist Zusammenwirken von Kräften,
als solche, denkensgemäß, unlenkbar durch einzelnens Kraft.
Sie ordnen ist sie aus der Ordnung bringen;
Sie festigen ist sie stören.
Denn das Tun des einzelnen wechselt;
Hier vorwärtsgehn, dort zurückweichen; Hier Wärme zeigen, dort Kälte;
Hier Kraft aufwenden, dort Schwäche weisen; Hier Regung wirken, dort Ruhe.
All - so:
Der Vollendete meidet Machtlust; meidet Machtreiz; meidet Machtglanz.
Auch Nietzsche hatte diese Wahrheit im tiefsten erkannt, obgleich seine innere Zerrissenheit, sein stetes Schwanken zwischen überlebten autoritären Anschauungen und wahrhaft freiheitlichen Gedankengängen ihn zeitlebens daran hinderten, die natürlichen Folgerungen daraus zu ziehen. Nichtsdestoweniger ist das, was er über den Verfall der Kultur in Deutschland geschrieben hat, von eindringlichster Bedeutung und findet seine Bestätigung in dem Niedergang jeder wie immer gearteten Kultur.
«Niemand kann zuletzt mehr ausgeben, als er hat: – das gilt von einzelnen, das gilt von Völkern. Gibt man sich für Macht, für große Politik, für Wirtschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militärinteressen aus – gibt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der anderen Seite. Die Kultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: ‹Kultur-Staat› ist bloß eine moderne Idee. Der eine lebt vom anderen, das eine gedeiht auf Unkosten des anderen. Alle großen Zeiten der Kultur sind politische Niedergangszeiten: was groß ist im Sinne der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch.»[29]
Gelingt es dem Staate nicht, das kulturelle Wirken innerhalb seines Machtbereiches in bestimmte, seinen Zwecken genehme Bahnen zu lenken und damit seine Formentreibung zu unterbinden, so werden gerade diese höheren Formen der geistigen Kultur den politischen Rahmen früher oder später sprengen, den sie als Hindernis empfinden. Ist aber der politische Machtapparat stark genug, das kulturelle Leben auf längere Zeit hinaus in bestimmte Formen zu pressen, so sucht es sich allmählich andere Auswege, da es an keine politische Grenze gebunden ist. Jede höhere Form der Kultur, sofern sie durch politische Hemmungen in ihrer natürlichen Entwicklung nicht allzusehr beeinträchtigt wird, treibt zu einer steten Erneuerung ihres schöpferischen Gestaltungsdranges. Jedes gelungene Werk weckt das Bedürfnis nach größerer Vollkommenheit und tieferer Vergeistigung. Kultur ist immer schöpferisch, sucht stets neue Formen der Betätigung: sie gleicht dem Strauchwerk des Dschungels, dessen Zweige die Erde berühren und immer wieder neue Wurzeln schlagen.
Macht aber ist nie schöpferisch, ist zeugungsunfähig: sie macht sich lediglich die Schöpferkraft einer vorhandenen Kultur zunutze, um ihre Blöße zu verdecken, ihr Ansehen zu fördern. Macht ist stets ein negatives Element in der Geschichte, das sich mit fremden Federn schmückt, um seiner Impotenz den Schein der Schöpferkraft zu geben. Auch hier trifft Nietzsches Zarathustrawort ins Schwarze: «Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als den bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen, die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er’s. Falsch ist alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.»
Macht wirkt immer zerstörend, da ihre Träger stets bestrebt sind, alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in den Schnürleib ihrer Gesetze zu pressen und sie auf eine bestimmte Norm zu bringen. Ihre geistige Ausdrucksform ist totes Dogma, ihre physische Lebenskundgebung brutale Gewalt. Die Geistlosigkeit ihrer Bestrebungen drückt auch der Person ihres Trägers ihren Stempel auf und macht ihn selbst allmählich geistlos und brutal, auch wenn er von Hause aus die besten Anlagen hatte. Nichts stumpft den Geist und die Seele des Menschen so ab wie der ewige Gleichklang der Routine; und Macht ist nur Routine.
Seit Hobbes der Welt sein Werk Vom Bürger (De Cive) geschenkt hat, sind die Ideen, die dort ihren Ausdruck fanden, nie wieder ganz außer Kurs gesetzt worden. Sie haben im Laufe der letzten drei Jahrhunderte in der einen oder anderen Form immer wieder das Denken der Menschen beschäftigt und beherrschen die Geister gerade heute mehr denn je. Der Materialist Hobbes fußte zwar nicht auf den Lehren der Kirche, was ihn jedoch nicht hinderte, sich ihren folgenschwersten Grundsatz zu eigen zu machen: «denn der Mensch ist böse von Hause aus!» Seine ganzen philosophischen Betrachtungen sind von dieser Voraussetzung getragen. Ihm war der Mensch die geborene Bestie, die nur von selbstsüchtigen Instinkten geleitet wurde und keine Rücksicht auf den Nächsten kannte. Erst der Staat machte diesem Zustande des «Krieges aller gegen alle» ein Ende und wurde zur irdischen Vorsehung, deren ordnende und strafende Hand es verhinderte, daß der Mensch nicht im Sumpfe hoffnungsloser Vertierung versank. So wurde nach Hobbes der Staat zum eigentlichen Schöpfer der Kultur, der den Menschen mit eisernem Zwange auf eine höhere Stufe seines Daseins drängte, wie sehr dies auch seiner inneren Natur widerstrebte. Seitdem ist dieses Märchen von der kulturschaffenden Rolle des Staates unzählige Male wiederholt und durch neue Gründe angeblich belegt worden.
Und doch widerspricht diese haltlose Auffassung allen Erfahrungen der Geschichte. Was dem Menschen an Bestialität als Erbe grauer Ahnen bisher verblieben ist, das wurde gerade durch den Staat alle Jahrhunderte hindurch sorgsam gepflegt und kunstvoll gezüchtet. Der Weltkrieg mit seinen scheußlichen Methoden des Menschentotschlags im großen, die Zustände im Italien Mussolinis und in Hitlers Drittem Reich müßten auch den Blindesten davon überzeugen, was es mit dem sogenannten «Kulturstaat» auf sich hat.
Jede höhere Erkenntnis, jede neue Phase geistiger Entwicklung, jeder epochemachende Gedanke, der den Menschen neue Ausblicke ihres kulturellen Wirkens erschloß, konnte sich nur im steten Kampfe gegen die Mächte der kirchlichen und staatlichen Autorität durchsetzen, nachdem seine Träger ganze Epochen hindurch ungeheure Opfer an Gut, Freiheit und Leben für ihre Überzeugung einstellen mußten. Wenn solche Erneuerungen des geistigen Lebens von Kirche und Staat schließlich doch anerkannt wurden, so nur deshalb, weil sie mit der Zeit so unwiderstehlich wurden, daß man sich nicht anders helfen konnte. Aber sogar diese unter heftigen Widerständen erfolgte Anerkennung führte in den meisten Fällen zu einer planmäßigen Dogmatisierung der neuen Ideen, die unter der geistestötenden Vormundschaft der Macht allmählich ebenso erstarren mußten wie alle früheren Gestaltungsversuche mit neuen geistigen Ausblicken.
Schon die Tatsache, daß jedem Herrschaftsgebilde stets der Wille privilegierter Minderheiten zugrunde liegt, der den Völkern von oben herab durch List oder brutale Gewalt aufgezwungen wurde, während in jeder besonderen Phase der Kultur immer nur das anonyme Wirken der Gemeinschaft zum Ausdruck gelangt, ist bezeichnend für den inneren Gegensatz, der zwischen beiden besteht. Macht geht immer nur auf einzelne oder auf kleine Gruppen zurück; Kultur wurzelt stets in der Gemeinschaft. Macht ist immer das sterile Element in der Gesellschaft, dem jede Schöpferkraft versagt bleibt; Kultur verkörpert Zeugungswillen, Schöpferdrang, Gestaltungstrieb, die nach Ausdruck lechzen. Macht ist dem Hunger vergleichbar, dessen Befriedigung das Einzelwesen bis zu einer bestimmten Altersgrenze am Leben erhält. Kultur im höchsten Sinne gleicht dem Befruchtungstriebe, dessen Betätigung die Art am Leben erhält. Das Einzelwesen stirbt, die Gesellschaft nicht. Staaten gehen unter, Kulturen wechseln nur den Schauplatz ihrer Tätigkeit und die Formen ihres Wirkens.
Der Staat zeigt nur Entgegenkommen für solche Formen kultureller Tätigkeit, die ihn zur Aufrechterhaltung seiner Macht befähigen; aber er verfolgt mit unversöhnlichem Haß jede kulturelle Betätigung, welche die von ihm gezogenen Grenzen überschreitet und sein Bestehen in Frage stellen könnte. Es ist daher ebenso widersinnig wie verlogen, von einer «Staatskultur» zu sprechen, da gerade der Staat mit allen höheren Formen geistiger Kultur stets auf dem Kriegsfuß lebt und fortgesetzt nach einer Richtung strebt, die der Schöpferwille der Kultur ängstlich meidet.
Aber wenn auch Macht und Kultur Gegenpole in der Geschichte sind, so haben beide nichtsdestoweniger ein gemeinsames Betätigungsfeld im gesellschaftlichen Zusammenwirken der Menschen und müssen sich notgedrungen miteinander abfinden. Je tiefer das kulturelle Wirken der Menschen in den Bannkreis der Macht gerät, desto unverkennbarer macht sich eine Erstarrung seiner Formen, ein Erlahmen seiner schöpferischen Gestaltungskraft, ein mähliches Absterben seines Zeugungswillens bemerkbar. Andrerseits setzt sich die gesellschaftliche Kultur um so kräftiger über alle machtpolitischen Schranken hinweg, je weniger sie durch politische und religiöse Druckmittel in ihrer natürlichen Entfaltung gehemmt wird. In diesem Falle wächst sie sich zu einer unmittelbaren Gefahr für das Bestehen der Macht überhaupt aus.
Die kulturschaffenden Kräfte in der Gesellschaft bäumen sich unwillkürlich gegen den Zwang der machtpolitischen Einrichtungen auf, an deren scharfen Konturen sie sich wundlaufen, und versuchen bewußt oder unbewußt, die starren Formen zu sprengen, die ihre natürliche Entwicklung beeinträchtigen und ihr immer wieder neue Schranken setzen. Die Träger der Macht aber müssen stets darauf bedacht sein, daß die geistige Kultur der Zeit keine verbotenen Wege einschlägt, durch welche die Bestrebungen der machtpolitischen Betätigung gestört und vielleicht gänzlich lahmgelegt werden. Aus diesem fortgesetzten Widerstreit zweier entgegengesetzter Zielrichtungen, von denen die eine stets das Kastenwesen Privilegierter Minderheiten, die andere die Belange der Gemeinschaft vertritt, bildet sich allmählich ein gewisses Rechtsverhältnis heraus, auf Grund dessen die Grenzen der Befugnisse zwischen Staat und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, kurz zwischen Macht und Kultur periodisch neu abgesteckt und durch Verfassungen besiegelt werden.
Was wir heute unter «Recht» und «Verfassung» verstehen, ist nur der geistige Niederschlag dieses endlosen Kampfes und neigt sich in seinen praktischen Auswirkungen mehr nach der einen oder der anderen Seite, je nachdem die Macht oder die Kultur im Leben der Gesellschaft ein zeitweiliges Übergewicht erlangen. Da der Staat ohne die Gesellschaft, die Politik ohne die Wirtschaft, die Macht ohne die Kultur keinen Augenblick bestehen könnten, andrerseits aber die Kultur bisher nicht imstande war, das Machtprinzip aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen gänzlich auszuschalten, so wird das Recht zum Puffer zwischen beiden, der ihre Zusammenstöße abschwächt und die Gesellschaft vor einem Zustand fortgesetzter Katastrophen bewahrt.
Beim Recht gilt es zunächst, zwei Formen zu unterscheiden: das Naturrecht und das sogenannte positive Recht. Ein Naturrecht besteht, wo die Gesellschaft noch nicht politisch gegliedert ist, der Staat mit seinem Kasten- und Klassenwesen also noch nicht in Erscheinung tritt. In diesem Falle ist das Recht das Ergebnis gegenseitiger Vereinbarung zwischen Menschen, die sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen, dieselben Belange vertreten und von denen jeder die gleiche Würde als Mensch genießt. Das positive Recht entwickelt sich erst im politischen Rahmen des Staates und bezieht sich auf Menschen, welche durch verschiedene Interessen voneinander getrennt sind und auf Grund der gesellschaftlichen Ungleichheit verschiedenen Kasten oder Klassen angehören.
Das positive Recht wirkt sich aus, indem es einerseits dem Staat, dessen Ursprung überall in der Geschichte auf brutale Gewalt, Eroberung und Versklavung der Besiegten zurückgeht, einen rechtlichen Charakter verleiht, andrerseits einen Ausgleich zwischen den Rechten, Pflichten und Belangen der verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen sucht. Dieser Ausgleich hat immer nur so lange Bestand, als die Masse der Beherrschten sich mit dem bestehenden Rechtszustand abfindet oder sich noch nicht stark genug fühlt, dagegen anzukämpfen. Er ändert sich, wenn im Volke das Bedürfnis für eine Neuordnung der Rechtsverhältnisse so dringend und unwiderstehlich empfunden wird, daß die herrschenden Gewalten – der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe – diesem Bedürfnis Rechnung tragen müssen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, durch eine gewaltsame Umwälzung aus dem Sattel gehoben zu werden. Tritt dieser Fall ein, so schafft die neue Regierung die Formulierung eines neuen Rechts, das um so weitgehender sein wird, je stärker der revolutionäre Wille im Volk lebendig ist und zum Ausdruck kommt.
In den asiatischen Despotien des Altertums, wo sich die ganze Macht in der Person des Herrschers verkörperte, dessen Entschließungen durch keinen Einspruch der Gemeinschaft beeinflußt wurden, war Macht Recht in des Wortes voller Bedeutung. Da der Herrscher als unmittelbarer Abkömmling der Gottheit verehrt wurde, so galt sein Wille als das höchste Gesetz im Lande, das keine anderen Ansprüche aufkommen ließ. So ist zum Beispiel das Recht in der berühmten Gesetzgebung des Hammurabi völlig dem göttlichen Recht nachgeahmt, das den Menschen durch heilige Gebote offenbart wird und infolge seines Ursprungs keinen menschlichen Erwägungen zugänglich ist.
Allerdings sind auch die Rechtsbegriffe, die in der Gesetzgebung eines Selbstherrschers ihren Niederschlag finden, nicht einfach der Laune des Despoten entsprungen; sie knüpfen an alte Sitten und überlieferte Gebräuche an, die sich im Laufe der Jahrhunderte bei den Menschen eingebürgert haben und das Ergebnis ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Auch die Gesetzgebung des Hammurabi macht von dieser Regel keine Ausnahme, denn alle praktischen, dem sozialen Leben entsprungenen Grundsätze des babylonischen Rechts besaßen schon Geltungswert im Volke, lange bevor Hammurabi der Herrschaft der Elamiter im Lande ein Ende machte und durch die Eroberung von Larsa und Jamutbal die Fundamente einer einheitlichen Monarchie gelegt hatte.
Gerade hier zeigt sich der Doppelcharakter des Gesetzes, der sich auch unter den günstigsten Umständen nie verleugnen läßt; einerseits gibt das Gesetz den alten Gepflogenheiten, die von alters her als sogenanntes Gewohnheitsrecht im Volke Wurzel faßten, eine bestimmte Fassung; andrerseits verschafft es den Vorrechten der privilegierten Kasten in der Gesellschaft einen legalen Anstrich, der dem Auge ihren unheiligen Ursprung verbergen muß. Nur wenn man dieser offenkundigen Mystifikation ernstlich nachgeht, begreift man den tiefen Glauben der Menschen an die Heiligkeit des Gesetzes; es schmeichelt ihrem Gerechtigkeitsempfinden und besiegelt in derselben Zeit ihre Abhängigkeit von einer höheren Gewalt.
Am deutlichsten tritt dieser Zwiespalt hervor, wenn die Phase des absoluten Despotismus bereits überwunden und die Gemeinschaft mehr oder weniger beim Zustandekommen des Rechts beteiligt ist. Alle großen Kämpfe im Schöße der Gesellschaft waren Kämpfe ums Recht, in denen die Menschen immer wieder versuchten, ihre neuerworbenen Rechte und Freiheiten in den Gesetzen des Staates zu verankern, was naturgemäß zu neuen Unzulänglichkeiten und Enttäuschungen führen mußte. Diesem Umstand ist es zu danken, daß bisher jeder Kampf ums Recht in einen Kampf um die Macht umgeschlagen ist, der aus den Revolutionären von gestern die Reaktionäre von heute machte; denn es ist nicht Form der Macht, sondern diese selbst, in der das Übel wurzelt. Jede wie immer geartete Macht hat das Bestreben, die Rechte der Gemeinschaft auf ein Minimum herabzudrücken, um ihren eigenen Bestand zu festigen. Andrerseits strebt die Gesellschaft nach einer fortgesetzten Erweiterung ihrer Rechte und Freiheiten, was sie durch eine Beschränkung der staatlichen Befugnisse zu erreichen glaubt. Das tritt besonders in revolutionären Perioden zutage, wenn die Menschen von der Sehnsucht nach neuen Formen der gesellschaftlichen Kultur erfüllt sind.
So ist der Widerstreit zwischen Staat und Gesellschaft, Macht und Kultur den Schwingungen eines Pendels vergleichbar, dessen Achse sich in einer geraden Linie fortbewegt, und zwar so, daß sie sich immer weiter von dem einen ihrer beiden Pole – der Autorität – entfernt und langsam deren Gegenpol – der Freiheit – zustrebt. Und wie es einmal eine Zeit gab, wo Macht und Recht eins waren so schreiten wir voraussichtlich einer Epoche entgegen, wo jedes Herrschaftsgebilde verschwindet und das Recht der Gerechtigkeit, die Freiheiten der Freiheit den Platz räumen werden.
Jede Neugestaltung des Rechts durch Einverleibung neuer oder Erweiterung bereits vorhandener Rechte und Freiheiten geht stets vom Volke aus, nie vom Staate. Alle Freiheiten, die wir heute in mehr oder weniger beschränktem Maß genießen, haben die Völker weder dem guten Willen noch der besonderen Gunst ihrer Regierungen zu verdanken. Im Gegenteil: die Träger der öffentlichen Macht haben nie ein Mittel unversucht gelassen, um das Zustandekommen jedes neuen Rechts zu unterbinden oder unwirksam zu machen. Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen waren nötig, um den Vertretern der Macht jedes kleine Zugeständnis abzutrotzen, zu welchem sie sich freiwillig nie bequemt hätten.
Es ist daher auch eine völlige Verkennung der geschichtlichen Tatsachen wenn ein verstiegener Radikalismus die Behauptung aufstellt, daß politisch Rechte und Freiheiten, wie sie in den Verfassungen der einzelnen Staaten niedergelegt sind, schon deshalb keine Bedeutung hätten, weil sie durch die Regierung selbst bestätigt und gesetzlich formuliert wurden. Nicht weil die Träger der Macht diesen Rechten sympathisch gegenüberstanden, wurden sie von ihnen bestätigt sondern weil sie durch äußeren Druck dazu gezwungen wurden, weil die geistige Kultur der Zeit den politischen Rahmen irgendwo gesprengt hatte und die herrschenden Gewalten sich den Tatsachen beugen mußten, die sie vorläufig nicht rückgängig machen konnten.
Politische Rechte und Freiheiten werden nie in gesetzgebenden Körperschaften erworben, sondern diesen durch den Druck von außen aufgezwungen. Aber sogar ihre gesetzliche Gewährleistung bietet noch lange keine Sicherheit, daß sie Bestand haben. Regierungen sind stets bereit, bestehende Rechte zu beschneiden oder gänzlich aufzuheben, wenn sie glauben, keinen Widerstand im Land zu finden. Gewiß gereichten solche Versuche manchem Träger der Macht zum Verderben, wenn er die Stärke des Gegners nicht richtig einzuschätzen wußte oder seine Zeit nicht richtig zu wählen verstand. Karl I. mußte seinen Versuch mit dem Leben bezahlen, andere mit dem Verlust ihrer Herrschaft. Das hat aber nie verhindert, daß immer wieder neue Versuche in dieser Richtung gemacht worden sind. Sogar in solchen Ländern, wo gewisse Rechte, wie z.B. die Freiheit der Presse, das Versammlungs- und Koalitionsrecht usw., sich seit vielen Jahrzehnten im Volke eingebürgert haben, nehmen die Regierungen jede passende Gelegenheit wahr, diese Rechte zu begrenzen oder ihnen durch juristische Spitzfindigkeiten eine andere Auslegung zu geben. England und Amerika geben uns in dieser Hinsicht manche Lehre, die zum Nachdenken anregen sollte. Von der berühmten Weimarer Verfassung der Deutschen, die an jedem Regentage außer Betrieb gesetzt wurde, soll erst gar nicht die Rede sein.
Rechte und Freiheiten bestehen nicht deshalb, weil sie auf einem Fetzen Papier gesetzlich niedergelegt wurden; sie haben nur dann Bestand, wenn sie dem Volke ein unentbehrliches Bedürfnis geworden, ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Man wird ihnen stets nur so lange Achtung entgegenbringen, als im Volke dieses Bedürfnis lebendig ist. Ist dies nicht der Fall, so hilft auch keine parlamentarische Opposition und keine noch so geharnischte Berufung auf die Verfassung. Die neueste Geschichte Europas ist ein treffliches Beispiel dafür.
V. Die Entstehung des nationalen Staates
Der Aufstand der Gemeinden. Das Zeitalter des Föderalismus. Persönliche Freiheit und gesellschaftliche Verbundenheit. Die Gemeinschaft der Christenheit. Der Untergang der mittelalterlichen Kultur. Die Zersetzung des Gemeinwesens. Die großen Entdeckungsfahrten. Verfall der päpstlichen Gewalt. Der Januskopf der Renaissance. Die Empörung des Individuums. Der «Herrenmensch». Volk wird Masse. Der Nationalstaat. Machiavellis Principe. Die nationale Einheit als Werkzeug der weltlichen Macht. Die Hohenpriester des neuen Staates.
Jedes politische Machtgebilde hat das Bestreben, alle Gruppierungen des gesellschaftlichen Lebens seiner Aufsicht zu unterstellen und – wo es ihm geboten scheint – solche gänzlich zu unterdrücken; denn es ist eine seiner wichtigsten Voraussetzungen, daß alle Beziehungen der Menschen unter sich durch die Vermittlungsorgane der staatlichen Macht geregelt werden. Das ist der Grund, weshalb jede große Phase der kulturellen Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens sich immer erst dann durchsetzen konnte, wenn die sozialen Bindungen in ihrem Schöße stark genug waren, das Überhandnehmen machtpolitischer Bestrebungen zu verhindern oder zeitweilig ganz auszuschalten.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches entstanden fast überall in Europa barbarische Staatswesen, welche die Länder mit Mord und Brand erfüllten und alle Grundlagen der Kultur bedrohten. Wenn die europäische Menschheit damals nicht völlig im Sumpfe wildester Barbarei versunken ist, so hatte sie dies jener mächtigen revolutionären Bewegung zu verdanken, die sich mit verblüffender Gleichmäßigkeit über alle Teile des Festlandes ausbreitete und die in der Geschichte als der «Aufstand der Gemeinden» bekannt ist. Überall empörten sich die Menschen gegen die Tyrannei des Adels, der Bischöfe und der staatlichen Autorität und kämpften mit bewaffneter Hand für die örtliche Unabhängigkeit ihrer Gemeinden und für eine Neuregelung ihrer gesellschaftlichen Lebensbedingungen.
Auf diese Art ertrotzten sich die siegreichen Gemeinden ihre Freibriefe und schufen sich ihre Stadtverfassungen, in denen der neue Rechtszustand seinen Niederschlag fand. Aber auch dort, wo die Gemeinden nicht stark genug waren, ihre volle Unabhängigkeit zu erlangen, zwangen sie die herrschenden Mächte zu weitgehenden Zugeständnissen. So entwickelte sich vom 9. bis zum 15. Jahrhundert jene große Epoche der freien Städte und des Föderalismus, durch welche die europäische Kultur vor völligem Untergang bewahrt wurde und der politische Einfluß des aufkommenden Königtums auf lange Zeit hinaus fast nur auf das flache Land beschränkt blieb. Die mittelalterliche Gemeinde war eines jener konstruktiven sozialen Gebilde, wo das Leben in seinen zahllosen Formen von allen Punkten der gesellschaftlichen Peripherie einem gemeinsamen Mittelpunkt zuströmt, und im unendlichen Wechsel die mannigfachsten Verbindungen eingeht, die dem Menschen stets neue Ausblicke des sozialen Seins erschließen. In solchen Zeiten fühlt sich, das Einzelwesen als selbständiges Glied der Gemeinschaft, die sein Werk befruchtet, seinen Geist im Schwünge hält und sein seelisches Empfinden nie erstarren läßt. Es ist dieser Gemeingeist, der an tausend lokalen Punkten wirkt und zeugt und der gerade durch die unübersehbare Fülle seiner Kundgebungen auf allen Gebieten menschlicher Betätigung sich zu einer einheitlichen Kultur verdichtet, die in der Gemeinschaft wurzelt und in jeder Erscheinung des Lebens einen Ausdruck findet.
In einer sozialen Umwelt wie dieser fühlt sich der Mensch frei in seinen Entschließungen, obgleich er durch zahllose Beziehungen mit der Gemeinschaft verwachsen ist: ja diese Freiheit in der Verbundenheit ist es gerade, die seiner Persönlichkeit Kraft und Charakter gibt und seinem Wollen moralischen Gehalt verleiht. Er trägt das «Gesetz des Bundes» in der eigenen Brust, deshalb erscheint ihm jeder äußere Zwang sinnlos und unverständlich, fühlt er doch selbst die volle Verantwortung, die sich aus den gesellschaftlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen für ihn ergibt und die er seinem persönlichen Handeln ohne weiteres zugrunde legt.
In jener Periode des Föderalismus, wo das gesellschaftliche Leben noch nicht auf abstrakte Theorien festgelegt war und jeder tat, was die Notwendigkeit der Umstände von ihm erheischte, waren alle Länder mit einem dichten Netz von Schwurbrüderschaften, Handwerkergilden, Kirchensprengeln, Markgenossenschaften, Städtebündnissen und zahllosen anderen, aus freier Vereinbarung hervorgegangenen Bündnissen bedeckt, die sich, den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, umbildeten, neugestalteten oder wieder verschwanden, um neuen Bindungen Platz zu machen, ohne dabei den Weisungen einer zentralen Macht zu gehorchen, welche von oben her alles lenkt und leitet. Das mittelalterliche Gemeinwesen war in allen Teilen seiner reichen gesellschaftlichen Lebensbetätigung vorwiegend auf das Gesellschaftliche, nicht auf das Staatliche oder Politische eingestellt. Das ist auch der Grund, weshalb jene Epoche den Menschen von heute, die von der Wiege bis zum Grabe unausgesetzt die «ordnende Hand» des Staates zu spüren bekommen, so schwer verständlich und häufig so ganz unfaßbar ist. In der Tat unterscheidet sich die föderalistische Gliederung der Gesellschaft jener Epoche nicht bloß in ihren rein technischen Organisationsformen von den zentralisierenden Bestrebungen einer späteren Zeit, die mit der Entwicklung des modernen Staates einsetzten, sondern hauptsächlich durch die Denkungsart der Menschen, die in den sozialen Bindungen ihren Ausdruck fand. Die alte Stadt war nicht nur ein selbständiger politischer Organismus, sie bildete auch eine besondere Wirtschaftseinheit, deren Verwaltung den Gilden oblag. Ein solches Gebilde konnte notwendigerweise nur auf dem steten Ausgleich der wirtschaftlichen Belange fußen; in der Tat war dies eines der wichtigsten Merkmale der alten Städtekultur. Das war um so natürlicher, als tiefgehende Klassengegensätze im Schöße der alten Städte lange Zeit überhaupt nicht vorhanden waren und daher alle Bürger gleicherweise an dem Bestand des Gemeinwesens interessiert waren. Die Arbeit als solche bot keinerlei Möglichkeit, größere Reichtümer aufzuhäufen, solange der größte Teil der Erzeugnisse den Bewohnern der Stadt und ihrer nächsten Umgebung zum Gebrauche dienten. Die alte Stadt kannte ebensowenig soziales Elend wie tiefere innere Gegensätze. Solange dieses Verhältnis währte, waren ihre Einwohner leicht imstande, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, weil keine scharfen gesellschaftlichen Gegensätze vorhanden waren, welche die innere Verbundenheit der Bürger beeinträchtigen konnten. Deshalb war der Föderalismus, der ja auf der Selbständigkeit und Gleichberechtigung aller Teile beruht, die gegebene Form aller gesellschaftlichen Bindungen im mittelalterlichen Gemeinwesen, mit der auch der Staat, soweit er überhaupt bestand, sich abfinden mußte. Auch die Kirche durfte lange Zeit nicht daran denken, an diesen Formen zu rütteln, da ihre Träger wohl erkannt, hatten, daß dieses reiche Leben mit der unbegrenzten Mannigfaltigkeit seiner gesellschaftlichen Erscheinungen tief in der allgemeinen Kultur der Zeit verwurzelt war.
Gerade weil die Menschen jener Epoche so tief in ihren genossenschaftlichen Verbindungen und örtlichen Einrichtungen wurzelten, deshalb fehlte ihnen auch der moderne Begriff der Nation und des nationalen Bewußtseins, das in der Geschichte späterer Jahrhunderte eine so unheilvolle Rolle spielen sollte. Der Mensch der föderalistischen Periode besaß zweifellos ein stark ausgeprägtes Heimatgefühl, da er ja in viel höherem Maße an die Heimat gebunden war als der Mensch von heute. Doch so innig er sich mit dem örtlichen Leben seines Fleckens oder seiner Stadt verwachsen fühlte, so gab es zwischen ihm und den Bürgern anderer Gemeinden niemals jene starren, unüberwindlichen Trennungen, die mit dem Auftreten des nationalen Staates in Europa in Erscheinung traten. Der mittelalterliche Mensch fühlte sich derselben gleichgearteten Kultur verbunden und als Glied einer großen Allgemeinheit, die sich über alle Länder erstreckten und in deren Schoß alle Völker ihren Platz fanden. Es war die Gemeinschaft der Christenheit, die alle zerstreuten Gebilde der christlichen Welt zusammenfaßte und geistig einte.
Auch die Kirche und das Kaisertum wurzelten in dieser universalen Idee, wenn sie dabei auch von anderen Beweggründen geleitet wurden. Für Papst und Kaiser war die Christenheit die ideologische Voraussetzung zur Verwirksie das Symbol einer großen geistigen Gemeinschaft, in dem sich die seelischen Belange der Zeit verkörperten. Auch die Idee der Christenheit war nur eine abstrakte Vorstellung, ebenso wie das Vaterland und die Nation. Doch der Unterschied ist, daß, während die Idee der Christenheit die Menschen vereinte, die Idee der Nation sie gespalten und in feindliche Lager gegliedert hat. Je tiefer die Vorstellung der Christenheit in den Menschen wurzelte, desto leichter überwanden sie alles Trennende zwischen sich und anderen, desto stärker lebte in ihnen das Bewußtsein, daß sie alle derselben großen Gemeinschaft angehörten und einem gemeinsamen Ziele zustrebten. Je mehr aber das nationale Bewußtsein bei ihnen Eingang fand, desto klaffender wurden die Unterschiede zwischen ihnen, desto rücksichtsloser wurde alles Gemeinsame, das bisher zwischen ihnen bestanden hatte, in den Hintergrund gedrängt, um anderen Erwägungen Platz zu machen.
Eine Reihe verschiedener Ursachen hatte dazu beigetragen, den Verfall der mittelalterlichen Städtekultur herbeizuführen. Durch die Einfälle der Mongolen und Türken in die östlichen Länder Europas und durch den siebenhundertjährigen Krieg der kleinen christlichen Staaten im Norden der Pyrenäischen Halbinsel gegen die Araber wurde die Entwicklung fester Staatswesen im Osten und Westen des Kontinents sehr begünstigt. Hauptsächlich aber hatten im gesellschaftlichen Leben der Städte selbst tiefgehende Änderungen stattgefunden, durch welche die föderalistischen Bindungen allmählich untergraben und der Weg für eine Neugestaltung der sozialen Lebensbedingungen vorbereitet wurde. Die alte Stadt war ein Gemeinwesen, das man lange Zeit kaum als Staat bezeichnen konnte, da seine vornehmste Aufgabe sich darin erschöpfte, einen gerechten Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Belange innerhalb seiner Grenzen herbeizuführen. Auch dort, wo ausgedehntere Verbindungen in Erscheinung traten, wie z. B. in den zahllosen Bündnissen verschiedener Städte zum Schutze ihrer gemeinsamen Sicherheit, spielte das Prinzip des Ausgleichs und der freien Vereinbarung die entscheidende Rolle. Und da jede Gemeinde innerhalb der Föderation dieselben Rechte genoß wie alle anderen, so konnte sich eine eigentliche Machtpolitik lange Zeit hindurch nicht durchsetzen.
Doch dieser Zustand änderte sich gründlich durch die allmähliche Erstarkung des Handelskapitals, das sein Aufkommen vornehmlich dem Außenhandel zu verdanken hatte. Die Entstehung der Geldwirtschaft und die Entwicklung bestimmter Monopole verschafften dem Handelskapital einen immer stärkeren Einfluß innerhalb und außerhalb der Stadt, der zu weitgehenden Änderungen führen mußte. Dadurch aber lockerte sich die innere Einheit des Gemeinwesens immer mehr, um einer wachsenden Kastenschichtung Platz zu machen, welche durch die vorschreitende Ungleichheit der gesellschaftlichen Belange bedingt war. Die privilegierten Minderheiten drängten immer deutlicher auf eine Verdichtung der politischen Kräfte in der Gemeinde hin und ersetzten allmählich den Grundsatz des gegenseitigen Ausgleichs und der freien Vereinbarung durch das Prinzip der Macht.
Jede Ausbeutung der öffentlichen Wirtschaft durch kleine Minderheiten führt unwiderruflich zur politischen Unterdrückung, ebenso wie andrerseits jede politische Vorherrschaft zur Entstehung neuer Wirtschaftsmonopole und damit zur wachsenden Ausbeutung der schwächeren Schichten in der Gesellschaft führen muß. Beide Erscheinungen gehen stets Hand in Hand. Wille zur Macht ist stets Wille zur Ausbeutung des Schwächeren. Jede Form der Ausbeutung aber findet ihren sichtbaren Ausdruck in einem politischen Machtgebilde, das ihr als Werkzeug dienen muß. Wo der Wille zur Macht in Erscheinung tritt, dort wandelt sich die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten in ein Herrschaftsverhältnis von Mensch über Mensch; das Gemeinwesen nimmt die Form des Staates an.
In der Tat vollzog sich die innere Umgestaltung der alten Städte in dieser Richtung. Der Merkantilismus in den niedergehenden Stadtrepubliken führte folgerichtig zum Bedürfnis nach größeren Wirtschaftseinheiten, wodurch andrerseits das Bestreben nach festeren politischen Formen stark begünstigt wurde. Das Handelskapital brauchte zum Schutze seiner Unternehmungen eine starke politische Macht, die über die nötigen militärischen Mittel verfügte, um seine Sonderinteressen wahrzunehmen und diese gegen den Wettbewerb anderer zu verteidigen. So wurde aus der Stadt allmählich ein kleiner Staat, der dem kommenden Nationalstaat seinen Weg vorbereitete. Die Geschichte Venedigs, Genuas und mancher anderer freien Städte zeigt uns schon frühzeitig die einzelnen Phasen dieser Entwicklung und ihrer unvermeidlichen Begleiterscheinungen, welche durch die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien und die Entdeckung Amerikas später in ungeahnter Weise gefördert wurden. Damit wurden die sozialen Grundlagen des mittelalterlichen Gemeinwesens, das bereits durch innere und äußere Kämpfe zermürbt war, in ihrem tiefsten Wesenskern erschüttert, und was davon noch entwicklungsfähig und zukunftskräftig geblieben war, wurde später durch den siegreichen Absolutismus gründlich zerstört. Je weiter diese innere Zersetzung um sich griff, desto mehr verloren die alten Bindungen ihre ursprüngliche Bedeutung, bis zuletzt bloß noch ein Wust toter Formen davon übrigblieb, der von den Menschen als lästige Bürde empfunden wurde. So wurde später die Renaissance zur Empörung des Menschen gegen die gesellschaftlichen Bindungen der Vergangenheit, zum Aufstand des Einzelwesens gegen die Vergewaltigung der sozialen Umwelt.
Mit dem Zeitalter der Renaissance beginnt in Europa eine neue Epoche, die eine weitgehende Umwälzung aller überlieferten Anschauungen und Einrichtungen bewirkte. Die Renaissance war der Beginn jener großen Periode der Revolutionen in Europa, die bis heute noch keinen Abschluß fand, da es bisher trotz aller gesellschaftlichen Erschütterungen nicht gelungen ist, einen inneren Ausgleich zwischen den allseitigen Bedürfnissen des Einzelwesens und den sozialen Bindungen des Gemeinwesens zu finden, durch welche sich beide ergänzen und miteinander verwachsen fühlen. Denn dies ist die erste Vorbedingung jeder großen gesellschaftlichen Kultur, deren Entwicklungsmöglichkeiten durch einen solchen Zustand des sozialen Lebens erst freigelegt und zur vollen Entfaltung gebracht werden können. Auch die mittelalterliche Städtekultur wurzelte in dieser Voraussetzung, bevor sie vom Keime der Zersetzung ergriffen wurde.
Eine ganze Reihe von Umständen hatte dazu beigetragen, eine tiefgehende Umwälzung im Denken der Menschen herbeizuführen. Die Dogmen der Kirche, welche durch die zersetzende Kritik der Nominalisten untergraben wurden, hatten viel von ihrem früheren Einfluß eingebüßt. Auch die Mystik des Mittelalters, die eigentlich bereits mit den Merkmalen des Ketzertums behaftet war, da sie die unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Mensch zur Voraussetzung hatte, hatte ihren Reiz verloren und irdischeren Erwägungen das Feld geräumt. Die großen Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen hatten das geistige Blickfeld des europäischen Menschen bedeutend erweitert und seinen Sinn wieder der Erde zugewendet. Zum ersten Mal seit dem Untergang der antiken Welt erwachte der Forschergeist wieder zu neuem Leben, der unter der unbeschränkten Herrschaft der Kirche nur noch bei den Arabern und Juden in Spanien eine Stätte hatte, und sprengte die lästigen Fesseln einer geistlosen Scholastik, die sich in einem toten Wortwissen festgefahren hatte, das keinen selbständigen Gedanken aufkommen ließ. Aber indem der Mensch sich wieder der Natur und ihren Gesetzen zuwendete, konnte es nicht ausbleiben, daß sein Glaube an die göttliche Vorsehung ins Wanken geriet; denn Perioden naturwissenschaftlicher Erkenntnis sind dem religiösen Wunderglauben nie günstig gewesen.
Dazu zeigte sich immer klarer, daß der Traum von der «republica christiana», der die ganze Christenheit unter dem Krummstab des Papstes vereinigen sollte, ausgeträumt war. Im Kampfe gegen den aufkommenden Nationalstaat war die Kirche ins Hintertreffen geraten. Dazu machten sich in ihrem eigenen Lager die Elemente der Zersetzung immer stärker bemerkbar, was in den nordischen Ländern zum offenen Abfall führte. Faßt man zu all dem noch die großen wirtschaftlichen und politischen Änderungen im Schöße der alten Gesellschaft mit ins Auge, so begreift man die Ursachen jenes großen geistigen Umschwungs, dessen Auswirkungen noch heute deutlich fühlbar sind.
Man hat die Renaissance den Ausgangspunkt des modernen Menschen genannt, der in jener Zeit seiner Persönlichkeit zum ersten Male innewurde. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Behauptung ein Teil Wahrheit zugrunde liegt. Der moderne Mensch hat in der Tat das Erbe der Renaissance noch nicht überwunden; sein Fühlen und Denken trägt noch vielfach den Stempel jener Zeit, wenn ihm auch der Zug ins Große abgeht, der für den Menschen der Renaissance so bezeichnend ist. Es ist kein Zufall, wenn Nietzsche und mit ihm die Vertreter eines verstiegenen Individualismus, die leider nicht den Geist Nietzsches besaßen, auf jene Zeit der «entfesselten Leidenschaften» und der «schweifenden blonden Bestie» mit besonderer Vorliebe zurückgreifen, um ihrer Ideen den historischen Hintergrund zu geben.
Jakob Burckhardt bringt in seinem Werke Die Kultur der Renaissance in Italien eine wunderbare Stelle aus der Rede des Pico della Mirandola über die Würde des Menschen, welche auch für den zwiespältigen Charakter der Renaissance bezeichnend ist:
«Mitten in die Welt habe ich dich gestellt», spricht der Schöpfer zu Adam – «damit du um so leichter um dich schauest und sehest alles, was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich allein, damit du dein eigener freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tiere entarten und zum göttlichen Wesen dich wieder gebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleib mit, was sie haben sollen, die höheren Geister sind von Anfang an oder doch bald hernach, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast die Keime eines allartigen Lebens in dir!»
In der Tat trägt die Epoche der Renaissance einen Januskopf, hinter dessen Doppelstirn sich die Begriffe stoßen, die Gegensätze auftun. Von der einen Seite erklärte sie den toten Gesellschaftsgebilden einer entschwundenen Zeit den Krieg und befreite den Menschen von einem Netze sozialer Bindungen, die ihre Bedeutung für ihn verloren hatten und bloß noch als Hemmungen empfunden wurden. Von der anderen Seite legte sie die Grundlagen der heutigen Machtpolitik und der sogenannten nationalen Belange und entwickelte die Bindungen des modernen Staates, die sich um so verderblicher auswirkten, als sie nicht freiwilligen Vereinbarungen zum Schutze der gemeinsamen Belange entsprungen waren, sondern den Menschen von oben herab aufgezwungen wurden, um die Vorrechte kleiner Minderheiten in der Gesellschaft zu schirmen und weiter auszubauen.
Die Renaissance machte der Scholastik des Mittelalters ein Ende und befreite das menschliche Denken aus den Fesseln theologischer Begriffe; aber sie pflanzte gleichzeitig die Keime einer neuen politischen Scholastik und gab den Anstoß zu unserer modernen Staatstheologie, deren Dogmatismus dem der Kirche in nichts nachsteht und ebenso verheerend und versklavend auf den Geist der Menschen wirkt. Zusammen mit den sozialen Einrichtungen des alten Gemeinwesens setzte sie auch dessen ethische Werte außer Kurs, ohne für diese einen wirklichen Ersatz schaffen zu können. So wurde die Renaissance zum Aufstand des Menschen gegen die Gesellschaft schlechthin, indem sie den Geist der Gemeinschaft einem abstrakten Freiheitsbegriff opferte, der noch dazu auf einem Mißverständnis beruhte. Die Freiheit, die ihre Träger erstrebten, war nur eine verhängnisvolle Täuschung, da ihr die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlten, unter denen sie allein gedeihen konnte.
Wahre Freiheit besteht nur dort, wo sie vom Geiste persönlicher Verantwortung getragen ist. Verantwortlichkeit den Menschen gegenüber ist ein ethisches Empfinden, das dem Zusammenleben der Menschen entspringt und Gerechtigkeit für alle und jeden zur Voraussetzung hat. Nur wo diese Voraussetzung gegeben ist, ist die Gesellschaft wirkliche Gemeinschaft und entwickelt in jedem ihrer Glieder jenen kostbaren Trieb der Solidarität, der jeder gesunden menschlichen Gruppierung als ethische Basis zugrunde liegt. Nur im Verein mit solidarischem Empfinden und dem inneren Drange nach sozialer Gerechtigkeit wird die Freiheit zum Band, das sich um alle schlingt; nur unter dieser Voraussetzung wirkt sich die Freiheit des Mitmenschen nicht als Grenze, sondern als Bestätigung für die eigene Freiheit aus.
Wo diese Voraussetzung fehlt, dort verwandelt sich die persönliche Freiheit in schrankenlose Willkür und Bedrückung des Schwachen durch den Starken, dessen angebliche Stärke in den meisten Fällen weniger auf seiner geistigen Überlegenheit als auf seiner brutalen Rücksichtslosigkeit sind offenkundigen Verachtung jedes sozialen Mitgefühls beruht. In der Tat führte die Entwicklung der Renaissance zu einem solchen Zustand. Indem ihre berufenen Träger alle ethischen Bindungen der Vergangenheit abschüttelten und jede Rücksicht auf das Wohl der Gemeinschaft als persönliche Schwachheit verachteten, entwickelten sie jenen auf die Spitze getriebenen Ich-Kultus, der sich durch kein Gebot gesellschaftlicher Moral mehr beengt fühlte und den persönlichen Erfolg höher einschätzte als jedes wahrhaft menschliche Empfinden. So konnte aus der angeblichen Freiheit des Menschen nichts anderes hervorgehen als die Freiheit des Herrenmenschen, dem zur Ausführung seiner machtlüsternern Pläne jedes Mittel recht war, das Erfolg versprach, mochte sein Weg auch über Leichen gehen und jedem Gerechtigkeitsempfinden hohnsprechen.
Machiavelli hat die Auffassung von der geschichtlichen Bedeutung des großen Mannes, die heute wieder so bedenkliche Formen angenommen hat, mit eiserner Folgerichtigkeit entwickelt. Sein Buch vom Fürsten ist der geistige Niederschlag einer Zeit, an deren politischen Horizont die unheimlichen Worte der Assassinen funkelten: «Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!» Das abscheulichste Verbrechen, die verächtlichste Handlung wird zur großen Tat, zur politischen Notwendigkeit, sobald der Herrenmensch in Erscheinung tritt. Ethische Erwägungen haben bloß noch Gültigkeit für den Privatgebrauch von Schwächlingen; denn in der Politik gibt es keine moralischen Gesichtspunkte, sondern lediglich Machtfragen, deren Lösung die Anwendung jedes Mittels rechtfertigt, das Erfolg verspricht. Machiavelli hat das Amoralische der Staatsgewalt in ein System gebracht und mit solch zynischer Offenherzigkeit zu rechtfertigen versucht, daß vielfach angenommen wurde und zum Teil noch heute angenommen wird, sein Principe sei nur als blutige Satire auf die Despoten seiner Zeit gedacht gewesen. Wobei man vergißt, daß diese Schrift bloß für den Privatgebrauch eines Medici und überhaupt nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurde, weshalb sie auch nach dem Tode ihres Verfassers erst veröffentlicht wurde. Machiavelli hat sich seine Ideen nicht aus den Fingern gesogen. Er hat nur zum System verdichtet, was im Zeitalter Ludwigs XL, Ferdinands des Katholischen, Alexanders VI. und der Cesare Borgia, Francesco Sforza usw. praktisch betätigt wurde. Denn jene Herrscher wußten mit Gift und Dolch ebensogut zu hantieren wie mit Rosenkranz und Zepter und ließen sich in der Verfolgung ihrer machtpolitischen Pläne nicht im geringsten durch moralische Bedenken beeinflussen. Jedem einzigen von ihnen ist der Principe wie auf den Leib zugeschnitten.
«Ein Fürst» – sagt Machiavelli – «braucht also nicht alle obengenannten Tugenden zu besitzen, muß aber in dem Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beobachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig, ehrlich zu scheinen, ist nützlich. Man muß nur sein Gemüt so gebildet haben, daß man, wenn es nötig ist, auch das Gegenteil vermag. Und dies ist so zu verstehen, daß ein Fürst, insbesondere ein neuer Fürst, nicht all das beobachten kann, was bei anderen Menschen für gut gilt; denn oft muß er, um seine Stellung zu behaupten, gegen Treu und Glauben, gegen Barmherzigkeit, Menschlichkeit und Religion verstoßen. Daher muß er ein Gemüt besitzen, das sich nach den Winden und, dem wechselnden Glück zu drehen vermag, und, wie gesagt, zwar nicht vom Guten lassen, wo dies möglich ist, aber auch das Böse tun, wenn es sein muß. Ein Fürst muß sich daher wohl hüten, je ein Wort auszusprechen, das nicht voll der obengenannten fünf Tugenden ist. Alles, was man von ihm sieht und hört, muß Mitleid, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit atmen. Und nichts ist nötiger als der Schein dieser letzten Tugend; denn die Menschen urteilen insgesamt mehr nach den Augen als nach dem Gefühl, denn sehen können alle, fühlen aber wenige. Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist, und diese wagen es nicht, der Meinung der Menge zu widersprechen, welche die Majestät des Staates zum Schilde hat. Bei den Handlungen aller Menschen, insbesondere der Fürsten, welche keinen Richter über sich haben, blickt man immer nur auf das Ergebnis. Der Fürst sehe also darauf, wie er sich in seiner Würde behauptet; die Mittel werden stets für ehrbar befunden und von jedermann gelobt werden. Denn der Pöbel hält es stets mit dem Schein und dem Ausgang einer Sache; und die Welt ist voller Pöbel.»[30]
Was Machiavelli hier in unverblümten Worten aussprach – unverblümt, da sie nur für das Ohr eines bestimmten Herrschers berechnet waren –, war nur das ungeschminkte Glaubensbekenntnis aller und jeder Machtpolitik und ihrer Träger. Es ist daher müßiges Gerede, von «Machiavellismus» zu sprechen, wenn das, was der florentinische Staatsmann so kristallklar und eindeutig zum Ausdruck brachte, stets geübt wurde und stets geübt werden wird, solange privilegierte Minderheiten in der Gesellschaft eine Machtstellung einnehmen, die ihnen erlaubt, die große Mehrheit unter das Joch ihrer Herrschaft zu beugen und sie, um die Früchte ihrer Arbeit zu berauben. Oder glaubt man etwa, daß unsere heutige Geheimdiplomatie nach anderen Grundsätzen arbeitet? Solange der Wille zur Macht im Zusammenleben der Menschen eine Rolle spielen wird, so lange werden auch die Mittel Geltungsrecht besitzen, die zur Erringung und Aufrechterhaltung der Macht unumgänglich sind. Zwar müssen sich die äußeren Formen der Machtpolitik der Zeit und den jeweiligen Umständen anpassen, wie dies immer der Fall gewesen ist, aber die Ziele, die sie verfolgt, bleiben immer dieselben und heiligen jedes Mittel, das ihren Zwecken dienstbar ist. Denn die Macht an sich ist amoralisch und verstößt gegen alle Grundsätze menschlicher Gerechtigkeit, die jedes Vorrecht einzelner oder bestimmter Kasten als eine Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts und folglich als unmoralisch empfindet. Es wäre daher sinnlos anzunehmen, daß die Methoden der Macht besser seien als das Ziel, dem sie dienen.
Leonardo da Vinci brachte am Sockel seines Reiterstandbildes des Francesco Sforza die Worte an: Ecce Deus! Welch ein Gott! In diesen Worten offenbarte sich der ganze Umschwung, der nach dem Verschwinden der mittelalterlichen Gesellschaftsformen überall eingesetzt hatte. Der Glanz der Gottheit war verblichen; dafür stattete man den Herrenmenschen mit göttlichen Ehren aus und kehrte zum Cäsarenkultus der Römer zurück. Der Held, wurde zum Vollstrecker des menschlichen Schicksals, zum Schöpfer aller Dinge auf Erden. Niemand hat diesen Heldenkultus weitergetrieben als Machiavelli, niemand streute dem starken Individuum mehr Weihrauch als er. Alle Verehrer des Heldentums und der Heldenverehrung haben nur aus seinen Töpfen genascht.
Was Machiavelli in ein System brachte, war nackte, von keiner falschen Scham belastete Staatsräson. Er war sich völlig darüber klar, daß brutale Machtpolitik nicht von ethischen Grundsätzen geleitet wird; deshalb forderte er mit der ganzen schamlosen Offenheit, die ihm eigen war und eigentlich den Grundsätzen des sogenannten Machiavellismus nicht ganz entspricht, daß Menschen, die auf den überflüssigen Luxus eines Privatgewissens nicht verzichten können, sich besser der Politik enthalten sollten. Daß Machiavelli das ganze innere Getriebe der Machtpolitik so restlos klar dargestellt hat, daß er es sogar verschmähte, die unbequemsten Einzelheiten durch leere Floskeln und heuchlerische Redensarten zu beschönigen, ist sein größtes Verdienst.
Der Glaube an das überragende Genie des Herrenmenschen macht sich stets in Zeiten innerer Auflösung am stärksten bemerkbar, wenn das gesellschaftliche Band, das die Menschen früher umschlungen hielt, sich lockert und die Belange der Gemeinschaft den Sonderinteressen privilegierter Minderheiten den Platz räumen. Die Verschiedenheiten der sozialen Bestrebungen und Zwecksetzungen, die zu immer schrofferen Gegensätzen innerhalb des Gemeinwesens und zu dessen Zerfall in feindliche Klassen und Kasten führten, untergraben fortgesetzt die Grundlagen des Gemeinschaftsgefühls. Wo aber der Gemeinschaftsinstinkt durch die Neugestaltung der äußeren Lebensbedingungen ohne Unterlaß gestört und geschwächt wird, dort verliert das Einzelwesen allmählich das innere Gleichgewicht, und Volk verwandelt sich in Masse. Masse ist nichts anderes als entwurzeltes Volk, das vom Strom der Ereignisse bald hierher, bald dorthin getrieben wird, und das erst wieder zu einer neuen Gemeinschaft gesammelt werden muß, damit ihm neue Kräfte erstehen und seine soziale Betätigung wieder auf ein gemeinsames Ziel gerichtet werden kann.
Dort, wo Volk Masse wird, blüht der Weizen des großen Mannes, des anerkannten Herrenmenschen. Nur in Perioden gesellschaftlicher Zersetzung ist der Held imstande, den anderen seinen Willen aufzudrängen und die Masse in das Joch seiner Eigenbestrebungen zu spannen. Wahre Gemeinschaft läßt kein Herrschaftsverhältnis aufkommen, und zwar deshalb nicht, weil sie die Menschen durch das innere Band gemeinsamer Belange und gegenseitiger Achtung zusammenhält, das keines äußeren Zwanges bedarf. Herrschaft und äußerer Zwang treten immer dort auf, wo die inneren Bande des Gemeinwesens in Verfall geraten und das Gemeinschaftsgefühl abstirbt. Wenn der gesellschaftliche Verband zu verfallen droht, dann setzt die Herrschaft des Zwanges ein, um mit Gewalt zusammenzuhalten, was einst durch freie Übereinkunft und persönliche Verantwortung in Gemeinschaft verbunden war.
Die Renaissance war die Zeit einer solchen Auflösung. Volk wandelte sich in Masse; aus Masse aber wurde die Nation geformt, die dem neuen Staat als Füllsel dienen mußte. Dieser Ursprung ist sehr lehrreich, zeigt er doch, daß der Machtapparat des nationalen Staates und die abstrakte Idee der Nation auf einem Holze gewachsen sind. Es ist kein Zufall, daß Machiavelli, der Theoretiker der modernen Machtpolitik, auch der glühendste Verteidiger der nationalen Einheit gewesen ist, die für den neuen Staat fortan dieselbe Rolle spielen sollte wie die Einheit der Christenheit für die Kirche.
Nicht die Völker waren es, welche diesen neuen Zustand herbeiführten; denn es trieb sie weder ein inneres Bedürfnis zu dieser Scheidung, noch konnte ihnen daraus irgendein Vorteil erwachsen. Der nationale Staat ist das ureigenste Ergebnis des weltlichen Herrscherwillens, der in der Verfolgung seiner Bestrebungen die tatkräftige Unterstützung des Handelskapitals gefunden hatte, das seine Hilfe benötigte. Die Fürsten drängten ihre Absichten den Völkern auf und suchten sie ihnen durch allerhand Ränke mundgerecht zu machen, so daß es später den Anschein hatte, als sei die Trennung der Christenheit in verschiedene Nationen von den Völkern selbst ausgegangen, während diese nur die unbewußten Werkzeuge fürstlicher Sonderinteressen gewesen sind.
Die innere Zersetzung der päpstlichen Macht und besonders die große Kirchenspaltung in den nordischen Ländern gaben den weltlichen Herrschern die Gelegenheit, langgehegte Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen und ihrer Macht eine neue Grundlage zu geben, die sie nicht länger von Rom abhängig machte. Dadurch aber wurde jene große universale Einheit zerschlagen, welche die europäische Menschheit bisher seelisch und geistig zusammengefaßt hatte, und in welcher die große Kultur der föderalistischen Periode ihre stärkste Wurzel fand. Nur dem Umstand, daß man besonders in den nordischen Ländern den Protestantismus als großen geistigen Fortschritt dem Katholizismus gegenüber einschätzte, ist es zu danken, daß man die verhängnisvollen Ergebnisse der Reformation fast gänzlich übersehen hat.[31] Und da die politische und soziale Neugestaltung Europas auch in den katholischen Ländern dieselben Wege eingeschlagen hatte und der Nationalstaat gerade dort in der Form der absoluten Monarchie seine erste Vollendung erreichte, so hat man die ungeheure Tragweite jenes Geschehens, das die Scheidung der europäischen Völker in Nationen bewirkte, um so leichter übersehen.
Es lag im Rahmen der machtpolitischen Bestrebungen des nationalen Staates, daß seine fürstlichen Begründer grundsätzliche Scheidungen zwischen ihren eigenen und Völkern hervorriefen und bestrebt waren, diese zu vertiefen und zu festigen; beruhte doch ihre ganze Existenz auf diesen künstlich geschaffenen Gegensätzen. Deshalb stützten sie sich vornehmlich auf die Entwicklung der besonderen Landessprache und knüpften mit Vorliebe an bestimmte Überlieferungen an, die sie mit einem mystischen Schleier umwoben und im Volke lebendig hielten; denn das Nichtvergessenkönnen ist eine der ersten seelischen Voraussetzungen des nationalen Bewußtseins. Und da im Volke Heilige Wurzel schlug, so machte man sich daran, den nationalen Einrichtungen den Schein der Heiligkeit zu geben und besonders die Person des Herrschers mit dem Glorienschein des Göttlichen zu umstrahlen.
Auch in dieser Hinsicht wirkte Machiavelli bahnbrechend, denn er verstand, daß eine neue Zeit angebrochen war, und wußte ihre Zeichen zu deuten. Er war der erste entschiedene Befürworter des nationalen Staates gegen die machtpolitischen Bestrebungen der Kirche. Weil die Kirche der nationalen Einheit Italiens und damit der «Befreiung des Landes von den Barbaren» als stärkstes Bollwerk im Wege stand, deshalb bekämpfte er sie auf das schärfste und forderte die Trennung von Kirche und Staat. In derselben Zeit aber versuchte er, den Staat auf das Piedestal der Gottheit zu heben, er, der kein Christ war und innerlich mit allem Wunderglauben gebrochen hatte. Doch er fühlte zu gut die inneren Zusammenhänge zwischen Religion und Politik und wußte, daß eine irdische Macht nur gedeihen kann, wenn sie dem Urquell aller Autorität am nächsten steht, um selbst im Heiligenschein der Göttlichkeit strahlen zu können. Aus Gründen der Staatsräson wollte Machiavelli dem Volke die Religion erhalten wissen, nicht als eine außerstaatliche Macht, aber als instrumentum regni, als Werkzeug der staatlichen Regierungskunst. Deshalb schrieb er mit kühler Sachlichkeit im 11. Kapitel des zweiten Buches seiner Discorsi:
«In Wahrheit hat niemals jemand bei einem Volke neue Gesetze eingeführt, ohne sich dabei auf Gott zu berufen. Die Lehrer wären auch sonst nicht angenommen worden, weil ein weiser Mann manches für gut erkennen kann, von dessen Güte er die Mitmenschen nicht zu überzeugen vermag. Darum nehmen kluge Menschen ihre Zuflucht zu der Autorität Gottes.»
Die Hohepriester der monarchistischen Politik arbeiteten in dieser Richtung weiter. Sie schufen ein neues politisches Religionsbekenntnis, das sich allmählich zum Nationalbewußtsein verdichtete und, vom inneren Vorstellungsdrange des Menschen belebt, später dieselben seltsamen Blüten trieb wie früher der Glaube an die ewige Vorsehung Gottes.
VI. Die Roformation und der neue Staat
Die Reformation und die sozialen Volksbewegungen des Mittelalters. Kirchenspaltung und Fürsteninteressen. Luthers Stellung zum Staat. Der Protestantismus als Helfer des fürstlichen Absolutismus. Religion und Staatsräson. Wortgläubigkeit und innere Versklavung. Der Bauernaufstand. Wycliffe und die Reformation in England. Die Bewegung der Hussiten, Calixtiner und Taboriten. Der Krieg als Quelle des Despotismus. Chelcicky, ein Gegner von Kirche und Staat. Der Protestantismus in Schweden. Die Enteignung der Kirche. Der Calvinismus. Die Prädestinationslehre. Das Schreckensregiment in Genf. Protestantismus und Wissenschaft.
In der Reformationsbewegung der nordischen Länder, die sich schon durch ihren religiösen Gehalt von der Renaissance der lateinischen Völker mit ihrem unverkennbar heidnischen Einschlag abhebt, muß man zwei Richtungen sorgfältig voneinander scheiden: Die Volksrevolution der Bauern und der unteren Schichten in den Städten und den sogenannten Protestantismus, der sowohl in Böhmen und England als in Deutschland und den skandinavischen Ländern lediglich auf die Trennung von Staat und Kirche hinarbeitete und vor allem bestrebt war, die ganze Macht in die Hände der Staatsgewalt zu legen. Das Andenken der Volksrevolution, die von dem aufkommenden Protestantismus und seinen fürstlichen und geistlichen Trägern im Blute erstickt wurde, wurde später von den Siegern, wie üblich, in jeder Weise verlästert und herabgesetzt; und da in der landläufigen Geschichtsschreibung der Erfolg oder Mißerfolg einer Sache von jeher die ausschlaggebend Rolle spielte, so konnte es nicht ausbleiben, daß man später in der Reformation überhaupt nichts anderes mehr sah als die Bewegung des Protestantismus.
Die revolutionären Bestrebungen der Massen richteten sich nicht nur gegen den römischen Papismus, sondern in viel höherem Maße gegen die gesellschaftliche Ungleichheit und die Vorrechte der Reichen und Mächtigen. Die Träger der Volksbewegung empfanden diese Unterschiede als eine Verhöhnung der reinen Christenlehre, die auf der Gleichheit aller Menschen fußte. Sogar als die Kirche den Höhepunkt ihrer Macht erreicht hatte, waren die Überlieferungen der vorkirchlichen Gemeinden mit ihrer gemeinsamen Lebensführung und dem Geiste der Brüderlichkeit, der sie beseelte, nie ganz erloschen im Volke. Sie lebten weiter bei den Gnostikern und Manichäern der ersten Jahrhunderte und in den ketzerischen Sekten des Mittelalters, deren Zahl erstaunlich war. Auch der Ursprung des Klosterwesens läßt sich auf diese Bestrebungen zurückführen. Aus ihrem Geiste wurde der Chiliasmus geboren, der Glaube an ein kommendes Tausendjähriges Reich des Friedens, der Freiheit und des gemeinschaftlichen Besitzes, der auch in den Lehren des Joachim von Floris und des Amalrich von Bena ein Echo fand.
Diese Überlieferungen waren lebendig bei den Bogomilen in Bulgarien, Bosnien und Serbien und bei den Katharern der lateinischen Länder. Sie entfachten den Glaubensmut der Waldenser und der ketzerischen Sekten von Languedoc und erfüllten die Humiliaten und Apostelbrüder in Norditalien mit ihrem inneren Lichte. Wir finden sie bei den Beghinen und Begharden Flanderns, bei den Täufern Hollands und der Schweiz, bei den Lollarden in England. Sie lebten in den revolutionären Volksbewegungen Böhmens und in den Verschwörungen der deutschen Bauern, die sich im Bundschuh und im Armen Konrad zusammentaten, um das Joch der Hörigkeit zu brechen. Und es war der Geist derselben Überlieferungen, der über die Schwärmer von Zwickau kam und welcher dem revolutionären Tun Thomas Münzers einen so mächtigen Anstoß gab.
Gegen manche dieser Bewegungen organisierte die Kirche mit der Hilfe der weltlichen Gewalthaber ganze Kreuzzüge, so gegen die Bogomilen und Albigenser, durch welche ganze Länder jahrzehntelang mit Mord und Brand erfüllt und viele Tausende hingeschlachtet wurden. Doch diese blutigen Verfolgungen trugen nur dazu bei, daß jene Bewegungen auch in anderen Gegenden Fuß faßten. Tausende von Flüchtlingen durchzogen die Länder und trugen ihre Lehren in neue Kreise. Daß zwischen den meisten der ketzerischen Sekten des Mittelalters internationale Beziehungen bestanden, ist durch die geschichtliche Forschung einwandfrei erwiesen worden. Solche Beziehungen lassen sich nachweisen zwischen den Bogomilen und gewissen Sekten in Rußland und Norditalien, zwischen den Waldensern und den Sektierern in Deutschland und Böhmen, zwischen den Täufern in Holland, England, Deutschland und der Schweiz.
Die ganzen Bauernaufstände in Norditalien, Flandern, Frankreich, England, Deutschland und Böhmen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert wurden von jenen Bestrebungen getragen und geben uns heute ein ziemlich klares Bild über das Fühlen und Denken breiter Volksschichten aus jener Zeit. Von einer einheitlichen Bewegung konnte allerdings keine Rede sein, wohl aber von einer ganzen Reihe von Bewegungen, welche der eigentlichen Reformation vorausgingen und sie einleiteten. Der bekannte Spottvers der englischen Lollarden: «Als Adam pflügte und Eva spann, wo war wohl da der Edelmann?» hätte den meisten dieser Bewegungen als Leitwort dienen können.
Die eigentliche Volksbewegung der Reformationszeit suchte keinen Anschluß an die Fürsten und Edlinge, da ihre Träger jene mit sicherem Instinkte als die unversöhnlichsten Feinde des Volkes erkannten und deshalb nicht mit ihnen, sondern gegen sie marschieren wollten. Da aber die meisten der großen Reformatoren, wie Wycliffe, Hus, Luther und andere, zunächst in der Bewegung des Volkes wurzelten, so war der aufkommende Protestantismus ursprünglich sehr eng mit dieser verwachsen. Das änderte sich aber rasch, als die sozialen Gegensätze zwischen den beiden Richtungen immer schärfer hervortraten und es sich zeigte, daß den breiten Schichten des Volkes mit einem einfachen «Los von Rom!» nicht gedient war.
Die Trennung von der römischen Kirche konnte den Fürsten der nordischen Länder nur erwünscht sein, solange diese Trennung keine weiteren Folgen hatte und ihre politischen und wirtschaftlichen Vorrechte unberührt blieben. Der Bruch mit Rom mußte nicht bloß ihrer eigenen Autorität zugute kommen, er verhinderte auch die regelmäßige Ausfuhr von großen Geldbeträgen aus dem Lande, für die sie zu Hause bessere Verwendung hatten, und gab ihnen dazu noch die Möglichkeit, Hand an die Kirchengüter zu legen und deren reiche Erträgnisse ihren eigenen Kassen zuzuführen. Es war diese Berechnung, welche die Fürsten und Edlinge der nordischen Länder für die Reformation Partei ergreifen ließ. Das kleinliche Gezänk der Theologen interessierte sie kaum, aber die Trennung von Rom stellte ihnen handgreifliche Vorteile in Aussicht, die nicht zu verachten waren. Mithin lohnte es sich schon, der Stimme des Gewissens zu folgen und die neuen Propheten zu begünstigen. Übrigens stellten die theologischen Wortführer der Reformation keine allzu großen Ansprüche an den protestantischen Glaubenseifer der Edlen im Lande, dafür aber bemühten sie sich um so mehr, den Machthabern die irdischen Vorteile der Sache vor die Augen zu führen. So sprach schon Hus zu ihnen in der Sprache, die sie am besten verstanden:
«O ihr getreuen Könige, Fürsten, Herren und Ritter! Wacht auf aus dem fallsüchtigen Traume, in den die Priester euch eingeschläfert haben, und rottet aus euren Herrschgebieten die simonistische Ketzerei aus… laßt nicht zu, daß aus euren Ländern zu eurem eigenen Schaden [Geld] hinausgetragen werde.»[32]
Die geistigen Führer des Protestantismus wandten sich von Anfang an an die Herrenkaste ihrer Länder, deren Beistand ihnen unumgänglich erschien, um ihrer Sache den Sieg zu sichern. Aber da sie zunächst auch Wert darauf legten, es nicht mit dem geknechteten Volke zu verderben, so mühten sie sich, wenn auch vergeblich, die Volksbewegung mit den eigennützigen Zielen der Fürsten und Edlinge zu versöhnen. Diesem Versuch aber konnte schon deshalb kein Erfolg beschieden sein, da die gesellschaftlichen Gegensätze viel zu weit gediehen waren, als daß man sie mit ein paar faulen Zugeständnissen hätte überbrücken können. Je willfähriger die Reformatoren sich den Herren gegenüber gaben, desto weiter mußten sie sich von der revolutionären Bewegung des Volkes entfernen und diese gegen sich aufbringen. Das war besonders bei Luther der Fall, der von allen am wenigsten soziales Gefühl besaß und in seinem geistigen Blickfeld so beengt war, daß er sich tatsächlich einredete, die große Bewegung durch die Gründung einer neuen Kirche zum Abschluß bringen zu können.
Wie Hus, so berief sich auch Luther auf Paulus, um den Beweis zu erbringen, daß die Fürsten der Vormundschaft der Kirche nicht unterstehen, sondern berufen sind, über Priester und Bischöfe zu gebieten. In seinem Aufruf An den christlichen Adel deutscher Nation versuchte er nachzuweisen, daß es nach den Lehren der Schrift überhaupt keinen Priesterstand, sondern nur ein Priesteramt geben könne, zu dem jeder berufen war, der die nötigen Fähigkeiten dazu und das Vertrauen seiner Gemeinde besaß. Daraus folgte aber, daß die Kirche kein Recht hatte, eine weltliche Macht auszuüben und als Vormund des Staates aufzutreten. Nach Luthers Auffassung sollte sich alle Macht im Staate verkörpern, den Gott selbst dazu bestimmt hatte, die öffentliche Ordnung zu schützen. In der Tat erschöpft sich in dieser Auffassung die ganze politische Bedeutung des Protestantismus.
Der Protestantismus hatte das Gewissen der Menschen von der Vormundschaft der römischen Kirche befreit, aber nur, um es an den Staat zu verschachern. Darin und nur darin erschöpfte sich die protestantische Sendung Martin Luthers, der sich den «Knecht Gottes» nannte und doch nie etwas anderes gewesen ist als der Knecht des Staates und seiner Trabanten. Nur seine innere Knechtseligkeit gab ihm die Kraft, die Sache des Volkes an die deutschen Fürsten zu verraten und zusammen mit diesen den Grundstein einer neuen Kirche zu legen, die sich in stillschweigender Übereinkunft mit Haut und Haaren an den Staat verschrieben hatte und den Willen der Fürsten und Edlinge als ein Gebot Gottes verkündete. Luther verkuppelte die Religion mit der Politik des Staates, er sperrte den lebendigen Geist in den Kerker des Wortes und wurde der Herold jener Buchstabenweisheit, welche die Offenbarung Christi im Sinne der Staatsräson auslegte und die Menschen als abgestempelte Galeerensklaven zu den Pforten des Paradieses marschieren läßt, um sie durch ein ewiges Leben für die Sklaverei dieser Erde zu entschädigen.
Der mittelalterliche Mensch hatte den Staat im eigentlichen Sinne noch nicht kennengelernt. Die Vorstellung von einer zentralen Macht, die jede gesellschaftliche Lebensbetätigung in bestimmte Formen zwingt und die den Menschen von der Wiege bis zum Grabe am Gängelbande einer hohen Obrigkeit lenkt und leitet, war ihm fremd. In seinem Leben spielte der Brauch und das natürliche Übereinkommen mit seinesgleichen die wichtigste Rolle. Seine Auffassung vom Recht stützte sich auf die Gewohnheit, die ihm durch die Überlieferung vermittelt wurde. Sein religiöses Gemüt erkannte die Unvollkommenheit aller menschlichen Satzungen, weshalb er leichter geneigt war, in allen Dingen selbst Rat zu schaffen und die Beziehungen zwischen sich und seinen Mitmenschen so zu gestalten, wie es seinen augenblicklichen Bedürfnissen und den alten Gepflogenheiten der gegenseitigen Vereinbarung entsprach. Und als der aufkommende Staat an diesen Rechten zu rütteln begann, da erhob der Mensch seine Sache zur Sache Gottes und kämpfte gegen das Unrecht, das ihm angetan wurde. Dies ist der eigentliche Sinn der großen Volksbewegungen im Zeitalter der Reformation, die da bestrebt waren, der «Freiheit eines evangelischen Christenmenschen» – wie Luther es nannte einen gesellschaftlichen Inhalt zu geben.
Erst als die Bewegung des Volkes von den Fürsten und Edlingen in einem Meer von Blut ersäuft wurde, wobei der «teure Gottesmann» Luther die Henker der aufständigen deutschen Bauern segnete, erhob der siegreiche Protestantismus das Haupt und gab dem Staate und der gesetzlichen Ordnung der Dinge die religiöse Weihe, die mit der grauenvollen Hinschlachtung von 130.000 Menschen blutig erkauft werden mußte. So vollzog sich die «Versöhnung der Religion mit dem Recht», wie Hegel es später zu nennen beliebte. Die neue Theologie ging bei den Juristen in die Schule, die Buchstabenweisheit des Gesetzes erschlug das Gewissen oder erfand einen billigen Ersatz dafür. Der Thron wandelte sich zum Altar, auf dem der Mensch dem neuen Götzen geopfert wurde. Das positive Recht wird zur göttlichen Offenbarung, der Staat selbst zum Stellvertreter Gottes auf Erden.
Auch in den übrigen Ländern verfolgte der Protestantismus dieselben Ziele; überall verriet er die Bewegung des Volkes und machte aus der Reformation eine Sache der Fürsten und der privilegierten Gesellschaftsschichten. Die Bewegung, die Wycliffe in England entfachte und die auch auf andere Länder, besonders auf Böhmen, übergriff, hatte zunächst einen rein politischen Charakter. Wycliffe bekämpfte den Papst, weil dieser sich auf die Seite von Frankreich, Englands Todfeind, gestellt hatte und von der englischen Regierung verlangte, daß der König sich auch fernerhin als «Lehnsherr des Heiligen Stuhles» bekenne und an diesen Tribute abführe, wie es John I. Innozenz III. gegenüber getan hatte. Aber jene Zeiten waren vorüber. Nachdem Philipp der Schöne von Frankreich dem Banne Bonifaz’ VIII. getrotzt und dessen Nachfolger gezwungen hatte, seine Residenz in Avignon aufzuschlagen, hatte die unbeschränkte Herrschaft des Papsttums einen Schlag erlitten, von dem sie sich nie mehr erholte. Deshalb konnte das englische Parlament es ruhig wagen, die Forderungen des Papstes mit der Begründung zurückzuweisen, daß kein König je berechtigt gewesen sei, die Unabhängigkeit des Landes an den Papst zu veräußern.
Wycliffe verteidigte zunächst die vollständige Unabhängigkeit der weltlichen Herrschaft von der Kirche und schritt erst zu einer Kritik der kirchlichen Dogmen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Frage ohne einen offenen Bruch mit dem Papismus überhaupt nicht zu lösen sei. Als dann aber der große Bauernaufstand in England ausbrach und die auf ständigen Scharen Wat Tylers und John Balls den König und die Regierung in die höchste Gefahr brachten, benutzten Wycliffes Gegner die Gelegenheit, um gegen ihn eine öffentliche Anklage zu erzwingen. Wycliffe erklärte, daß er das Vergehen der rebellischen Bauern nicht billige, aber er tat es mit einer Milde und einem Verständnis für die Leiden der Armen, die wohltuend absticht von der Berserkerwut, mit der Luther in seiner berüchtigten Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Bauern die deutschen Fürsten und Edlen zur unbarmherzigen Abschlachtung der Bauern aufgestachelt hatte.
Als später Heinrich VIII. den Bruch mit der päpstlichen Kirche vollzog und ihre Güter beschlagnahmte, machte er sich selbst zum Haupt der neuen Staatskirche, die völlig unter der Botmäßigkeit der weltlichen Macht stand. Daß derselbe Heinrich früher selber eine geharnischte Epistel gegen Luther vom Stapel gelassen hatte, um bald darauf die nationalen Belange gegen das Papsttum zu verteidigen, ist nur ein Beweis, daß auch in England die irdischen Vorteile für die Träger der Krone eine stärkere Anziehungskraft besaßen als das «reine Gotteswort» der neuen Lehre.
In Böhmen, wo die allgemeine Lage ohnehin sehr gespannt war, wurde sie noch verschärft durch die nationalen Gegensätze zwischen Tschechen und Deutschen, weshalb die Reformation auch gerade dort einen ungemein heftigen Ausdruck finden mußte. Die eigentliche hussitische Bewegung trat in Böhmen erst nach dem Feuertode des Johann Hus und des Hieronymus von Prag richtig in den Vordergrund.
Was Hus früher gepredigt hatte, waren im großen und ganzen nur die Gedanken Wycliffes, welche der tschechische Reformator seinen Landsleuten in die eigene Sprache übersetzte. Wie Wycliffe, so trat auch Hus für die Befreiung der weltlichen Macht von jeder politischen Bevormundung durch die Kirche in die Schranken. Die Kirche sollte sich ausschließlich mit dem Seelenheil der Menschen befassen und von jedem weltlichen Herrscheramte Abstand nehmen. Von den «beiden Walfischen», wie Peter Chelcicky den Staat und die Kirche genannt hatte, wollte Hus nur dem Staate alle Rechte in irdischen Dingen einräumen. Die Kirche sollte arm sein, auf alles irdische Gut verzichten und die Priester ebenso der weltlichen Gerichtsbarkeit des Staates unterstehen wie jeder andere Untertan. Überdies sollte das Priesteramt auch dem Laien offenstehen, vorausgesetzt, daß er durch seine sittlichen Eigenschaften dazu befähigt war. Außerdem rügte Hus die moralische Verkommenheit, die unter der Geistlichkeit eingerissen war, und wandte sich mit besonderer Schärfe gegen den Ablaßhandel, der um jene Zeit gerade in Böhmen von der Kirche besonders schamlos betrieben wurde. Neben diesen rein politischen Forderungen, die uns hier allein interessieren und die, wie zu verstehen ist, besonders bei dem Adel ein offenes Ohr fanden, stellte Hus noch eine Reihe rein theologischer Forderungen auf, die sich gegen die Ohrenbeichte, die Bettelmönche, die Lehre vom Fegefeuer und anderes mehr richteten. Was ihm aber bei der tschechischen Bevölkerung hauptsächlich Anhang verschaffte, war die Lehre, daß das Zehntgeben keine Pflicht sei, und vor allem seine streng nationalistische Einstellung den Deutschen gegenüber, die den Tschechen als die Verderber des Landes galten.
Die Calixtiner oder Utraquisten[33] der hussitischen Bewegung, denen hauptsächlich der Adel und das begüterte Prager Bürgertum angehörten, hätten sich mit der Verwirklichung jener Forderungen und einigen mageren sozialen Reformen gerne zufrieden gegeben, war es ihnen doch vornehmlich um die fetten Kirchengüter und im übrigen um Ruhe und Ordnung im Lande zu tun. Doch die eigentliche Volksbewegung, deren Anhänger sich vorwiegend aus den Bauern und der ärmeren Stadtbevölkerung zusammensetzten, drängte weiter und forderte insbesondere die Befreiung der Bauern vom Joche der Hörigkeit, das schwer auf dem flache Lande lastete. Hatte doch schon Karl IV. den Edelleuten verbieten müssen, ihren Leibeigenen der kleinsten Vergehen halber die Augen ausstechen oder Hände und Füße abhacken zu lassen. Die Bewegung der sogenannten Taboriten umfaßte vor allem die demokratischen Elemente des Volkes bis zu den Kommunisten oder Chiliasten und war von einem glühenden Kampfesmute beseelt.[34]
Es war unvermeidlich, daß es zwischen diesen beiden Hauptrichtungen des Hussitentums früher oder später zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kommen mußte, die nur durch die allgemeinen politischen Ereignisse verzögert wurde. Als nämlich der deutsche Kaiser Sigismund nach dem plötzlichen Tode seines Bruders Wenzel diesem als Träger der böhmischen Krone folgte, wurde das ganze Land von einer mächtigen Erregung ergriffen; denn durch des Kaisers schnöden Wortbruch hatte Hus den Scheiterhaufen besteigen müssen; seitdem galt Sigismund im Böhmerlande als geschworener Feind, aller reformatorischen Bestrebungen. Bald nach der Thronbesteigung im März 1420 forderte Papst Martin V. in einer besonderen Bulle die ganze Christenheit zu einem Kreuzzug gegen die böhmische Ketzerei auf, und ein Heer von 150.000 Mann aus allen Teilen Europas setzte sich gegen die Hussiten in Bewegung. Nun loderte der Aufstand rings im Lande zur verheerenden Flamme empor. Calixtiner und Taboriten, von derselben Gefahr unmittelbar bedroht, ließen ihre inneren Zwistigkeiten vorläufig auf sich beruhen und vereinigten sich rasch zur gemeinsamen Abwehr. Unter der Führung des greisen Zizka, eines erfahrenen Kriegsmanns, wurde das erste Heer der Kreuzfahrer blutig aufs Haupt geschlagen. Doch der Kampf war damit nicht zu Ende, denn Kaiser und Papst setzten ihre Angriffe auf das böhmische Ketzertum weiter fort; so entwickelte sich einer der blutigsten Kriege, der von beiden Seiten mit furchtbarer Grausamkeit geführt wurde. Nachdem die Hussiten den Feind aus dem eigenen Lande vertrieben hatten, trugen sie den Krieg in die benachbarten Staaten, verwüsteten Städte und Dörfer und wurden durch ihre unwiderstehliche Tapferkeit der Schrecken ihrer Feinde.
Zwölf Jahre lang dauerte dieses grausige Morden, bis die Hussiten das letzte Heer der Kreuzritter in der Schlacht bei Taus in die Flucht schlugen. Das Ergebnis der eingeleiteten Friedensverhandlungen, die auf dem Konzil von Basel ihren Abschluß fanden, war die Prager Compaktate, welche den Hussiten in Glaubenssachen weitgehende Zugeständnisse machte, vor allem aber die Verzichtleistung der Kirche auf ihre Güter, die sich der tschechische Adel angeeignet hatte, aussprach. Damit hatte der Krieg mit dem äußeren Feinde sein Ende erreicht, aber nur, um dem Bürgerkriege im Inneren Platz zu machen. In den kurzen Atempausen, die der Krieg gegen den Papst und Kaiser den Hussiten vorübergehend gestattet hatte, waren die Gegensätze zwischen Calixtinern und Taboriten immer wieder von neuem entbrannt und führten wiederholt zu blutigen Auseinandersetzungen, durch welche die Rechte des Adels durch seine siegreichen Widersacher stark beschnitten wurden. Deshalb hatten die Calixtiner wiederholt Verhandlungen mit Papst und Kaiser angeknüpft; so konnte es nicht ausbleiben, daß sie nach dem Friedensschluß, an dessen Zustandekommen sie am meisten beteiligt waren, in ihrem Kampfe gegen die Taboriten von ihren früheren Feinden nach besten Kräften unterstützt wurden. Im Mai 1434 kam es zwischen beiden Lagern zu einer mörderischen Schlacht bei Lipan, in welcher 13.000 Taboriten getötet wurden und ihr Heer fast gänzlich aufgerieben wurde.
Damit war auch die Bewegung des Volkes endgültig geschlagen, und es begann eine schwere Zeit für die arme Bevölkerung in Dorf und Stadt. Schon damals zeigte es sich, daß eine revolutionäre Volksbewegung, wenn sie durch fremde oder eigene Schuld in einen längeren Krieg verwickelt wird, durch die Verhältnisse selbst dazu kommen muß, ihre ursprünglichen Bestrebungen aufzugeben, weil die militärischen Anforderungen alle gesellschaftlichen Kräfte restlos für sich verbrauchen und damit jede schöpferische Betätigung für die Entwicklung neuer Gesellschaftsformen zunichte machen. Nicht bloß, daß der Krieg im allgemeinen verheerend auf die Natur des Menschen wirkt, indem er fortgesetzt an seine brutalsten und grausamsten Triebe appelliert, die militärische Disziplin, die er erfordert, erstickt auch jede freiheitliche Regung im Volke und züchtet systematisch jenen Ungeist des Kadavergehorsams, der noch immer der Vater jeder Reaktion gewesen ist.
Das sollten auch die Taboriten erfahren. Wenn ihre Gegner, die Professoren der Prager Universität, ihnen zum Vorwurf machten, daß sie einen Zustand erstrebten, «wo kein König oder Herrscher, noch ein Untertan auf Erden sein, alle Abgaben und Steuern aufhören, keiner den anderen zu etwas zwingen und alle als gleiche Brüder und Schwestern leben werden», so sollte sich bald zeigen, daß der Krieg sie immer weiter von diesem Ziele abdrängte. Nicht nur, daß ihre militärischen Führer alle freieren Strömungen innerhalb der Bewegung mit blutiger Gewalt unterdrückten, der nationalistische Geist, der sie beseelte und sich im Laufe jener furchtbaren Kriege bis zur Siedehitze steigerte, mußte sie auch mehr und mehr allen rein menschlichen Erwägungen entfremden, ohne die eine wahrhaft revolutionäre Bewegung nie gedeihen kann. Hat man sich erst an den Gedanken gewöhnt, alle Probleme des gesellschaftlichen Lebens mit bewaffneter Hand lösen zu können, so muß man folgerichtig beim Despotismus angelangen, auch wenn man diesem einen anderen Namen gibt und seinen wahren Charakter hinter irgendeiner irreführenden Aufschrift verbirgt. Soweit ist man auch in Tabor gekommen. Das Joch der Unfreiheit lastete immer schwerer auf seinen Bürgern und zermürbte den Geist, der sie einst beseelt hatte. So schilderte denn auch Peter Chelcicky, ein früherer Vorläufer Tolstois und einer der wenigen innerlich freien Menschen jener Epoche, der sowohl die Kirche als auch den Staat ablehnte, den furchtbaren Zustand, in welchen der endlose Krieg das Land gestürzt hatte, mit den eindringlichen Worten:
«…da besetzt einer irgendwo eine Lotterhöhle mit Dieben und treibt Gewalttat, Raub und Mord und ist dabei allzeit ein Diener Gottes und trägt das Schwert nicht umsonst. Und allerdings wahr ist es, daß er’s nicht umsonst trägt, vielmehr zu allerlei Unrecht, Gewalttat, Räuberei und Bedrückung der fronenden Armut. Und dadurch haben diese vielerlei Herren das Volk auseinandergerissen und gegeneinander aufgebracht, und jeder hetzt seine Leute herdenweise in den Kampf gegen andere. So sind durch diese vielen Herren schon alle Bauersleute in den Mord hereingeführt, indem sie, mit gewappneter Hand einhergehend, stets zum Kampf bereit sind. Dadurch wird alle Bruderliebe mit mörderischer Blutgier durchsetzt, damit durch solche Spannung leicht Kampf entstehen und anderes Gemorde reichlich geschehen.»[35]
Einen ganz absonderlichen Charakter hatte die Reformation in Schweden, wo der Protestantismus dem Volke durch die junge Dynastie, die Gustav Wasa begründet hatte, einfach von oben herab aufgezwungen wurde, und zwar auf Grund rein politischer Erwägungen. Denn es war keineswegs der heilige Eifer der neuen Gotteslehre, welcher Gustav I. bewogen hatte, den Bruch mit Rom zu vollziehen; es waren vielmehr sehr nüchterne machtpolitische Beweggründe, gepaart mit sehr eindeutigen wirtschaftlichen Ausblicken, die ihn zu seinem Vorgehen veranlaßt hatten. Durch einige grobe Fehler der päpstlichen Regie wurde ihm sein Vorhaben wesentlich erleichtert.
Bald nach seinem Regierungsantritt hatte sich der König in einem sehr ergebenen Briefe an den Papst gewendet und ihn gebeten, neue Bischöfe für Schweden zu ernennen, die sich «um die Rechte der Kirche bemühen, ohne die Krone zu beeinträchtigen». Besonders wünschte Gustav, daß der Papst den von der Krone ernannten Primas Johannis Magni als Erzbischof von Upsala bestätige, dessen Vorgänger Gustavus Trolle vom Riksdag als Landesverräter geächtet wurde, weil er den Dänenkönig Christian II. ins Land gerufen, um den Regenten Sten Sture zu stürzen. Gustav hatte dem Papst versprochen, sich als «getreuer Sohn der Kirche zu bewähren», und glaubte annehmen zu dürfen, daß der Vatikan seinen Wünschen entgegenkommen würde. Allein der Papst, von seinen Vertrauten schlecht beraten, glaubte, daß die Regierung Gustavs nicht von langer Dauer sein würde, und forderte mit unnachgiebiger Strenge die Wiedereinsetzung Gustav Trolles. Damit waren die Würfel gefallen. Der König konnte auf diese Forderung nicht eingehen, sogar wenn es seine Absicht gewesen wäre, den offenen Bruch mit Rom zu vermeiden. Zwar war die große Mehrheit des schwedischen Volkes gut katholisch und wollte von Luther durchaus nichts wissen, doch eine neue Herrschaft der Dänen im Lande mochten die freien schwedischen Bauern noch weniger dulden. Die blutige Tyrannei des heimtückischen Despoten Christian II. hatte ihnen genug Grund dazu gegeben. Somit konnte der König es wagen, den Bruch mit dem Papismus zu vollziehen, den er sicherlich heimlich gewünscht hatte. Aber obwohl Schweden sich vom Heiligen Stuhl getrennt hatte, blieb der Gottesdienst derselbe, wenngleich der König von nun an die Prediger des Protestantismus begünstigte.
Worauf es Gustav aber hauptsächlich ankam, war, das Vermögen der Kirche, die in Schweden sehr reich war, unter irgendeinem Vorwand der Krone einzuverleiben. Nach einigen vorsichtigen Versuchen in dieser Richtung, die aber seine eigenen Bischöfe zum Widerstande anregten, ließ er endlich die Maske der Unparteilichkeit fallen und bekannte sich als offener Feind der römischen Kirche, um seine politischen Pläne durchführen zu können. So unterdrückte er 1526 alle katholischen Druckereien im Lande und legte Hand an zwei Drittel der Kircheneinkünfte, um damit die Schulden des Staates zu tilgen. Allerdings hätte er aus eigener Machtvollkommenheit einen solchen Schritt nicht wagen dürfen; er war gezwungen, einen beträchtlichen Teil der Kirchengüter dem Adel zu überlassen, um sich dessen Freundschaft zu erkaufen; denn die Bauern standen der sogenannten Kirchenreform mit ausgesprochener Feindschaft gegenüber und verurteilten besonders den Raub des kirchlichen Eigentums.
Diese gegnerische Einstellung der Landbevölkerung brachte die junge Dynastie wiederholt in eine sehr gefährliche Lage. Die schwedischen Bauern, die während des Mittelalters die Leibeigenschaft nie kennengelernt hatten, besaßen einen starken Einfluß im Lande. Sie waren es, die Gustav Wasa zum König gewählt hatten, um den geheimen Machenschaften der dänischen Partei das Wasser abzugraben. Nun aber, da sich der König bemühte, dem Lande einen neuen Glauben aufzudrängen, und dazu noch die Bauern mit schweren Abgaben belastete, kam es häufig zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Krone und dem Landvolke. Von 1526-1543 hatte Gustav nicht weniger als sechs Aufstände der Bauern zu bekämpfen, die den letzteren zwar keine Erfolge brachten, aber immerhin bewirkten, daß der König seine immer stärker hervortretenden absolutistischen Gelüste etwas eindämmen mußte.
Gustav Wasa wußte sehr gut, daß seine Dynastie mit dem Protestantismus auf Gedeih und Verderb verwachsen war. Durch den Raub der Kirchengüter und die öffentliche Hinrichtung zweier widerspenstiger katholischer Bischöfe in Stockholm hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen und mußte den Weg weiter verfolgen, den er eingeschlagen hatte. Aus diesem Grunde legte er in seinem Testamente seinen Nachfolgern dringend ans Herz, dem neuen Glauben treuzubleiben, weil die Dynastie nur dadurch am Leben erhalten werden könne.
Wie wenig das Volk für das Luthertum übrig hatte, geht schon daraus hervor, daß die Bauern wiederholt drohten, nach Stockholm zu marschieren, um dieses «geistige Sodom», wie sie die Hauptstadt ihrer protestantischen Bestrebungen wegen nannten, dem Erdboden gleichzumachen. – Zwischen dem König und den geistlichen Würdenträgern kam es auch später noch zu heftigen Auftritten über weitere Beschlagnahmungen der Kircheneinkünfte, bis Gustav nach und nach alle Rechte der Kirchenverwaltung aufhob und diese gänzlich dem Staate unterstellte. Doch gerade der Widerstand, den Gustav Wasa mit seinen Plänen im Volke selbst fand, zwang ihn und seine Nachfolger, sich immer fester an den Adel anzulehnen. Doch die Edlinge gewährten der Krone ihren Beistand nicht umsonst, und so preßte das Königtum die Bauern immer tiefer in die Dienstbarkeit des Adels, um diesen bei Laune zu halten.
So war der Protestantismus in Schweden von Anfang an eine rein dynastische Angelegenheit, die dem Volke planmäßig aufgezwungen wurde. Daß Gustav Wasa sich aus innerer Überzeugung zum Protestantismus bekehrt hätte, ist ein ebensolches Märchen wie die Behauptung, daß sein späterer Nachfahre Gustav Adolf nur schweren Herzens und gegen seinen Willen in Deutschland eingefallen sei, um seinen bedrängten Glaubensgenossen Beistand zu leisten. Für einen solchen Zweck hätte weder der «Schneekönig», wie seine Feinde ihn nannten, noch sein kluger Kanzler Oxenstierna einen roten Heller eingestellt. Was sie erstrebten, war die unbeschränkte Herrschaft über die Ostsee, und für diesen Zweck konnte ihnen irgendeine fromme Lüge nur willkommen sein.
Überall, wo der Protestantismus zu irgendwelchem Einfluß gelangte, bewährte er sich als getreuer Diener des aufkommenden Absolutismus und billigte dem Staate alle Rechte zu, die er der römischen Kirche abgesprochen hatte. Der Calvinismus, der in Frankreich, Holland und England den Absolutismus bekämpfte, macht von dieser Regel keine Ausnahme, denn er war in seinem innersten Wesen noch unfreier als alle anderen Richtungen des Protestantismus. Wenn er sich in jenen Ländern gegen den Absolutismus auflehnte, so geschah dies aus Gründen, die in den besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen dortselbst ihre Erklärung fanden. An seiner Quelle aber war er despotisch bis zur Unerträglichkeit, da er tiefer in das Einzelschicksal des Menschen eingriff, als die römische Kirche es je versucht hatte. Keine andere Lehre hatte auf das persönliche Leben des Einzelwesens einen so tiefgehenden und nachhaltigen Einfluß; war doch die «innere Wandlung» einer der wichtigsten Glaubenssätze Calvins. Und er wandelte so lange, bis von der Menschlichkeit nichts mehr übrigblieb.
Calvin war eine der furchtbarsten Persönlichkeiten in der Geschichte, ein protestantischer Torquemada und engherziger Zelot, der die Menschen mit Folter und Rad für das Reich Gottes reif machen wollte. Tückisch und verschlagen, jedes tieferen Gefühles bar, saß er wie ein echter Ketzerrichter über die angeblichen Gebrechen seiner Mitmenschen zu Gericht und führte in Genf eine wahre Schreckensherrschaft. Kein Papst besaß eine größere Machtvollkommenheit. Die Kirchenordnung regelte das Leben der Bürger von der Geburt bis zum Tode und machte ihnen auf Schritt und Tritt fühlbar, daß sie mit dem Fluch der Erbsünde belastet waren, die in dem trüben Lichte der Prädestinationslehre Calvins einen besonders düsteren Charakter bekommen hatte. Jede reine Lebensfreude war verpönt. Das ganze Land sollte einer Büßerzelle gleichen, in der nur das innere Schuldbewußtsein und die Zerknirschung eine Heimstätte fanden. Sogar auf Hochzeiten wurde weder Tanz noch Musik gestattet. In den öffentlichen Schaustätten durften nur Stücke religiösen Inhalts aufgeführt werden. Eine unerträgliche Zensur sorgte dafür, daß keine weltlichen Schriften, besonders keine Romane gedruckt wurden. Ein Heer voll Spionen bevölkerte das kleine Land und respektierte weder Hausrecht noch Familie. Sogar die Wände hatten Ohren; denn jeder Gläubige wurde zur Angeberei angehalten und fühlte sich zum Verrate verpflichtet. Auch in dieser Hinsicht führt politische oder religiöse Rechtgläubigkeit stets zu denselben Ergebnissen.
Die Strafbestimmungen Calvins waren eine einzige Ungeheuerlichkeit. Der leiseste Zweifel an den Dogmen der neuen Kirche wurde, wenn er den Sbirren zu Ohren kam, mit dem Tode bestraft. Häufig genügte schon ein Verdacht, um ein Todesurteil zu fällen, besonders wenn der Beschuldigte aus dem einen oder dem anderen Grunde den Machthabern mißliebig war. Eine ganze Anzahl von Vergehen, die man früher mit leichten Gefängnisstrafen zu ahnden pflegte, wurden unter der Herrschaft des Calvinismus durch den Henker gesühnt. Scheiterhaufen, Galgen und Rad waren denn auch stets in Betrieb im «protestantischen Rom», wie Genf häufig genannt wurde. Die Chroniken aus jener Zeit berichten von grausigen Scheußlichkeiten, unter denen die Hinrichtung eines Kindes, das seine Mutter geschlagen hatte, und der Fall des Genfer Scharfrichters Jean Granjat, der gezwungen wurde, seiner eigenen Mutter zuerst die rechte Hand abzuhacken und sie dann lebendig zu verbrennen, weil sie angeblich die Pest im Lande verbreitet hatte, mit zu den schauerlichsten gehören. Am bekanntesten ist die Hinrichtung des spanischen Arztes Miguel Servet, der 1553 bei kleinem Feuer langsam geröstet wurde, weil er das Dogma von der Dreieinigkeit und die Prädestinationslehre Calvins bezweifelt hatte. Die feige und hinterhältige Art, in welcher Calvin die Hinrichtung des unglücklichen Gelehrten betrieben hatte, wirft ein grausiges Licht auf den Charakter jenes furchtbaren Mannes, dessen grausamer Fanatismus gerade deshalb so unheimlich wirkt, da er so entsetzlich nüchtern war und außerhalb jedes menschlichen Empfindens wurzelte.[36]
Da sich die menschliche Natur aber trotz alledem nicht aus der Welt frömmeln ließ, so glimmte sie als verborgene Brunst heimlich weiter und erzeugte nach außen hin jene erbärmliche Scheinheiligkeit und widerliche Heuchelei, die für den Protestantismus im allgemeinen und für das Puritanertum Calvins im besonderen so bezeichnend sind. Die historische Forschung hat denn auch festgestellt, daß unter der Herrschaft des Calvinismus die moralische Verseuchung und politische Verderbtheit am üppigsten gediehen und einen Umfang angenommen hatten wie nie zuvor.
Man hat es Calvin häufig als Verdienst angerechnet, daß er in der politischen Verwaltung demokratische Grundsätze zur Geltung brachte; man vergißt nur dabei, daß Genf kein monarchistischer Großstaat, sondern eine kleine Republik war und der Reformator schon aus diesem Grunde gewisse demokratische Überlieferungen mit in Kauf nehmen mußte. Vor allem aber darf man nicht übersehen, daß in einer so fanatischen Zeit, wo die Menschen jedes innere Gleichgewicht verloren hatten und ihnen jedes überlegte Handeln abhanden gekommen war, gerade die formale Demokratie Calvin dazu dienen mußte, seine Macht zu befestigen, da er sie als Wille des Volkes ausgeben konnte. In der Wirklichkeit war der demokratische Flitter in Calvins Politik nur eine trügerische Fassade, die über den theokratischen Charakter seines Staatswesens nicht hinwegtäuschen kann.
Der Protestantismus war also keineswegs das Banner geistiger Unabhängigkeit oder die «Religion der Gewissensfreiheit», wie er oft genannt wurde. Er war in Glaubenssachen ebenso unduldsam und zur brutalen Verfolgung Andersdenkender geneigt wie der Katholizismus, hatte er doch nur dazu beigetragen, das Autoritätsprinzip vom religiösen auf das politische Gebiet zu verschieben, und dadurch den Cäsaro-Papismus in einer neuen Form zu neuem Leben erweckt. Er war in vielen Dingen engherziger und geistig beschränkter als die Träger der alten Kirche, deren reiche Erfahrung, Menschenkenntnis und hohe geistige Kultur seinen Hauptvertretern völlig abging. Wenn seine Verfolgungswut weniger Opfer forderte als die konsequente Unduldsamkeit der päpstlichen Kirche, so nur deshalb, weil sein Tätigkeitsfeld auf ein viel engeres Gebiet beschränkt war und er sich schon deshalb nicht mit jener vergleichen konnte.
Der aufkommenden Wissenschaft stand der Protestantismus ebenso feindselig gegenüber wie die katholische Kirche. Seine innere Abneigung gegen die wissenschaftliche Forschung tritt sogar häufig noch stärker hervor, da seine tote Buchstabengläubigkeit seinen Trägern jeden freieren Ausblick verstellte. Die Übersetzung der Bibel in die verschiedenen nationalen Sprachen führte zu einem ganz eigenartigen Ergebnis. Den großen Begründern der protestantischen Lehre galt die Bibel nicht als Buch oder als eine Sammlung von Büchern, die von Menschen erdacht und geschrieben wurden, sondern als das offenbarte Wort Gottes. Aus diesem Grunde war ihnen die «Heilige Schrift» unfehlbar. Sie deuteten alle Erscheinungen nach dem Inhalt der Bibel und verdammten jede Erkenntnis, die mit den Worten der Schrift nicht übereinstimmte. So wurde den Anhängern der neuen Kirche der Buchstabe alles und der Geist nichts. Sie sperrten die Vernunft in den Käfig eines toten Wortfetischismus und waren schon deshalb für jedes wissenschaftliche Denken unempfänglich. Nicht umsonst hatte Luther die Vernunft die «Hure des Teufels» genannt. Sein Urteil über Kopernikus ist ein Musterbeispiel protestantischer Denkart. Er schalt den großen Gelehrten einen Narren und erledigte sein neues Weltbild damit, daß in der Bibel geschrieben stehe, daß Josua der Sonne und nicht der Erde geboten habe, stillezustehen.
Übrigens ist diese religiöse Buchstabengläubigkeit die unmittelbare Vorläuferin jener späteren politischen Wundergläubigkeit, die auf den Buchstaben des Gesetzes schwört und die sich in der Folge ebenso verhängnisvoll auswirkte wie der blinde Glaube an das «geschriebene Wort Gottes».
Diese geistige Gebundenheit, welche dem ganzen Wesen des Protestantismus anhaftet, war es auch, welche die Humanisten, die zuerst die Reformation in den nordischen Ländern freudig begrüßt hatten, später veranlaßte, sich von ihr abzuwenden, nachdem es ihnen klargeworden war, wieviel zelotischer Verfolgungseifer und geistige Unfreiheit sich hinter dieser Bewegung verschanzt hatten. Es war weder Unentschlossenheit noch übertriebene Ängstlichkeit, die ihre Stellung beeinflußten; es war die geistige Unkultur, die Stumpfheit des Empfindens, welche die Träger des Humanismus den Bestrebungen des Protestantismus entfremden mußten, vor allem aber seine nationale Beschränktheit, durch welche das geistige und kulturelle Band zerstört wurde, welches die Völker Europas bis dahin umschlungen hatte.
Vor allem aber standen sich hier zwei besondere Arten des Denkens gegenüber, die keine inneren Berührungspunkte miteinander haben konnten. Wenn Erasmus von Rotterdam die Öffentlichkeit aufforderte, ihm die «Männer zu nennen, die unter dem Luthertum bedeutsame Fortschritte in der Wissenschaft» gemacht hätten, so mußte diese Frage den meisten seiner protestantischen Gegner ewig unverständlich bleiben, da sie ja nur in dem geschriebenen Wort der Bibel und nicht in der Wissenschaft den einzigen Weg jeder Erkenntnis zu finden hofften. Umso deutlicher aber erhellte die Frage des Erasmus die ganze Breite des Abstandes, der sich zwischen beiden Richtungen auftat.
VII. Politischer Absolutismus als Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung
Das Märchen vom Nationalstaat als Förderer der kulturellen Entwicklung. Rückgang der Industrie und Verfall der Wirtschaft. Die Periode der Kriege und der Rückfall in die Barbarei. Handelskapital und Absolutismus. Manufaktur und Merkantilismus. Der Staat als Schöpfer der Wirtschaftsmonopole. Die Reglementierung der Wirtschaft durch die Monarchie. Colbert und die Wirtschaftsdiktatur in Frankreich. Die englische Monarchie und der Handel mit Monopolen. Die Ostindische Handelsgesellschaft und die Hudson’s Bay Company. Die Revolution als Bahnbrecherin neuer Wirtschaftsformen. Der nationale Staat in Spanien und der Verfall von Wirtschaft und Kultur. Die Mesta und die Beraubung der spanischen Bauern. Philipp II. und die Einführung der Alcavala. Wallenstein und Gustav Adolf. Der Dreißigjährige Krieg und der Niedergang der Kultur in Deutschland. Die Gründung der Manufakturen als Spekulation des Staates.
Man hat des öfteren behauptet, daß die Entwicklung der sozialen Gestaltung Europas in der Richtung zum Nationalstaat auf der Linie des Fortschrittes gelegen habe. Es sind hauptsächlich die Vertreter des historischen Materialismus, welche diese Auffassung am nachdrücklichsten verteidigt haben, indem sie zu beweisen suchen, daß die geschichtlichen Vorgänge jener Zeit durch wirtschaftliche Notwendigkeiten herbeigeführt wurden, die auf eine Erweiterung der technischen Produktionsbedingungen hindrängten. In der Wirklichkeit entspringt dieses Märchen keineswegs einer ernsten Würdigung der geschichtlichen Tatsachen, sondern vielmehr dem vergeblichen Bestreben, die gesellschaftliche Umgestaltung Europas im Lichte einer aufsteigenden Entwicklung sehen zu wollen. In jeder bedeutsamen Neugestaltung der europäischen Gesellschaft haben die machtpolitischen Bestrebungen kleiner Minderheiten vielfach eine viel wichtigere Rolle gespielt als die angeblichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Ganz abgesehen davon, daß nicht der geringste Grund vorliegt, weshalb die Entwicklung der technischen Produktionsbedingungen auch ohne die Entstehung des nationalen Staates nicht ebenso gut hätte vor sich gehen können, läßt sich die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die Gründung der national-absolutistischen Staaten in Europa mit einer langen Reihe verheerender Kriege verbunden war, durch welche die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung in den meisten Ländern auf lange Zeit hinaus, oft für Jahrhunderte, gründlich unterbunden wurde.
In Spanien führte das Emporkommen des nationalen Staates zu einem katastrophalen Verfall einst blühender Industrien und zu einer völligen Zersetzung des gesamten Wirtschaftslebens, die bis heute nicht behoben wurde. In Frankreich schlugen die Hugenottenkriege, die von der Monarchie geführt wurden, um den nationalen Einheitsstaat zu festigen, der Wirtschaft des Landes blutige Wunden. Tausende der besten Handwerker verließen das Land und verpflanzten ihre Industrien nach anderen Staaten; die Städte verödeten, die hervorragendsten Wirtschaftszweige wurden brachgelegt. In Deutschland, wo die Machenschaften der Fürsten und Edlinge einen nationalen Einheitsstaat wie in Spanien, Frankreich oder England nicht aufkommen ließen und wo sich infolgedessen eine ganze Reihe kleiner nationaler Staatswesen entwickelte, verwüstete der Dreißigjährige Krieg das ganze Land, dezimierte seine Bevölkerung und verhinderte jede kulturelle und wirtschaftliche Neugestaltung für die nächsten zweihundert Jahre.
Doch sind dies nicht die einzigen Hindernisse, welche der aufkommende Nationalstaat der wirtschaftlichen Entwicklung in den Weg legte. Überall, wo er seinen Einzug hielt, versuchte er, durch Ein- und Ausfuhrverbote, Beaufsichtigung der Industrien und bürokratische Verordnungen den natürlichen Gang der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse zu unterbinden. Man schrieb den Zunftmeistern die Herstellungsmethoden ihrer Erzeugnisse vor und unterhielt ganze Armeen von Beamten, um die Industrie zu überwachen. Dadurch wurde jeder Verbesserung der Arbeitsmethoden eine Grenze gesetzt; erst durch die großen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Industrie von diesen lästigen Fesseln befreit. Die geschichtlichen Tatsachen sehen also wesentlich anders aus: Das Aufkommen des sogenannten Nationalstaats hat die wirtschaftliche Entwicklung nicht nur in keiner Weise gefördert; die endlosen Kriege jener Epoche und die geistlosen Eingriffe des Despotismus in das Leben der Industrie erzeugten einen Zustand kultureller Barbarei, durch welche viele der besten Errungenschaften der industriellen Technik völlig oder teilweise verlorengingen, die später erst wieder neuentdeckt werden mußten.[37]
Dazu kam noch der Umstand, daß die Könige den Bürgern und Handwerkern in den Städten, welche die eigentlichen Träger der industriellen Wirtschaft waren, stets mißtrauisch oder sogar ausgesprochen feindselig gegenüberstanden und sich nur mit ihnen verbanden, wenn es galt, den Widerstand des Adels zu brechen, der den Einheitsbestrebungen der Monarchie nicht wohlgesinnt war. Das tritt besonders in der Geschichte Frankreichs sehr klar hervor. Später aber, als der Absolutismus alle Widerstände gegen die national-politische Einheit des Landes siegreich überwunden hatte, gab er durch seine Förderung des Merkantilismus und der Monopolwirtschaft der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung eine Richtung, die nur zum Kapitalismus führen konnte und die den Menschen nicht zum Führer der Wirtschaft machte, sondern ihn zum Galeerensklaven der Industrie erniedrigte.
In den bereits bestehenden größeren Staaten, die ursprünglich völlig auf dem Grundbesitz fußten, bewirkte der aufkommende Welthandel und der wachsende Einfluß des Kaufmannskapitals eine tiefgehende Änderung, indem sie die feudalen Schranken sprengten und allmählich den Übergang vom reinen Feudalismus zum beginnenden Industriekapitalismus einleiteten. Der absolutistische Nationalstaat war auf die Hilfe der neuen Wirtschaftskräfte ebenso angewiesen wie deren Träger auf ihn. Durch die Goldeinfuhr aus Amerika wurde die Entwicklung der Geldwirtschaft in Europa riesig beschleunigt. Das Geld wurde von nun an nicht nur ein immer größerer Faktor in der Wirtschaft selbst, es entwickelte sich als politisches Machtinstrument ersten Ranges. Die maßlose Verschwendung der Höfe im Zeitalter der absoluten Monarchie, ihre Armeen und Flotten und nicht zuletzt ihr mächtiger Beamtenapparat verschlangen riesige Summen, die immer wieder neu aufgetrieben werden mußten. Dazu kosteten die ewigen Kriege jener Epoche ein Heidengeld. Diese Summen aufzubringen, war die halbverhungerte leibeigene Landbevölkerung trotz aller Erpressungskünste der höfischen Finanzmagier nicht mehr imstande, so daß man nach anderen Quellen Umschau halten mußte. Die Kriege selbst waren zum großen Teil Ergebnisse dieser wirtschaftspolitischen Umwälzung und des Ringens der absolutistischen Staaten unter sich um die Vormachtstellung in Europa. Damit änderte sich der ursprüngliche Charakter des alten Feudalstaates gründlich. Einerseits gab das Geld den Königen die Möglichkeit, sich den Adel restlos zu unterwerfen, wodurch die staatliche Einheit erst richtig hergestellt werden konnte; andererseits gab die königliche Macht den Kaufleuten den notwendigen Schutz, um den fortgesetzten Schröpfereien der räuberischen Edlinge zu entgehen. Aus dieser Interessengemeinschaft entwickelten sich die eigentlichen Fundamente des sogenannten Nationalstaates und der Begriff der Nation überhaupt.
Doch dieselbe Monarchie, die aus wohlerwogenen Gründen die Bestrebungen des Handelskapitals zu fördern suchte und die andererseits von diesem in ihrer eigenen Entwicklung so stark gefördert wurde, wirkte sich allmählich selbst zu einem lähmenden Hindernis für jede weitere Neugestaltung der europäischen Wirtschaft aus, indem sie durch ihre maßlose Günstlingswirtschaft ganze Industriezweige in Monopole verwandelte und sie der Nutznießung weitester Kreise entzog. Besonders verhängnisvoll aber war die geistlose Schablonisierung, die man der Industrie auferlegte, durch welche die Entwicklung des technischen Könnens gewaltsam unterbunden und jeder Fortschritt auf dem Gebiete gewerblicher Betätigung künstlich verhindert wurde.
Je weiter der Handel sich ausdehnte, umso mehr Interesse mußten seine Träger der Entwicklung der Industrie entgegenbringen. Der absolutistische Staat, dem die Ausbreitung des Handels die Kassen füllte, da er Geld ins Land brachte, förderte zunächst die Pläne des Handelskapitals; zum Teil trugen seine Armeen und Flotten, die einen beträchtlichen Umfang angenommen hatten, selbst zu einer Erweiterung der industriellen Produktion bei; denn sie forderten eine Menge Dinge, für deren Massenerzeugung die Werkstätte des kleinen Handwerkers nicht mehr recht geeignet war. So entstanden allmählich die sogenannten Manufakturen[38], die Vorläufer der späteren Großindustrie, die sich allerdings erst entfalten konnte, nachdem die großen wissenschaftlichen Entdeckungen einer späteren Periode und ihre praktische Anwendung für die Technik und Industrie ihr den Weg geebnet hatten.
Die Manufaktur entwickelte sich bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem einzelne Produktionszweige – vornehmlich der Schiffbau und die Berg- und Hüttenwerke – die Bahn für eine breitere Betätigung des industriellen Schaffens freigemacht hatten. Im allgemeinen lief das System der Manufaktur auf eine Rationalisierung des Arbeitsprozesses hinaus, die man durch Arbeitsteilung und Verbesserung der Werkzeuge zu erreichen suchte, wodurch die Ertragsfähigkeit der Produktion wesentlich gesteigert wurde, was für den wachsenden Handel von großer Bedeutung war.
In Frankreich, Preußen, Polen, Österreich und anderen Ländern hatte der Staat aus finanziellen Erwägungen neben den Privatmanufakturen selber grössere Betriebe für die Ausnutzung wichtiger Industrien angelegt. Die Finanzmänner der Monarchie, ja die Könige selbst schenkten diesen Unternehmen die größte Aufmerksamkeit und versuchten, sie auf jede Weise zu fördern, um den Staatsschatz zu bereichern. Durch Einfuhrverbote oder durch hohe Zölle auf fremde Waren versuchte man, die heimische Industrie zu schützen und das Geld im Lande zu behalten. Dabei griff der Staat häufig zu den absonderlichsten Mitteln. So bestimmte eine Verordnung unter Karl I., daß in England alle Toten in wollenen Tüchern zu begraben seien; dies geschah, um die Tuchindustrie zu heben. Einen ähnlichen Zweck verfolgte die preußische Trauerordnung von 1716, die ganz geschäftsmäßig bestimmte, daß langes Trauern den Einwohnern nicht gestattet sei, weil dadurch dem Absatz bunter Gewänder Schaden erwachse.
Um die Manufakturen möglichst ertragfähig zu machen, suchte jeder Staat gute Handwerker aus anderen Ländern heranzuziehen, was wiederum zur Folge hatte, daß man die Abwanderung der Handwerker durch strenge Gesetze zu verhindern suchte, ja Zuwiderhandelnde sogar mit dem Tode bedrohte, wie es in Venedig geschah. Dabei war den Gewalthabern jedes Mittel recht, um die Arbeit in den Manufakturen so ergiebig und billig wie möglich zu gestalten. So setzte Colbert, der berühmte Minister Ludwigs XIV., besondere Prämien für Eltern aus, die ihre Kinder zur Arbeit in die Manufakturen schickten. In Preußen bestimmte eine Verordnung Friedrichs des Großen, daß die Kinder des Potsdamer Waisenhauses zur Arbeit in der Königlichen Seidenmanufaktur heranzuziehen seien. Das Ergebnis war, daß sich die Sterblichkeit unter den Waisen verfünffachte. Ähnliche Verordnungen bestanden auch in Österreich und Polen.[39]
Wie sehr der absolutistische Staat den Forderungen des Handels aus eigenem Interesse entgegenkam, schlug er aber durch seine zahllosen Verordnungen die ganze Industrie in Fesseln, die sich auf die Dauer immer drückender bemerkbar machten. Die Organisation der Wirtschaft läßt sich eben nicht ungestraft durch bürokratische Diktate in bestimmte Formen pressen. Das haben wir neuerdings erst wieder in Rußland beobachten können. Der absolutistische Staat, der versuchte, alles Tun und Lassen der Untertanen seiner unbedingten Vormundschaft zu unterwerfen, wurde mit der Zeit eine unerträgliche Last, die wie ein Alpdruck auf den Völkern wuchtete und das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben in einen Zustand der Erstarrung versetzte. Den alten Gilden, die einst die Bahnbrecher des Handwerks und der Industrie gewesen, hatte der heraufziehende Despotismus ihre alten Rechte und jeden Grad der Selbständigkeit gewaltsam geraubt. Was davon übrigblieb, wurde dem Räderwerke des allmächtigen Staatsapparates einverleibt und mußte diesem dazu dienen, seine Steuern einzutreiben. So wurden die Zünfte allmählich ein Element der Rückständigkeit, das sich jeder Änderung in der Wirtschaft mit zäher Verbissenheit widersetzte.
Colbert, den man in der Regel als einen der genialsten Staatsmänner des despotischen Zeitalters verhimmelt, hatte der Industrie und dem Handel zwar die Landwirtschaft Frankreichs geopfert; doch das eigentliche Wesen der Industrie hatte er nie erfaßt; sie war ihm nur die Milch erzeugende Kuh, die für den Absolutismus gemolken werden sollte. Unter seinem Regime hatte man für jedes Gewerbe bestimmte Verordnungen eingeführt, die angeblich den Zweck verfolgten, die französische Industrie auf der Höhe zu halten, die sie erreicht hatte. Colbert bildete sich tatsächlich ein, daß eine weitere Vervollkommnung der industriellen Betätigung unmöglich sei; anders läßt sich seine sogenannte Gewerbepolitik überhaupt nicht verstehen.
Auf diese Weise wurde der Erfindungsgeist künstlich erdrosselt und jeder schöpferische Drang im Keime erstickt. Die Arbeit gestaltete sich in jedem Gewerbe zu einer geistlosen Nachahmung derselben alten Formen, deren stete Wiederholung jeden inneren Antrieb lähmte. Man arbeitete in Frankreich bis zum Ausbruch der großen Revolution genau nach denselben Methoden wie zu Ende des 17. Jahrhunderts. In einem Zeitraum von hundert Jahren war nicht die kleinste Änderung eingetreten. So kam es, daß die englische Industrie die französische allmählich auch in der Herstellung solcher Erzeugnisse überflügelte, in deren Verfertigung Frankreich früher die unbedingte Führung hatte. Von den zahllosen Verordnungen über Kleidung, Wohnung und gesellschaftliche Betätigung der Angehörigen der einzelnen Berufe, die eine Unmenge der widersinnigsten Bestimmungen enthielten, soll hier gar nicht erst gesprochen werden. Wohl versuchte man von Zeit zu Zeit, wenn die Mißstände sich allzu deutlich bemerkbar machten, durch neue Bestimmungen gewisse Erleichterungen zu schaffen, aber solche Dekrete wurden in der Regel bald wieder durch andere Verordnungen aufgehoben. Dazu kam noch, daß die stete Geldnot des Hofes die Regierung zu allerhand Gaunerstückchen verleitete, um ihre leeren Kassen wieder aufzufüllen. So wurden eine ganze Reihe von Verordnungen lediglich zu dem Zwecke erlassen, damit die Zünfte sie gegen entsprechende Bezahlung wieder rückgängig machen konnten, was auch stets geschah. Auf dieselbe Weise wurden an einzelne Personen oder Korporationen eine Menge Monopole verliehen, durch welche die Entwicklung der Industrie schwer beeinträchtigt wurde.
Erst die Revolution fegte den ganzen Plunder der königlichen Verordnungen hinweg und befreite die Industrie von den Ketten, die man ihr angelegt hatte. Es waren sicherlich keine nationalen Gründe, die zur Entstehung des modernen Verfassungsstaates geführt haben. Die gesellschaftlichen Zustände hatten allmählich so ungeheuerliche Formen angenommen, daß sie nicht länger tragbar waren, wenn Frankreich nicht völlig zugrunde gehen sollte. Und diese Erkenntnis war es auch, welche das französische Bürgertum in Bewegung setzte und auf revolutionäre Wege drängte.
Auch in England wurde die Industrie lange Zeit durch Staatsdekrete und königliche Verordnungen bevormundet, obwohl die Reglementierungssucht dort nie so absonderliche Formen angenommen hatte wie in Frankreich und in den meisten anderen Ländern auf dem Festlande. Die Verordnungen von Edward IV., Richard III., Heinrich VII. und Heinrich VIII. belasteten die Industrie sehr empfindlich und erschwerten ihre natürliche Entwicklung in hohem Maße. Und doch waren diese Herrscher nicht die einzigen, welche der Industrie Hemmschuhe anlegten; Könige und Parlamente erließen immer wieder neue Verordnungen, durch welche die Lage der Wirtschaft sich immer schwieriger gestaltete. Sogar die Revolutionen von 1642 und 1688 waren nicht imstande, mit dieser Pest von geistlosen Bestimmungen und verzopften Reglementierungen gründlich aufzuräumen, und es verging noch eine geraume Zeit, ehe sich ein neuer Geist durchsetzen konnte. Trotzdem kam in England eine staatliche Bevormundung des gesamten Wirtschaftslebens, wie Colbert sie in Frankreich zur Ausführung brachte, nie zustande. Dafür beengten die zahllosen Monopole die Entwicklung der Industrie außerordentlich. Der Hof verschacherte ganze Industriezweige an In- und Ausländer, um seinen Kassen neue Gelder zuzuführen, und verteilte fortgesetzt Monopole an seine Günstlinge. Das geschah bereits zur Zeit der Tudor-Dynastie, und die Stuarts und ihre Nachfolger schlugen dieselben Wege ein. Besonders verschwenderisch mit der Ausstellung von Monopolen war man unter der Regierung der Königin Elisabeth, worüber im Parlament häufig Klage geführt wurde.
Ganze Industrien wurden einzelnen Personen oder kleineren Gesellschaften zur Ausbeutung überlassen und durften von niemand anders betrieben werden. Auf diese Weise gab es keinerlei Wettstreit, aber auch keine Entwicklung der Produktionsformen und Arbeitsmethoden. Der Krone kam es lediglich auf die Bezahlung an; um die unvermeidlichen Folgen dieser Wirtschaftspolitik kümmerte man sich sehr wenig. Das ging so weit, daß unter der Regierung Karls I. einer Gesellschaft von Seifensiedern in London das Monopol für Herstellung der Seife verkauft und durch eine besondere königliche Verordnung jedem Haushalt untersagt wurde, Seife für den eigenen Gebrauch herzustellen. Ebenso war die Ausbeutung der Zinnlager und Kohlengruben im Norden Englands lange Zeit das Monopol weniger Personen. Dasselbe gilt von der Glasindustrie und von verschiedenen anderen Gewerben jener Epoche. Die Folge war, daß die Industrie sich lange Zeit nicht als maßgebender Faktor in der Volkswirtschaft entwickeln konnte, da sie zum großen Teil in den Händen einiger privilegierter Nutznießer lag, die gar kein Interesse an ihrer Ausgestaltung hatten. Der Staat war eben nicht nur der Beschützer, sondern auch der Schöpfer der Monopole, durch welche er sich bedeutende finanzielle Vorteile zu verschaffen wußte, aber der Wirtschaft damit immer neue Fesseln anlegte.
Am schlimmsten entwickelte sich die Monopolwirtschaft in England, nachdem es seine Kolonialherrschaft angetreten hatte. Damals gingen ungeheure Gebiete in den Besitz verschwindend kleiner Minderheiten über, welche durch verliehene Staatsmonopole gegen eine lächerliche Bezahlung in den Stand gesetzt wurden, in wenigen Jahren ungeheure Reichtümer zu erraffen. So trat unter der Königin Elisabeth die bekannte Ostindische Gesellschaft ins Leben, die ursprünglich bloß aus hundertfünfundzwanzig Teilhabern bestand, denen die Regierung das alleinige Recht einräumte, mit Ostindien und allen Ländern östlich des Kaps der Guten Hoffnung und westlich der Magalhãesstraße in Handelsbeziehungen zu treten. Jeder Versuch, dieses Monopol zu durchbrechen, wurde mit schweren Strafen und mit der Beschlagnahmung der Schiffe geahndet, die sich der Gefahr aussetzten, auf eigene Faust Handel in jenen Gewässern zu treiben. Daß diese Verfügungen nicht bloß auf dem Papier niedergelegt wurden, darüber legt die Geschichte jener Jahre beredtes Zeugnis ab.[40]
Karl II. schenkte dem Bruder seines Schwiegervaters ganz Virginia zur Nutznießung. Unter demselben König bildete sich auch die berühmte Hudson’s Bay Company, die von der Regierung mit unglaublichen Befugnissen ausgestattet wurde. Durch eine besondere königliche Verordnung wurde dieser Gesellschaft das ausschließliche und dauernde Monopol zugesprochen, Handel und Gewerbe in allen Küstengewässern, natürlichen Wasserstraßen, Meeresbuchten, Strom- und Seengebieten Kanadas zu betreiben, und zwar unter allen Breitengraden von der Hudsonstraße an. Dazu wurde dieser Gesellschaft auch alles Land, das an diese Gewässer grenzt, ausgeliefert, «soweit es nicht im Besitz eines unserer Untertanen oder eines solchen irgendeines christlichen Fürsten oder Staates ist».[41]
Sogar unter Jacob II., dem Nachfolger Karls II., blühte der Schacher mit auswärtigen Monopolen lustig weiter fort. Der König verkaufte an einzelne Personen oder Gesellschaften ganze Kolonien. Die Nutznießer dieser Monopole bedrückten die freien Siedler auf die schändlichste Art, ohne daß die Krone dagegen einschritt, solange sie von ihren Günstlingen zwanzig Prozent des Gewinnes beziehen konnte. Auf dieselbe Art wurden besondere Privilegien für die Schiffahrt, für die Ausbeutung kolonialer Ländereien und für die Förderung von Edelmetallen vergeben und vieles mehr. So kam es, daß die Produktion mit der mächtigen außenpolitischen Entwicklung Englands, die nach dem Bürgerkriege von 1642 einsetzte, lange Zeit nicht Schritt halten konnte. Noch 1688 belief sich der Wert der eingeführten Erzeugnisse auf 7.120.000 Pfund Sterling, während die Summe für ausgeführte Produkte nur 4.310.000 Pfund Sterling betrug – ein Verhältnis, das auch für die damaligen Zustände sehr bescheiden war.
Erst nachdem das neue Parlament, das aus der Revolution des Vorjahres hervorgegangen war, 1689 der königlichen Macht Zügel anlegte und entscheidende Maßnahmen getroffen hatte, um der Monopolwirtschaft des Hofes und der willkürlichen Beschränkung der Industrie und Wirtschaft ein für allemal ein Ende zu bereiten, konnte sich jener mächtige Aufschwung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in England vollziehen, welcher durch eine ganze Reihe epochemachender Erfindungen, wie die des Gußstahls, des mechanischen Webstuhls, der Dampfmaschine usw., gewaltig gefördert wurde. Aber das alles war nur möglich, nachdem die letzten Reste des Absolutismus endgültig zu Grabe getragen und die Fesseln, die er der Wirtschaft angelegt hatte, zerbrochen waren. Wie später in Frankreich, so ging auch in England diese neue Entwicklung der Dinge über die Revolution.
Allerdings war ein solcher Aufstieg nur dort möglich, wo die Herrschaft des absolutistischen Staates noch nicht alle lebendigen Kräfte im Volke völlig gelähmt und durch eine sinnlose Politik jede Aussicht für weitere Entwicklungsmöglichkeiten der Wirtschaft gänzlich zerstört hatte, wie dies z. B. in Spanien der Fall war. In einem der früheren Kapitel wurde bereits ausgeführt, wie der siegreiche Despotismus durch die grausame Vertreibung der Mauren und Juden Spanien seiner besten Handwerker und Ackerbauer beraubt hatte. Durch die brutale Unterdrückung der Gemeindefreiheit wurde der wirtschaftliche Niedergang des Landes nur noch beschleunigt. Verblendet durch die Goldflut, die aus Peru und Mexiko ins Land strömte, legte die Monarchie auf die Entwicklung und Erhaltung der Industrie überhaupt keinen Wert mehr. Zwar hatte Karl I. noch versucht, durch Einfuhrverbote und Produktionsvorschriften die spanische Woll- und Seidenindustrie zu fördern, doch seine Nachfolger hatten sogar dafür kein Verständnis mehr. Die Weltmachtstellung, die sich Spanien erworben hatte, verschaffte ihm auch den ersten Platz im Welthandel; aber es spielte nur die Rolle des Zwischenhändlers, der die notwendigen kommerziellen Verbindungen zwischen den gewerbetreibenden Ländern und den Abnehmern ihrer Erzeugnisse vermittelte. Sogar den eigenen Kolonien war es nicht gestattet, ohne die Vermittlung des Mutterlandes Handelsbeziehungen unter sich anzuknüpfen.
Dazu kam noch die verhängnisvolle Agrarpolitik des absolutistischen Staates, die den Adel und die Geistlichkeit von allen Grundsteuern befreit hatte, so daß die ganze Last der Abgaben von dem kleinen Bauern bestritten werden mußte. Die Großgrundbesitzer vereinigten sich in der sogenannten Mesta, einer Verbindung, welche die Beraubung der Kleinbauern gewerbsmäßig betrieb und der Regierung unglaubliche Vorrechte abtrotzte. Unter der Herrschaft der Araber gab es in Andalusien einen Stand kleiner Bauern, und das Land gehörte zu den fruchtbarsten Gebieten Europas. Nun aber kam es so weit, daß der Grund und Boden der ganzen Provinz in die Hände von fünf adligen Grundbesitzern geriet, von besitzlosen Arbeitern primitiv bewirtschaftet wurde und zum größten Teil den Schafen als Weidegrund diente. Auf diese Art ging der Anbau von Getreide immer mehr zurück, und trotz der reichen Einfuhr von Edelmetallen aus Amerika verkam die Landbevölkerung im tiefsten Elend.
Die ununterbrochenen Kriege verschlangen riesige Summen, und als nach dem Abfall der Niederlande und der Vernichtung der Armada (1588) durch die Engländer und Holländer die Seemacht Spaniens gebrochen war und seine Monopolstellung im Welthandel an die Sieger überging, war das Land so furchtbar erschöpft, daß es keines Aufschwunges mehr fähig war. Seine Industrie war nahezu völlig vernichtet, seine Ländereien verödet; die große Mehrheit seiner Einwohner lebte in einem trostlosen Elend und stand völlig unter der Vormundschaft der Kirche, deren Vertreter so zahlreich wurden, daß sie um das Jahr 1700 fast ein Dreißigstel der gesamten Bevölkerung ausmachten, das am Mark des Volkes zehrte. Von 1500 bis 1700 hatte das Land fast die Hälfte seiner früheren Bevölkerung verloren. Als Philipp II. die Erbschaft seines Vaters antrat, galt Spanien noch als das reichste Land Europas, obwohl es bereits den Keim des Niederganges in sich trug; am Ende der langen und verhängnisvollen Regierungszeit dieses grausamen und fanatischen Despoten war es bloß noch ein Schatten seiner einstigen Größe. Als dann Philipp, um das ungeheure Defizit des Staatshaushaltes zu decken, die berüchtigte Alcavala einführte, eine Steuer, die jeden Einwohner verpflichtete, von jedem Umsatz zehn vom Hundert an den Staat abzufahren, war das Reich völlig dem Verderben preisgegeben. Alle Bemühungen späterer Herrscher, dem Übel Einhalt zu gebieten, waren vergeblich, auch wenn sie hie und da ein paar vorübergehende Erfolge zu verzeichnen hatten. Die Folgen dieses katastrophalen Niederganges lassen sich noch heute in Spanien überall feststellen.
In Deutschland wurde das Zustandekommen eines großen Nationalstaates mit einheitlicher Verwaltung, Münze und Regelung der Finanzen aus mannigfachen Ursachen unterbunden. Zwar hatte die Dynastie der Habsburger mit Vorbedacht auf die Gründung eines solchen Staates hingearbeitet, aber sie war nie imstande, sich den Adel und die kleinen Fürsten im Lande zu unterwerfen, wie dies der Monarchie in Frankreich nach langen Kämpfen gelungen war. In Deutschland gelang es den Fürsten vielmehr, ihre territoriale Macht immer stärker zu befestigen und allen Plänen für die Errichtung einer starken Zentralgewalt erfolgreich entgegenzuwirken, wobei es ihnen nie darauf ankam, Kaiser und Reich bei jeder passenden Gelegenheit zu verraten und sich mit den gefährlichsten Feinden im Ausland zu verbinden, wenn dies ihren Sonderinteressen nützlich war. Nationale Hemmungen waren ihnen völlig fremd, und die innere Zerrissenheit der deutschen Wirtschaft kam ihren Bestrebungen sehr zustatten.
Zweifellos verstanden sich auch die Habsburger auf die Wahrung ihrer dynastischen Sonderbestrebungen; aber es fehlte den meisten von ihnen der Zug ins Große und der politische Weitblick, was dazu führte, daß sie ihre Einheitspläne häufig kleinen Augenblickserfolgen opferten, ohne sich darüber richtig klarzuwerden. Das zeigte sich am besten, als Wallenstein die Dänen nach vierjährigem Kriege im Friedensvertrag von Lübeck verpflichtet hatte, sich fortan nicht mehr in deutsche Angelegenheiten einzumischen. Damals bot sich eine äußerst günstige, aber auch die letzte Gelegenheit, einen erfolgversprechenden Vorstoß für die Errichtung einer zentralen Reichsgewalt mit dem Kaiser als Spitze zu wagen. In der Tat schwebte Wallenstein ein ähnliches Ziel vor, wie es Richelieu damals für Frankreich anbahnte und siegreich zu Ende führte.
Aber Ferdinand II., von kurzsichtigen Ratgebern beeinflußt, wußte nichts Besseres zu tun, als dem Friedensschluß, durch den ihm gewissermaßen ganz Norddeutschland in die Hände gespielt wurde, das Restitutionsedikt von 1629 folgen zu lassen, das die Rückgabe aller seit dem Passauer Vertrag eingezogenen Kloster- und Kirchengüter an die katholische Kirche verfügte. Eine solche Verordnung wirkte natürlich wie Sprengpulver. Sie brachte die ganze protestantische Bevölkerung des Landes gegen den Kaiser und seine Ratgeber auf, vor allem aber die protestantischen Fürsten, denen nichts ferner lag als eine Rückgabe der eingesäckelten Kirchengüter. Und das geschah just, als der eroberungslüsterne Schwedenkönig Gustav Adolf bereits alle Vorbereitungen für seinen Einfall in Pommern getroffen hatte.
Für die protestantischen Fürsten handelte es sich also um sehr irdische Dinge, für deren ideologische Verbrämung ihnen die Lehre Luthers gerade gut genug war. Nach der blutigen Niederwerfung der deutschen Bauern im Jahre 1525 konnte ihnen die Reformation nicht mehr gefährlich werden. Aber auch um die religiöse Überzeugung der machtvollen Gegner des Protestantismus war es durchaus nicht besser bestellt. Auch für sie kamen in erster Linie nur macht- und wirtschaftspolitische Belange in Frage; alles andere kümmerte sie sehr wenig. Es verursachte Richelieu, welcher damals das Staatsruder der französischen Monarchie in seiner Hand hielt, keinerlei Gewissensbisse, Gustav Adolf in seinem Kampfe gegen den Kaiser und die katholische Liga zu unterstützen, obgleich er selbst Kardinal und Würdenträger der katholischen Kirche war. Ihm kam es lediglich darauf an, das Zustandekommen eines deutschen Nationalstaates zu verhindern, um die französische Monarchie vor einem unbequemen Nebenbuhler zu bewahren. Ebensowenig lagen Gustav Adolf die Belange der deutschen Protestanten besonders am Herzen; er hatte seine eigenen dynastischen Interessen, die Interessen des schwedischen Staates, im Auge, und nur auf diese kam es ihm an. Für den Sultan aber wie für den damaligen Papst Urban VIII. war der Protestantismus des Schwedenkönigs durchaus kein Grund, diesem ihr ausgesprochenes Wohlwollen zu entziehen, solange er gegen das Haus Habsburg zu Felde zog, das beiden aus politischen Gründen ein Dorn im Auge war.
Nach dem Dreißigjährigen Kriege, von dessen verheerenden Folgen Deutschland sich erst nach zweihundert Jahren erholen konnte, war jede Aussicht für die Gründung eines deutschen Einheitsstaates völlig geschwunden. Trotzdem schlug die politische Entwicklung auch dort ähnliche Bahnen ein wie in den meisten europäischen Staaten. Die einzelnen Territorialstaaten, vornehmlich die größeren wie Österreich, Brandenburg-Preußen, Sachsen, Bayern, bemühten sich, ihre innere Struktur den Monarchien des Westens nachzubilden und deren wirtschaftspolitischen Bestrebungen innerhalb ihrer eigenen Grenzen Geltungsrecht zu verschaffen. Natürlich konnten ihre Träger nicht daran denken, dieselbe Rolle zu spielen wie die großen Nachbarn im Westen. Die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit ihrer Länder und die schauerlichen Wunden, welche der lange Krieg dem ganzen Lande geschlagen hatte, ließen das nicht zu, so daß sie häufig genug gezwungen waren, sich unter den Schutz der bestehenden Großstaaten zu stellen.
Da der unglückselige Krieg Deutschland fast um zwei Drittel seiner Bevölkerung beraubt und riesige Strecken Landes als Einöden zurückgelassen hatte, so mußten die einzelnen Staaten ihr Hauptaugenmerk der Bevölkerungsfrage zuwenden, denn das Wachsen der Einwohnerzahl stärkte auch die Macht des Staates. So führte man Steuern für ehelose Frauen ein und spielte sogar häufig mit dem Gedanken der Polygamie, um dem Lande wieder auf die Beine zu helfen. Vor allem aber war man bemüht, die Landwirtschaft zu heben, wodurch die innere Politik der meisten deutschen Staaten jenen feudalen Zug erhielt, der bei den absolutistischen Staatsgebilden des Westens infolge des wachsenden Merkantilismus immer mehr in den Hintergrund trat.
Daneben verfolgten besonders die größeren deutschen Staaten das Ziel, ihre Länder in einheitliche Wirtschaftsgebiete umzugestalten. Zu diesem Zwecke beseitigte man die Handelsvorrechte der Städte und unterwarf jedes Gewerbe einer besonderen Verordnung. Vor allem aber bemühte man sich, durch Handelsverträge, Ein- und Ausfuhrverbote, Schutzzölle, Ausfuhrprämien und dergleichen mehr die Entwicklung des Handels und der Manufakturen zu fördern, um auf diese Art dem Staatsschatz neue Gelder zuzuführen. So legte Wilhelm I. von Preußen in seinem politischen Testamente seinem Nachfolger dringend ans Herz, sich um das Gedeihen der Manufakturen zu kümmern, und versicherte ihm, daß sich dadurch seine «Revenuen vergrößern» und sein Land in einen «florisanten Stand» kommen werde.
Aber wenn auch die Spekulation der kleineren Machthaber bis zu einem gewissen Grade dazu beitrug, die wenigen Manufakturen im Lande zu fördern, und zwar nur, um die Staatseinkünfte zu vergrößern, so sorgte andererseits eine ganze Flut von unsinnigen Verordnungen dafür, daß sich die Industrie überhaupt nicht entwickeln konnte und jahrhundertelang an die alten kümmerlichen Formen gebunden blieb. Es ist daher eine völlige Verkennung der geschichtlichen Tatsachen, zu behaupten, daß durch das Aufkommen des nationalen Staates in Europa die Produktionsbedingungen gefördert und besonders für die Entwicklung der Industrie die notwendigen Vorbedingungen erst geschaffen wurden. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Der absolutistische Nationalstaat hat in jedem Lande die Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse für Jahrhunderte verhindert und künstlich unterbunden. Seine barbarischen Kriege, welche viele Teile von Europa mit Mord und Brand heimsuchten, waren die Ursache, weshalb viele der besten Errungenschaften der industriellen Technik in Vergessenheit gerieten und vielfach durch längst veraltete Arbeitsmethoden mühselig ersetzt werden mußten. Seine unsinnigen Verordnungen aber töteten den Geist der Wirtschaft und erstickten jeden freien Antrieb, jede schöpferische Betätigung, ohne die eine Entwicklung der Industrie und der Wirtschaftsformen im allgemeinen überhaupt undenkbar ist.
Übrigens gibt uns die Zeit, in der wir leben, den besten Anschauungsunterricht: Gerade heute, da eine Krise von unerhörten Ausmaßen die ganze kapitalistische Welt befallen hat, die alle Nationen gleichermaßen dem Abgrund zudrängt, erweist sich das Gebilde des nationalen Staates als ein schier unüberwindliches Hindernis, dieser kritischen Lage zu begegnen oder auch nur eine zeitweilige Eindämmung des Übels herbeizuführen. Der nationale Egoismus durchkreuzte bisher alle ernsthaften Versuche einer gegenseitigen Verständigung und ist stets bestrebt, aus der Not des Nachbarn Kapital zu schlagen. Sogar die unentwegtesten Befürworter der kapitalistischen Wirtschaft erkennen mehr und mehr das Verhängnisvolle dieser Lage; aber es sind wiederum nationale Erwägungen, die ihnen die Hände binden und alle Vorschläge und Lösungsversuche, von welcher Seite sie immer kommen, im vorhinein zur Unfruchtbarkeit verdammen.
VIII. Die Lehre vom sozialen Kontrakt
Die Humanisten und die Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Der Mensch als Maß aller Dinge. Der Ursprung der naturrechtlichen Lehren. Das Naturrecht der Zyniker und Stoiker bis Zeno. Naturrecht und Absolutismus. Die Zeit der Gesellschaftsutopien. Thomas Monis und François Rabelais. Die Monarchomachen. Languets Vindiciae contra tyrannos. Das Trutzbündnis der Niederländer. Der Jesuitismus und die weltliche Macht. Francisco Suárez und das «göttliche Recht der Könige». Juan de Mariana und die Lehre vom Tyrannenmord. La Boétie über freiwillige Knechtschaft. George Buchanan und die Lehre vom «Volkswillen». Die Staatslehre des Thomas Hobbes. Der Leviathan. Independenten und Presbyterianer. John Milton und der Puritanismus. Die Lehre John Lockes über Volk und Regierung. Einfluß der Naturrechtslehre auf die Entwicklung des internationalen Völkerrechts.
Die Renaissance mit ihrem stark heidnischen Einschlag hatte das Interesse der Menschen für irdische Dinge neu erstehen lassen und wendete ihren Sinn wieder Fragen zu, die seit dem Untergang der Antike kaum noch erörtert wurden. Die große geschichtliche Bedeutung des aufkommenden Humanismus lag gerade darin, daß seine Träger sich über die geistige Gebundenheit und den toten Formelkram der Scholastik hinwegsetzten und den Menschen und seine gesellschaftliche Umwelt wieder in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellten, anstatt sich in dem Irrgarten unfruchtbarer theologischer Begriffe zu verlieren, wie es die Wortführer des siegreichen Protestantismus in den nordischen Ländern getan hatten. Der Humanismus war keine Volksbewegung, sondern eine geistige Strömung, die fast alle Länder Europas ergriffen hatte und die Grundlagen zu einer neuen Lebensauffassung legte. Daß auch diese Bewegung später geistig versandete und eine Sache trockener Stubengelehrsamkeit wurde, je mehr sie die Beziehungen zum wirklichen Leben verlor, tut ihren ursprünglichen Bestrebungen keinen Abbruch.
Die Beschäftigung mit den natürlichen Erscheinungen des Lebens lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen wieder auf die gesellschaftlichen Gruppierungen und Einrichtungen der Völker, wodurch der alte Gedanke vom Naturrecht neu belebt wurde. Während der immer weiter um sich greifende Absolutismus bestrebt war, seine Herrschaft im Gottesgnadentum zu verankern, beriefen sich die halben und ganzen Widersacher der absoluten Staatsgewalt auf die natürlichen Rechte des Menschen, deren Schutz der sogenannte Staatsvertrag gewährleisten sollte. So kam man ganz von selbst den Fragen wieder näher, die bereits die Denker des Altertums beschäftigt hatten und die nun durch die Wiederentdeckung der Antike eine neue Bedeutung erhielten. Man suchte sich über die Stellung des Einzelwesens in der Gesellschaft klarzuwerden und bemühte sich, den Ursprung und die Bedeutung des Staates zu ergründen. So unzulänglich uns diese Versuche heute erscheinen, so hatten sie dennoch zur Folge, daß man der Frage des Rechts wieder größere Aufmerksamkeit schenkte und sich über die Beziehungen des Bürgers zum Staate und der bestehenden Herrschergewalt zum Volke schlüssig zu werden versuchte.
Da die meisten der von humanistischen Ideengängen beeinflußten Denker im Einzelwesen das «Maß aller Dinge» zu erkennen glaubten, so erschien ihnen die Gesellschaft nicht als besonderer Organismus, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht, sondern als dauernde Vereinigung einzelner Menschen, die sich aus dem einen oder dem anderen Grunde zusammengefunden hatten. Daraus ergab sich der Gedanke, daß dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen ein bestimmtes Vertragsverhältnis zugrunde liegen müsse, das sich auf angestammte und unveräußerliche Rechte stützte, die bereits vor der Entstehung der organisierten Staatsgewalt Geltungsrecht besaßen und allen Beziehungen der Menschen untereinander als natürliche Grundlage dienten. Dieser Gedanke bildete den eigentlichen Kern der naturrechtlichen Lehre, welche zu jener Zeit zu neuem Leben erblühte.
Unter dem Drucke der immer stärker um sich greifenden gesellschaftlichen Ungleichheit innerhalb der griechischen Stadtrepubliken entwickelte sich im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Lehre vom Naturzustand, die dem Glauben an ein sagenhaftes Goldenes Zeitalter entsprungen war, wo der Mensch noch frei und ungehindert seinem Glücke leben konnte, bis er allmählich unter das Joch politischer Einrichtungen und der aus diesen entspringenden positiven Rechtsbegriffe geriet. Aus dieser Auffassung entwickelte sich ganz folgerichtig die Lehre vom Naturrecht, die später in der Geistesgeschichte der europäischen Völker eine so bedeutsame Rolle spielen sollte.
Es waren besonders die Anhänger der sophistischen Schule, die sich bei ihrer Kritik der gesellschaftlichen Schäden auf einen gewesenen Naturzustand zu berufen pflegten, wo der Mensch die verderblichen Folgen sozialer Unterdrückung noch nicht kannte. So erklärte Hippias aus Elis, daß «das Gesetz der Tyrann des Menschen geworden sei, der ihn fortgesetzt zu widernatürlichen Handlungen verleite». – Alkidamas, Lykophron und andere traten auf Grund dieser Erkenntnis für die Abschaffung aller gesellschaftlichen Vorrechte ein und verdammten besonders die Institution Sklaverei, da diese keineswegs in der Natur des Menschen begründet, sondern den Satzungen der Menschen entsprungen sei, die aus der Ungerechtigkeit eine Tugend machten. Eines der größten Verdienste der vielverlästerten sophistischen Schule war es, daß ihre Bekenner sich über alle nationalen Abgrenzungen hinwegsetzten und sich bewußt zur großen Arbeitsgemeinschaft der Menschheit bekannten. Sie fühlten das Unzulängliche und geistig Begrenzte der Vaterlandsidee und erkannten mit Aristipp, daß «jeder Ort gleich weit vom Hades entfernt» sei.
Später gelangten die Zyniker auf Grund derselben naturrechtlichen Auffassungen zu ähnlichen Ergebnissen. Aus dem wenigen, das sich von ihren Lehren erhalten hat, geht deutlich hervor, daß sie den Einrichtungen des Staates sehr kritisch gegenüberstanden und diese als unmittelbaren Gegensatz zu einer natürlichen Ordnung der Dinge empfunden haben. Besonders stark tritt bei den Zynikern der weltbürgerliche Zug hervor. Da ihre Ideen allen künstlichen Unterschieden zwischen den verschiedenen Ständen, Kasten und sozialen Schichten abhold waren, so mußte ihnen jede nationale Überheblichkeit schon aus diesem Grunde als töricht und geistlos erscheinen. Antisthenes verlachte denn auch den nationalen Hochmut des Hellenentums und erklärte sowohl den Staat als auch die Nationalität für gleichgültige Dinge. Diogenes aus Sinope, der Weise von Korinth, der mit der Laterne in der Hand am hellichten Tage nach Menschen suchte, hatte ebenfalls kein Verständnis für die «heroische Schwäche des Patriotismus» – wie Lessing es nannte – da er im Menschen selbst den Urquell alles Strebens erkannte.
Die höchste Ausbildung erhielt das Naturrecht durch die Schule der Stoiker, deren Begründer Zeno aus Kittion jeden äußeren Zwang ablehnte und die Menschen lehrte, nur der Stimme des «inneren Gesetzes» zu folgen, die sich in der Natur selbst offenbare. So gelangte er zur vollständigen Verwerfung des Staates und aller machtpolitischen Einrichtungen und erstrebte einen Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit für alles, was Menschenantlitz trägt. Die Zeit, in der Zeno lebte, war seinem kosmopolitischen Denken und Fühlen sehr günstig, das keinen Unterschied mehr zwischen Griechen und Barbaren kannte. Die alte griechische Gesellschaft befand sich in voller Auflösung; der aufkommende Hellenismus, der besonders die machtpolitischen Einheitsbestrebungen Alexanders von Mazedonien förderte, hatte die Beziehungen der Völker untereinander stark verändert und ganz neue Ausblicke geschaffen.
Indem Zeno den Gesellschaftstrieb des Menschen, der im Zusammenleben mit seinesgleichen wurzelt und im Gerechtigkeitsempfinden des Einzelwesens seinen vollendetsten ethischen Niederschlag findet, mit dem persönlichen Freiheitsbedürfnis und der Selbstverantwortlichkeit jedes einzelnen für seine Handlungen zu einer soziologischen Synthese verschmolz, wurde er zum unmittelbaren Gegenfüßler Platos, der sich ein ersprießliches Zusammenleben der Menschen nur auf der Basis einer durch äußeren Zwang erzeugten geistigen und seelischen Gebundenheit vorstellen konnte und der in seinen Anschauungen ebenso tief in den engen Grenzen rein nationaler Vorstellungen wurzelte wie Zeno im Bewußtsein seines reinen Menschentums. Zeno war der geistige Höhepunkt jener Richtung, die im Menschen «das Maß aller Dinge» erkannte, wie William Godwin zweitausend Jahre später der Gipfelpunkt jener anderen Geistesströmung wurde, die bestrebt war, die «Betätigung des Staates auf ein Minimum» zu begrenzen.
Die Lehre vom Naturrecht, welche durch den aufkommenden Humanismus der Vergessenheit entrissen wurde, spielte in den großen Kämpfen gegen den Absolutismus eine entscheidende Rolle und gab den Bestrebungen gegen die absolute Fürstengewalt ihre theoretische Grundlage. Die Träger dieser Bestrebungen gingen dabei von folgenden Voraussetzungen aus: Wenn der Mensch von alters her angeborene und unveräußerliche Rechte besaß, so konnten ihm diese auch nicht durch die Einführung einer organisierten Regierung genommen werden, noch konnte das Einzelwesen Verzicht auf diese Rechte leisten. Diese Rechte mußten vielmehr im Einverständnis mit dem Träger der Staatsgewalt vertragsmäßig festgelegt und öffentlich bestätigt werden. Aus diesem gegenseitigen Übereinkommen ergab sich ganz von selbst das Verhältnis zwischen Staat und Volk, Herrscher und Bürger.
Diese Auffassung, die zwar keinerlei Anspruch auf geschichtliche Begründung erheben konnte und bloß auf einer angenommenen Voraussetzung beruhte, versetzte nichtsdestoweniger dem Glauben an die göttliche Sendung des Herrschers, der im Gottesgnadentum des siegreichen Absolutismus seinen höchsten Ausdruck fand, einen empfindlichen Schlag, der sich im Laufe des Geschehens entscheidend auswirken mußte. Wenn die Stellung des Staatsoberhauptes auf einem Vertrage fußte, so ergab sich daraus, daß der Herrscher dem Volke Verantwortung schuldete und die angebliche Unverletzlichkeit der königlichen Gewalt nur ein Märchen war, das man stillschweigend als Wahrheit angenommen hatte. War dies aber der Fall, dann beruhte das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk nicht auf einem einfachen Machtgebot, mit dem sich die Menschen wohl oder übel abfinden mußten. Der Macht des Herrschers stand vielmehr das unveräußerliche Recht des Einzelwesens gegenüber, das der willkürlichen Entscheidung des Staatsoberhauptes gewisse Schranken setzte, wodurch ein Ausgleich der Kräfte innerhalb der Gesellschaft möglich war. In der Tat konnten sich die Träger der naturrechtlichen Ideen auf eine ganze Reihe geschichtlicher Tatsachen stützen. Man erinnere sich zum Beispiel an die alte Krönungsformel der Aragonier:
«Wir, von denen jeder ebensoviel ist wie du und die wir alle zusammen mehr sind als du, machen dich zum König. Wenn du unsere Gesetze und Rechte achten wirst, werden wir dir gehorchen; wo nicht, nicht.»
Man hatte die schädlichen Folgen erkannt, zu welchen Mißbrauch der Macht führen mußte; aus diesem Grunde versuchte man, ihr Zügel anzulegen, indem man sie an das natürliche Recht des Volkes kettete. Diese Erkenntnis war zweifellos richtig, wenn auch die Mittel, durch welche man den inneren Zwiespalt lösen zu können glaubte, stets unzulänglich bleiben mußten, wie sich in der Folge immer deutlicher herausstellte. Zwischen Macht und Recht gähnte eine Kluft, die sich überhaupt nicht überbrücken läßt. Solange Macht und Recht im selben Hause wohnen, muß dieses unnatürliche Verhältnis stets zu inneren Reibungen führen, durch welche das friedliche Zusammenleben der Menschen fortgesetzt gestört wird. Jeder Träger der Staatsgewalt muß die Beschränkung seiner Machtvollkommenheit als unbequeme Fessel seines Geltungsbedürfnisses empfinden, und wo immer sich ihm die Gelegenheit dazu bietet, wird er versuchen, die Rechte des Volkes zu verdrängen oder sie gänzlich auszuschalten, wenn er sich stark genug fühlt. Die Geschichte der letzten vierhundert Jahre für und gegen die Eindämmung der staatlichen Machtvollkommenheit spricht eine beredte Sprache, und die jüngsten historischen Ereignisse in den meisten Ländern Europas zeigen uns mit erschreckender Deutlichkeit, daß dieser Kampf noch lange keinen Abschluß gefunden hat. Immerhin führten die ununterbrochenen Versuche, der Staatsgewalt gewisse Grenzen anzuweisen, folgerichtig zu der Erkenntnis, daß die Lösung der Frage nicht in der Begrenzung, sondern in der Überwindung des machtpolitischen Prinzips gesucht werden muß. Darin erschöpft sich das letzte und höchste Ergebnis der Lehre vom Naturrecht. Das erklärt auch, weshalb das Naturrecht den Vertretern des reinen Machtgedankens stets ein Dorn im Auge gewesen ist, auch wenn sie – wie Napoleon I. – dieser Lehre ihren Aufstieg zu verdanken hatten. Nicht mit Unrecht bemerkte dieser aus der Revolution geborene Machtpolitiker größten Formates:
«Die Männer des Naturrechts sind an allem schuld. Wer anders hat das Prinzip der Empörung zur Pflicht erklärt? Wer dem Volke geschmeichelt, indem man ihm eine Souveränität zuerkannte, zu der es nicht fähig ist? Wer hat die Achtung vor dem Gesetz zerstört, indem man es von einer Versammlung abhängig machte, der alles Verständnis fehlt für Verwaltung und Recht, anstatt sich an die Natur der Dinge zu halten.»
Hervorragende Vertreter des Humanismus versuchten ihren naturrechtlichen Auffassungen in der Darstellung von erdichteten Gemeinwesen Form zu geben; doch spiegelte sich auch in diesen phantastischen Beschreibungen der Geist der Zeit wider und der Anschauungen, die sie bewegten. Einer der bedeutendsten unter ihnen war der englische Staatsmann Thomas More, ein eifriger Verteidiger des Naturrechts, den Heinrich VIII. später enthaupten ließ. Angeregt durch Platos Politeia und besonders Amerigo Vespuccis Beschreibungen der neuentdeckten Länder und Völker, schilderte More in seiner Utopia ein ideales Staatswesen, dessen Einwohner in Gütergemeinschaft lebten und es verstanden, durch eine einfache, aber weise Gesetzgebung einen harmonischen Ausgleich zwischen der staatlichen Führung und den angestammten Rechten der Bürger herzustellen. Dieses Buch wurde der Ausgangspunkt einer ganzen Literatur gesellschaftlicher Utopien, unter denen die Neue Atlantis Bacons und der Sonnenstaat des italienischen Patrioten Campanella besondere Bedeutung erlangten.
Einen großen Anlauf nahm der französische Humanist François Rabelais, der in seinem Roman Gargantua ein kleines Gemeinwesen vollständig freier Menschen schilderte, die berühmte «Abtei von Thelema», die jedes Machtverhältnis überwunden und ihr ganzes Leben nach dem einzigen Grundsatz eingerichtet hatten: «Tu, was dir gefällt!»
«Denn ehrenhafte, gut erzogene, gesunde und umgängliche Menschen haben von Natur aus einen Hang zum Guten und eine Abneigung gegen das Schlechte: darin besteht ihr Glück. Knechtschaft und Zwang aber stachelt zu Widerspruch und Auflehnung an und ist die Mutter alles Übels. Am heftigsten begehren wir nach verbotenen Früchten.»
Der Gedanke des Naturrechts fand auch in der calvinistischen und katholischen Literatur jener Zeit einen starken Widerhall, wenn auch hier die politischen Beweggründe dieser Stellung deutlich zutage traten. So entwickelte der französische Calvinist Hubert Languet in seiner Schrift Vindiciae contra tyrannos, die das politische Glaubensbekenntnis des Hugenottentums darstellt, den Gedanken, daß, nachdem der Papst das Herrschaftsrecht über die Welt verloren, die Macht damit nicht einfach auf den weltlichen Herrscher übergegangen sei, sondern zurück in die Hände des Volkes gelegt wurde. Nach Languet beruht das Verhältnis zwischen Fürst und Volk auf einem gegenseitigem Übereinkommen, das den Herrscher verpflichtet, bestimmte unveräußerliche Rechte des Bürgers, unter denen die Glaubensfreiheit das wichtigste ist, zu achten und unter seinen Schutz zu stellen, denn es ist das Volk das den König, und nicht der König, der das Volk macht. Dieser Vertrag zwischen König und Volk braucht nicht notwendigerweise durch einen Eid bekräftigt oder in einem besonderen Schriftstück abgefaßt zu sein; er findet seine Bestätigung in der Existenz des Volkes und des Herrschers selbst und besteht zu Recht, solange beide vorhanden sind. Aus diesem Grunde ist der Herrscher dem Volke für seine Handlungen verantwortlich und kann, wenn er das Glaubensbekenntnis der Bürger zu beeinträchtigen versucht, von den adligen Vertretern des Volkes gerichtet, in die Acht erklärt und von jedem straflos getötet werden.
Auf Grund derselben Anschauungen traten die niederländischen Provinzen Brabant, Flandern, Holland, Seeland, Gelderland und Utrecht 1581 im Haag zu einem Schutz- und Trutzbündnis zusammen und erklärten alle Beziehungen, die bisher zwischen ihnen und Philipp II. von Spanien bestanden hatten, für null und nichtig, da der König den Vertrag gebrochen, die alten Rechte der Einwohner mit Füßen getreten und sich wie ein Tyrann benommen habe, der über die Bürger wie über Sklaven regierte. In diesem Sinne bestimmte die berühmte Akte der Abjuration:
«Jedermann weiß, daß ein Fürst von Gott eingesetzt ist, um seine Untertanen zu schirmen, wie ein Hirt seine Herde hütet. Wenn daher der Fürst seine Pflicht als Schützer nicht erfüllt, wenn er seine Untertanen bedrückt, ihre alten Freiheiten zerstört und sie als Sklaven behandelt, so ist er nicht länger als ein Fürst, sondern als ein Tyrann zu betrachten. Als solchen dürfen ihn die Stände des Landes nach Recht und Vernunft absetzen und einen anderen an seine Stelle erwählen.»
Aber nicht bloß die Monarchomachen des Calvinismus vertraten diesen der weltlichen Macht so gefährlichen Standpunkt; auch die in dem aufkommenden Jesuitismus organisierte Gegenreformation gelangte zu ähnlichen Schlüssen, wenn auch ihr Ausgangspunkt ein anderer war. Der Jesuitismus führte zu einer vollständigen Umwälzung innerhalb der katholischen Kirche, indem er versuchte, ihre Bestrebungen den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen in Europa anzupassen und ihre zerstreuten Kräfte in einer straffen schlagkräftigen Organisation zusammenzufassen, die allen Anforderungen gewachsen war. Deshalb kam es seinen Vertretern auch nicht darauf an, vorübergehend mit demokratischen Ideen zu liebäugeln, wenn dadurch ihre geheimen Ziele gefördert wurden. Nach den Lehren der Kirche war die Monarchie die von Gott eingesetzte Staatsform, doch wurde dem weltlichen Herrscher das Schwert nur gegeben, damit er die Sache des Glaubens schütze, die in den Lehren der Kirche ihren Ausdruck fand. Deshalb hatte die Vorsehung den Papst als Herrscher über die Könige gesetzt, wie er diese als Herrscher über die Völker gesetzt hatte. Und wie die Völker den Fürsten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet waren, so sollte das Gebot des Papstes für den weltlichen Herrscher das höchste Gesetz sein.
Nun aber hatte der um sich greifende Protestantismus das alte Bild verschoben, und leibhaftige Ketzer saßen auf fürstlichen Thronen als Vertreter der höchsten Macht im Staate. Unter diesen Umständen mußte sich auch das Verhältnis der katholischen Kirche zur weltlichen Macht umgestalten und andere Formen annehmen. Es waren hauptsächlich die Jesuiten, welche auf diesem Gebiete bahnbrechend wirkten. So bekämpfte der spanische Jesuitenphilosoph Francisco Suárez die Lehre vom göttlichen Recht der Könige grundsätzlich und führte – ganz im Sinne des Naturrechts – das Verhältnis zwischen Fürst und Volk auf einen Vertrag zurück, der beiden Teilen bestimmte Rechte und Pflichten auferlegte. Nach Suárez durfte die Macht schon rein naturgemäß nicht in den Händen eines einzelnen ruhen, sondern mußte auf alle verteilt sein, da alle Menschen von Natur aus gleich seien. Kam der Herrscher den Bedingungen des geschlossenen Vertrages nicht nach oder lehnte er sich gegen die unveräußerlichen Rechte des Volkes auf, so war für die Untertanen das Recht des Aufstands gegeben, um ihre Rechte zu schützen und der Tyrannei zu wehren.
Man kann verstehen, daß James I. von England das auf Antrieb des Papstes geschriebene Hauptwerk des spanischen Jesuiten öffentlich durch den Henker verbrennen ließ und seinem Kollegen auf dem spanischen Königsthron, Philipp II., bittere Vorwürfe darüber machte, daß er «einem so ausgesprochenen Feind der Majestät der Könige» in seinem Lande eine Wohnstätte gewährte.
Noch weiter als Suárez ging sein Bruder in der «Gesellschaft Jesu» Juan de Mariana, der im sechsten Kapitel seines umfangreichen Werkes Historia de rebus Hispaniae nicht nur den Meuchelmord gegen einen vertragsbrüchigen König moralisch rechtfertigte, sondern auch die Art der Waffe angab, mit der solch ein Mord auszuführen sei. Allerdings hatte er dabei nur versteckte oder offene Anhänger des Protestantismus im Auge, und da er wie sein Vorgänger Suárez der Meinung war, daß jeder Fürst zumindest in Glaubenssachen dem Papste unterworfen sei, so war für ihn das Ketzertum eines Königs Tyrannei gegen das Volk und entband die Untertanen von allen Verpflichtungen gegen das Staatsoberhaupt, das als Ketzer sein Leben verwirkt hatte. Daß solche Ideen nicht bloß eine rein theoretische Bedeutung hatten, zeigte die Ermordung von Heinrich III. und seinem Nachfolger Heinrich IV. in Frankreich, die beide von fanatischen Anhängern des Papismus aus dem Wege geräumt wurden. – So wurde sowohl von calvinistischer als auch von katholischer Seite eine Begrenzung der königlichen Macht befürwortet, wenn dies auch keineswegs aus freiheitlichem Drange, sondern aus wohlverstandenem politischem Interesse geschah. Immerhin mußte die Vertretung naturrechtlicher Ideen von dieser Seite mit dazu beitragen, dem Gedanken des Machtabbaus noch mehr Anhänger zu verschaffen, was in der Zeit der großen Kämpfe in Frankreich, den Niederlanden und England von besonderer Bedeutung war.
Das fühlbare Bedürfnis, der Staatsgewalt gewisse Schranken zu setzen, und die Anerkennung des Rechts der Empörung gegen einen Herrscher, der seine Macht mißbrauchte und zum Tyrannen seines Volkes wurde, waren damals vielverbreitete Ideen, die erst mit dem endgültigen Siege des Absolutismus außer Kurs gerieten, doch nie ganz vergessen wurden. Unter dem Einfluß dieser und ähnlicher Gedankengänge gelangten vereinzelte Denker jener Epoche dazu, den Dingen tiefer nachzugehen und die Wurzel aller und jeder Tyrannei bloßzulegen. Der bedeutendste unter ihnen war der jugendliche Étienne de la Boétie, dessen funkensprühende Schrift Über freiwillige Knechtschaft nach seinem frühen Tode von seinem berühmten Freunde Montaigne herausgegeben wurde. Ob Montaigne in der Tat gewisse Änderungen an dem Werkchen vorgenommen hat, wie des öfteren behauptet wurde, wird wohl nie festgestellt werden können. Die Tatsache, daß die Arbeit La Boéties, die in den Kämpfen gegen den Absolutismus in Frankreich eine nicht unbedeutende Rolle spielte, später fast vergessen wurde, um dann in der Zeit der großen Revolution ihre Wirksamkeit aufs neue zu erproben, ist wohl der beste Beweis für ihre geistige Bedeutung.
La Boétie erkannte mit unwiderstehlicher Klarheit, daß die Tyrannei sich weniger auf brutale Gewalt als auf das tiefeingewurzelte Abhängigkeitsgefühl der Menschen stützt, die einen leeren Popanz zuerst mit allen ihnen selbst innewohnenden Kräften ausgestattet haben, um sich danach – geblendet von so viel vermeintlicher Stärke – diesem blindlings zu unterwerfen. Dieser Geist der «freiwilligen Knechtschaft» ist das stärkste und am schwersten zu überwindende Bollwerk aller und jeder Tyrannei, die hilflos wie ein Häufchen Asche in sich selbst zusammensinken müßte, wenn der Mensch erkennen würde, was sich dahinter versteckt, und dem Idol, das er sich selbst geschaffen, den Gehorsam versagte.
«Was für eine Schmach und Schande aber ist es – sagt La Boétie –, wenn unzählige einem Tyrannen freiwillig, ja sklavisch gehorchen! Einem Tyrannen, der ihnen kein Recht über Eigentum, Eltern, Frau und Kinder läßt, nicht einmal über das eigene Leben… Was für ein Mensch ist denn so ein Tyrann? Er ist kein Herkules, kein Simson! Oft ein Männlein, oft die weibischste Memme des ganzen Volkes… Nicht seine Stärke macht ihn mächtig, ihn, der nicht selten der Sklave der schlimmsten Hure ist. Was für jämmerliche Kreaturen sind seine Untertanen! Lehnen sich zwei, drei oder vier nicht gegen einen auf, so ist das ein immerhin noch verständlicher Mangel an Mut. Wenn aber hundert, tausend die Fessel eines einzigen nicht abwerfen, wo bleibt da noch ein Rest von eigenem Willen und menschlicher Würde?… Um sich zu befreien, braucht man nicht gegen den Tyrannen Gewalt anzuwenden. Er stürzt, sobald das Land seiner überdrüssig geworden ist. Das Volk, das sich schinden und erniedrigen läßt, darf ihm nur keine Rechte gewähren. Um frei zu sein, bedarf es lediglich des ernsten Willens, das Joch abzuschütteln... Seid fest entschlossen, nicht länger Knechte zu sein – und ihr seid frei! Versagt dem Tyrannen eure Hilfe, und gleich einem Koloß, dem man den Sockel entzogen hat, wird er zusammenstürzen und zerschellen.»
Solch vereinzelte Denker, die sich an die verborgensten Wurzeln der Macht herantasten wie La Boétie, gab es allerdings nur wenige. Im allgemeinen führte der Weg zu freiheitlicheren Lebensauffassungen über die verschiedenen Phasen naturrechtlicher Begriffe, deren Träger stets bestrebt waren, der unbeschränkten Macht des Staatsoberhauptes gewisse «angestammte und unveräußerliche Rechte» des Einzelwesens und des Volkes entgegenzustellen, um auf diese Weise zu einem gesellschaftlichen Gleichgewicht zu gelangen, das eine ungestörte Entwicklung der sozialen Lebensbedingungen gewährleistete. Diese Bestrebungen führten später zu den bekannten Forderungen des Liberalismus, der sich nicht länger mit einer Beschränkung der persönlichen Macht begnügen mochte, sondern die Staatsgewalt als solche auf ein Minimum begrenzt sehen wollte in der richtigen Voraussetzung, daß eine fortgesetzte Bevormundung des Staates der fruchtbaren Entfaltung aller schöpferischen Kräfte in der Gesellschaft ebenso hinderlich sei wie die Vormundschaft der Kirche in vergangenen Jahrhunderten. Diese Erkenntnis war keineswegs das Ergebnis einer müßigen Spekulation, sie bildete vielmehr die unausgesprochene Voraussetzung aller und jeder kulturellen Entwicklung in der Geschichte, wie der Glaube an die vorbestimmte Abhängigkeit des Menschen von einer überirdischen Vorsehung bisher stets die bewußte oder unbewußte Voraussetzung aller und jeder weltlichen Macht gewesen ist.
Ein hervorragender Bahnbrecher auf diesem langen Wege, der zur Beschränkung der fürstlichen Gewalt und zur Ausgestaltung der Volksrechte führte, war der schottische Humanist George Buchanan, einer der ersten, welcher der Frage eine grundsätzliche Bedeutung beilegte und sie nicht länger abhängig machte von dem Nutzen oder Schaden, die eine Erweiterung oder Begrenzung der fürstlichen Gewalt der einen oder der anderen Konfession bringen mochte. Buchanan vertrat den demokratischen Grundgedanken, daß alle Macht vom Volke ausgehe und im Volke begründet sei. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, war das Staatsoberhaupt unter allen Umständen dem Willen des Volkes unterworfen, und seine ganze Bedeutung erschöpfte sich darin, der erste Diener des Volkes zu sein. Bricht der Träger der Staatsgewalt dieses stillschweigende Abkommen, so erklärt er sich selbst für vogelfrei und kann von jedem gerichtet werden.
Buchanan gab dem Verhältnis zwischen Macht und Recht eine tiefere Bedeutung. Hätte er sich damit begnügt, lediglich die Gewissensfreiheit in religiösen Dingen gegen die unbeschränkte Fürstengewalt auszuspielen, so hätte auch ein Vertreter des Absolutismus sich zur Not mit dieser Begrenzung abfinden können. Daß er sich erkühnte, die Macht selbst vom Volke ausgehen zu lassen, und dem Fürsten nur die Rolle eines Vollstreckers des Volkswillens zugestehen wollte, trug ihm die unversöhnliche Feindschaft aller Befürworter des legitimen Königtums ein. Es waren denn auch die legitimistischen Einflüsse, welche das Parlament bei zwei verschiedenen Gelegenheiten – 1584 und 1664 – veranlaßt hatten, Buchanans Schrift De Jure Regnis apud Scotos zu unterdrücken; denselben Einflüssen gehorchend, ließ die Universität von Oxford das Werk hundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen öffentlich verbrennen.
Doch auch dem Absolutismus war auf englischem Boden ein streitbarer Kämpe erstanden in der Person von Thomas Hobbes. Hobbes war sicher eine der eigenartigsten Gestalten im Reiche des sozialphilosophischen Denkens, ein äußerst fruchtbarer und origineller Geist und neben Bacon vielleicht der vielseitigste Kopf, den England hervorbrachte. Sein Name lebt in der Geschichte als entschiedener Vertreter des philosophischen Materialismus und als ausgesprochener Verteidiger der absoluten Fürstengewalt. In der Tat war Hobbes ein schroffer Gegner jeder Religion im landläufigen Sinne; sogar dort, wo er sich vorwiegend gegen den Katholizismus wendet, fühlt man deutlich, daß ihm jeder Offenbarungsglaube zuwider war. – Weniger Berechtigung hat die Behauptung, daß Hobbes ein unentwegter Vertreter des königlichen Absolutismus gewesen sei. Schon die Tatsache, daß er die Entstehung des Staates auf ein Vertragsverhältnis zurückführte, beweist, daß er kein Legitimist war. Hobbes war ein rücksichtsloser Befürworter des Machtgedankens, doch hatte er dabei weniger den fürstlichen Absolutismus als vielmehr die absolute Staatsgewalt als solche im Auge. Im allgemeinen gab er der Monarchie den Vorzug, aber seine spätere Stellung zu Cromwell zeigt deutlich, daß es ihm vor allem auf die Unantastbarkeit der staatlichen Gewalt ankam und weniger auf deren Träger.
Hobbes bekämpfte mit großer Entschiedenheit die Auffassung, daß der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen sei. Seiner Überzeugung nach lebte in dem primitiven Menschen keine Spur eines Geselligkeitstriebes, sondern lediglich der brutale Instinkt des Raubtieres, dem jede Rücksicht um das Wohl des anderen ferne liegt. Sogar der Unterschied zwischen Gut und Böse war dem Menschen im Naturzustand völlig unbekannt. Dieser Begriff wurde ihm erst durch den Staat beigebracht, welcher dadurch zum Begründer aller Kultur geworden ist. Seinem ursprünglichen Wesen nach war der Mensch überhaupt keinem sozialen Empfinden, sondern nur der Furcht zugänglich, der einzigen Macht, die auf seine Vernunft einen Einfluß hatte. Denn es war die Furcht, welcher die Gründung des Staates entsprang, der «dem Kriege aller gegen alle» ein Ende machte und die menschliche Bestie an die Kette des Gesetzes legte. – Obzwar auch Hobbes den Staat aus einem Vertrag entstehen läßt, behauptet er jedoch, daß dem ersten Herrscher die unbeschränkte Macht gegeben wurde, über alle anderen zu gebieten. Einmal vereinbart, bleibt der Vertrag rechtsgültig für alle Zeiten; sich dagegen aufzulehnen, ist das schlimmste aller Verbrechen, da jeder Versuch in dieser Richtung den Bestand aller Kultur, ja der Gesellschaft selbst in Frage stellt.
Der Materialist Hobbes, den man in der Geschichte als einen «radikalen Atheisten» verketzerte, war in der Wirklichkeit ein streng religiöser Mensch, nur daß seine Religion einen rein politischen Charakter hatte und der Gott, dem er diente, die unbeschränkte Macht des Staates war. Wie in jeder Offenbarungsreligion der Mensch desto kleiner wird, je höher die Gottheit über ihn hinauswächst, bis zuletzt Gott alles, der Mensch nichts ist, so wächst bei Hobbes die Macht des Staates ins maßlose, je tiefer er das ursprüngliche Wesen des Menschen auf die niedrigste Stufe der Bestialität herabdrückt. Das Ergebnis ist dasselbe: der Staat alles, der Bürger nichts. In der Tat ist der Leviathan – der Titel, den Hobbes für sein Hauptwerk gewählt hatte –, wie bereits F. A. Lange sehr richtig bemerkte, «nur zu bezeichnend für dieses Ungetüm von Staat, welches, von keiner höheren Rücksicht geleitet, wie ein irdischer Gott Gesetz und Urteil, Recht und Besitz nach Belieben ordnet, sogar die Begriffe von Gut und Böse willkürlich festsetzt und dafür allen, die vor ihm auf die Knie fallen und ihm opfern, Schutz des Lebens und Eigentums gewährt».[42]
Gesetz und Recht sind Begriffe, die nach Hobbes erst nach der Entstehung der politischen Gesellschaft, das heißt des Staates, in Erscheinung treten. Deshalb kann auch der Staat nie gegen ein natürliches Recht verstoßen, da alles Recht von ihm selbst ausgeht. Das gewohnheitsmäßige Recht, das auch häufig als natürliches Recht oder umgeschriebenes Gesetz bezeichnet wird, mag Diebstahl, Mord, Vergewaltigung noch sosehr als Verbrechen brandmarken, sobald das Gesetz des Staates dem Menschen jene Handlungen befiehlt, hören sie auf, Verbrechen zu sein. Gegen das Gesetz des Staates kann sogar das «göttliche Recht» nicht aufkommen; denn nur dem Staate steht es zu, über Recht und Unrecht zu entscheiden. Der Staat ist das öffentliche Gewissen; ihm gegenüber kann weder ein Privatgewissen noch eine Privatüberzeugung bestehen. Der Wille des Staatsoberhauptes ist das höchste und einzige Gesetz.
Da Hobbes nur im Staate den Leviathan sieht, das «Tier, dem kein anderes gleich ist», wie im Buch Hiob geschrieben steht, so verwirft er folgerichtig alle weltherrschaftlichen Bestrebungen der Kirche und spricht den Priestern im allgemeinen und dem Papste im besonderen jedes Recht auf weltliche Herrschaft ab. Denn auch die Religion ist für ihn nur so lange berechtigt, als sie vom Staate anerkannt und gelehrt wird.
So heißt es in einer solchen besonders bezeichnenden Stelle im Leviathan:
«Die Furcht vor unsichtbaren Mächten, sei es, daß diese erdichtet, sei es, daß sie durch Tradition überliefert sind, ist Religion, wenn sie von Staates wegen festgestellt, Aberglauben, wenn sie nicht von Staates wegen festgestellt ist.»
Nach Hobbes hat also der Staat nicht bloß das Recht, seinen Untertanen vorzuschreiben, was sie glauben dürfen, er entscheidet auch darüber, ob ein Glaube als Religion oder nur als Aberglaube anzusprechen ist. Der Materialist Hobbes, der für die Religion im allgemeinen keinerlei Zuneigung hegte, fand es ganz in der Ordnung, wenn die Regierung aus Gründen der Staatsräson sich für ein bestimmtes Glaubensbekenntnis entscheidet und dieses ihren Untertanen als die einzig wahre Religion aufzwingt. Es berührt daher etwas sonderbar, wenn Fritz Mauthner meint, daß Hobbes «weit über den Unglauben der ersten Deisten hinausgehe, so oft er auch Unterwerfung des Bürgers unter die Staatsreligion fordert; was er verlangt, ist ja doch wieder nur Gehorsam gegen den Staat, auch in religiösen Fragen, nicht gegen Gott».[43]
Der ganze Unterschied liegt doch hier nur in der Form des Glaubens. Hobbes belehnte den Staat mit allen geheiligten Eigenschaften einer Gottheit, welcher der Mensch auf Gedeih und Verderb unterworfen ist. Er gab dem Anbetungsbedürfnis der Gläubigen einen anderen Gegenstand der Verehrung und verdammte den Unglauben auf politischem Gebiete mit derselben eisernen und folgerichtigen Unduldsamkeit, mit welcher die Kirche jede Widersetzlichkeit gegen ihre Gebote zu bekämpfen pflegte. Die Staatsgläubigkeit des «Atheisten» Hobbes war eben auch nur Religion; Glaube des Menschen an seine Abhängigkeit von einer höheren Macht, die über sein persönliches Schicksal entscheidet und gegen die es keine Auflehnung geben kann, da sie allen menschlichen Zwecksetzungen unerreichbar ist.
Hobbes lebte in einer Zeit, wo das Aufkommen des nationalen Staates sowohl den Weltmachtsbestrebungen der Kirche als auch den Versuchen, Europa unter die Herrschaft einer weltlichen Universalmonarchie zu bringen, ein Ende setzte. Und da er erkannte, daß man den Gang der Geschichte nicht zurückschrauben und Dinge nicht wieder künstlich beleben konnte, die bereits dem Schattenreiche der Vergangenheit angehörten, so knüpfte er an diese neue Wirklichkeit an. Aber da er, wie alle Verteidiger der Autorität, von der angeborenen Bestialität des Menschen ausging und trotz seines Atheismus von dem menschenfeindlichen Dogma der Erbsünde nicht loszukommen vermochte, so mußte er folgerichtig zu denselben Ergebnissen gelangen wie seine Vorgänger aus dem Lager der kirchlichen Theologie. Es half ihm wenig, daß er sich persönlich von den Fesseln des religiösen Wunderglaubens befreit hatte, verstrickte er sich doch dafür um so fester in den Netzen eines politischen Wunderglaubens, der in seinen Folgen ebenso freiheitsfeindlich war und den Geist des Menschen nicht minder versklavte. Es ist dies übrigens ein Beweis dafür, daß der Atheismus im landläufigen Sinne durchaus nicht von freiheitlichen Ideen getragen sein muß. Er wirkt erst freiheitlich, wenn er die inneren Zusammenhänge zwischen Religion und Politik bis ins tiefste erfaßt hat und den Trägern der irdischen Macht keine größere Berechtigung einräumt als der Autorität Gottes. Der «Heide» Machiavelli und der «Atheist» Hobbes sind klassische Zeugen dafür.
Alle Befürworter des Machtgedankens, auch wenn sie, wie Machiavelli und Hobbes, sich aus der überlieferten Religion keine Bohne machten, waren gezwungen, dem Staate die Rolle einer irdischen Vorsehung zu übertragen, ihn mit demselben mystischen Schauer zu umgeben, der jede Gottheit umstrahlt, und ihm alle jene übermenschlichen Eigenschaften anzudichten, ohne die eine Macht nicht bestehen kann, mag sie nun himmlischer oder irdischer Natur sein. Denn keine Macht erhält sich auf Grund besonderer Charaktermerkmale, die ihr innewohnen; ihre Größe fußt stets auf erborgten Eigenschaften, die der Glaube der Menschen ihr beilegte. Wie Gott, so ist auch jede irdische Macht nur eine «leere Tafel, die bloß wiedergibt, was der Mensch darauf geschrieben».
Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag und besonders die Idee Buchanans, daß alle Macht vom Volke ausgehe, erwachte später bei den Independenten Englands zu neuem Leben, die sich nicht nur gegen den Katholizismus, sondern auch gegen die von den calvinistischen Presbyterianern gegründete Staatskirche auflehnten und die vollständige Autonomie der Gemeinden in allen Glaubenssachen forderten. Da die Verwaltung der Staatskirche sich nur noch als gehorsames Werkzeug der fürstlichen Macht betätigte, so floß die religiöse und politische Opposition des immer weiter um sich greifenden Puritanismus aus ein und derselben Quelle. Der bekannte englische Historiker Macaulay bemerkte denn auch mit Recht von den Puritanern: «Ihrem Haß gegen die Kirche ward der Haß gegen die Krone beigefügt; beide Gefühle mischten sich und machten sich gegenseitig immer bitterer.»
Getragen von diesem Geiste, trat der Dichter des Verlorenen Paradieses, John Milton, als erster für die Freiheit der Presse ein, um die religiöse und politische Gewissensfreiheit der Bürger zu sichern, und verteidigte in seiner Schrift Defensio pro populo Anglicano das unbedingte Recht der Nation, einen wortbrüchigen und verräterischen Tyrannen vor Gericht zu stellen und vom Leben zum Tode zu bringen. Sein Buch wurde von den besten Geistern Europas mit einem wahren Heißhunger verschlungen, besonders, nachdem es in Frankreich auf Befehl des Königs vom Henker öffentlich verbrannt wurde.
Bei den Levellers, den Anhängern John Lilburnes, traten diese Auffassungen am schärfsten hervor und fanden in dem Gedanken des Volksvertrags, der gerade von diesem radikalsten Flügel der revolutionären Bewegung jener Zeit in die Massen getragen wurde, ihren kühnsten Ausdruck. Fast alle sozial-philosophischen Denker jener Periode von Gerrard Winstanley bis P. C. Plockboy und John Bellers und von R. Hooker und A. Sidney bis John Locke waren überzeugte Verteidiger der Lehre vom Gesellschaftsvertrag.
Während der Absolutismus auf dem Festlande fast überall zur unbeschränkten Herrschaft gelangte, gewann er in England nur unter den Stuarts einen vorübergehenden Erfolg und wurde durch die zweite Revolution 1688 bald wieder aus dem Sattel gehoben. Durch die Declaration of Rights, in welcher alle bereits in der Magna Charta niedergelegten Grundsätze in erweiterter Form neu bestätigt wurden, wurde das Vertragsverhältnis zwischen Krone und Volk wiederhergestellt. Diese Entwicklung der geschichtlichen Begebenheiten brachte es mit sich, daß gerade in England die Idee des Gesellschaftsvertrags und die naturrechtlichen Auffassungen nie außer Kurs gerieten und infolgedessen einen tieferen Einfluß auf die geistige Einstellung des Volkes hatten als in jedem anderen Lande.
Auf dem Festlande hatte man sich daran gewöhnt, Reiche und Völker der unbeschränkten Fürstengewalt preiszugeben, und das Wort Ludwigs XIV: «Der Staat bin ich!» erlangte eine symbolische Bedeutung für das ganze Zeitalter des Absolutismus. In England jedoch, wo den Machtbestrebungen der Krone stets eine entschlossene Opposition des Bürgertums gegenüberstand, die nur vorübergehend und nie auf längere Zeit hinaus mundtot gemacht werden konnte, entwickelte sich demgemäß eine ganz andere Auffassung über gesellschaftliche Dinge, indem man eifersüchtig darauf bedacht war, die erworbenen Rechte zu wahren und dem Despotismus durch das Mitbestimmungsrecht der Parlamente einen wirksamen Damm entgegenzustellen. John Pym, der geistvolle Führer der Opposition im Hause der Gemeinen gegen die absolutistischen Ansprüche der Krone, gab diesem inneren Empfinden beredten Ausdruck, als er der königstreuen Minderheit die Worte entgegenschleuderte:
«Jener falsche Grundsatz, der die Fürsten beseelt und sie glauben macht, daß die Länder, über die sie regieren, ihr persönliches Eigentum seien – als ob das Reich des Königs wegen und nicht der König des Reiches wegen da wäre –, ist die Wurzel alles Elends der Untertanen, die Ursache aller Angriffe auf ihre Rechte und Freiheiten. Nach den anerkannten Gesetzen dieses Landes sind selbst die Kleinodien der Krone nicht Eigentum des Königs; sie sind ihm vom Lande nur zum Schmuck und zur Benutzung anvertraut. Und anvertraut sind ihm auch nur die Städte und Festungen, die Schatzkammer und die Magazine, die öffentlichen Ämter, um die Sicherheit, das Wohl und den Nutzen des Volkes und Reiches zu wahren. Er kann daher seine Macht nur gebrauchen unter Zuziehung des Beirates beider Parlamente.»
In diesen Worten klingt das Echo der ganzen englischen Geschichte, offenbart sich der ewige Kampf zwischen Macht und Recht, der erst mit der Überwindung jedes Machtprinzips sein Ende finden wird. Denn das Prinzip der Volksvertretung hatte damals, eine andere Bedeutung als heute; was heute nur dazu beiträgt, neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens den Weg zu verstellen, war damals ein ernster Versuch, der Macht bestimmte Grenzen anzuweisen, ein hoffnungsvoller Beginn auf dem Wege zur vollständigen Austilgung aller machtpolitischen Bestrebungen aus dem Leben der Gesellschaft.
Übrigens führte die Lehre von einem allen politischen Gesellschaftsgebilden zugrunde liegenden Vertragsverhältnis auch in England schon sehr früh zu weitgehenden Folgerungen. So vertrat der Theologe Richard Hooker in seinem 1503 erschienenen Werke Laws of Ecclesiastical Polity den Standpunkt, daß es eines Menschen unwürdig sei, sich blindlings wie ein Tier dem Zwange einer wie immer gearteten Autorität zu unterwerfen, ohne dabei seine eigene Vernunft zu Rate zu ziehen. Hooker begründete die Lehre vom Gesellschaftsvertrag damit, daß kein Mensch imstande sei, über eine größere Anzahl seiner Mitmenschen zu gebieten, ohne daß diese ihre Zustimmung dazu gegeben hätten. Eine solche Zustimmung aber konnte nach Hookers Auffassung nur durch ein gegenseitigem Übereinkommen erzielt werden: daher der Vertrag. In seinen Betrachtungen über das Wesen der Regierung erklärte Hooker ganz freimütig, daß «es nach der Natur der Dinge keineswegs unmöglich sei, daß Menschen ohne eine öffentliche Regierung zusammen leben könnten». – Sein Werk diente später John Locke als Grundlage für seine berühmten beiden Abhandlungen On Civil Government, aus welchen der aufkeimende Liberalismus seine Hauptnahrung zog.
Auch Locke ging in seinen sozialphilosophischen Betrachtungen vom Naturrecht aus. Im Gegensatz glaubte er jedoch, daß die Freiheit des Naturmenschen keineswegs ein Zustand roher Willkür gewesen sei, wo das Recht des Einzelwesens lediglich durch die brutale Gewalt bestimmt wurde, die ihm zur Verfügung stand; er setzte vielmehr voraus, daß bereits in jenen Zeiten allgemeine und verbindliche Beziehungen zwischen den Menschen bestanden haben, die aus ihren geselligen Neigungen und aus den Betrachtungen der Vernunft hervorgegangen sind. Locke war auch der Meinung, daß bereits im Naturzustand eine gewisse Form des Eigentums bestanden habe. Zwar habe Gott den Menschen die ganze Natur frei zur Verfügung gestellt, so daß die Erde selbst niemand gehöre, wohl aber die Ernte, die der einzelne durch seine persönliche Arbeit erzielte. Gerade deshalb entwickelten sich allmählich gewisse Verpflichtungen zwischen den Menschen, besonders nachdem sich die einzelnen Familiengruppen in größeren Verbänden zusammenfanden. Auf diese Art suchte Locke sich die Entstehung des Staates zu erklären, der in seinen Augen nur die Bedeutung einer Versicherungsgesellschaft hatte, der die Aufgabe oblag, über die persönliche Sicherheit und das Eigentum der Bürger zu wachen.
Hat aber der Staat keine andere Aufgabe als diese, so ist es nur folgerichtig, daß die höchste Gewalt nicht beim Staatsoberhaupt, sondern im Volke selbst liegen muß und in der von ihm gewählten gesetzgebenden Versammlung ihren Ausdruck findet. Mithin steht der Träger der Staatsgewalt nicht über, sondern, wie jedes andere Glied der Gesellschaft, unter dem Gesetz und ist dem Volke für seine Handlungen verantwortlich. Mißbraucht er die Macht, die ihm zum Schutze der Bürger anvertraut wurde, so kann er von der Volksvertretung jederzeit abberufen werden wie jeder andere Beamte, der seiner Pflicht zuwiderhandelt.
Diese Ausführungen Lockes richteten sich gegen Hobbes und vor allem gegen Sir Robert Filmer, den Verfasser der Patriarcha und einer der unentwegtesten Verteidiger der absoluten Fürstengewalt. Nach Filmer unterstand der König keiner menschlichen Kontrolle, noch war er in seinen Entschlüssen an die Entscheidungen seiner Vorgänger gebunden. Nur der König ist von Gott selbst dazu ausersehen, als der Gesetzgeber seines Volkes zu walten, da er allein über dem Gesetz steht. Alle Gesetze, unter deren Schutz die Menschen bisher gelebt haben, sind ihnen durch Auserwählte Gottes vermittelt worden; denn es ist sinnwidrig, daß ein gewöhnlicher Mensch über sich selbst Gesetze macht. Geradezu verbrecherisch aber erschien Filmer der Gedanke, daß einem Volke das Recht zustehe, seinen König zu richten oder ihn der Krone für verlustig zu erklären, da in diesem Falle die Volksvertreter Kläger und Richter in einer Person seien, was allen Grundsätzen der Gerechtigkeit hohnspreche. Deshalb war nach seiner Auffassung jede Beschränkung der legitimen Macht vom Übel und mußte unvermeidlich eine völlige Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen zur Folge haben.
Locke, der den König bloß als ausführendes Organ des Volkswillens gelten lassen wollte, sprach ihm demgemäß das Recht ab, Gesetze zu machen. Was er erstrebte, war eine Dreigliederung der öffentlichen Gewalt, da nur auf diese Art einem Mißbrauch der Macht vorzubeugen sei, die sich stets zu einer Gefahr für das öffentliche Wohl auswachsen mußte, wenn sich alle Machtmittel in einer Person vereinigt finden. Deshalb sollte die gesetzgebende Gewalt ausschließlich der Volksvertretung unterstehen. Die exekutive oder ausführende Gewalt, deren Vertreter jederzeit von der gesetzgebenden Versammlung abberufen und durch andere ersetzt werden konnten, waren dieser in allen Dingen untergeordnet und verantwortlich. Blieb noch die föderative Gewalt, der nach Locke die Aufgabe zufiel, die Nation nach außen hin zu vertreten, mit anderen Staaten Bündnisse abzuschließen und über Krieg und Frieden zu entscheiden. Auch dieser Zweig der öffentlichen Gewalt sollte der Volksvertretung verantwortlich sein und lediglich deren Beschlüsse zur Ausführung bringen.
Für Locke war die Volksvertretung das eigentliche Organ, das die Rechte des Volkes gegen die Regierung zu wahren hatte; aus diesem Grunde räumte er ihr eine so überragende Stellung ein. Verletzt die Regierung die ihr anvertrauten Aufgaben in unverantwortlicher Weise, so tritt ein Bruch der bestehenden Rechtsverhältnisse ein, wobei es dem Volke freisteht, der Revolution von oben die Revolution von unten entgegenzusetzen, um seine unveräußerlichen Rechte zu verteidigen.
Wie sehr auch Locke sich bemüht hatte, für alle im Bereiche der Möglichkeit hegenden Fälle schon im voraus eine Lösung zu finden, so läßt sich nicht verkennen, daß seinen politischen Voraussetzungen Unzulänglichkeiten anhafteten, die sich durch die Teilung der Machtbefugnisse allein nicht beseitigen lassen, da sie an die Macht als solche gebunden sind und dazu noch durch die wirtschaftliche Ungleichheit in der Gesellschaft gefördert werden. An diesen Unzulänglichkeiten krankte auch der Liberalismus und alle späteren Verfassungspläne, durch welche man in den verschiedenen Ländern die Macht beschränken wollte und die Rechte der Bürger zu wahren versuchte. Das erkannte bereits der französische Girondist Louvet, als er mitten in der Hochflut der Begeisterung für die neue Verfassung die inhaltsschweren Worte sprach: «Die politische Gleichheit und die Verfassung haben keinen gefährlicheren Feind als die zunehmende Ungleichheit des Besitzes.» – Je stärker sich diese Ungleichheit im Laufe der Zeit auswirkte, je unüberbrückbarer die gesellschaftlichen Gegensätze sich unter dem siegreichen Kapitalismus gestalteten und jede Gemeinschaft der wirtschaftlichen Belange untergruben, desto mehr mußte auch die ursprüngliche Bedeutung jener Maßnahmen verblassen, die einst im Kampfe gegen die Überwucherung machtpolitischer Bestrebungen in der Gesellschaft eine so große Rolle spielten.
Trotz alledem hatten die Ideen vom Naturrecht Jahrhunderte hindurch den stärksten Einfluß auf alle gesellschaftlichen Strömungen in Europa, deren Ziel es war, der legitimen Macht gewisse Grenzen zu setzen und die Sphäre der persönlichen Unabhängigkeit des Einzelwesens zu erweitern. Dieser Einfluß erhielt sich sogar dann noch, nachdem bereits eine ganze Reihe hervorragender Denker in England und Frankreich, wie Lord Shaftesbury, Bernhard de Mandeville, William Temple, Montesquieu, John Bellingbroke, Voltaire, Buffon, David Hume, Mably, Henry Linguet, A. Ferguson, Adam Smith und manche andere, angeregt durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die Lehre von einem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag fallenließen und nach anderen Erklärungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens Ausschau hielten, wobei einige von ihnen den Staat bereits als politisches Machtinstrument privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft zur Beherrschung der breiten Massen erkannten.
Auch die großen Begründer des internationalen Völkerrechts, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius – um hier nur die bekanntesten zu nennen –, deren großes Verdienst darin besteht, daß sie in einer Zeit, als die nationale Absonderung der Völker immer weiter um sich griff, die ersten Versuche machten, über die Grenzen der Staaten hinaus das allen Menschen Gemeinsame zusammenzufassen und zur Grundlage eines allgemeinen Rechts auszugestalten, auch sie gingen in ihren Betrachtungen vom Naturrecht aus. Grotius betrachtete den Menschen als ein soziales Wesen und erkannte in dem Geselligkeitstrieb die Wurzel aller gesellschaftlichen Bindungen. Das gemeinschaftliche Zusammenleben entwickelte bestimmte Gewohnheiten, und diese bildeten die ersten Grundlagen des Naturrechts. In seinem 1625 erschienenen Werke Über das Recht des Krieges und des Friedens führte er die Entstehung des Staates auf einen stillschweigenden Vertrag zum Schutze des Rechts und zum Nutzen aller zurück. Da also der Staat durch den Willen aller einzelnen entstanden ist, so kann er das Recht, das jedem seiner Glieder zusteht, nie aus der Welt schaffen; dieses natürliche und unveräußerliche Recht kann sogar durch Gott selbst keine Änderung erfahren. Dasselbe Rechtsverhältnis bildet auch die Grundlage aller Beziehungen mit anderen Völkern und kann ungestraft nie verletzt werden.
Pufendorf, der wie Thomasius auf Grotius und in den englischen Sozialphilosophen fußte, erklärte kühn, daß das Naturrecht nicht nur für Christen, sondern auch für Juden und Türken vorhanden sei, ein Standpunkt, der für jene Zeit immerhin außergewöhnlich war, – Thomasius aber führte alles Recht auf das Bedürfnis des Einzelwesens zurück, möglichst glücklich zu sein und dem Leben eine lange Dauer zu verleihen. Da aber der Mensch sein größtes Glück nur in der Gemeinschaft mit anderen findet, so sollte er stets bestrebt sein, das Wohl aller zur Richtschnur seines Handelns zu machen. In diesem Grundsatz erschöpfte sich für Thomasius der ganze Inhalt des Naturrechts.
Allen Bestrebungen, die in der Lehre vom Naturrecht wurzelten, lag das Verlangen zugrunde, den Menschen aus der Gebundenheit gesellschaftlicher Zwangseinrichtungen zu befreien, damit er zum Bewußtsein seines Menschentums gelange und sich keiner Autorität mehr beuge, die ihm das Recht des eigenen Denkens und Handelns versagte. Es ist wahr, daß den meisten dieser Strömungen noch eine Menge autoritärer Bestandteile anhafteten, ja daß sie sich vielfach wieder zu neuen Herrschaftsformen auswuchsen, wenn sie ihre Ziele teilweise oder ganz erreicht hatten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die von jenen Ideen befruchteten großen Bewegungen des Volkes den Weg zur Überwindung der Macht geebnet und das Feld bestellt haben, aus dem dereinst die Saat der Freiheit lebenskräftig emporkeimen wird.
Tausend Erfahrungen mußten und müssen immer noch gesammelt werden, um die Menschen für den Gedanken reif zu machen, daß nicht die Formen der Macht, sondern die Macht als solche die Quelle alles Übels ist, die trockengelegt werden muß, um der Menschheit neue Ausblicke für die Zukunft zu erschließen. Auch die kleinste Errungenschaft auf diesem mühevollen Wege war ein Schritt vorwärts in der Richtung zur Lösung aller machtpolitischen Bindungen, die immer wieder die freie Entfaltung aller schöpferischen Kräfte des kulturellen Lebens gelähmt und in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt haben. Erst wenn der Glaube des Menschen an seine Abhängigkeit von einer höheren Macht überwunden sein wird, werden auch die Ketten fallen, welche die Völker bisher in das Joch geistiger und sozialer Sklaverei geschlagen haben. Bevormundung und Autorität sind der Tod alles geistigen Strebens und gerade deshalb das größte Hindernis für jede innere gesellschaftliche Verbundenheit, die nur der freien Erwägung der Dinge entspringt und bloß in einer Gemeinschaft gedeihen kann, die weder durch äußeren Zwang noch durch weltfremde Dogmengläubigkeit und wirtschaftliche Unterdrückung in ihrem natürlichen Gange gehemmt wird.
IX. Liberale Ideen in Europa und Amerika
Jeremias Bentham und der Utilitarismus. Priestley und Richard Price. Thomas Paine über Staat und Gesellschaft. William Godwins «Politische Gerechtigkeit». Freiheitliche Strömungen in Amerika. Von Jefferson bis Thoreau. Liberale Ideen in der deutschen Literatur. Lessing über Staat und Kirche. Herders Geschichtsphilosophie. Schillers Kulturästhetik. Lichtenberg und Seume. Goethes Persönlichkeit. Wielands «Goldener Spiegel». Jean Paul. Hölderlins «Hyperion». Wilhelm von Humboldts «Ideen über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates». Der politische Radikalismus in Frankreich. Voltaire. Diderots Auffassung von der Freiheit. Montesquieus «Geist der Gesetze».
Man hat sich daran gewöhnt, den Liberalismus als «politischen Individualismus» zu bezeichnen, was zur Folge hatte, daß nicht nur eine ganz falsche Begriffsbildung geschaffen wurde, sondern auch allen möglichen Mißverständnissen Tür und Tor geöffnet wurde. Lag doch dieser Strömung ein durchaus sozialer Gedanke zugrunde: das Prinzip der Nützlichkeit, das Jeremias Bentham – einer der hervorragendsten Vertreter dieser Richtung – auf die Formel brachte: «Die größtmögliche Summe von Glück für die größtmögliche Zahl der Gesellschaftsmitglieder.» Damit wurde ihm das Prinzip der Nützlichkeit zum natürlichen Wertmesser für Recht und Unrecht.
«Das Gemeinwesen – sagt Bentham – ist eine Körperschaft sittlicher Natur, die sich aus Einzelwesen zusammensetzt. Das Interesse der Gemeinschaft kann daher nichts anderes bedeuten als das Interesse der Einzelwesen, die sich zur Gemeinschaft zusammengefunden haben. Demnach ist es nur ein leeres Wort, wenn man von den Belangen des Gemeinwesens spricht, ohne sich über die Belange der Einzelwesen klargeworden zu sein. Jede Erscheinung fördert das Interesse des Menschen in dem Maße, als sie die Summe seines persönlichen Glücks vermehrt oder die allgemeine Summe seiner Leiden vermindert. Vom Standpunkt der Nützlichkeit ausgehend, ist eine Handlung der Regierung nur dann gut und gerecht, wenn sie dazu beiträgt, das größtmögliche Glück des Bürgers zu fördern.»[44]
In diesen Worten kommt sicherlich das Gefühl sozialer Gerechtigkeit zum Ausdruck, das in seiner unmittelbaren Voraussetzung zwar vom Einzelwesen ausgeht, aber nichtsdestoweniger als das Ergebnis eines ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühls zu bewerten ist und durch die allgemeine Bezeichnung Individualismus, die alles und nichts besagen kann, in keiner Weise umrissen wird.
Obzwar eine ganze Reihe namhafter Vertreter des politischen Radikalismus in England, im Gegensatz zu Bentham, vom Naturrecht ausgingen, treffen sie in ihren Endzielen zusammen. Der Dissidentenprediger Joseph Priestley, der die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen als ein Gesetz verkündete, wollte der Regierung nur so viel Recht zugestehen, als ihre Organe bestrebt sind, dieses Gesetz des göttlichen Willens zu fördern. Der Regierung einen anderen Zweck zu unterstellen, ist eine Todsünde gegen das Recht des Volkes, denn nur «der Nutzen und das Glück der einzelnen Glieder des Gemeinwesens ist der Maßstab, nach dem jede auf den Staat Bezug habende Handlung zu bewerten ist». Unter dem Einfluß dieser Gedankengänge verteidigte Priestley das Recht des Volkes, jederzeit seine Regierung abberufen zu können, als eine der elementarsten Voraussetzungen des Staatsvertrages und gelangte damit folgerichtig zum Recht auf Revolution, das jedem Volk zusteht, wenn die Regierung den Weg verläßt, der ihr durch diese unvergänglichen Grundsätze vorgezeichnet ist.
Richard Price, der, im Gegensatz zu Priestley, die Begriffe von Recht und Unrecht nicht auf reine Nützlichkeitsgründe zurückführte, auch mit dessen sehr stark an den philosophischen Materialismus anklingenden Auffassungen nicht einverstanden war und an die Freiheit des menschlichen Willens glaubte, stimmte aber mit den Ansichten seines Freundes über das Verhältnis des Menschen zur Regierung völlig überein, ja er erweiterte sie noch, indem er den Begriff der persönlichen Freiheit tiefer faßte.
«In einem freien Staate – sagt Price – gilt jeder als sein eigener Gesetzgeber. Alle Steuern sind als freiwillige Beiträge zur Bestreitung der notwendigen öffentlichen Dienste zu betrachten. Jedes Gesetz ist als eine durch allgemeines Übereinkommen getroffene Maßnahme anzusehen, die für den Schutz und die Sicherheit des Einzelwesens getroffen wird. Alle Behörden sind nur Vertrauensmänner oder beauftragte Vertreter, deren Aufgabe es ist, diese Maßnahmen durchzuführen. Die Erklärung, daß Freiheit die Regierung durch Gesetze anstatt durch Menschen sei, entspricht nur zum Teil der Wahrheit. Wenn die Gesetze durch einen Menschen oder durch eine Verbindung von Menschen im Staate vereinbart werden, anstatt die Ergebnisse einer allgemeinen Vereinbarung zu sein, so unterscheidet sich das Verhältnis der Menschen unter einer solchen Regierung durchaus nicht von Sklaverei.»[45]
Die Ausführung über die Gesetze ist von besonderer Wichtigkeit, wenn man sich erinnert, welcher Kultus in Frankreich zur Zeit der großen Revolution mit dem Gesetz getrieben wurde. Allerdings erkannte auch Price, daß ein gesellschaftlicher Zustand, wo die Gesetze dem freien Übereinkommen aller entspringen, nur im Rahmen kleiner Gemeinwesen möglich wäre, aber gerade deshalb erschien ihm der moderne Großstaat als eine der größten Gefahren für die Zukunft Europas.
Von allen Vertretern des politischen Radikalismus jener Epoche war Thomas Paine, der begeisterte Vorkämpfer für die Unabhängigkeit der englischen Kolonie Nordamerika, derjenige, welcher jenen Bestrebungen den klarsten Ausdruck zu geben verstand. Besonders bemerkenswert ist die Art, wie er den Zeitgenossen den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft vor Augen führte:
«Die Gesellschaft – sagt Paine – ist das Ergebnis unserer Bedürfnisse, die Regierung das Ergebnis unserer Verdorbenheit. Die Gesellschaft fördert unser Wohlergehen positiv, indem sie unsere Neigungen vereint, die Regierung negativ, indem sie unsere Laster eindämmt. Die Gesellschaft regt zum gegenseitigem Verkehr an, die Regierung schafft Standesunterschiede und Abgrenzungen. Die Gesellschaft ist ein Beschützer, die Regierung ein Zuchtmeister. Die Gesellschaft ist in jeder Form ein Segen, die Regierung im besten Fall ein notwendiges Übel, im schlimmsten Fall ein unerträgliches Übel, denn wenn wir leiden, wenn wir uns der berüchtigten Drangsal durch eine Regierung ausgesetzt fühlen, die wir vielleicht in einem Lande ohne Regierung vorausgesetzt hätten, so wird unser Unglück in diesem Falle noch durch das Bewußtsein verstärkt, daß wir selbst die Werkzeuge geschaffen haben, mit denen man uns züchtigt. Wie das Kleid des Menschen, so ist auch die Regierung nur ein Zeichen für verlorene Unschuld.»[46]
Wie Priestley, so glaubte auch Paine an einen steten Aufstieg der menschlichen Kultur und folgerte daraus, «je höher eine Kultur steht, desto geringer ist das Bedürfnis für eine Regierung, da die Menschen in diesem Falle bestrebt sind, ihre eigenen Angelegenheiten und die der Regierung selbst zu besorgen».
In seiner Streitschrift gegen Edmund Burke, der einst selbst zu den geistvollsten Vertretern des politischen Radikalismus gehörte, später aber zum verbissensten Befürworter der modernen Staatsreaktion wurde, entwickelte Paine noch einmal in glänzenden Worten seine Auffassung über das Wesen der Regierung und betonte dabei besonders eindringlich, daß den Menschen von heute kein Recht gegeben sei, den Menschen von morgen ihre Wege vorzuschreiben. Historisch gewordene Verträge können dem neuen Geschlecht niemals die Pflicht auferlegen, die von den Vorfahren geschaffenen Schranken auch für sich als rechtsgültig und verbindlich zu betrachten. Paine warnte seine Zeitgenossen vor dem Wahnglauben an die Weisheit einer Regierung und sah in dieser lediglich eine «nationale Verwaltungskörperschaft, welcher die Aufgabe obliegt, die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Grundsätze zur Ausführung zu bringen.»[47] Aber Paine war auch ein Gegner jener formalen Demokratie, die in dem Willen der Mehrheit der Weisheit letzten Schluß erblickt und deren Träger stets bestrebt sind, alles vorgeschriebene Tun im Gesetz, festzulegen. So warnte er bereits in seinen feuersprühenden Aufsätzen The Crisis (1776-1783) vor einer «Tyrannei der Mehrheit», deren «Macht oft drückender empfunden werde als der Despotismus eines einzelnen über alle». Als hätte er bereits vorausgeahnt, welche Gefahr daraus entstehen mußte, wenn man dazu übergehe, aus einer Methode einen Rechtsgrundsatz zu formulieren, der seine Ansprüche davon ableitet, daß fünf mehr als vier ist.
Die Ideen des politischen Radikalismus fanden damals in England und Amerika eine weite Verbreitung und haben der geistigen Entwicklung beider Länder unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt. Wir begegnen ihnen später bei John Stuart Mill, Thomas Buckle, E. H. Lecky und Herbert Spencer, um hier nur vier der bekanntesten Namen anzuführen. Sie drangen ein in die Werke der Dichtung und begeisterten Männer wie Byron, Southey, Coleridge, Lamb, Wordsworth und vor allen Shelley, einen der größten Dichter aller Zeiten, um endlich in Godwins Politischer Gerechtigkeit ihren geistigen Höhepunkt zu finden, dessen Werk die Geister eine Zeitlang mächtig anregte, später aber in Vergessenheit geriet, da seine kühnen Folgerungen den meisten wohl zu weit gehen mochten.[48]
Godwin hatte klar erkannt, daß das Übel nicht in der äußeren Form des Staates seine Erklärung findet, sondern in seinem Wesen selbst begründet ist. Aus diesem Grunde wollte er die Staatsgewalt nicht auf «ein Minimum» begrenzt sehen, sondern jedes Machtgebilde aus dem Leben der Gesellschaft ausgeschaltet wissen. Damit gelangte der kühne Denker zu der Vorstellung einer staatenlosen Gesellschaft, wo der Mensch nicht länger dem geistigen und leiblichen Zwange einer irdischen Vorsehung unterworfen ist, sondern für die ungestörte Entfaltung seiner natürlichen Fähigkeiten Spielraum findet und alle Beziehungen zwischen sich und seinen Mitmenschen, seinen jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, auf dem Wege des freien Übereinkommens selber regelt.
Aber Godwin erkannte auch, daß eine gesellschaftliche Entwicklung in dieser Richtung ohne eine gründliche Umgestaltung der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse nicht möglich sei; denn Herrschaft und Ausbeutung wachsen auf einem Holze und sind untrennbar miteinander verbunden. Die Freiheit des Einzelwesens ist nur dann gesichert, wenn sie in dem wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen aller ihren Stützpunkt findet; ein Umstand, den die Vertreter des rein politischen Radikalismus niemals genügend beachtet hatten, weshalb sie später immer wieder gezwungen waren, dem Staate neue Zugeständnisse zu machen. Die Persönlichkeit des Einzelwesens steht um so höher, je tiefer sie in der Gemeinschaft wurzelt, aus der ihr die beste Quelle ihrer moralischen Stärke fließt. Nur in der Freiheit wächst dem Menschen das Bewußtsein für die Verantwortlichkeit seiner Handlungen und die Achtung vor dem Recht des anderen; nur in der Freiheit entfaltet sich jener kostbarste Trieb des gesellschaftlichen Zusammenlebens, den keine Autorität erzwingen kann, in seiner ganzen Stärke: das Mitgefühl des Menschen für die Freuden und Leiden seiner Mitmenschen und daraus der Drang zur gegenseitigen Hilfe, in dem jede soziale Ethik, jede Vorstellung einer sozialen Gerechtigkeit wurzelt. So wurde Godwins Werk zum Epilog jener großen geistigen Bewegung, welche die größtmögliche Beschränkung der Staatsgewalt auf ihre Fahne geschrieben hatte, und zugleich zum Ausgangspunkt der Ideenentwicklung des freiheitlichen Sozialismus.
In Amerika beherrschten die Gedankengänge des politischen Radikalismus lange Zeit die besten Köpfe und mit diesen die öffentliche Meinung. Sie sind auch heute noch nicht ganz erloschen dort, obwohl die alles zermalmende und nivellierende Herrschaft des Kapitalismus und seiner Monopolwirtschaft die alten Überlieferungen bis zu einem Grade aushöhlte, daß sie vielfach bloß noch als Firmenschilder ganz anders gearteter Bestrebungen gelten können. Doch das war nicht immer so. Sogar ein so konservativ veranlagter Charakter wie George Washington, dem Paine den ersten Teil seiner Menschenrechte gewidmet hatte – was ihn später nicht hinderte, den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten auf das heftigste anzugreifen, als er zu erkennen glaubte, daß dieser eine Richtung einschlug, die vom Wege der Freiheit abführen mußte –, sogar Washington gab die Erklärung ab:
«Regierung kennt weder Vernunft noch Überzeugung und ist nicht mehr als Gewalt. Dem Feuer gleich, ist sie ein gefährlicher Diener und ein furchtbarer Herr. Man sollte ihr nie die Gelegenheit geben, unverantwortliche Handlungen zu begehen.»
Thomas Jefferson, der das Recht der Empörung gegen eine Regierung, die sich an der Freiheit des Volkes versündigt, nicht nur als Recht, sondern als die Pflicht eines guten Bürgers bezeichnete und welcher der Meinung war, daß «ein kleiner Aufstand von Zeit zu Zeit der Gesundheit einer Regierung nur zuträglich sein kann», faßte seine Auffassung über alles Regierungswesen in die lakonischen Worte: «Diejenige Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert.» Ein unversöhnlicher Gegner aller politischen Beschränkungen, betrachtete Jefferson jeden Eingriff des Staates in die Sphäre des persönlichen Lebens der Bürger als Despotismus und brutale Gewalt.
Benjamin Franklin fertigte den Einwurf, daß der Bürger für sein Leben im Staate einen wesentlichen Teil seiner Freiheit opfern müsse, um sich damit die Sicherheit seiner Person zu erkaufen, mit den schneidenden Worten ab:
«Wer bereit ist, ein wesentliches Stück seiner Freiheit dranzugehen, um dafür eine zeitweilige Sicherheit seiner Person einzutauschen, gehört zu denen, die weder Freiheit noch Sicherheit verdienen.»
Wendell Phillips, der machtvolle Kämpe gegen die Negersklaverei, gab der Überzeugung Ausdruck, daß die «Regierung lediglich der Ismus des Soldaten, des Frömmlers und des Priesters» sei, und sagte in einer seiner Reden:
«Ich habe eine sehr geringe Meinung über den moralischen Einfluß von Regierungen. Ich glaube mit Guizot, daß es eine grobe Täuschung ist, an die souveräne Macht einer politischen Maschine zu glauben. Hört man, mit welcher Ehrfurcht manche Leute von der Regierung sprechen, so könnte man glauben, daß der Kongreß die Verkörperung des Gravitationsgesetzes sei, das die Planeten in ihren Bahnen hält.»
Abraham Lincoln warnte die Amerikaner davor, die Sicherung ihrer Menschenrechte einer Regierung anzuvertrauen:
«Wenn es auf Erden etwas gibt, das kein Bürger fremden Händen anvertrauen sollte, so ist es die Erhaltung und der Fortbestand der eigenen Freiheit und der damit verbundenen Einrichtungen.»
Von Lincoln stammen auch die bezeichnenden Worte:
«Ich war stets der Überzeugung, daß der Mensch frei sein müsse. Wenn es aber Menschen gibt, für die die Sklaverei angebracht erscheint, so sind es diese, die sie für sich selber wünschen, und jene, die sie anderen auferlegen wollen.»
Ralph Waldo Emerson prägte die bekannten Worte: «Jeder wirkliche Staat ist verderbt. Wackere Menschen dürfen den Gesetzen nicht zu sehr gehorchen.» Emerson, der Dichterphilosoph Amerikas, hatte überhaupt eine ausgesprochene Abneigung gegen den Fetischismus der Gesetze und war der Ansicht, daß «unser gegenseitiges Mißtrauen eine sehr kostspielige Sache» sei, daß «das Geld, das wir für die Errichtung von Gerichtshäusern und Gefängnissen ausgeben, ein schlecht angelegtes Kapital» ist und daß das «Gesetz der Selbsterhaltung dem Menschen mehr Sicherheit biete, als irgendeine Gesetzgebung dies tun könnte».
Dieser Geist geht durch die ganze politische Literatur Amerikas jener Tage, bis der aufkommende Kapitalismus, der zu ganz neuen Lebensbedingungen führte, durch seine verderblichen geistigen und seelischen Auswirkungen die alten Überlieferungen mehr und mehr in den Hintergrund drängte oder sie in seinem Sinne neu auslegte. Und wie dieselben Ideenströmungen in England in der Politischen Gerechtigkeit William Godwins ihren Gipfelpunkt erreichten, so reiften sie in dem Wirken von Männern wie H. D. Thoreau, Josiah Warren, Stephen Pearl Andrews und manchen anderen zur höchsten Vollendung heran, die mutvoll den letzten Schritt wagten und mit Thoreau sagten:
«Ich anerkenne von ganzem Herzen den Grundsatz: Diejenige Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert; ich wünsche nur, daß man etwas rascher und planvoller nach diesem Gesichtspunkt verfahren möchte. Richtig angewendet, schließt dieser Gedanke noch einen anderen in sich, den ich gleichfalls gutheiße: Diejenige Regierung ist die beste, die überhaupt nicht regiert.»
Aber diese Ideen machten sich nicht bloß in England und Amerika bemerkbar, wenn sie auch in diesen Ländern am tiefsten in das Bewußtsein des Volkes eindrangen. Überall in Europa, wo sich am Vorabend der Französischen Revolution ein geistiges Leben regte, begegnen wir ihren Spuren. Ein Sehnen nach Freiheit hatte die Menschen erfaßt und viele der besten Geister jener Zeit in seinen Bann gezogen. Durch die revolutionären Ereignisse in Amerika und später in Frankreich erhielten diese Bestrebungen einen mächtigen Anstoß. Auch in Deutschland, wo eine auserlesene Schar hervorragender Denker damals bestrebt war, die Grundlagen zu einer neuen geistigen Kultur zu legen, fanden die freiheitlichen Ideen ihren Eingang und hoben sich wie leuchtende Horizonte einer besseren Zukunft von dem Elend und der Erniedrigung einer vom schnödesten Despotismus beherrschten Wirklichkeit ab. Man denke an Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, an Ernst und Falk und an sein Gespräch über die Soldaten und Mönche. Lessing folgte denselben Spuren wie vor und nach ihm die Träger des politischen Radikalismus in England und Amerika. Auch er beurteilte die relative Vollkommenheit des Staates nach der Summe des größtmöglichen Glücks, das er dem einzelnen Bürger sicherte. Aber er erkannte auch, daß die beste Staatsverfassung nur ein Werk des Menschengeistes war und daher alle Keime des Vergänglichen und Mangelhaften in sich trug, ja in sich tragen mußte.
«Setze die beste Staatsverfassung, die sich nur denken läßt, schon erfunden; setze, daß alle Menschen in der ganzen Welt diese Staatsverfassung angenommen haben: meinst du nicht, daß auch dann noch selbst aus dieser besten Staatsverfassung Dinge entspringen müssen, welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachteilig sind und wovon der Mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nichts gewußt hätte?»
Lessing führte zur Bekräftigung dieser Ansicht verschiedene Beispiele an, aus denen die ganze Nichtigkeit des Strebens nach der besten Staatsform klar hervorgeht. Angeregt durch seine Kämpfe mit der Theologie, kam der kühne Denker später immer wieder auf diese Frage zurück, die ihn augenscheinlich nicht mehr losließ. Das beweisen die Schlußsätze seines ebenso kurzen als inhaltsreichen Gesprächs über die Soldaten und Mönche:
«B: Was sind denn Soldaten? – A: Beschützer des Staates. – B: Und Mönche sind Stützen der Kirche. – A: Mit eurem Staat! – B: Mit eurer Kirche! – A: Träumst du? Der Staat! Der Staat! Das Glück, welches der Staat jedem einzelnen Gliede in diesem Leben gewährt! – B: Die Seligkeit, welche die Kirche jedem Menschen nach diesem Leben verheißt! – A: Verheißt! – B: Simpel!»
Das ist ein bewußtes Rütteln an den Grundlagen der alten Gesellschaftsordnung. Lessing ahnte die inneren Zusammenhänge zwischen Religion und Politik. Er ahnte zu mindesten, daß die Frage nach der besten Staatsform ebenso sinnlos war wie die Frage nach der besten Religion, da sie ein Widerspruch in sich selbst ist. Lessing rührte hier an einen Gedanken, den Proudhon später folgerichtig zu Ende dachte. Vielleicht hatte auch Lessing das getan. Die kristallklare Form seines Gesprächs spricht dafür. Aber er hatte das Unglück, seine Tage unter dem Joch eines elenden Winkeldespoten vertrauern zu müssen, und durfte es wohl kaum wagen, seine letzten Gedanken der Öffentlichkeit preiszugeben. Daß Lessing sich über die Tragweite jener Ideengänge völlig klar gewesen ist, dafür spricht auch der Bericht seines Freundes Jacobi aus dem Jahre 1781:
«Lessing sah das Lächerliche und Unselig machende aller politischen Maschinerie auf das lebhafteste ein. In einer Unterredung kam er einmal so sehr in Eifer, daß er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden, und so toll dies klingt, so nahe ist es dennoch der Wahrheit: Die Menschen werden erst dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen.»
Auf ähnlichen Wegen ging auch Herder, der besonders in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit den Versuch machte, die Entstehung des Staates geschichtlich zu erfassen. Er betrachtete den Staat als ein Gebilde späterer Zeiten, dessen Ursprung auf ganz andere Voraussetzungen zurückzuführen ist als die gesellschaftlichen Verbindungen im Naturzustande der Menschheit. In diesem Zustand kannte der Mensch nur eine «natürliche Regierung», die weder auf Herrschaft noch auf die Abgrenzung der Gesellschaft in verschiedene Stände und Kasten begründet war, daher auch ganz andere Ziele verfolgte als das Kunstgebilde des Staates.
«Solange ein Vater über seine Familie herrschte, war er Vater und ließ seine Söhne auch Väter werden, über die er durch Rat zu vermögen suchte. Solange mehrere Stämme aus freier Überlegung zu einem bestimmten Geschäft sich Richter und Führer wählten, so lange waren diese Amtsführer nur Diener des gemeinen Zweckes, bestimmte Vorsteher der Versammlung; der Name Herr, König, eigenmächtiger, willkürlicher, erblicher Despot war Völkern dieser Verfassung etwas Unerhörtes.»
Allein das änderte sich, wie Herder meinte, als «barbarische Horden» über andere Völker herfielen, deren Wohnplätze eroberten und die Einwohner versklavten. Damit entstand seiner Auffassung nach der erste Zwangszustand, entwickelten sich die ersten Ansätze der heutigen Regierungen in Europa: Fürstentümer, Adelsstand, Lehnswesen und Leibeigenschaft sind die Ergebnisse dieses neuen Zustandes und verdrängen das natürliche Recht vergangener Zeiten. Denn der Krieg ist die Einleitung zu aller späteren Versklavung und Tyrannei unter den Menschen.
«Auf diesem königlichen Wege geht die Geschichte fort, und Facta der Geschichte sind nicht zu leugnen. Was brachte die Welt unter Rom? Griechenland und den Orient unter Alexander? Was hat die großen Monarchien bis zu Sesostris und der fabelhaften Semiramis hinauf gestiftet und wieder zertrümmert? Der Krieg. Gewaltsame Eroberungen vertraten also die Stelle des Rechts, das nachher durch Verjährung oder, wie unsere Staatslehrer sagen, durch den schweigenden Kontrakt Recht ward. Der schweigende Kontrakt aber ist in diesem Falle nichts anders, als daß der Starke nimmt, was er will, und der Schwächere gibt und leidet, was er nicht ändern kann.»
So entstand, nach Herder, ein neues Gesellschaftsgebilde und mit ihm eine neue Auffassung des Rechts. Die politische Regierung der Eroberer verdrängt die «natürliche Regierung» frei geschlossener Verbände; das Naturrecht weicht dem positiven Recht des Gesetzgebers. Es beginnt die Ära des Staates, die Ära der Nationen oder Staatsvölker. Nach Herders Auffassung ist der Staat eine Zwangseinrichtung, deren Ursprung sich zwar geschichtlich erklären, aber moralisch nicht rechtfertigen läßt; am wenigsten dort, wo eine fremde Herrenkaste von Eroberern unterdrückte Völker unter ihrem Joche hält.
Herders ganze Auffassung zeigte deutlich den Einfluß von Hume, Shaftesbury, Leibniz und besonders von Diderot, den Herder tief verehrte und dessen persönliche Bekanntschaft er in Paris gemacht hatte. Herder erkannte im Staate etwas historisch Gewordenes, aber er fühlte auch, wie die durch den Staat bewirkte Uniformierung der menschlichen Persönlichkeit sich zu einem Krebsschaden für die kulturelle Entwicklung der Menschheit auswachsen mußte. Deshalb erschien ihm die «leichtere Glückseligkeit einzelner Menschen» als etwas Wünschenswerteres als die «kostbaren Staatsmaschinen», welche mit den durch Eroberung und brutale Gewalt zusammengeschweißten größeren Gesellschaftsverbänden in die Erscheinung traten.
Auch Schiller, obgleich er stark von Kant beeinflußt wurde, folgte in seiner Auffassung vom Staate ganz den Anschauungen der naturrechtlichen Schule, die eine Staatsbetätigung nur insofern anerkennen wollte, als sie das Glück des Einzelwesens förderte. In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts faßte er seine Auffassung über die Stellung des Menschen zum Staate in die Worte:
«Und dann glaube ich, daß jede einzelne, ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die große Menschengesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der Staat ist ein Gesetz des Zufalls, aber der Mensch ist ein notwendiges Wesen, und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig, als durch die Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst und der Schöpfer des Gedankens.»
Bezeichnend für Schillers Auffassung ist auch der Spruch Der beste Staat in den Votivtafeln:
«Woran erkenn’ ich den besten Staat? Woran du die beste Frau kennst – daran, mein Freund, daß man von beiden nicht spricht.»
Das ist dem Sinne nach nur eine Umschreibung des Jeffersonschen Gedankens: «Diejenige Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert.» – Ein ähnlicher Gedanke liegt auch dem Spruch Die beste Staatsverfassung zugrunde:
«Diese nur kann ich dafür erkennen, die jedem erleichtert, gut zu denken, doch nie, daß er so denke, bedarf.»
Dieses innere Widerstreben gegen die Vorstellung eines Staates, der den Menschen die Art ihres Denkens vorschreiben könnte, auch wenn dieses Denken als gut zu erkennen wäre, ist bezeichnend für die geistige Einstellung der besten Köpfe jener Zeit. Man hatte damals noch kein Verständnis für den staatlich patentierten Modellbürger, der den Trägern des nationalen Gedankens heute als vaterländisches Ideal vorschwebt und den man durch eine «wirklich nationale Gesetzgebung», insbesondere aber durch eine «streng nationale Erziehung» künstlich erzeugen zu können glaubt.
Goethe stand den politischen Problemen der Zeit anscheinend gleichgültig gegenüber, vielleicht weil er erkannt hatte, daß «Freiheiten» nicht das Wesen der Freiheit ausmachen, das sich in keiner politischen Satzung unterbringen läßt. Der Herr Geheimrat, der Hofmann und Minister Goethe ist oft erschreckend engherzig und von beschämender Dürftigkeit, wozu die trostlose Gebundenheit des deutschen Gesellschaftslebens jener Tage nicht wenig beigetragen hat. Niemand fühlte den Abstand zwischen sich und seinem Volke so tief als Goethe selbst; er ist diesem Volke niemals nähergekommen und ist ihm im großen und ganzen bis heute ein Fremder geblieben. Gerade weil seine Weltauffassung so allseitig und allumspannend war, mußte ihm die ganze Gedrücktheit des gesellschaftlichen Lebens, in das er gebannt war, um so schmerzlicher zum Bewußtsein kommen. Goethe wurzelte nicht in seinem Volke. – «Es waltet in dem deutschen Volke eine Art geistiger Exaltation, die mich fremdartig anweht», sagte er zu dem russischen Grafen Stroganoff. «Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben im abstrakten Charakter, fern von den Naturquellen, die sie ernähren sollten.»
In diesen Worten spiegelt sich die ganze Kluft, die Goethe von den deutschen Zeitgenossen trennte; um so tiefer wurzelte er im Urgrund alles Menschentums. Das blöde Geschwafel von der «inneren Seelenharmonie des großen Olympiers» ist schon längst als konventionelle Lüge erkannt. Durch Goethes ganzes Wesen ging ein Riß, und der vergebliche Versuch, der inneren Zerklüftung Herr zu werden, war vielleicht die heroischste Seite dieses seltsamen Lebens.
Aber der Dichter und Seher Goethe, dessen genialer Weitblick die Kultur von Jahrhunderten umspannte, der Mann, der seinen Prometheus in die Welt brauste, das – wie Brandes mit Recht sagte – «größte Revolutionsgedicht, das je geschrieben wurde», war ein zu großer Bewunderer der menschlichen Persönlichkeit, als daß er sie dem toten Räderwerk einer alles nivellierenden Maschine hätte ausliefern wollen.
«Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.»
Goethe ist dieser Auffassung im tiefsten Grunde seines Wesens immer treugeblieben. Er, der im ersten Teil des Faust die schicksalsschweren Worte prägte:
«Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ewige Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.
verkündete noch als Greis:
Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient die Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.»
In diesem Sinne und wohl kaum anders ist auch der Spruch in den Maximen zu verstehen: «Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.»
Einen starken Einfluß hatten der politische Radikalismus der Engländer und die Aufklärungsliteratur der Franzosen auch auf Wieland, dessen Auffassungen über die Beziehungen des Menschen zum Staate ganz auf das Naturrecht zurückgreifen. Das kommt besonders in seinen beiden Werken Der goldene Spiegel und Nachlaß des Diogenes von Sinope zum Ausdruck. Daß Wieland gerade den alten Weisen von Korinth zum Künder seiner Ideen erkoren hatte, ist an und für sich schon bezeichnend für die Geistesrichtung, die er verfolgte.
Auch G. Ch. Lichtenberg, der sich an Swift, Fielding und Sterne geistig aufrichtete und dafür die ganze Misere der deutschen Verhältnisse um so schwerer empfinden mußte, soll hier genannt werden, so J. G. Seume und vor allen Jean Paul, dieser unentwegte Verteidiger der Freiheit, der wie Herder den Ursprung des Staates auf Eroberung und Sklaverei zurückführte und dessen Werke auf die besten seiner Zeitgenossen einen so bezwingenden Einfluß hatten. Die männlichen Worte, die er in seiner Kriegserklärung gegen den Krieg den Deutschen in die Ohren schrie, sind heute leider vergessen in Deutschland, aber darum nicht minder wahr.
«Die Eroberer wird kein Buch erobern und bereden, aber gegen das vergiftende Bewundern derselben soll man sprechen. Schelling redet von ‹einem fast göttlichen Rechte des Eroberers› er hat aber die Straßenräuber gegen sich, welche in dieser Sache einem Alexander und Cäsar ins Gesicht dasselbe für sich behaupteten und welche wieder den Kaiser Markus Aurelius für sich haben, der in Dalmatien gefangene Räuber zu Soldaten avancieren ließ.»
Hölderlin aber, der unglückselige Dichter, der in seinem Hyperion den Deutschen so furchtbare Wahrheiten ins Gesicht schleuderte, schrieb die inhaltsschweren Worte:
«Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das laß’ er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag’ es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. – Die rauhe Hülle um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten der menschlichen Früchte und Blumen. Aber, was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein.»
Solche Ideen waren unter den Männern, denen Deutschland die Wiedergeburt seines geistigen Lebens zu verdanken hatte, nicht selten, obgleich sie infolge der traurigen Zerfahrenheit der deutschen Verhältnisse und der grenzenlosen Willkür des typisch deutschen Winkeldespotismus nicht immer und nicht überall mit derselben Schärfe und Folgerichtigkeit hervortreten konnten wie in England und Frankreich. Dafür aber finden wir bei all diesen Männern jenen großen weltbürgerlichen Zug, der sich nicht durch die Beschränktheit nationaler Begriffe gebunden fühlt und die Menschheit als ein Ganzes umfaßte. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und seine geistvollen Briefe zur Beförderung der Humanität sind glänzende Erzeugnisse dieses Geistes, der tief in den Köpfen der Besten wurzelte, bis ihm durch die Auswirkung der sogenannten «Freiheitskriege», durch den geistigen Niederschlag der Ideen Fichtes und Hegels und den Staatbegriff der Romantiker eine vorläufige Grenze gesetzt wurde.
Lessing offenbarte in seinen Briefen an Gleim ganz ungeschminkt seinen bedenklichen Mangel an der vorgeschriebenen vaterländischen Gesinnung:
«Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten nach meiner Denkungsart das Allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrte, daß ich ein Weltbürger sein sollte.»
Und an einer anderen Stelle heißt es:
«Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mir leid, daß ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gerne entbehre.»
Auch Schiller, den der deutsche Spießer heute geräuschvoll als den großen Künder der nationalen Belange feiert, wobei man sich in der Regel auf ein Zitat aus dem Wilhelm Tell beruft, den Friedrich II. «ein Stück für Juden und Revolutionäre» gescholten hatte, und auf das bekannte Wort: «Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre!» aus der Jungfrau von Orléans, das, aus seinem Zusammenhang gerissen, einen ganz anderen Sinn ergibt, auch Schiller erklärte mit weltbürgerlicher Überlegenheit:
«Wir Neueren haben ein Interesse in unserer Gewalt, das kein Grieche und kein Römer gekannt hat und dem das vaterländische Interesse bei weitem nicht beikommt. Das letztere ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt. Ein ganz anderes Interesse ist es, jede merkwürdige Begebenheit, die mit Menschen vorging, dem Menschen wichtig darzustellen. Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragment (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stillestehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist.»
Von Goethe, der von sich selbst behauptet hatte: «Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines Lebens ist der Triumph des Reinmenschlichen», und dem man seinen Mangel an vaterländischer Gesinnung in der Zeit der «Freiheitskriege» selbst heute noch nicht vergessen hat, soll erst gar nicht die Rede sein.
Wenn die betriebsamen Verkünder des Dritten Reiches heute den Liberalismus als «ein undeutsches Erzeugnis» in Grund und Boden verdonnern und mit Herrn Möller van den Bruck mit grammophonischer Beharrlichkeit wiederholen: «Der Liberalismus ist die Freiheit, keine Gesinnung zu haben und gleichwohl zu behaupten, daß eben dies Gesinnung sei», so kann man ihnen nur entgegenhalten, daß dieses, «undeutsche Erzeugnis» einst geistiges Gemeingut derer gewesen ist, die aus Deutschland wieder eine Kulturgemeinschaft geformt haben, nachdem politische und soziale Barbarei das geistige Leben des Landes auf Jahrhunderte hinaus erstickt hatten. Aus jener «Gesinnungslosigkeit» ist Deutschland erst wieder neu geboren worden.
Was die Begründer deutscher Literatur und Dichtung am tiefsten bewegte, hat Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, sozialphilosophisch zusammengefaßt. Das Werkchen wurde 1792 unter dem unmittelbaren Eindruck der revolutionären Ereignisse in Frankreich geschrieben, doch gelangten nur einzelne Bruchstücke daraus damals in verschiedenen deutschen Zeitschriften zum Abdruck; als Ganzes wurde die geistvolle Arbeit erst 1851 veröffentlicht, nachdem ihr Verfasser bereits gestorben war. Über den Zweck seines Versuches schrieb Humboldt im Juni 1792 an den ihm geistesverwandten Georg Forster: «Ich habe der Sucht zu regieren entgegenzuarbeiten versucht und überall die Grenzen der Wirksamkeit [des Staates] enger geschlossen.»
Humboldt trat vor allem der grundlosen Vorstellung entgegen, daß der Staat aus sich selbst den Menschen etwas geben könnte, was er nicht früher von ihnen empfangen hat. Besonders widerstrebte ihm der Gedanke, daß die Staatsgewalt dazu berufen sei, die sittlichen Eigenschaften des Menschen zu heben, ein Wahnglaube, der später unter dem Einfluß Hegels die besten Köpfe Deutschlands benebelte. Als geschworener Gegner jeder Gleichförmigkeit des Denkens verwarf Humboldt grundsätzlich jede Uniformierung sittlicher Begriffe und erklärte kühn: «Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die Ausbildung seiner Kräfte in ihrer persönlichen Eigentümlichkeit.» – Deshalb erschien ihm die Freiheit als die einzige Bürgschaft für den kulturellen und geistigen Aufstieg des Menschen und für die Entfaltung seiner besten sittlichen und sozialen Fähigkeiten. Er wollte den Menschen bewahren vor dem toten Räderwerk der politischen Maschine, in deren fühllöse Arme wir geraten sind; daher sein Widerwille gegen alles Mechanische und Erkünstelte, das keiner geistigen Befruchtung zugänglich ist und unter dessen automatischer Folgerichtigkeit jeder lebendige Hauch ersterben muß.
«Allein freilich – sagt Humboldt – ist die Freiheit die notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen dieser Art hervorzubringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.»
Deshalb wollte Humboldt die Betätigung des Staates auf das Unumgänglichste beschränkt sehen und ihm nur jene Gebiete anvertrauen, die sich auf die persönliche Sicherheit des Einzelwesens und der Gesellschaft als Ganzes bezogen. Was darüber hinausging, erschien ihm vom Übel und als ein gewaltsamer Eingriff in das Recht der Persönlichkeit, der sich nur schädlich auswirken konnte. Preußen gab ihm in dieser Hinsicht den besten Anschauungsunterricht, denn in keinem Lande hatte die staatliche Bevormundung so ungeheuerliche Formen angenommen als dort, wo unter der Willkürherrschaft geistloser Despoten der Korporalstock auch das Zepter in Zivilangelegenheiten war. Das ging so weit, daß unter Friedrich Wilhelm sogar die Schauspieler des königlichen Theaters in Berlin der militärischen Disziplin unterstellt wurden und eine besondere Spezialverordnung in Kraft trat, «nach der die Künstler, welchem Range oder Geschlecht sie angehören mochten, bei ihren Übertretungen auf die Festung geschickt wurden, als wären es Soldaten oder Rebellen».[49]
Derselbe Geist, der in der trostlosen Erniedrigung des Menschen zur toten Maschine die höchste Weisheit aller Staatskunst erblickt und den ödesten Kadavergehorsam als höchste Tugend anpreist, feiert heute seine schamlose Wiederauferstehung in Deutschland und vergiftet die Herzen der Jugend, deren Gewissen er totschlägt, deren Menschlichkeit er vor die Hunde schickt.
Auch in Frankreich wurden die großen Erneuerer des geistigen Lebens vor dem Ausbruch der großen Revolution vielfach von den Ideen des politischen Radikalismus in England befruchtet. Montesquieu, Voltaire, Helvetius, Holbach, Diderot, Condorcet und manche andere sind bei den Engländern in die Schule gegangen. Allerdings erhielten die übernommenen Gedanken bei den Franzosen eine besondere Färbung, was sich zum großen Teil auf die besonderen gesellschaftlichen Bedingungen des Landes zurückführen läßt, die von den Zuständen in England wesentlich verschieden waren. Mit der Ausnahme von Diderot und Condorcet standen die meisten der politischen Neuerer in Frankreich den Ideengängen der Demokratie näher als dem eigentlichen Liberalismus und haben trotz ihrer scharfen Angriffe gegen den Absolutismus wesentlich dazu beigetragen, die Staatsgewalt zu stärken, indem sie jenen blinden Glauben an die Allmacht gesetzgebender Körperschaften und geschriebener Gesetze Nahrung gaben, der sich in der Folge so verhängnisvoll auswirken sollte.
Bei Voltaire, dem es hauptsächlich auf eine möglichst weitgefaßte «Freiheit des Gesetzes» ankam, spielte die Frage der Regierungsform eine ziemlich untergeordnete Rolle. Ein aufgeklärter Monarch, umgeben von der geistigen Elite des Landes, hätte seinen Ansprüchen völlig genügt. Voltaire war zwar eine Kampfnatur, stets bereit, in Einzelfällen gegen überlieferte Vorurteile und begangenes Unrecht in die Schranken zu treten, aber ein Revolutionär im eigentlichen Sinne war er nicht. Nichts lag ihm ferner als eine gesellschaftliche Umwälzung, obgleich er mit zu den bedeutendsten Köpfen zählte, welche die große Revolution in Frankreich geistig vorbereitet haben. Am allerwenigsten war er der Träger eines bestimmten politischen Systems; deshalb konnte er auf die sozialpolitische Gestaltung der heraufziehenden Revolution niemals den Einfluß haben wie Rousseau oder auch nur Montesquieu.
Dasselbe gilt auch für Diderot, der zwar der umfassendste Geist seiner Zeit gewesen ist, sich aber gerade deshalb als Autorität für ein politisches Parteiprogramm am wenigsten eignete. Und doch ging Diderot in seinen gesellschaftskritischen Folgerungen viel weiter als irgendeiner seiner Zeitgenossen. In ihm verkörperte sich der liberale Geist in Frankreich am reinsten. Ein begeisterter Anhänger der aufkommenden Naturwissenschaften, war seinem Denken jedes künstliche Gebilde, welches der natürlichen Gestaltung der sozialen Lebensformen im Wege stand, im Innersten zuwider. Auf Grund dieser Auffassung erschien ihm die Freiheit als der Anfang und das Ende aller Dinge; Freiheit aber war für Diderot «die Möglichkeit, eine Handlung, unabhängig von aller Vergangenheit, aus sich selbst heraus beginnen zu können», wie er in seinem Gespräch mit d’Alembert so geistvoll auseinandersetzte. Die ganze Natur war ihm dazu da, um die Gestaltung der Erscheinungen aus sich selbst zu veranschaulichen. Ohne Freiheit hätte die Geschichte der Menschheit überhaupt keine Bedeutung, denn es war die Freiheit, die jede Neugestaltung der Gesellschaft bewirkte und jedem ursprünglichen Gedanken den Weg bahnte.
Bei einer solchen Auffassung konnte es nicht ausbleiben, daß der französische Denker zu ähnlichen Folgerungen gelangen mußte wie nach ihm William Godwin. Zwar hat er seine Ideen nicht wie dieser in einem besonderen Werke zusammengefaßt, aber sie finden sich überall verstreut in seinen Schriften und zeigen deutlich, daß es sich bei Diderot nicht um einige zufällige Bemerkungen handelte, deren tieferer Sinn ihm selbst nicht zum Bewußtsein kam; nein, es war seines eigenen Wesens tiefster Kern, der ihn so sprechen ließ. Welches Werk von ihm man immer zur Hand nimmt, überall weht uns daraus ein wahrhaft freier Geist entgegen, der sich in keinem Dogma festgefahren und daher seine unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit nicht eingebüßt hatte. Man lese seine Pensées sur l’interprétation de la nature und man fühlt sofort, daß dieser wunderbare Hymnus auf die Natur und alles Leben nur von einem Menschen geschrieben werden konnte, der sich selbst von jeder inneren Gebundenheit befreit hatte. Es war dieser tiefste Wesenskern in Diderots Persönlichkeit, der Goethe, dem er in hohem Grade geistesverwandt war, in dem bekannten Brief an Zelter die Worte in die Feder fließen ließ:
«Diderot ist Diderot, ein einziges Individuum; wer an ihm und seinen Sachen mäkelt, ist ein Philister, und deren sind Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott noch von der Natur noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist.»
Besonders in seinen kleineren Schriften kommt der freiheitliche Charakter von Diderots Denken am trefflichsten zum Ausdruck, so im Entretiens d’un père avec ses enfants, das vieles aus Diderots eigener Jugend enthält, ganz besonders im Supplément au voyage de Bougainville und in der Dichtung Les Eleutheromanes ou abdication d’un roi de la fève.[50]
Auch in zahlreichen Abhandlungen der monumentalen Encyclopédie, deren Vollendung nur der zähen Energie Diderots zu danken ist und für die er allein über tausend Beiträge geliefert hatte, treten die Grundideen seines Denkens häufig sehr deutlich hervor, obwohl die Herausgeber alle List aufwenden mußten, um das wachsame Auge der königlichen Zensur zu täuschen. So erklärte er zum Beispiel in dem aus seiner Feder stammenden Beitrag Autorität, daß «keinem Menschen von der Natur das Recht verliehen wurde, über andere zu herrschen», und führte jedes Machtverhältnis auf gewaltsame Unterdrückung zurück, deren Dauer so lange währt, als die Herren sich stärker fühlen als die Sklaven, und die in nichts zerfällt, sobald das Gegenteil eintritt. In diesem Falle haben die früheren Unterdrückten dasselbe Recht für sich, das ihren gewesenen Herren einst dazu dienen mußte, sie der Willkür ihrer Tyrannei zu unterwerfen.
Wie Voltaire, so stand auch Montesquieu stark unter dem Einfluß der englischen Verfassung und der Ideen, die zu ihrer mählichen Ausgestaltung geführt hatten. Doch ging er, im Gegensatz zu Locke und seinen Nachfolgern, nicht vom Naturrecht aus, dessen schwache Seiten ihm nicht entgangen waren, sondern versuchte, die Entstehung des Staates geschichtlich zu erklären, wobei er den Standpunkt vertrat, daß das Suchen nach einer idealen Staatsform, die für alle Völker gleiches Geltungsrecht besitzt, eine Illusion sei, da sich jedes politische Gebilde aus bestimmten natürlichen Voraussetzungen gestalte und in jedem Lande, die Formen annehmen müsse, die ihm durch die natürliche Umwelt bestimmt sind. So führte er zum Beispiel in seinem Hauptwerk L’esprit des Lois mit großem Scharfsinn aus, daß die Bewohner eines fruchtbaren Gebietes, das leicht der Gefahr der Verheerung durch kriegerische Anfälle von außen ausgesetzt ist, ihre Freiheit in der Regel weniger hoch einschätzen und sich leichter einem Despoten unterwerfen, der ihnen Schutz gegen fremde Angriffe gewährt, als dies bei den Bewohnern unfruchtbarer Gebirgsgegenden der Fall sein dürfte. Und er belegte seine Ansichten durch verschiedene interessante Beispiele aus der Geschichte.
Montesquieus eigentliches politisches Ideal war die konstitutionelle Monarchie nach englischem Muster, basiert auf dem Vertretungssystem und mit Teilung der Gewalten, um nicht durch eine Anhäufung aller Machtmittel in einer Hand die Rechte des Bürgers und den Bestand des Staatswesens steten Gefahren auszusetzen. Der französische Denker unterscheidet zwischen Despotien, wo jede staatliche Betätigung durch die willkürliche Entscheidung des Herrschers bedingt ist, und wahrhaften Monarchien oder auch Republiken, wo alle Fragen des öffentlichen Lebens durch Gesetze entschieden werden. Gesetze sind für Montesquieu nicht Ergebnisse der Willkür, sondern Verhältnisse der Dinge zueinander und deren Beziehungen zum Menschen. Obzwar er selber ausführte, daß die Bedeutung des Gesetzes nicht in seinem äußeren Zwange, sondern in dem Glauben der Menschen an seine Nützlichkeit zu suchen sei, so läßt sich doch nicht verkennen, daß seine Ideen, die einen großen Einfluß auf das Denken der Zeit hatten, viel dazu beigetragen haben, jene blinde Gesetzgläubigkeit zu entwickeln, die für die Zeit der großen Revolution und für die demokratischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert so bezeichnend ist. Montesquieu bildet sozusagen den Übergang vom Liberalismus zur Demokratie, die in der Person Rousseaus ihren einflußreichsten Vertreter finden sollte.
X. Liberalismus und Demokratie
Die Beziehungen des Liberalismus zur Demokratie. Rousseaus Idee vom «Gemeinwillen». Rousseau und Hobbes. Rousseau als Schöpfer der modernen Staatsreaktion. Der Gesellschaftsvertrag und die Gleichheit vor dem Gesetz. Rousseaus Begriff vom Recht. Demokratie und Diktatur. Rousseaus Einfluß auf die Französische Revolution. Die Jakobiner als Testamentsvollstrecker der Monarchie. Der Zentralismus. Der «Sonnenkönig» und die «Sonnennation». Nationalismus und Demokratie. Die Nation als Trägerin des «Gemeinwillens». Der neue Souverän. Der Nationalismus als Kultus des neuen Staates. Der «nationale Wille». Napoleon als Erbe der neuen Staatsidee. Der Traum von der nationalen Allmacht des Staates. Die Umformung der Gesellschaft. Der Bürger als Soldat. Der neue Machttraum.
Zwischen Liberalismus und Demokratie besteht ein Wesensunterschied, dem zwei verschiedene Auffassungen über die Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft zugrunde liegen. Es sei im voraus bemerkt, daß wir hier lediglich die sozialpolitischen Ideenströmungen des Liberalismus und der Demokratie im Auge haben, nicht die Bestrebungen der liberalen und demokratischen Parteien, die zu ihren ursprünglichen Idealen vielfach in einem ähnlichen Verhältnis stehen wie die realpolitischen Versuche der sozialistischen Arbeiterparteien zum Sozialismus. Vor allem aber muß man sich davor hüten, den Liberalismus mit den wirtschaftlichen Anschauungen des sogenannten Manchestertums in einen Topf zu werfen, wie das sooft geschieht.
Auch für den Liberalismus gilt die alte Weisheit des Protagoras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei. Von dieser Erkenntnis ausgehend, beurteilt er die gesellschaftliche Umwelt, je nachdem sie der natürlichen Entwicklung des Einzelwesens förderlich ist oder aber seiner persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit hindernd im Wege steht. Seine Vorstellung von der Gesellschaft ist die eines organischen Geschehens, das sich aus den natürlichen Bedürfnissen der Menschen ergibt und zu freiwilligen Bindungen führt, die so lange bestehen, als sie ihren Zweck erfüllen, und sich wieder lösen, wenn dieser Zweck gegenstandslos geworden ist. Je weniger dieser natürliche Lauf der Dinge durch gewaltsame Eingriffe und mechanisches Regulieren von außen her beeinträchtigt wird, desto reibungsloser und ungezwungener vollziehen sich alle gesellschaftlichen Vorgänge, in desto höherem Maße kann der Mensch das Glück seiner persönlichen Freiheit und Ungebundenheit genießen.
Von diesem Gesichtspunkte beurteilte der Liberalismus auch den Staat und alles Regierungswesen. Seine Träger glaubten zwar, daß eine Regierung für gewisse Dinge nicht ganz zu entbehren sei, aber sie waren sich auch klar darüber, daß jede Regierungsform die Freiheit des Menschen bedrohte, weshalb sie stets bestrebt waren, das Einzelwesen vor Übergriffen der Regierungsgewalt zu bewahren und dieser ein möglichst kleines Betätigungsfeld einzuräumen. Die Verwaltung der Dinge galt ihnen mehr als das Regieren über Menschen; der Staat hatte daher für sie nur insofern Existenzberechtigung, als seine Organe bestrebt waren, die persönliche Sicherheit des Bürgers gegen gewaltsame Angriffe zu schirmen. Die Staatsverfassung des Liberalismus war also vorwiegend negativer Natur; im Brennpunkt aller sozialpolitischen Erwägungen seiner Träger stand die größtmögliche Freiheit des Einzelwesens.
Im Gegensatz zum Liberalismus war der Ausgangspunkt der Demokratie ein Kollektivbegriff – das Volk, die Allgemeinheit. Aber gerade diese abstrakte Vorstellung, auf welcher der demokratische Gedanke fußte, konnte nur zu Ergebnissen führen, die sich für das Eigenleben der menschlichen Persönlichkeit verhängnisvoll auswirken mußten; um so mehr, als sie von der Gloriole eines erdichteten Freiheitsbegriffes umstrahlt war, dessen Wert oder Unwert erst noch erprobt werden mußte. Rousseau, der eigentliche Prophet der neueren demokratischen Staatsidee, hatte in seinem Contrat social der Souveränität der Könige die «Souveränität des Volkes» entgegengestellt; so wurde die Oberhoheit des Volkes zum Schlagwort der Freiheit gegen die Tyrannei des alten Regimes. Das allein mußte der demokratischen Idee ein mächtiges Ansehen geben; denn keine Macht ist stärker als die, welche vorgibt, auf den Prinzipien der Freiheit zu fußen.
Auch Rousseau ging in seinen sozialphilosophischen Betrachtungen von der Lehre des Gesellschaftsvertrags aus, die er von den Vertretern des politischen Radikalismus in England übernommen hatte, und es war diese Lehre, die seinem Werke die Kraft verlieh, dem absoluten Königtum in Frankreich so furchtbare Wunden zu schlagen. Das ist auch die Ursache, weshalb über Rousseau und seine Lehre selbst heute noch so viele sich widersprechende Meinungen im Umlauf sind. Jeder weiß, bis zu welchem Maße seine Ideen zum Sturze des alten Systems beigetragen haben und wie stark die Männer der großen Revolution von seiner Lehre beeinflußt wurden. Gerade darum übersieht man nur allzu häufig, daß Rousseau in derselben Zeit der Apostel einer neuen politischen Religion gewesen ist, deren Folgen sich für die Freiheit des Menschen nicht minder schädlich auswirken mußten als früher der Glaube an das Gottesgnadentum der Könige. In der Tat war Rousseau einer der Erfinder jener abstrakten Staatsidee, die in Europa aufkam, nachdem die fetischistische Periode des Staates, die in der Person des absoluten Monarchen ihren Ausdruck fand, zu Ende war. Nicht mit Unrecht nannte Bakunin Rousseau den «wahren Schöpfer der modernen Reaktion». War er doch einer der geistigen Väter jener ungeheuerlichen Idee einer alles beherrschenden, alles umfassenden politischen Vorsehung, die den Menschen nie aus dem Auge läßt und ihm unbarmherzig den Stempel ihres höheren Willens aufdrückt. Rousseau und Hegel sind – jeder in seiner Art – die beiden Torhüter der modernen Staatsreaktion, die sich später anschickte, im Faschismus die höchste Stufe ihrer Allmacht zu erklimmen. Nur war der Einfluß des «Bürgers von Genf» auf den Gang dieser Entwicklung größer, da sein Werk die öffentliche Meinung Europas tiefer aufwühlte, als die dunkle Symbolik Hegels es tun konnte.
Rousseaus Idealstaat ist ein künstlich konstruiertes Gebilde. Zwar hatte er von Montesquieu gelernt, die verschiedenen Staatssysteme aus der besonderen klimatischen Umwelt jedes Volkes zu erklären, doch folgte er trotz alledem den Spuren der politischen Alchimisten seiner Zeit, die mit den «unedlen Bestandteilen der menschlichen Natur» alle denkbaren Versuche anstellten, in der steten Hoffnung, eines Tages das reine Gold des absoluten Vernunftstaates aus der Retorte ihrer müßigen Spekulationen fischen zu können. War er doch felsenfest davon überzeugt, daß es nur auf die richtige Regierungsform und die beste Art der Gesetzgebung ankomme, um die Menschen zu vollkommenen Geschöpfen heranzubilden. So erklärte er in seinen Bekenntnissen:
«Ich fand, daß das erste Förderungsmittel der Moral die Politik sei, daß, man möchte die Sache auch angreifen, wie man wollte, der Charakter eines Volkes sich immer nach der ihm eigenen Regierungsform bilden würde. In dieser Hinsicht schien mir die große Frage nach der besten Staatsform sich zurückführen zu lassen auf diese: Wie muß eine Regierungsform beschaffen sein, um ein Volk zum tugendhaftesten, aufgeklärtesten, weisesten, mit einem Wort besten, im vollsten Sinne besten Volke zu bilden?»
Diese Auffassung ist für den theoretischen Ausgangspunkt aller demokratischen Gedankengänge im allgemeinen und für die Mentalität Rousseaus im besonderen bezeichnend. Weil die Demokratie von einer Kollektivvorstellung ausging und von dieser aus das Einzelwesen wertete, wurde der Mensch ihren Trägern zur abstrakten Wesenheit, an der man so lange herumexperimentieren konnte, bis sie die gewünschte Form annimmt und sich als Musterbürger den Formen des Staates anpaßt. Nicht umsonst nannte Rousseau den Gesetzgeber den «Mechaniker, welcher die Maschine erfindet»; in der Tat haftet der modernen Demokratie etwas Mechanisches an, hinter dessen Räderwerk der Mensch verschwindet. Da aber selbst die Demokratie im Sinne Rousseaus ohne den Menschen nicht auskommen kann, so spannt sie ihn vorher in ein Prokrustesbett, damit er das geistige Format annimmt, welches der Staat benötigt.
Wenn Hobbes die absolute Staatsgewalt in der Person des Monarchen verkörpert sehen wollte, demgegenüber das Recht des Einzelwesens nicht bestehen kann, so erfand Rousseau einen Schemen, dem er dieselben absoluten Rechte übertrug. Der «Leviathan», der ihm vorschwebte, empfing seine Machtvollkommenheit aus einem Kollektivbegriff, dem sogenannten «Gemeinwillen» – der volonté générale. Doch der Gemeinwille Rousseaus ist nicht etwa der Wille aller, der dadurch zustande kommt, daß man jeden Individualwillen mit allen anderen addiert und auf diese Art zu der abstrakten Vorstellung eines Gesellschaftswillens gelangt; nein, der Gemeinwille Rousseaus ist das unmittelbare Ergebnis des Sozialvertrages, aus dem seiner Auffassung nach die politische Gesellschaft, der Staat hervorgegangen ist. Deshalb ist der Gemeinwille stets richtig, stets unfehlbar, da seine Betätigung in allen Fällen das allgemeine Wohl zur Voraussetzung hat.
Die Idee Rousseaus entspringt einer religiösen Einbildung, die in der Vorstellung einer politischen Vorsehung wurzelt und als solche mit der Gabe der Allweisheit und Allvollkommenheit ausgerüstet ist, daher nie vom rechten Wege abweichen kann. Jeder persönliche Einspruch gegen das Walten einer solchen Vorsehung kommt einer politischen Gotteslästerung gleich. Wohl können die Menschen in der Auslegung des Gemeinwillens irren, denn «das Volk läßt sich zwar nie bestechen – wie Rousseau meinte –, wohl aber oft hinter das Licht führen». Der Gemeinwille selbst aber bleibt von jeder falschen Deutung unberührt und schwebt wie der Geist Gottes über den Wassern der öffentlichen Meinung. Denn nur diese kann von Zeit zu Zeit auf Irrwege geraten, doch wird sie sich immer wieder zum Mittelpunkt alles gesellschaftlichen Gleichgewichts zurückfinden wie die mißleiteten Juden zu Jehova. Von dieser erklügelten Vorstellung ausgehend, verwirft Rousseau jede Sonderbindung innerhalb des Staates, da durch eine solche das klare Erkennen des Gemeinwillens beeinträchtigt wird.
Die Jakobiner, diesen Spuren nachgehend, bedrohten deshalb die ersten Versuche der französischen Arbeiter, die sich in gewerkschaftlichen Verbänden zusammenschlössen, mit dem Tode und erklärten, daß die Nationalvertretung keinen «Staat im Staate» dulden könne, weil durch solche Bindungen der reine Ausdruck des Gemeinwillens gestört werde. Später machte sich der Bolschewismus in Rußland und der Faschismus in Deutschland und Italien dieselbe Lehre zu eigen, indem sie alle unbequemen Sonderverbindungen unterdrückten und jene, die sie fortbestehen ließen, in Organe des Staates umgestalteten.
So erwuchs aus der Idee des Gemeinwillens eine neue Tyrannei, deren Ketten um so dauerhafter waren, als man sie mit dem Flittergold einer eingebildeten Freiheit beputzt hatte, der Rousseauschen Freiheit, die ebenso wesenlos und schemenhaft war wie die famose Vorstellung vom Gemeinwillen. Rousseau wurde zum Schöpfer eines neuen Götzen, dem der Mensch mit derselben Inbrunst Freiheit und Leben opferte wie einst den gefallenen Göttern einer gewesenen Zeit. Angesichts der unbegrenzten Machtvollkommenheit eines erdichteten Gemeinwillens wurde jede Selbständigkeit des Denkens zum Verbrechen, jede Vernunft, wie bei Luther, zur «Hure des Teufels». Auch für Rousseau wurde der Staat zum Schöpfer und Erhalter aller Sittlichkeit, der gegenüber kein anderer Moralbegriff bestehen konnte. Es war nur eine Wiederholung derselben uralten blutigen Tragödie. Gott alles, der Mensch nichts!
Es liegt viel Unaufrichtigkeit und augenblendende Spiegelfechterei in Rousseaus Lehre, die vielleicht nur in der erschreckenden Engherzigkeit und dem krankhaften Mißtrauen des Mannes ihre Erklärung findet. Wieviel heillose Spitzfindigkeit und abstoßende Heuchelei verbirgt sich in den Worten:
«Damit demnach der Gesellschaftsvertrag keine leere Form sei, enthält er stillschweigend folgende Verpflichtung, die allein den übrigen Kraft gewähren kann; sie besteht darin, daß jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll; das hat keine andere Bedeutung, als daß man ihn zwingen werde, frei zu sein?»[51]
«Daß man ihn zwingen werde, frei zu sein!» – Die Freiheit in der Zwangsjacke der Staatsgewalt! Gibt es eine schlimmere Parodie auf jedes freiheitliche Empfinden als diese? Und den Mann, dessen krankes Hirn eine solche Ungeheuerlichkeit ausbrüten konnte, preist man noch heute als Apostel der Freiheit! Aber schließlich ist Rousseaus Auffassung nur das Ergebnis eines durch und durch doktrinären Denkens, das alles Lebendige der toten Dogmatik einer Theorie opfert und dessen Träger mit der Verbissenheit eines Besessenen über Menschenschicksale hinweggeht, als wenn es Seifenblasen wären. Für den wirklichen Menschen hatte Rousseau ebensowenig Verständnis wie Hegel. Sein Mensch war ein in der Retorte erzeugtes Kunstprodukt, der Homunkulus eines politischen Alchimisten, der allen Anforderungen entspricht, die der Gemeinwille für ihn vorbereitet hat. Er ist weder Herr seines eigenen Lebens noch seines eigenen Denkens; er fühlt, denkt, handelt mit der mechanischen Präzision einer Maschine, die von einer fixen Idee in Bewegung gesetzt wird. Wenn er überhaupt lebt, so geschieht es nur durch die Gnade einer politischen Vorsehung, solange diese an seinem persönlichen Dasein keinen Anstoß nimmt.
Denn «der Gesellschaftsvertrag bezweckt die Erhaltung der Gesellschafter. Wer den Zweck will, ist auch mit den Mitteln einverstanden, und diese Mittel lassen sich von einigen Gefahren, ja sogar von einigen Verlusten gar nicht trennen. Wer sein Leben auf Kosten anderer erhalten will, muß es, sobald es nötig ist, auch für sie hingeben. Der Staatsbürger ist deshalb auch nicht länger Richter über die Gefahr, der er sich auf Verlangen des Gesetzes aussetzen soll; und wenn der Fürst (Staat) ihm gesagt hat: Dein Tod ist für den Staat erforderlich, so muß er sterben, da er nur auf diese Bedingung hin bisher in Sicherheit gelebt hat und sein Leben nicht mehr ausschließlich eine Wohltat der Natur, sondern ein ihm bedingungsweise bewilligtes Geschenk des Staates ist.»[52]
Was Rousseau Freiheit nannte, ist die Freiheit, das tun zu müssen, was der Staat als Hüter des Gemeinwillens dem Bürger vorschreibt; es ist die Abstimmung alles menschlichen Empfindens auf einen Ton, die Beseitigung der reichen Mannigfaltigkeit des Lebens, die mechanische Einstellung alles Strebens auf eine bestimmte Norm. Diese zu erreichen, ist die höchste Aufgabe des Gesetzgebers, der bei Rousseau die Rolle eines politischen Hohenpriesters spielt, die ihm durch die Heiligkeit seines Amtes verliehen wird. Seine Pflicht ist es, die Natur zu korrigieren und den Menschen zu einem besonderen politischen Wesen umzugestalten, das mit seinen ursprünglichen Veranlagungen nichts mehr gemein hat.
«Wer den Mut besitzt, einem Volke Einrichtungen zu geben, muß sich imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein zu setzen. Kurz, er muß dem Menschen die ihm eigentümlichen Kräfte nehmen, um ihn mit anderen auszustatten, die seiner Natur fremd sind und die er ohne den Beistand anderer nicht zu benutzen versteht. Je mehr diese natürlichen Kräfte erstorben und vernichtet und je größer und dauerhafter die erworbenen sind, desto sicherer und vollkommener ist auch die Verfassung.»[53]
In diesen Worten offenbart sich nicht nur der ganze menschenfeindliche Charakter dieser Lehre; hier tritt auch der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den ursprünglichen Ideen des Liberalismus und der Demokratie Rousseaus und seiner Nachfolger am schärfsten zutage. Der Liberalismus, der vom Einzelwesen ausging und in der organischen Ausgestaltung aller natürlichen Fähigkeiten und Anlagen des Menschen das eigentliche Element der Freiheit erblickt, strebte nach einem Zustand, der diesem natürlichen Geschehen nicht hinderlich ist und das Einzelwesen im weitesten Maße seinem Eigenleben überläßt. Diesem Gedanken stellte Rousseau das Gleichheitsprinzip der Demokratie entgegen, das die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz verkündete. Und da er mit Recht in der Vielseitigkeit und in den mannigfachen Veranlagungen der menschlichen Natur eine Gefahr für den Gleichgang seiner politischen Maschine befürchtete, so wollte er das natürliche Wesen des Menschen durch ein künstliches Ersatzmittel verdrängen, das dem Bürger die Fähigkeit verleihen sollte, sich nach dem Rhythmus der Maschine zu betätigen.
Diese unheimliche Idee, die nicht bloß auf die völlige Zerstörung der Persönlichkeit abzielte, sondern überhaupt die Abschwörung jedes wahren Menschentums in sich schließt, wurde zur ersten Voraussetzung einer neuen Staatsräson, die in der Vorstellung vom Gemeinwillen ihre moralische Rechtfertigung fand. Alles Lebendige erstarrt hier zum toten Schema; jedes organische Geschehen wird durch die Routine der Maschine ersetzt. Die politische Technik frißt alles Eigenleben, wie die Technik der modernen Wirtschaft die Seele des Produzenten frißt. Das Furchtbarste ist, daß man es hier nicht mit den unvorhergesehenen Ergebnissen einer Lehre zu tun hat, deren Auswirkungen der Erfinder selber nicht voraussehen konnte. Bei Rousseau geschieht alles bewußt und mit innerer Folgerichtigkeit. Er spricht über diese Dinge mit der Sicherheit eines Mathematikers. Der natürliche Mensch existierte für ihn nur bis zur Abschließung des angeblichen Gesellschaftsvertrags. Damit war seine Zeit erfüllt; was sich seitdem entwickelte, war nur ein Kunstprodukt der zum Staate gewordenen Gesellschaft – der politische Mensch.
«Der natürliche Mensch ist ein Ganzes für sich; er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich und zu seinesgleichen in Beziehung steht. Der bürgerliche Mensch ist nur eine gebrochene Einheit, die es mit ihrem Nenner hält und deren Wert in ihren Beziehungen zu dem Ganzen liegt, das den sozialen Körper bildet.»[54]
Es ist eine der seltsamsten Erscheinungen, daß derselbe Mann, der die Kultur angeblich verachtete und die «Rückkehr zur Natur» predigte, der Mann, welcher das Gedankengebäude der Enzyklopädisten aus Gründen des Gefühls ablehnte und dessen Schriften bei den Zeitgenossen eine so tiefe Sehnsucht nach einem einfachen natürlichen Leben auslösten, es ist seltsam, daß derselbe Mann als Staatstheoretiker die menschliche Natur weit schlimmer vergewaltigte als der grausamste Despot und alles dransetzte, um sie auf die Technik der Gesetze abzustimmen.
Man könnte einwenden, daß auch der Liberalismus auf einer fiktiven Voraussetzung fuße, da sich die Lehre der persönlichen Freiheit mit dem bestehenden Wirtschaftssystem schwer vereinbaren lasse. Ohne Zweifel sind die heutige Ungleichheit der wirtschaftlichen Belange und die aus dieser hervorgehenden Klassengegensätze in der Gesellschaft eine fortgesetzte Gefahr für die Freiheit des Einzelwesens und führen unwiderruflich zu einer stets wachsenden Versklavung des werktätigen Volkes. Allein dasselbe gilt auch für die berühmte «Gleichheit vor dem Gesetz», auf welcher die Demokratie fußt. Schon abgesehen davon, daß die Besitzenden immer Mittel finden, die Rechtspflege zu korrumpieren und ihren Zwecken dienstbar zu machen, sind es auch die Reichen und Bevorrechteten, die heute in jedem Lande die Gesetze machen. Doch nicht darauf kommt es an: Wenn der Liberalismus in einem auf Monopolismus und Klassenscheidung beruhenden Wirtschaftssystem praktisch versagte, so nicht deshalb, weil er sich in der Richtigkeit seines Ausgangspunktes geirrt hatte, sondern weil eine ungestörte und natürliche Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in einem System, das in der schamlosen Ausbeutung der breiten Schichten der Gesellschaftsmitglieder wurzelt, schlechterdings unmöglich ist. Man kann weder politisch noch persönlich frei sein, solange man wirtschaftlich unter der Botmäßigkeit eines anderen steht und sich diesem Zustand nicht entziehen kann. Das hatten Männer wie Godwin, Warren, Proudhon, Bakunin und viele andere längst erkannt, weshalb sie zu der Überzeugung gelangten, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht verschwinden wird, solange der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht ein Ziel gesetzt wird.
Ein «Idealstaat» aber, wie ihn Rousseau erstrebte, würde die Menschen nie freimachen, selbst wenn sie sich der denkbar größten Gleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen erfreuen würden. Man schafft keine Freiheit, indem man bestrebt ist, dem Menschen seine natürlichen Eigenschaften und Bedürfnisse zu nehmen und durch fremde zu ersetzen, damit er sich als Automat des Gemeinwillens betätigen kann. Aus der Gleichheitssphäre der Kaserne wird nie ein freier Hauch hervorgehen. Rousseaus Irrtum – wenn man bei ihm überhaupt von einem Irrtum sprechen kann – liegt im Ausgangspunkt seiner sozialen Theorie. Seine Vorstellung von einem erdichteten Gemeinwillen ist der Moloch, der den Menschen verschlingt.
Wenn der Liberalismus Lockes und Montesquieus eine Teilung der Gewalten im Staate erstrebte, um die Macht der Regierung einzudämmen und den Bürger vor Übergriffen zu schützen, so verwarf Rousseau diesen Gedanken grundsätzlich und spottete der Philosophen, welche die Staatshoheit «in ihrem Prinzip nicht zerteilen können, sie dafür aber in Bezug auf ihren Gegenstand zerteilen wollen». – Die Jakobiner handelten denn auch in diesem Sinne, als sie die in der Verfassung niedergelegte Teilung der Gewalten außer Kurs setzten und dem Konvent neben der Gesetzgebung auch die Verwaltung der Rechtspflege übertrugen, wodurch der Übergang zur Diktatur Robespierres und seiner Anhänger um so leichter vor sich gehen konnte.
Auch die Stellung des Liberalismus zu den «angeborenen und unveräußerlichen Rechten» des Menschen, wie sie Locke darstellte und wie sie später in der Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kam, unterscheidet sich grundsätzlich von den demokratischen Auffassungen Rousseaus. Für die Träger des Liberalismus bedeuteten diese Rechte eine besondere Sphäre, in die keine Regierung eindringen konnte; es war das Reich des Menschen, das vor jeder staatlichen Reglementierung geschützt werden sollte. Man wollte damit betonen, daß es außerhalb des Staates noch etwas anderes gäbe und daß dieses andere der wertvollste und unvergänglichste Bestandteil des Lebens sei.
Ganz verschieden war die Stellung Rousseaus und der auf seiner Lehre fußenden demokratischen Bewegungen in Europa, soweit sie nicht durch liberale Ideengänge gemildert wurden, wie dies besonders in Spanien und bei den süddeutschen Demokraten von 1848-49 der Fall gewesen ist. Auch Rousseau sprach von den «natürlichen Rechten des Menschen», aber diese Rechte wurzelten seiner Auffassung nach ganz im Staate und wurden den Menschen durch die Regierung verordnet.
«Man gesteht zu, daß durch den Gesellschaftsvertrag jeder von seiner Macht, seinem Vermögen und seiner Freiheit nur den Teil veräußert, den das Gemeinwesen nötig hat; aber man muß auch zugestehen, daß das Staatsoberhaupt allein die Notwendigkeit des abzutretenden Teils bestimmen darf.»[55]
Nach Rousseau ist also das natürliche Recht keineswegs eine Domäne des Menschen, die außerhalb der Wirkungssphäre des Staates liegt; dieses Recht besteht vielmehr bloß in dem Maße, als der Staat nichts dagegen einzuwenden hat, und seine Grenzen sind jederzeit der Korrektur des Staatsoberhauptes unterworfen. Ein persönliches Recht besteht also überhaupt nicht; was das Einzelwesen an privaten Freiheiten besitzt, hat es sozusagen nur als Staatslehn, das ihm jederzeit gekündigt und entzogen werden kann. Es ist von kleiner Bedeutung, wenn Rousseau dem braven Bürger die bittere Pille zu versüßen sucht, indem er erklärt:
«Alle Dienste, die der Staatsbürger dem Staate zu leisten vermag, ist er ihm schuldig, sobald das Staatsoberhaupt sie verlangt; dagegen kann das Staatsoberhaupt von seiner Seite aus die Untertanen mit keiner dem Gemeinwesen unnützen Fessel belasten, ja es kann es nicht einmal wollen, denn nach dem Gesetze der Vernunft geschieht ebensowenig wie nach dem Gesetze der Natur etwas ohne Ursache.»
Eine schlimmere Spitzfindigkeit, der man die innere Unaufrichtigkeit auf den ersten Blick anmerkt, läßt sich kaum erklügeln, um dem offenkundigsten Despotismus den Glorienschein der Freiheit zu verleihen. Daß nach dem Gesetz der Vernunft nie etwas ohne Ursache geschieht, ist recht tröstlich; schlimmer ist es, daß nicht der Bürger, sondern das Staatsoberhaupt über diese Ursache zu befinden hat. Als Robespierre dem Henker die Opfer haufenweise zur Behandlung überweisen ließ, tat er es sicher nicht, um den braven Patrioten Anschauungsunterricht über die Erfindung Dr. Guillotins zu erteilen. Es war eine andere Ursache, die sein Hirn bewegte; er hatte als Ziel aller Staatskunst das Idealgebilde des «Bürgers von Genf» vor Augen, und da bei den leichtlebigen Parisern die republikanische Tugend sich nicht von selbst einstellen wollte, so versuchte er, ihr mit dem Messer Meister Samsons nachzuhelfen. Wollte die Tugend nicht freiwillig erscheinen, so mußte man ihr durch den Schrecken Beine machen. Der Advokat von Arras hatte also sicher eine Ursache, die des Zieles wert war, und um dieses Ziel zu erreichen, nahm er – der Eingebung des Gemeinwillens gehorchend – den Menschen das erste und wichtigste Recht, das alle anderen in sich schließt – das Recht zu leben.
Rousseau, der Calvin als großen Staatsmann verehrte, von dessen doktrinärem Geist er viel in sich hatte, hatte bei der Abfassung seines Gesellschaftsvertrags zweifellos seine Vaterstadt Genf im Auge. Nur in einem kleinen Gemeinwesen nach der Art der Schweizer Kantone war es durchführbar, daß das Volk über alle Gesetze in Urversammlungen selbst abstimmte und eine Vertretung nur für die ausführenden Organe des Staates gedacht war. Rousseau erkannte selbst sehr wohl, daß eine Regierungsform, wie er sie erstrebte, für größere Staaten nicht geeignet war. Er hatte sogar die Absicht, dem Gesellschaftsvertrag ein anderes Werk folgen zu lassen, das sich mit dieser Frage beschäftigen sollte, aber er kam nicht dazu. In seinem Werke Considérations sur le Gouvernement de Pologne läßt er denn auch Abgeordnete als Vertreter des Volkswillens zu, doch erteilt er ihnen nur die Rolle von Funktionären in rein technischen Angelegenheiten, die neben dem Gemeinwillen keine besonderen Willensäußerungen geltend machen können. Im übrigen glaubte er, durch häufige Erneuerung der Vertretungskörperschaften das Übel der Vertretung selbst mildern zu können.
Wenn Rousseau in seinen Betrachtungen über das Vertretungssystem, die manchen guten Gedanken enthalten, sich mit Vorliebe auf die republikanischen Gemeinwesen des Altertums beruft, so darf man daraus nicht schließen, daß die antike Demokratie seinen eigenen Anschauungen verwandt gewesen wäre. Sogar das Zivilrecht der Römer kannte eine ganze Reihe persönlicher Freiheiten, die von der Vormundschaft des Staates nicht berührt wurden. In den griechischen Stadtrepubliken aber hätte man eine so ungeheuerliche Idee wie die Theorie vom Gemeinwillen überhaupt nicht verstanden. Der Gedanke, daß es die Aufgabe des Gesetzgebers sei, dem Menschen seine natürlichen Anlagen zu nehmen und sie durch fremde zu ersetzen, wäre den Griechen als kranke Ausgeburt eines in Unordnung geratenen Gehirns erschienen; läßt sich doch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit ihrer so reichen Kultur wesentlich darauf zurückführen, daß dem Einzelwesen die breiteste Möglichkeit geboten war, seine natürlichen Kräfte zu entfalten und schöpferisch zu betätigen. Nein, dieser ungeheuerliche Gedanke ist das ureigenste Erzeugnis des «Bürgers von Genf» und fand später durch den Einfluß des französischen Jakobinertums seinen Weg in andere Länder. In diesem Sinne ist die moderne Demokratie, im Gegensatz zum Liberalismus, eine positive staatserhaltende Kraft.
Das ist auch die Ursache, weshalb von der Demokratie eine Reihe Wege zur Diktatur führen, vom Liberalismus keiner. Rousseau hat denn auch die Diktatur unter gewissen Voraussetzungen befürwortet und im Interesse des Gemeinwillens gutgeheißen. Deshalb warnte er vor einer zu starken Unbeugsamkeit der Gesetze, die unter gewissen Umständen dem Staate zum Verderben ausschlagen könnte. Wer den Gemeinwillen zum unbeschränkten Souverän erklärt und ihm eine unbegrenzte Macht über alle Mitglieder des Gemeinwesens einräumt, wer in der Freiheit nichts anderes erblickt als die Pflicht, den Gesetzen zu gehorchen und sich dem Gemeinwillen unterzuordnen, für den hat auch der Gedanke der Diktatur nichts Erschreckendes mehr; er hat innerlich den Menschen schon längst einem Phantom geopfert und hat für die Freiheit des Einzelwesens keinerlei Verständnis. Wo aber dieser Fall eintritt, dort blüht der Weizen jeder Tyrannei.
Die gelehrigen Schüler nahmen den Meister beim Wort. Lederne Pedanten wie Robespierre und engstirnige Fanatiker wie Saint-Just, Couthon und ihresgleichen machten sich an die Arbeit, die Menschen in ihrem Sinne «umzubilden», und schufen jenen machtvollen Staatsapparat, der jedes Gefühl der Unabhängigkeit im Keime erstickte und die Menschen im Namen der Freiheit in ein neues Joch schlug. In der Tat war der Freiheitsbegriff des Jakobinertums nie etwas anderes gewesen als die mechanische Eingliederung des Einzelwesens in die abstrakte Vorstellung der Nation, die unbedingte Unterwerfung alles persönlichen Wollens unter das Machtgebot des neuen Staates. Nie zuvor gab es in Frankreich eine so gesetzliebende Zeit wie in der jakobinischen Epoche der großen Revolution. Das Gesetz wurde zum Heiligtum der Nation, zum toten Fetisch, in dem man den Geist einsperrte, zum Wundermittel, das jeder Wunschvorstellung Erfüllung bringen sollte. Der «Geist der Gesetze» war tatsächlich über die Nation gekommen. Die Männer des Konvents fühlten sich geradezu berauscht von ihrer Rolle als Gesetzgeber des Landes. – «Der Gesetzgeber befiehlt der Zukunft – deklamierte Saint-Just, den Ideengängen Rousseaus folgend, im Konvent –; es ist seine Sache, das Gute zu wollen, seine Aufgabe, die Menschen so zu formen, wie es seinem Willen entspricht.»
Man glaubte alle Gebresten der Menschheit durch Gesetze heilen zu können und legte damit die Grundlagen zu einem neuen Wunderglauben an die Unfehlbarkeit der Autorität, der sich in seinen Folgen nicht minder verderblich auswirkte als die reaktionäre Dogmatik der Bonald, Chateaubriand und de Maistre. Diese mühten sich vergebens, einem toten Schemen Leben einzuhauchen und Vergangenes zu einem neuen Dasein zu erwecken, das unwiderruflich im Schutte der Zeiten begraben lag; die Männer des Konvents aber bereiteten einer neuen Reaktion die Wege, und sie taten es nicht im Namen der Legitimität, sondern im Zeichen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der unheimliche Glaube an die Allmacht der Gesetze und die schier übermenschliche Sendung des Gesetzgebers zieht sich wie ein roter Faden durch alle Reden und öffentlichen Kundgebungen der jakobinischen Staatsmänner und macht sie jedem ungenießbar, der freiheitlichen Regungen zugänglich ist. Und mit dem Glauben an die Wunderkraft der Gesetze entwickelte sich das Bestreben, jede Äußerung des individuellen und sozialen Lebens, der Nation Untertan zu machen. Man zentralisierte alles: die Regierung, die Gesetzgebung, die öffentliche Verwaltung, die Religion, die Sprache und den gesetzlichen Mord in der Gestalt des «revolutionären Schreckens».
Wohl widersetzten sich die revolutionären Kräfte des Volkes in den Städten und besonders auf dem flachen Lande zuerst mit großer Energie dieser allgemeinen Gleichmachung, und der Kampf der zentralen Macht mit den Gemeinden nahm des öfteren einen heftigen Charakter an, besonders in Paris, wo die Gemeindeverwaltung einen starken Einfluß auf den Gang der revolutionären Ereignisse hatte. Diesem Widerstand der kommunalen Körperschaften gegen die Nationalvertretung ist es auch zu danken, daß die Revolution nicht auf halbem Wege stehenblieb und das alte Regime von Grund aus zerstörte. Doch mit dem wachsenden Einfluß des Jakobinertums wurden allmählich alle Widerstände gegen die zentrale Staatsgewalt überwunden. Der Konvent mischte sich mehr und mehr in alle Angelegenheiten der lokalen Verwaltung und unterwarf alle Vorgänge des gesellschaftlichen Geschehens seiner Aufsicht. Jede örtliche Selbständigkeit wurde systematisch unterbunden oder planmäßig ausgeschaltet. Alle provinzialen und kommunalen Rechte verschwanden oder wurden auf ein gewisses Gleichmaß gebracht. Die alten Gemeindeverwaltungen wurden durch die Staatspräfektur ersetzt, die von Paris aus alles leitete und jede örtliche Initiative lähmte.
So wurde das Wohl und Weh von Millionen der höheren Einsicht einer zentralen Körperschaft anvertraut, deren Träger sich als die «Mechaniker der Maschine» fühlten – um mit Rousseau zu sprechen – und darüber ganz vergaßen, daß es lebendige Menschen waren, die ihnen als Versuchskaninchen dienen mußten, um die politische Weisheit des «Bürgers von Genf» zu erproben. Und da das eigentliche Tun und Treiben dieser Auserwählten dem einfachen Sinn des Durchschnittsbürgers stets verborgen bleibt, so wird gerade diese verborgene Wirksamkeit zur unversiegbaren Quelle alles blinden Glaubens an die Unabänderlichkeit einer politischen Vorsehung, der um so mächtiger um sich greift, als das Vertrauen der Menschen in die eigene Kraft im Schwinden ist. Das rein Menschliche verblaßt im Heiligenscheine der politischen Institution. Wie der Gläubige im Priester den Menschen nicht erkennt und ihn vom Abglanz der Gottheit umstrahlt vor sich sieht, so erscheint auch der Gesetzgeber dem einfachen Bürger im Glorienschein der irdischen Vorsehung, die über das Schicksal aller zu entscheiden hat.
Dieser Glaube wird nicht nur dem gewöhnlichen Mann aus dem Volke zum Verhängnis, er drückt auch dem Träger und berufenen Künder des «Gemeinwillens» seinen unverkennbaren Stempel auf. Gerade die Rolle, die ihm übertragen wurde, bringt es mit sich, daß er dem wirklichen Leben immer mehr entfremdet wird. Da sein ganzes Tun und Trachten auf den Gleichklang aller gesellschaftlichen Dinge eingestellt ist, so wird ihm das tote Räderwerk der Maschine, das jedem Hebeldruck gehorcht, allmählich zum Symbol aller Vollkommenheit, hinter dem das eigentliche Leben mit seinen unendlichen Verschiedenheiten völlig verschwindet. Aus diesem Grunde empfindet er jede selbständige Regung, jeden Impuls, der vom Volke selbst ausgeht, als feindliche Kraft, die seine künstlich gezogenen Kreise gefährdet. Will nun diese unkontrollierbare Kraft, die sich allen Berechnungen der Staatsmänner entzieht, keine Vernunft annehmen oder sträubt sie sich gar, der Stimme des Gesetzgebers den schuldigen Gehorsam zu leisten, so muß sie eben mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden, und zwar im Namen jener «höheren Belange», die stets auf dem Spiele stehen, wenn außerhalb der Sphäre bürokratischer Gepflogenheiten etwas geschieht. Man fühlt sich als der berufene Hüter jener höheren Belange, als die lebendige Verkörperung jenes metaphysischen Gemeinwillens, der im Hirne Rousseaus sein unheimliches Wesen trieb; indem man alle Erscheinungen des sozialen Lebens auf den Gleichklang der Maschine abzutönen versucht, wird man allmählich selbst zur Maschine. – Der Mensch Robespierre sprach einst in großen Worten gegen die furchtbare Einrichtung der Todesstrafe; der Diktator Robespierre machte die Guillotine zum «Altar des Vaterlandes», zum Reinigungsmittel der patriotischen Tugend.
In Wahrheit waren die Männer des Konvents nicht die Erfinder der politischen Zentralisation; sie haben nur in ihrer Art fortgesetzt, was die Monarchie ihnen als Erbschaft hinterlassen hatte, und die nationalen Einheitsbestrebungen auf die Spitze getrieben. Das französische Königtum hatte seit Philipp dem Schönen kein Mittel unversucht gelassen, alle unbequemen Gegenkräfte zu beseitigen, um die politische Einheit des Landes unter dem Banner der absoluten Monarchie herzustellen. Dabei schreckten die Vertreter der königlichen Gewalt vor keinem Mittel zurück, und Verrat, Mord, Urkundenfälschung und sonstige Verbrechen waren ihnen gerade gut genug, solange sie Erfolg versprachen. Die Regierungen von Karl V., Karl VII., Ludwig XI., Franz I., Heinrich II. bildeten die wichtigsten Marksteine dieser Entwicklung zur unbeschränkten Monarchie, die nach den Vorarbeiten von Mazarin und Richelieu unter Ludwig XIV. im vollsten Glanze strahlte.
Der Glanz des «Sonnenkönigs» erfüllte alle Länder. Ein Heer feiler Schranzen, Dichterlinge, Künstler, die von der Gnade des Hofes lebten, hatte die besondere Aufgabe, den Ruhm des größenwahnsinnigen Despoten in allen Farben leuchten zu lassen. An jedem Hofe sprach man französisch, geistreichelte nach Pariser Art und befolgte französische Hofsitten und Zeremonien. Der unbedeutendste Winkeldespot in Europa wurde von dem einzigen Wunsche verzehrt, Versailles wenigstens im kleinen nachzuahmen. Kein Wunder, daß der von keinerlei Minderwertigkeitsgefühlen geplagte Herrscher sich wie ein Halbgott vorkam, der sich an seiner eigenen Größe berauschte. Aber diese blinde Hingabe an die Person des Königs berauschte allmählich auch die ganze «Nation»; sie vergötterte sich selbst in der Person ihres Königs, wie Gobineau treffend ausführte:
«Frankreich wurde in seinen eigenen Augen die Sonnennation. Das Weltall ward zu einem Planetensystem, in dem Frankreich, wenigstens nach seiner Meinung, unbestritten den ersten Platz einnahm. Mit den anderen Völkern wollte es nichts weiter mehr gemein haben, als ihnen nach seinem Belieben Licht zu spenden; es kam mit sich selbst überein, daß alle im Nebel dichtester Finsternis tappten; Frankreich dagegen war Frankreich, und da für sein Auge die übrige Welt täglich mehr in einer unerfreulichen Ferne versank, durchtränkte es sich unvermerkt mehr und mehr mit wahrhaft chinesischen Ideen: seine Eitelkeit wurde ihm zur großen Mauer.»[56]
Die Männer des Konvents hatten von der Monarchie also nicht bloß den Gedanken der politischen Zentralisation übernommen; auch der Kultus, den sie mit der Nation trieben, findet hier seine ersten Ansätze. Allerdings verstand man im Zeitalter Ludwigs XIV. unter der Nation nur die privilegierten Stände: den Adel, die Geistlichkeit und das wohlhabende Bürgertum; die breiten Massen der Bauern und der städtischen Arbeiter zählten noch nicht mit.
Man erzählt, daß Bonaparte einige Tage vor dem Staatsstreich mit dem Abbe Sieyes – damals einer der fünf Mitglieder des Direktoriums – eine Unterredung hatte und bei dieser Gelegenheit dem verschlagenen Theologen, der sich durch alle Stürme der Revolution glücklich durchgelotst hatte, die Worte zuschleuderte: «Ich habe die große Nation gemacht!» – Worauf Sieyes lächelnd erwiderte: «Ja, weil wir vorher die Nation gemacht hatten!» – Der kluge Abbe hatte recht und sprach sicher mit größerer Autorität als Bonaparte. Zunächst mußte die Nation geboren oder – wie Sieyes so bezeichnend sagte – «gemacht» werden, bevor sie die «große» werden konnte.
Gerade Sieyes war es, der im Beginn der Revolution dem Begriff Nation seinen modernen Inhalt gegeben hatte. In seiner berühmten Schrift Was ist der dritte Stand? hatte er drei Fragen von entscheidender Bedeutung aufgeworfen: Was ist der dritte Stand? – Alles. – Was ist er in der politischen Ordnung der Dinge bisher gewesen? – Nichts. – Was will er werden? – Etwas. Doch damit der dritte Stand etwas werden konnte, mußten vorerst ganz neue politische Bedingungen in Frankreich geschaffen werden. Das Bürgertum konnte sich nur durchsetzen, wenn die sogenannte Ständevertretung durch eine auf der Verfassung beruhende Nationalversammlung ersetzt wurde. Deshalb war die politische Einheit der Nation die erste Forderung der beginnenden Revolution gegen die Zersplitterung der Stände. Der dritte Stand fühlte sich bereits, und Laclos erklärte in den Délibérations, denen der Herzog von Orléans nur seinen Namen geliehen hatte: «Der dritte Stand, das ist die Nation!»
Sieyès hatte in seiner Schrift die Nation als eine «Gemeinschaft vereinigter Einzelwesen» bezeichnet, «die unter einem gemeinsamen Gesetze stehen und durch dieselbe gesetzgebende Körperschaft vertreten werden». Doch vom Geiste Rousseaus beeinflußt, erweiterte er den Sinn dieser rein technischen Erklärung und machte die Nation zur ursprünglichen Voraussetzung aller politischen und sozialen Einrichtungen. So wurde ihm die Nation zur eigentlichen Trägerin des Gemeinwillens im Sinne Rousseaus. – «Ihr Wille ist stets gesetzkräftig; denn sie selbst ist die Verkörperung des Gesetzes.»
Aus dieser Auffassung ergaben sich alle weiteren Folgerungen von selbst. War die Nation die Trägerin des Gemeinwillens, dann mußte sie ihrem Wesen nach einheitlich und unteilbar sein. In diesem Falle aber mußte auch die Nationalvertretung einheitlich und unteilbar sein, denn sie allein hatte die heilige Aufgabe, den Willen der Nation zu interpretieren und den Bürgern verständlich zu machen. Gegenüber der Nation waren alle Sonderbestrebungen der Stände hinfällig; nichts konnte neben ihr bestehen, nicht einmal die Sonderorganisation der Kirche. So erklärte Mirabeau wenige Tage nach der denkwürdigen Nacht des 4. August in der Nationalversammlung:
«Kein Nationalgesetz hat die Geistlichkeit als einen beständigen Körper im Staate eingesetzt. Kein Gesetz hat die Nation des Rechtes beraubt, zu untersuchen, ob es zweckdienlich sei, daß die Diener der Religion eine politische Körperschaft bilden, die für sich selbst besteht, fähig, zu erwerben und zu besitzen. Konnten einfache Bürger, indem sie ihre Güter dem Klerus gaben und dieser sie empfing, ihm das Recht geben, einen besonderen Stand im Staate zu bilden? Konnten sie die Nation des Rechtes berauben, ihn aufzulösen? Alle Mitglieder der Geistlichkeit sind nur Beamte des Staates; der Dienst des Klerus ist eine öffentliche Verrichtung; wie der Beamte und der Soldat, so steht auch der Priester im Dienste der Nation.»
Nicht umsonst hatte der Bruder des Königs, der Graf d’Artois, im Verein mit den übrigen königlichen Prinzen in einem «Mémoire présenté au Roi etc.» Einspruch erhoben gegen die neue Rolle, die man der Nation zugedacht hatte, und den König davor gewarnt, daß seine Zustimmung zu dergleichen Ideengängen unfehlbar zum Untergange der Monarchie, der Kirche und aller Vorrechte führen müsse. In der Tat waren die handgreiflichen Folgerungen dieser neuen Auffassung zu deutlich, als daß man sie hätte mißverstehen können. Wenn die Nation als die Trägerin des Gemeinwillens über allen und allem stand, dann war der König nicht mehr als der höchste Beamte des nationalen Staates; dann war aber auch die Zeit ein für allemal vorüber, wo ein «allerchristlichster König» mit Ludwig XIV. sagen durfte: «Die Nation bildet in Frankreich keine Körperschaft; sie beruht ausschließlich in der Person des Königs.»
Der Hof erkannte sehr wohl die Gefahr, von der er bedroht war, und raffte sich zu einigen drohenden Gesten auf, allein es war schon zu spät. Am 16. Juni 1789 erklärten sich die Vertreter des dritten Standes, denen sich auch die niedere Geistlichkeit angeschlossen hatte, auf den Antrag des Abbe Sieyes zur Nationalversammlung mit der Begründung, daß sie ohnedies 96 Prozent der Nation verträten und es den übrigen 4 Prozent jederzeit freistelle, sich ihnen anzuschließen. Die Erstürmung der Bastille und der Zug nach Versailles gaben dieser Erklärung bald darauf den nötigen revolutionären Nachdruck. Damit waren die Würfel gefallen. Ein alter Glaube wurde zu Grabe getragen, um einem neuen Platz zu machen: die «Souveränität des Königs» mußte vor der «Souveränität der Nation» die Flagge streichen. Damit wurde die moderne Nation aus der Taufe gehoben und mit demokratischem Öl gesalbt; denn nur so konnte sie die Bedeutung erlangen, die ihr für die Geschichte der neusten Zeit in Europa vorbehalten war.
Zwar war die Lage auch jetzt noch nicht völlig geklärt, da es in der Nationalversammlung selbst eine einflußreiche Richtung gab, die in Mirabeau ihren Führer erkannte und sich mit diesem für ein sogenanntes Volkskönigtum einsetzte, daher schon aus diesem Grunde von der königlichen Souveränität so viel zu retten versuchte, als unter den gegebenen Umständen möglich war. Das kam besonders bei den Beratungen über die Abfassung der Menschen- und Bürgerrechte zum Ausdruck, wo die Schüler Montesquieus und Rousseaus sich oft sehr scharf gegenüberstanden. Hatten die ersteren insofern einen Erfolg zu verzeichnen, als die Mehrheit der Versammlung sich für das Vertretungssystem und die Teilung der Gewalten aussprach, so hatten die Anhänger Rousseaus die Genugtuung, daß der dritte Artikel der Erklärung verkündete:
«Das Prinzip aller Souveränität ruht seinem Wesen nach in der Nation. Keine Körperschaft und kein einzelner kann eine Autorität ausüben, die nicht offenkundig von ihr ausgeht.»
Allerdings hatten die breiten Massen des Volkes für den tieferen Sinn dieser Meinungsverschiedenheiten im Schoße der Nationalversammlung wenig Verständnis, wie ihnen bisher stets die Einzelheiten politischer Theorien und Programme gleichgültig geblieben sind. So haben denn auch in diesem Falle die Ereignisse selbst und besonders die immer deutlicher zutage tretenden Hinterhältigkeiten des Hofes viel mehr zu der endgültigen Lösung der Frage beigetragen, als der trockene Doktrinarismus der Rousseaujünger es je vermocht hätte. Immerhin war das Schlagwort von der Souveränität der Nation kurz und einprägsam; vor allem aber stellte es den Gegensatz zwischen der neuen Ordnung der Dinge und dem alten Regime in den Vordergrund aller Betrachtungen, was in revolutionären Zeiten von großer Bedeutung ist.
Als dann nach der verunglückten Flucht der königlichen Familie die innere Lage sich immer mehr zuspitzte, trotz aller Vermittlungsversuche der Unentschiedenen, und endlich der Sturm auf die Tuillerien allen Halbheiten ein Ende machte und die Volksvertretung über die Abschaffung des Königtums in die Beratung eintrat, da war es Manuel, der das ganze Problem in einen Satz zusammenfaßte: «Es ist nicht genug, die Herrschaft des einzigen und wahren Souveräns, der Nation, ausgesprochen zu haben; man muß sie auch von ihrem Nebenbuhler, dem falschen Souverän, dem König, befreien.» Und der Abbe Gregoire unterstützte ihn, indem er die Dynastien als «Geschlechter, die von Menschenfleisch leben», bezeichnete und erklärte:
«Man muß den Freunden der Freiheit endlich eine volle Sicherung geben. Man muß diesen Talisman zerstören, dessen magische Kraft noch immer den Geist vieler Menschen trüben könnte. Ich verlange durch ein feierliches Gesetz die Abschaffung des Königtums.»
Der grimme Abbe hatte nicht unrecht; als Theologe wußte er, wie enge sich Religion und Politik berührten. Natürlich mußte man den alten Talisman zerbrechen, damit er die Einfältigen im Geiste nicht länger in Versuchung führen konnte. Allein dies konnte nur geschehen, indem man seinen magischen Einfluß auf ein anderes Idol übertrug, das dem Glaubensbedürfnis der Menschen besser entsprach und sich in seiner praktischen Auswirkung als stärker erweisen mußte als das sterbende Gottesgnadentum der Könige.
Im Kampf gegen den Absolutismus war die Lehre vom «Gemeinwillen», die in dem Glauben an die Souveränität der Nation ihren Ausdruck fand, eine Waffe von gewaltiger revolutionären Tragweite; gerade deshalb vergißt man nur allzu oft, daß die große Revolution eine neue Phase religiöspolitischer Abhängigkeit eingeleitet hat, deren geistige Wurzeln noch lange nicht vertrocknet sind. Indem sie die abstrakte Vorstellung vom Vaterland und der Nation mit einem mystischen Strahlenkranze umgab, schuf sie einen neuen Glauben, der wieder Wunder wirken konnte. Das alte Regime war zu keinem Wunder mehr fähig; denn der Hauch des Gottgewollten, der es einst umschwebte, hatte seine Anziehungskraft verloren und konnte die Herzen nicht länger in religiöser Inbrunst erglühen lassen.
Die politisch organisierte Nation aber war ein neuer Gott, dessen magische Kräfte noch unverbraucht waren, denn über seinem Tempel glänzten die verheißungsvollen Worte «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», die in den Menschen den Glauben an ein kommendes Reich erweckten, das ihnen Erlösung bringen sollte. Dieser neuen Gottheit opferte Frankreich das Blut seiner Söhne, seine wirtschaftlichen Belange, sein Alles. Der neue Glaube durchbrauste die Seele seiner Bürger und erfüllte sie mit unwiderstehlicher Begeisterung, die größere Wunder vollbrachte als die beste Strategie ihrer Heerführer.
Der religiöse Charakter dieser machtvollen Bewegung, unter deren Anstürmen das alte Europa in Trümmer fiel, zeigte sich erst in seiner vollen Stärke, als das Königtum völlig beseitigt war und die Souveränität der Nation keinen Nebenbuhler mehr hatte, der auf uralte Überlieferungen zurückblicken konnte. Der französische Geschichtsschreiber Mathiez hat die Einzelheiten dieses neuen Kultus in überzeugender Weise dargestellt und gezeigt, wie eng er sich in vielen seiner Kundgebungen an das Ritual des Katholizismus anlehnte.[57]
«Der Franzose hat keine andere Gottheit als die Nation, das Vaterland!», heißt es in der Adresse eines Jakobinerklubs an die Muttergesellschaft in Paris. Das Vaterland aber, das war der «neue König mit den 749 Köpfen», wie Proudhon sagte, der neue Staat, dem die Nation als Füllsel diente. Für den Jakobinismus wurde der Staat zur nationalen Vorsehung, daher sein fanatisches Eintreten für die «eine und unteilbare Republik»; denn es konnte nicht angehen, daß andere der neuen Vorsehung ins Handwerk pfuschten.
«Man sagt, daß es unter uns Personen gäbe, die danach strebten, Frankreich zu zerstückeln – erklärte Danton im September 1793 von der Tribüne des Konvents –, lassen wir diese ungereimten Ideen verschwinden, indem wir die Todesstrafe gegen ihre Urheber aussprechen. Frankreich muß ein unteilbares Ganzes sein. Es muß Einheit der Vertretung geben. Die Bürger von Marseille wollen denen von Dünkirchen die Hand reichen. Ich verlange daher Todesstrafe gegen jeden, welcher die Einheit Frankreichs zerstören wollte, und ich beantrage, der Konvent möge als Grundlage der Regierung, Einheit der Vertretung und der Verwaltung legen.»
Gesetzgebung, Armee, öffentliche Erziehung, Presse, Klubs, Versammlungen, alles mußte dazu dienen, den seelischen Drill der Bürger zu vervollkommnen, um jedes Hirn auf die neue politische Religion einzustellen. Keine Richtung machte dabei eine Ausnahme, auch nicht die Girondisten, die man ganz ohne Grund als Föderalisten verschrien hat, weil ihre Gegner wußten, daß eine solche Beschuldigung die Patrioten am meisten gegen sie aufbringen mußte. Die Girondisten haben in der Vergottung der Nation nicht weniger geleistet als die Männer des Berges, hatte sich doch einer ihrer bekanntesten Führer, Isnard, zu dem Ausdruck verstiegen: «Die Franzosen sind das auserwählte Volk der Erde geworden; sorgen wir dafür, daß ihre Haltung diese ihre neue Bestimmung rechtfertigt!» – Die grande nation spukte bereits vor den Siegen Napoleons in den Köpfen ihrer Vertreter.
Ein neues Priestertum trat in die Erscheinung – die moderne Volksvertretung, der die Aufgabe zugefallen war, dem Volke den «Willen der Nation» zu vermitteln, wie der Priester ihm den «Willen Gottes», vermittelt hatte. Ohne Zweifel hat die Revolution eine in Fäulnis geratene Gesellschaftsordnung mit eisernem Besen hinweggefegt und den Völkern Europas manchen Lichtblick in die Zukunft geöffnet; doch auf politischem Gebiete waren ihre Ergebnisse, trotz aller revolutionären Phraseologie, vielfach reaktionärer Natur; sie hat den Machtgedanken neu gestärkt, der gefallenen Autorität neues Leben eingehaucht und den Freiheitswillen der Menschen an ein neues religiöses Dogma gekettet, an dem er sich die jungen Flügel brechen mußte.
Der Absolutismus des Königtums war gefallen, aber nur, um einem neuen Absolutismus den Platz zu räumen, der sich noch unerbittlicher auswirkte als das Gottesgnadentum der Monarchie. Das absolute Prinzip der Monarchie lag außerhalb der Betätigungssphäre der Untertanen und stützte sich lediglich auf die «Gnade Gottes», dessen Willen es angeblich zum Ausdruck brachte. Das absolute Prinzip der Nation aber machte auch den geringsten Sterblichen zum Mitträger des Gemeinwillens, wenn ihm auch das Recht versagt blieb, diesen in seinem eigenen Sinne auszulegen. Von diesem Gedanken beseelt, schmiedete fortan jeder Bürger seinen eigenen Ring in der Kette der Abhängigkeit, den früher ein anderer für ihn geschmiedet hatte. Die Souveränität der Nation lenkte alle in dieselben Bahnen, verzehrte jede eigene Erwägung und ersetzte die persönliche Freiheit durch die Gleichheit vor dem Gesetz.
Nicht umsonst erhoben sich im Konvent die Mosestafeln der Gesetze als ein Symbol des nationalen Willens; nicht umsonst drohte von den Wänden seines Sitzungssaales das Rutenbündel mit dem Beile der Liktoren als Wahrzeichen der einen und unteilbaren Republik. So wurde der Mensch dem Bürger geopfert, die eigene Überlegung dem angeblichen Willen der Nation. Indem die fahrenden Männer der Revolution im Geiste Rousseaus bestrebt waren, allen natürlichen Bindungen, welche den eigenen Entschließungen und Bedürfnissen der Menschen entspringen, den Boden abzugraben, zerstörten sie die Wurzeln jeder wahren Gemeinschaft, wandelten Volk in Masse und leiteten jenen verhängnisvollen Prozeß der sozialen Entwurzelung ein, welcher durch die wachsende Ausgestaltung der kapitalistischen Wirtschaft später noch beschleunigt und auf die Spitze getrieben wurde.
Wie der Wille Gottes stets der Wille der Priester gewesen ist, die ihn den Menschen vermittelten und deuteten, so konnte auch der Wille der Nation nur der Wille derer sein, welche gerade die Zügel der öffentlichen Macht in ihren Händen hielten und daher in der Lage waren, den Gemeinwillen in ihrem Sinne auszulegen. Eine Erscheinung, die nicht notwendigerweise auf innere Heuchelei zurückzuführen ist; viel eher könnte man auch in diesem Falle von «betrogenen Betrügern» sprechen; denn gerade je tiefer die Künder des nationalen Willens von der Heiligkeit ihrer Sendung überzeugt sind, desto verhängnisvoller sind die Ergebnisse, die ihrer inneren Ehrlichkeit entspringen. Es liegt ein tiefer Sinn in der Bemerkung Sorels: «Robespierre nahm seine Rolle ernst, aber seine Rolle war gekünstelt.»
Im Namen der Nation ächtete der Konvent die Girondisten und schickte ihre Wortführer aufs Blutgerüst; im Namen der Nation beseitigte Robespierre mit Hilfe Dantons die Hebertisten und die sogenannten «Wütenden»; im Namen der Nation ließen Robespierre und Saint-Just die Dantonisten in den «Sack nießen»; im Namen der Nation erledigten die Männer des Thermidor Robespierre und seinen Anhang; im Namen der Nation wurde Bonaparte Kaiser der Franzosen.
Wenn Vergniaud von der Revolution behauptete, daß sie «dem Saturn gleiche, der seine eigenen Kinder verschlang», so könnte man diesen Ausspruch mit viel größerem Recht auf jenes mystische Prinzip von der Souveränität der Nation anwenden, dem seine Priester immer neue Opfer brachten. In der Tat wurde die Nation zum Moloch, der nie gesättigt werden konnte. Wie bei allen Göttern, so führte auch hier die religiöse Verehrung zu demselben Ergebnis: die Nation alles, der Mensch nichts!
Alles, was auf die Nation Bezug hatte, bekam einen geweihten Charakter. Im kleinsten Flecken wurden dem Vaterlande Altäre errichtet und Opfergaben dargebracht. Die Feiertage der Patrioten erhielten den Anstrich religiöser Feste. Es gab Hymnen, Gebete, geweihte Abzeichen, feierliche Prozessionen, patriotische Reliquien, Wallfahrtsstätten, die den Ruhm des Vaterlandes verkündeten. Man sprach fortan von der Ehre der Nation, wie man ehedem von der Ehre Gottes zu sprechen pflegte. Ein Deputierter nannte die Erklärung der Menschenrechte feierlich den «Katechismus der Nation»; der Gesellschaftsvertrag Rousseaus wurde zur «Bibel der Freiheit». Begeisterte Gläubige verglichen den Berg des Konvents mit dem Berg Sinai, auf welchem Moses die heiligen Tafeln des Gesetzes empfangen hatte. Die Marseillaise wurde zum Tedeum der neuen Religion. Ein Rausch des Glaubens war über das Land gekommen; jede kritische Erwägung ging unter im Überschwang der Gefühle.
Am 5. November 1793 sprach Marie-Joseph Chenier, der Bruder des unglücklichen Dichters André Chenier, zu dem versammelten Konvent:
«Wenn ihr euch von allen Vorurteilen befreit habt, um euch der französischen Nation würdig zu zeigen, deren Vertreter ihr seid, so wißt ihr, wie auf den Trümmerstätten des entthronten Aberglaubens die einzige Naturreligion gegründet werden kann, die weder Sekten kennt, noch Mysterien hat. Ihr einziges Dogma ist die Gleichheit, ihre Prediger sind unsere Gesetzgeber, ihre Priester die ausfahrenden Organe des Staates. Im Schöße dieser Religion wird die Menschenfamilie ihren Weihrauch nur noch auf dem Altar des Vaterlandes verbrennen, unser aller Mutter und Gottheit.»
In der schwülen Atmosphäre dieses neuen Glaubens wurde der moderne Nationalismus geboren, damals die Religion des demokratischen Staates. Und je höher die Verehrung der eigenen Nation emporwuchs, desto breiter wurde der Abgrund, der sie von allen anderen Nationen trennte, desto geringschätziger bückte man auf alle, die nicht das Glück hatten, zu den Auserwählten zu gehören. Von der Nation bis zur großen Nation ist nur ein Schritt, nicht nur in Frankreich.
Die neue Religion hatte nicht nur ihren eigenen Ritus, ihre unantastbaren Dogmen, ihre heilige Sendung, sie besaß auch jene entsetzliche Rechtgläubigkeit, die allem Dogmatismus eigen ist, und die neben der einen keine andere Meinung gelten läßt; denn der Wille der Nation ist die Offenbarung Gottes, die keinen Zweifel zuläßt. Wer aber trotzdem zweifelt und Erwägungen nachgeht, welche der Auslegung des nationalen Willens widersprechen, der ist ein Aussätziger und muß ausgejätet werden aus der Gemeinschaft der Gläubigen.
«Man darf, nicht hoffen, daß es besser werde – sagte Saint-Just mit düsterer Entschlossenheit vor dem Konvent –, solange noch ein Feind der Freiheit atmet. Nicht nur die Verräter müßt ihr züchtigen, sondern auch die Lauen und Gleichgültigen, jeden, der teilnahmslos ist in der Republik und keinen Finger rührt für sie. Nachdem das französische Volk seinen Willen kundgetan, steht alles, was diesem Willen entgegen ist, außerhalb der Souveränität der Nation; wer aber außerhalb des Souveräns steht, ist sein Feind.»
Und der junge Fanatiker, der einen so starken Einfluß auf Robespierre hatte, ließ keinen darüber in Zweifel, was es mit dieser Feindschaft auf sich habe. – «Man muß mit Eisen über die herrschen, die man nicht mit Gerechtigkeit beherrschen kann.» – Mit Gerechtigkeit aber konnte man nicht herrschen über Menschen, die den Willen der Nation nicht so auffaßten, wie Robespierre und die Jakobiner ihn auslegten; da mußte man seine Zuflucht schon zum Eisen nehmen. Erschöpfender ließ sich die scharfe Logik der Guillotine schwerlich rechtfertigen.
Die fanatische Folgerichtigkeit Saint-Justs war nur das unvermeidliche Ergebnis seiner absolutistischen Gesinnung; jeder Absolutismus ist ausschließlich und auf feste Normen eingestellt; gerade deshalb muß er sich als der geschworene Feind jeder gesellschaftlichen Entwicklung auswirken, die dem Leben fortgesetzt neue Ausblicke öffnet und neue Formen der Gesellschaft ins Dasein ruft. Hinter jeder absoluten Idee grinst die Fratze des Inquisitors und Ketzerrichters.
Die Souveränität der Nation führte zu derselben Tyrannei wie die Souveränität Gottes oder die Souveränität der Könige. War früher der Widerstand gegen die geheiligte Person des Monarchen das abscheulichste aller Verbrechen, so wurde nunmehr jeder Widerspruch gegen die geheiligte Majestät der Nation zur Todsünde wider den heiligen Geist des Gemeinwillens. In beiden Fällen aber war der Henker das ausführende Organ einer despotischen Gewalt, die sich berufen fühlte, über einem toten Dogma zu wachen, an dessen seelenloser Grausamkeit jeder schöpferische Gedanke zerschellen, jedes menschliche Gefühl verbluten mußte.
Robespierre, von dem Condorcet behauptete, daß er weder «einen Gedanken in seinem Hirn noch ein Gefühl in seinem Herzen» habe, war der Mann der toten Formeln, der an Stelle der Seele seine Grundsätze hatte. Am liebsten hätte er die ganze Republik auf die eine Formel der Tugend festgelegt. Seine Tugend aber wurzelte nicht in der persönlichen Rechtschaffenheit des Einzelwesens; sie war ein blutleerer Schemen, der über den Menschen schwebte wie der Geist Gottes über der Schöpfung. Nichts ist grausamer und herzloser als die Tugend, am grausamsten und herzlosesten aber ist jene abstrakte Tugend, die nicht einem lebendigen Bedürfnis entspricht, sondern in Prinzipien wurzelt und fortgesetzt durch chemische Mittel vor Mottenfraß geschützt werden muß.
Der Jakobinismus hatte die Monarchie zwar gestürzt, aber er verliebte sich bis zur Überschwenglichkeit in den monarchistischen Gedanken und stärkte ihn in hohem Maße, indem er ihn in der politischen Theologie Rousseaus verankerte. Die Lehre Rousseaus gipfelte in dem völligen Aufgehen des Menschen in der höheren Notwendigkeit einer metaphysischen Idee. Der Jakobinismus hatte es unternommen, diese ungeheuerliche Lehre ins Leben umzusetzen, und gelangte folgerichtig zur Diktatur der Guillotine, welche der Säbeldiktatur des Generals Bonaparte den Weg ebnete, der nun seinerseits alles daransetzte, um die neue Staatsidee zur höchsten Vollkommenheit auszureifen. – «Der Mensch eine Maschine», doch nicht im Sinne La Mettries, sondern als das Endergebnis einer politischen Religion, die sich vermaß, alles Menschliche nach derselben Schablone zu formen, und die im Namen der Gleichheit die Gleichförmigkeit zum Prinzip erhob.
Napoleon, der lachende Erbe der großen Revolution, der von den Jakobinern die menschenfressende Maschine des zentralen Staates und die Lehre vom Willen der Nation übernommen hatte, versuchte die staatlichen Einrichtungen zu einem lückenlosen System auszubauen, in dem der Zufall keinen Platz mehr hatte. Was er brauchte, waren nicht Menschen, sondern Schachfiguren, die jedem Zuge seiner Laune folgten und sich bedingungslos jener höheren Notwendigkeit unterwarfen, als deren ausfahrende Organe sie sich fühlten. Menschen im gewöhnlichen Sinne waren dazu nicht zu gebrauchen, nur Bürger, Bestandteile des Staates, Teile der Maschine. – «Das Denken ist der Hauptfeind der Herrscher!» sagte Napoleon einmal; dies war bei ihm keine zufällige Redensart, denn er hatte die Wahrheit dieser Worte bis ins tiefste erfaßt. Was er nötig hatte, waren nicht Menschen, die denken, sondern gedacht werden, Menschen, die sich selbst aufgeben, wenn das Schicksal spricht.
Napoleon erträumte einen Staat, in dem es überhaupt keinen Unterschied mehr gab zwischen der Zivil- und Militärgewalt. Die ganze Nation eine Armee, jeder Bürger ein Soldat. Industrie, Landwirtschaft, Verwaltung waren nur als Glieder dieses gewaltigen Staatskörpers gedacht, der, in Regimenter eingeteilt und von Offizieren befehligt, dem leisesten Druck des kaiserlichen Willens gehorchen sollte, ohne Reibung, ohne Widerstand. Diese Verwandlung der großen Nation in eine gigantische Einheit, die für die selbständige Betätigung des Einzelwesens keinen Platz mehr hatte, mit der Exaktheit einer Maschine arbeitete und nur dem toten Rhythmus ihrer eigenen Bewegung folgend, gefühllos dem Willen dessen gehorcht, der sie in Bewegung setzt – das war das politische Ziel Napoleons, das er mit eiserner Beharrlichkeit verfolgte und ins Leben umsetzen wollte. Ganz besessen von diesem Wahn, war er bestrebt, jede Möglichkeit auszuschalten, die zur Bildung einer besonderen Meinung neben der seinen Anlaß geben konnte. Daher sein verbissener Kampf gegen die Presse und alle anderen Ausdrucksmittel des öffentlichen Denkens.
«Die Druckerpresse – sagte er – ist ein Arsenal; sie darf der Allgemeinheit nicht zugänglich gemacht werden, Bücher dürfen nur von Personen gedruckt werden, die das Vertrauen der Regierung genießen.»
Alles wandelte sich im Hirn dieses furchtbaren Mannes in Zahlen um. Nur die Zahl entscheidet; die Statistik wird zur Grundlage der neuen Staatskunst. Der Kaiser forderte von seinen Räten nicht nur eine exakte Aufstellung und Verbuchung aller materiellen und technischen Hilfsquellen des ganzen Landes, er will auch, daß man eine «Statistik der Moral» führe, damit er jederzeit über die verborgensten Regungen seiner Untertanen unterrichtet sei. Und Fouché, dieser unheimliche, gespensterhafte Schleicher, der mit tausend Augen sah und mit tausend Ohren hörte, dessen Seele ebenso vergletschert war wie die seines Herrn, wird zum «Statistiker der öffentlichen Moral», die er polizeilich registriert, und weiß dabei ganz genau, daß auch seine Bewegungen von unbekannten Spähern überwacht und in ein besonderes Register eingetragen werden.
Daß Napoleon das letzte Ziel seiner inneren Politik nie ganz erreichen konnte, daß all seine Regierungstechnik immer wieder am Menschen scheitern mußte, war wohl der herbste Schmerz seiner machtlüsternen Seele, die große Tragödie seines ungeheuerlichen Lebens, die ihn selbst in Sankt Helena noch innerlich verzehrte. Doch die wahnwitzige Idee, die er verfolgte, ist mit ihm nicht gestorben und liegt auch heute noch jedem Machtwillen zugrunde, der überall dort auftritt, wo die Liebe zum Menschen erstorben ist und pochendes Leben den bleichen Schattengebilden tyrannischer Gelüste geopfert wird. Denn alle Macht ist lieblos und ihrem Wesen nach unmenschlich und verwandelt die Herzen ihrer Träger in Wolfsgruben des Hasses und der kalten Menschenverachtung. Wie Alberich der Liebe entraten muß, weil sein Herz am Golde hängt, so erstickt auch die Machtbesessenheit alle menschlichen Regungen und läßt dem Despoten den Mitmenschen bloß noch als abstrakte Zahl erscheinen, die er bei der Ausführung seiner Pläne mit in Rechnung stellen muß.
Napoleon haßte die Freiheit grundsätzlich wie jeder Gewalthaber, der sich über das Wesen der Macht ganz klar geworden ist; aber erkannte auch den Preis, den er dafür zahlen mußte, wußte ganz genau, daß er den Menschen in sich ersticken mußte, um die Menschen beherrschen zu können. Es ist bezeichnend, daß er, der von sich sagte: «Ich liebe die Macht wie der Künstler, wie der Geiger seine Geige liebt. Ich liebe sie, um ihr Töne, Wohllaut, Harmonie zu entlocken», es ist bezeichnend, daß derselbe Mann, der, fast noch ein Kind, schon Machtpläne in seinem Hirne wälzte, bereits in seiner frühen Jugend die schicksalschweren Worte sprach:
«Ich finde, daß die Liebe für die Gesellschaft und für das persönliche Glück des Menschen schädlich ist. Wenn die Götter die Welt von der Liebe befreiten, so wäre dies die größte Wohltat.»
Dieses Gefühl verließ ihn nie, und als er in späteren Jahren auf die einzelnen Phasen seines Lebens zurückblickte, blieb ihm nur die eine trostlose Erkenntnis:
«Es gibt nur zwei Hebel, um die Menschen zu bewegen: Furcht und Interesse. Liebe ist eine dumme Verblendung, verlassen Sie sich darauf. Freundschaft ist ein leeres Wort. Ich liebe niemand. Nicht einmal meine Brüder, vielleicht Joseph ein wenig aus Gewohnheit und weil er älter ist als ich; und Duroc liebe ich auch, aber warum? – Weil sein Charakter mir gefällt; er ist ernst und entschlossen, und ich glaube, der Kerl hat noch nie eine Träne vergossen. Ich für meinen Teil weiß, daß ich keine wahren Freunde habe.»
Wie leer dieses Herz sein mußte, das all die Jahre einem Phantom nachjagte und nur von dem einen Wunsche beseelt war – zu herrschen! Diesem Wahn opferte er die Leiber und Seelen der Menschen, nachdem er früher versuchte, ihren Geist auf das tote Räderwerk einer politischen Maschine einzustellen. Bis ihm zuletzt offenbar wurde, daß das Zeitalter des Automaten noch nicht gekommen war. – Nur ein Mensch, in dessen Seele eine solche Wüste gähnte, konnte die Worte sprechen: «Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben einer Million Menschen!»
Napoleon gab vor, die Menschen zu verachten, und seine kritiklosen Bewunderer haben ihm das fast als Verdienst ausgelegt. Er mag im einzelnen oft genug Gelegenheit dazu gefunden haben; denn es sind nicht die wertvollsten Menschen, die sich an die Mächtigen herandrängen. Geht man den Dingen tiefer nach, so erhält man den Eindruck, daß seine demonstrativ zur Schau gestellte Menschenverachtung zum großen Teil Mache war, einstudierte Pose, für die Mit- und Nachwelt berechnet, um seine Taten um so heller erstrahlen zu lassen. Denn dieser angebliche Menschenhasser war ein erstklassiger Schauspieler, dem das Urteil der Nachwelt durchaus nicht gleichgültig war, weshalb er denn auch kein Mittel unversucht ließ, um die Auffassung kommender Geschlechter zu beeinflussen, und sogar vor Fälschungen ganz offenkundiger Tatsachen nicht zurückschreckte, um dieses Ziel zu erreichen.
Nein, es war nicht der innere Ekel, der ihn von den Menschen trennte, sondern sein bodenloser Egoismus, der keine Grenze kannte und vor keiner Lüge, keiner Niedertracht, keiner Ehrlosigkeit, keinem auch noch so gemeinen Verbrechen zurückschreckte, um sich durchzusetzen. Schon Emerson bemerkte mit Recht: «Bonaparte war in ganz ungewöhnlichem Maße jeder hochherzigen Empfindung bar;... er besaß nicht einmal das Verdienst gewöhnlicher Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit.» – Und an einer anderen Stelle seines Napoleon-Essais führte er aus: «Seine ganze Existenz war ein unter den besten Umständen angestelltes Experiment, was der Intellekt ohne Gewissen alles vermöge.» – Nur aus dem trostlosen inneren Zustand eines Menschen, in dem die Ruhmsucht jedes soziale Empfinden gründlich zerstört hatte, sind die Worte Napoleons zu verstehen:
«Der wilde wie der zivilisierte Mensch braucht einen Herrn und Meister, einen Zauberer, der seine Phantasie im Schach hält, ihn einer strengen Zucht unterwirft, an die Kette legt, verhindert, zur Unzeit zu beißen, ihn durchprügelt und auf die Jagd führt: gehorchen ist seine Bestimmung, er verdient nichts Besseres und hat keine Rechte.»
Doch der herzlose Zyniker, der sich in der Jugend an der Lektüre des Contrat social berauscht hatte, erkannte auch im tiefsten die ganze unglückselige Bedeutung dieser neuen Religion, auf der seine Herrschaft letzten Endes fußte. So ließ er sich in einem jener unbedachten Augenblicke innerer Wahrhaftigkeit, die bei ihm so selten waren, zu dem Ausspruch verleiten: «Euer Rousseau ist ein Wahnsinniger, der uns zu diesem Zustand geführt hat!» – Und bei einer anderen Gelegenheit meinte er etwas nachdenklich: «Die Zukunft wird zeigen, ob es für die Ruhe der Welt nicht besser gewesen wäre, wenn weder Rousseau noch ich gelebt hätten.»
XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
Das Autoritätsprinzip in der deutschen Philosophie. Kants Sittengesetz. Kants Auffassung von der Gesellschaft. Die Idee vom «ewigen Frieden» und der internationale Staatenbund. Kant und Herder. Fichte und die Lehre vom angeborenen Bösen im Menschen. Fichte und Machiavelli. Der «Geschlossene Handelsstaat». Fichte und der Staatssozialismus. Fichtes «Reden an die Deutsche Nation». Fichte und die nationale Erziehung. Die Idee von der «historischen Sendung der Deutschen». Hegels Einfluß auf seine Zeit. Hegels Dialektik. Das Denken in Kategorien. Hegels Geschichtsphilosophie. Hegel und der Staat. Der Schicksalsglaube. Hegel und der Protestantismus. Der Preußische Staatsphilosoph. Hegel und der Sozialismus.
Im Gegensatz zu den Trägern der deutschen Literatur und Dichtung bewegte sich die deutsche Philosophie in ganz anderen Bahnen. Die klassische Philosophie Deutschlands ist nie eine Domäne der Freiheit gewesen, wenn sie auch mancher Lichtblicke nicht entbehrt. Ihre berufensten Vertreter haben zwar des öfteren mit der Freiheit geliebäugelt, aber ein ernstes Verhältnis ist nie daraus geworden. Man hat stets den Eindruck, daß dies nur geschah, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen und dem erwachenden Gewissen ein paar unverbindliche Zugeständnisse zu machen, wenn die brutale Wirklichkeit des Lebens sich gar zu deutlich fühlbar machte. In der Tat hat die deutsche Philosophie die Unfreiheit bloß in verschiedene Systeme gegliedert und aus der Knechtschaft eine Tugend gemacht, welche durch die famose «innere Freiheit» erst ihre Weihe erhielt.
Was heißt es, wenn Kant sein berühmtes Sittengesetz auf die Formel brachte: «Handle so, daß die Maxime deines Lebens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte»! Heißt das nicht das ethische Empfinden des Menschen auf den mageren Rechtsbegriff einer Regierung herabmindern? Allerdings ist das bei einem Manne nicht weiter verwunderlich, der fest davon überzeugt war, daß der Mensch von Hause aus böse sei. Nur ein Mensch mit dieser Überzeugung konnte die Behauptung aufstellen:
«Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und ob er gleich als ein vernünftiges Geschöpf ein Gesetz Wünscht, so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also eines Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemein gültigen Willen, wobei jeder frei sein kann, zu gehorchen.»
Das ist im Grunde nur eine andere Formulierung des alten und furchtbaren Dogmas von der Erbsünde mit seinen unvermeidlichen Folgerungen. Gerade dieses mußte freiere Geister gegen Kant einnehmen. So schrieb Goethe an Herder:
«Kant hat seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein volles Menschenalter gebraucht, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlappert, damit auch Christen herangelockt würden, den Saum zu küssen.»
Sogar Schiller, der von Kant stark beeinflußt war, konnte sich mit dem Kern seiner Ethik nicht befreunden. Dem Dichter und Idealisten, der fest an das Gute im Menschen glaubte, mußte der starre Pflichtbegriff Kants, der für die Bedeutung sozialer Instinkte überhaupt kein Verständnis hatte, direkt abstoßend erscheinen. In diesem Sinne schrieb er denn auch an Goethe, daß bei Kant immer noch etwas vorhanden sei, das «wie bei Luther an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöffnet hat, aber die Spuren desselben nicht ganz vertilgen konnte».
Man hat Kant des öfteren einen Republikaner und Demokraten genannt. Diese Begriffe sind sehr dehnbar und beweisen gar nichts, da sie nicht einmal in der Geschichte der brutalsten Gewalt als Deckmantel dienen mußten.[58] Dieser sonderbare Republikaner war ein unbeugsamer Befürworter der unbeschränkten Staatsgewalt, gegen die sich empören, in seinen Augen ein todeswürdiges Verbrechen war, selbst dann, wenn die ausführenden Organe des Staates den Gesetzen zuwiderhandeln und sich zu den tyrannischsten Taten verleiten lassen. So erklärte Kant in seiner Rechtslehre ausdrücklich:
«Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich, d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelnden Rechts (jus controversum) werktätig vernünfteln. Denn, da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperians) zu urteilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summum imperians) es will. Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subjectionis civilis) als ein Faktum vorhergegangen oder ob die Gewalt vorherging und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, das sind für das Volk, das nun schon unter dem Gesetze steht, ganz zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn wollte der Untertan, der den letzten Ursprung nur ergrübelt hätte, sich jeder jetzt herrschenden Autorität widersetzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d. i. mit allem Recht bestraft, vertilgt oder als vogelfrei ex lex ausgestoßen werden. Ein Gesetz, das so heilig, unverletzlich ist, daß es praktisch auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effekt einen Augenblick zu suspendieren, schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen ist, aber doch von einem höchsten, tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsse, und das ist die Bedeutung des Satzes ‹Alle Obrigkeit kommt von Gott›, welcher nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee als praktisches Vernunftsprinzip aussagt: der jetzt bestehenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle.»
An einer anderen Stelle der Rechtslehre heißt es:
«Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates gibt es also keinen rechtsmäßigen Widerstand des Volkes; denn nur durch Unterwerfung unter seinen – allgemeinen – gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Aufstands (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (monarch), unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannia) Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben (monarchomachismus sub specie tyrannicidii). Der geringste Versuch hierzu ist Hochverrat (proditio eminens), und der Verräter dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden.»
Die Gleichstellung der Person des Monarchen mit dem Vaterlande ist für den Demokraten und Republikaner Kant besonders bezeichnend. Man vergleiche diese durch und durch reaktionäre Auffassung mit den Gedankengängen der liberalen Rechtsschule in England bis auf Locke, um diese geradezu beschämende Gesinnung des deutschen Philosophen erst richtig würdigen zu können. Kant hatte bereits in seinem 1784 erschienenen Aufsatz Was ist Aufklärung? dem Despotismus Friedrichs II. das Wort geredet und den Gehorsam der Untertanen als die erste Maxime der politischen Moral gepriesen; seine Rechtslehre aber entwickelte er erst in einem seiner spätesten Werke –ein Beweis, daß er seine Ideen in diesem Punkte nie geändert hat. Der Demokrat Kant brachte es sogar fertig, sich für die Sklaverei einzusetzen und diese unter gewissen Voraussetzungen als zweckmäßig zu rechtfertigen; und zwar vertrat er den Standpunkt, daß Sklaverei angebracht sei bei Menschen, die sich infolge ihrer eigenen Verbrechen selbst um ihre staatsbürgerlichen Rechte gebracht haben. Ein solcher Mensch kann nach der Ansicht unseres Philosophen «zum bloßen Werkzeug eines anderen (des Staates oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht» werden.
Die konservative Staatsgesinnung und die Ehrfurcht des Untertanen lagen Kant förmlich im Blute. Als er 1794 wegen angeblicher Herabsetzung der Bibel und der christlichen Lehre von der Regierung des Königs einen Verweis erhielt, begnügte er sich nicht damit, Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen zu geben, sich in Zukunft aller öffentlichen, mündlichen und schriftlichen Äußerungen über die christliche Religion zu enthalten. Unter den damaligen erbärmlichen Zuständen in Preußen war eine solche Handlung nicht nur erklärlich, sondern auch entschuldbar. Aber in dem Nachlaß Kants fanden sich auch jene charakteristischen Zeilen, die auf sein dem König gegebenes Versprechen Bezug hatten und da lauteten: «Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Falle wie dem gegenwärtigen ist Untertanenpflicht.»
Kant, dessen geruhsames Philisterdasein nie aus den vorgeschriebenen Bahnen der staatlichen Bevormundung heraustrat, war keine gesellige Natur und konnte seinen angeborenen Widerwillen gegen jede Form der Gemeinschaft nur schwer überwinden. Da er aber die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Verbandes nicht leugnen konnte, so fand er sich damit ab, wie man sich etwa mit einem notwendigen Übel abfindet. Demgemäß erschien ihm die Gesellschaft als eine erzwungene Vereinigung, die lediglich durch die Pflicht zum Staate zusammengehalten wird. Kant haßte förmlich jede freiwillige Bindung, wie ihm auch jede um ihrer selbst willen begangene gute Tat zuwider war. Er kannte nichts anderes als sein starres, unversöhnliches «Du sollst!»
Ein Mensch mit solchen Anlagen war kaum der geeignete Mann, die großen Grundsätze einer gesellschaftlichen Ethik zu formulieren, die in sich selbst nur das Ergebnis des sozialen Zusammenlebens sind, das in jedem Menschen seinen Ausdruck findet und von der Gemeinschaft stets neu befruchtet und bestätigt wird. Ebensowenig war Kant imstande, den Menschen große sozial-theoretische Erkenntnisse zu erschließen, wie denn auch alles, was er auf diesem Gebiete geschaffen hat, durch die großen Aufklärer in Frankreich und England längst überholt war, bevor es in Deutschland das Licht der Welt erblickte.
Daß man Kant auf Grund seiner Schrift Zum ewigen Frieden und eines schon früher erschienenen Aufsatzes Idee zur allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht neuerdings als den geistigen Inspirator des sogenannten Völkerbundes feierte, war nicht anders zu erwarten von einem Geschlecht, das Lessing, Herder und Jean Paul längst vergessen hat, und beweist nur, daß die angeblichen Träger des deutschen Geistes auch in dieser Hinsicht nichts zugelernt haben. – Was Kant in Wirklichkeit erstrebte, war kein Bund der Völker, sondern ein Staatenbund, der schon aus diesem Grunde die Aufgabe nie erfüllen konnte, die er ihm zugedacht hatte. Die Erfahrungen, die man neuerdings mit dem internationalen Konvent in Genf gemacht hat, müßten jedem die Augen öffnen, der den Willen hat zu sehen.
Das hatte Herder bereits sehr klar erkannt, als er, den Spuren Lessings folgend, sich gegen den Vorschlag Kants erklärte und zeigte, daß eine Verständigung unter den Völkern nur auf organischem Wege, das heißt kulturell, und nie auf mechanischem Wege, das heißt durch die Tätigkeit «politischer Maschinen», zu erzielen sei. Herder führte aus, daß das Zwangsgebilde des Staates gerade dadurch besteht, daß es fortgesetzt nach außen hin Sonderinteressen schafft, die den Interessen der anderen Staaten zuwiderlaufen, und gerade aus diesem Grunde wenig geeignet ist, als Schlichter und Vermittler aufzutreten. Deshalb stellte er der Idee eines internationalen Staatenbundes, die Kant befürwortet hatte, seine «Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Weltteilen» entgegen, da er von der richtigen Erkenntnis ausging, daß eine gegenseitige Verständigung zwischen den menschlichen Gruppierungen verschiedener Länder nicht von oben herab diktiert, sondern nur von unten herauf durch den Willen der Völker selbst zu erreichen sei, indem «alle Vorurteile von Staatsinteresse, angeborener Religion und das törichtste Vorurteil unter allen, von Rang und Stand, gedämpft, eingeschränkt, unschädlich gemacht werden». – Aber «dergleichen Siege über das Vorurteil müssen – wie Herder sagte – von innen heraus und nicht von außen hinein erfechten werden».
Als Charakter ganz anders geraten war Fichte, der eine revolutionäre Ader hatte, die Kant gänzlich fehlte. In der Tat war Fichte von allen Vertretern der deutschen Philosophie jener Tage der einzige, der am politischen und gesellschaftlichen Leben seiner Zeit den stärksten Anteil genommen hat. Doch ein revolutionäres Temperament ist noch kein Unterpfand für eine freiheitliche Gesinnung. Auch Cromwell, Robespierre, Mazzini, Lenin, Mussolini und mit ihnen alle Befürworter der Staatsdiktatur von rechts und links waren Revolutionäre. Doch das wahrhaft Revolutionäre zeigt sich in den Zielen, die der Mensch erstrebt, und nicht bloß in den Mitteln, die er gebraucht und die fast immer von den Umständen abhängig sind.
Zwar hatte Fichte in seiner Rechtslehre auch den Gedanken entwickelt, daß es «der letzte Zweck aller Regierung sei, die Regierung überflüssig zu machen», doch fügte er vorsichtig hinzu, daß «vielleicht erst Myriaden Jahre» vergehen müßten, bevor der Mensch für einen solchen Zustand reif sei. Inzwischen stand sein ganzes Tun in schärfstem Gegensatz zu jenem fernen Ziel; denn Fichte war eine herrische, durch und durch autoritär veranlagte Natur, ein Mann, der die Freiheit zwar dauernd im Munde führte, aber eben nur den Namen der Freiheit, nicht mehr. Wie Kant, von dessen Lehre er zunächst ausging, so glaubte auch Fichte an das «radikal Böse» im Menschen. Er hat in seiner Lehre später manches modifiziert, doch in diesem Punkte ist er sich stets treugeblieben. Es läßt sich sogar feststellen, daß diese Auffassung später bei ihm um so stärker hervortrat, je mehr er in Berlin unter den politischen Einfluß der neuen Romantik geriet, als deren Häupter damals Schleiermacher und die Brüder Schlegel galten. So schrieb er noch 1812 in seiner Abhandlung über Machiavelli, durch welche er – allerdings vergebens – den König von Preußen zu einem entscheidenden Schritt zu drängen versuchte:
«Der Hauptgrundsatz jeder Staatslehre, die sich selbst versteht, ist enthalten in folgenden Worten Machiavellis: Jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen Staat) errichtet und demselben Gesetze gibt, muß voraussehen, daß alle Menschen bösartig sind und daß ohne alle Ausnahme sie sobald ihre innere Bösartigkeit auslassen werden, sobald sie dazu eine sichere Gelegenheit finden.»
Wer so denkt, hat von freiheitlichem Geiste keine Spur. Ist es doch jener unselige Glaube an das «radikal Böse», der dem theologischen Begriff von der Erbsünde entsprang, der bisher noch jeder Tyrannei als moralische Rechtfertigung dienen mußte.
Fichte hat seiner Auffassung über die Beziehung des Menschen zum Staat am besten Ausdruck gegeben in seiner Schrift Der geschlossene Handelsstaat, die er später selbst als sein «durchdachtestes Werk» bezeichnet hat. Diese Schrift, welche dem preußischen Minister von Struensee gewidmet war, enthält den Plan eines sogenannten Vernunftstaates, in dem das Leben der Bürger bis ins kleinste geregelt und vorgeschrieben wird, so daß sie überall und zu jeder Zeit die ordnende Hand einer politischen Vorsehung über sich fühlen. Es ist ein Polizeistaat im übelsten Sinne, in dem es kaum noch Raum für eine wie immer geartete persönliche Freiheit gibt. Fichtes Idealstaat ist in verschiedene Stände gegliedert, die streng voneinander geschieden sind und deren numerische Stärke durch die Regierung bestimmt wird. Die Arbeit wird jedem Bürger seinem Stande gemäß vorgeschrieben, und zwar so, daß er seine Beschäftigung nicht nach Belieben wechseln kann. Nach dem Grundsatz, daß «die Erde des Herrn ist» und der Mensch nur die Pflicht hat, sie «zweckmäßig anzubauen und zu benutzen», ist alles Land Eigentum des Staates, der den einzelnen Bürger damit belehnt. Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, den Besitz seiner Bürger zu schützen, er hat auch dafür Sorge zu tragen, daß jeder Bürger den Anteil erhält, der ihm durch das Gesetz zugesprochen wird. Indem das Vermögen des Bürgers der steten Aufsicht des Staates, untersteht, ist die Gewähr gegeben, daß keiner zu reich wird, aber auch keiner im Elend verkommen muß.
An Stelle der üblichen Gold- und Silberwährung, die vom Staate eingezogen wird, tritt ein Landesgeld aus Papier oder Leder, das den Tauschverkehr im Inneren vermittelt. Dies ist um so leichter möglich, als die Grenzen gesperrt und jedem Bürger der Verkehr mit dem Ausland streng untersagt ist, so daß er gesellschaftliche Beziehungen nur mit reinen Mitbürgern unterhalten kann, über deren Art natürlich der Staat allein zu befinden hat. Nur der Staat hat das Recht, den notwendigen Austausch mit anderen Ländern zu vermitteln.
Man begreift, wie ein so fanatischer Verehrer des Staates wie Lassalle sich an Fichte so stark begeistern konnte; man begreift auch, daß schon die bloße Vorstellung einer so ungeheuerlichen Beamten- und Polizeimaschine, wie sie Fichte vorschwebte, den Anwärtern des Dritten Reiches den Mund wässerig machen mußte und daß sie aus Mangel an eigenen Gedanken ihre geistigen Ausgaben vorwiegend bei Fichte zu decken suchten. Fichtes Staatslehre enthält alle Voraussetzungen einer staatskapitalistischen Wirtschaftsordnung unter der politischen Leitung einer Regierung nach dem Muster des altpreußischen Ständestaates, die man heute als «Sozialismus» umzufälschen versucht. Dem Bürger soll zwar die materielle Existenz gesichert werden, aber nur auf Kosten jeglicher persönlicher Freiheit und aller kulturellen Bindungen mit anderen Völkern. Auch an Fichte bestätigte sich die alte Wahrheit, daß kein Gebilde gesellschaftlicher Unterdrückung von den Menschen auch nur annähernd so unerträglich empfunden würde wie eine Verwirklichung der staatsphilosophischen Vernunftpläne unserer Weisen.
Fichte gilt in Deutschland als der wahre Prophet des echtesten Deutschtums. Man preist ihn als die lebendige Verkörperung des patriotischen Gedankens, und seine Reden an die Deutsche Nation sind heute wieder in aller Munde. Im Interesse der geschichtlichen Wahrheit muß hier gesagt werden, daß Fichtes Wandlung zum deutschen Patrioten und Hüter der nationalen Belange ziemlich plötzlich eingetreten ist. Er war in diesem Punkte gerade so wandlungsfähig wie in seinem einstigen Atheismus und Republikanismus, die er in späteren Jahren gänzlich fallenließ. Noch in seinen Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters konnte er sich keineswegs für nationale Ideen begeistern, und auf die Frage, «welches denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers sei», fand er die Antwort: «Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht.»
So schreibt Fichte noch 1805; im Dezember 1807 begann er im Saale der Berliner Akademie seine Reden an die Deutsche Nation, die nicht nur als eine wortgewaltige Fassung seiner philosophischen Anschauungen zu bewerten sind, sondern die auch zum erstenmal den deutschen Patrioten in ihm auf den Plan brachten. Seine innere Wandlung vollzog sich also ziemlich rasch und zeigte, daß ihm das «tiefste Gefühl für die heilige Sache der Nation» nicht angeboren war.[59]
Fichtes Reden waren eine mutige Tat, da sie sozusagen im Schatten der französischen Bajonette gehalten wurden und der Redner sich der Gefahr aussetzte, von den Schergen Napoleons ergriffen zu werden. Daß dieser nicht mit sich spaßen ließ, hatte die Hinrichtung des Buchhändlers Palm zur Genüge bewiesen. Aber andere haben denselben und größeren Mut gezeigt, und häufig für eine ungleich würdigere Sache. Was ist der Inhalt jener Reden, wenn nicht eine einzige Verherrlichung der Allmacht des nationalen Staates? Ihr Kernstück bildet die nationale Erziehung der Jugend, nach Fichte die erste und wichtigste Voraussetzung zur Befreiung des Landes vom Joche der Fremdherrschaft und, um das neue Geschlecht mit der heiligen Sendung der Nation vertraut zu machen. Deshalb durfte die Erziehung der Jugend nicht der Kirche anvertraut werden, denn das Reich der Kirche war nicht von dieser Welt und einem auswärtigen Staate vergleichbar, dessen Träger nur daran interessiert sind, den Menschen nach seinem Tode selig werden zu lassen.
Fichtes Blick war irdischer gerichtet, sein Gott war von dieser Welt. Deshalb wollte er die Jugend nicht den Priestern ausliefern, wohl aber dem Staate, obzwar dieser die Aufgaben der Kirche nur ins Politische übersetzte und wie diese dasselbe Ziel verfolgte: die Knechtung des Menschen unter das Joch einer höheren Macht. Man wende nicht ein, daß die Erziehungslehre Fichtes auch manchen breiten Ausblick enthält, besonders wo er den Spuren Pestalozzis folgte; das alles wird gegenstandslos, wenn man die Absicht ins Auge faßt, die er verfolgte. – Erziehung ist Charakterentwicklung, harmonische Ausgestaltung der menschlichen Persönlichkeit. Was aber der Staat auf diesem Gebiete zustande bringt, ist nur öde Bildungsdressur, Austilgung des natürlichen Empfindens, Verengung des geistigen Blickfeldes, Zerstörung aller tieferen Charaktereigenschaften des Menschen. Der Staat kann Untertanen oder – wie Fichte es nannte Bürger heranzüchten, doch kann er nie freie Menschen heranbilden, die ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen; denn selbständiges Denken ist die größte Gefahr, die er zu fürchten hat.
Fichte hat mit der nationalen Bildung einen förmlichen Kultus getrieben. Damit ihre nationale Ausbildung keiner Gegenströmung ausgesetzt sei, wollte er die Kinder dem Elternhaus entziehen. Zwar war er überzeugt, daß eine solche Maßnahme auf große Schwierigkeiten stoßen mußte, doch er tröstete sich damit, daß, wenn sich erst Staatsmänner finden würden, die «selbst innig überzeugt von der Unfehlbarkeit und Untrüglichkeit der vorgeschlagenen Mittel» seien, «so ließe von solchen sich auch erwarten, daß sie zugleich begriffen, der Staat als höchster Verweser der menschlichen Angelegenheiten und als der Gott und seinem Gewissen allein verantwortliche Vormund der Unmündigen habe das vollkommene Recht, die letzteren zu ihrem Heile auch zu zwingen. Wo gibt es denn dermalen einen Staat, der da zweifle, ob er auch wohl das Recht habe, seine Untertanen zu Kriegsdiensten zu zwingen und den Eltern für diesen Beruf die Kinder wegzunehmen, ob nun eins von beiden oder beide wollen oder nicht wollen?»
Das sieht dem Manne ähnlich, der in seiner Rechtslehre den Gedanken vertrat, daß es «außer dem Staate kein Recht» gäbe, und die Worte prägte: «Recht ist Freiheit nach einem Gesetze.» – Natürlich geschieht bei Fichte alles zum Heile der Menschen, aber das Schicksal bewahre uns vor solchem Heile, das uns unwillkürlich das Wort des Pestalozzi-Forschers Hunziker von der «durch Staatsgewalt eingesetzten Dressur zum Völkerglück» ins Gedächtnis ruft.
Auch die übrigen Ideengänge, die Fichte in seinen Reden an die Deutsche Nation zum Ausdruck brachte, enthalten keine Spur eines wahrhaft freiheitlichen Geistes, obzwar dort sehr viel von Freiheit die Rede ist. Doch es war eben nur die Freiheit, die Fichte meinte, und die war von ganz besonderer Art. Eines aber haben diese Reden bewirkt und bewirken sie heute noch: sie haben in hohem Maße dazu beigetragen, jene ebenso kindische wie anmaßende Überheblichkeit in Deutschland großzuzüchten, die dem deutschen Namen nicht zur Zierde gereicht. Wir sprechen hier von dem Köhlerglauben an die «historische Sendung der Deutschen», die heute wieder so üppig bei uns ins Kraut schießt. Seit Luther spukt dieser seltsame Wahn durch die ganze deutsche Geschichte, aber bei Fichte und Hegel tritt diese kranke Manie besonders deutlich hervor,[60] die sogar ihren Weg in die Literatur des deutschen Sozialismus gefunden hat und besonders von Lassalle liebevoll gepflegt wurde. Houston Stewart Chamberlain und seine zahllosen Nachtreter, die mit ihrem Wahnwitz das geistige Leben Deutschlands verunreinigt haben, waren vor dem Kriege die Künder der «deutschen Sendung», die es sich in den Kopf setzten, das bekannte Geibelwort «Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen» wahrzumachen. Fichte war sozusagen der Großahne der Chamberlain, Woltmann, Hauser, Rosenberg, Günther und zahlloser anderer, die heute in Rassentheorie machen und das «Kismet des Blutes» verkünden. Allerdings darf man ihn nicht mit diesen auf eine Stufe stellen, denn er war immerhin ein Mann von geistigem Format, was man von seinen öden Ablegern nicht sagen kann.
Fichte hat in seinen Reden an die Deutsche Nation den Glauben an die «weltgeschichtliche Sendung der Deutschen» mit besonderer Leidenschaft und in der Art eines alttestamentarischen Propheten vertreten. Es war besonders die Form und der sprachliche Rhythmus dieser Reden, der auf die deutsche Jugend einen so tiefen Einfluß hatte. Er hat die Deutsche Nation als vom Schicksal bestimmt bezeichnet, «Wiedergebärerin und Wiederherstellerin» der Menschheit zu sein. – «Unter allen neueren Völkern seid ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entscheidendsten liegt und denen der Fortschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist.» – Doch dieser Glaube genügte ihm nicht; er hat auch alles in Acht und Bann getan, das seine Vorstellung von der «Deutschheit» nicht teilte, was bei einem so eigenwilligen und autoritären Charakter nur natürlich war. Dabei verfehlte er nicht, seine eigene Lehre als die eigentliche, ja geradezu als die Philosophie der Deutschen zu verkünden und die Ideen seiner großen Widersacher Kant und Hegel als «undeutsch» abzutun. Eine Methode, die sich in Deutschland immer bewährt hat, wie die neueste Geschichte wieder so deutlich beweist. – Es ist immer dieselbe Geschichte: der Mensch schafft seinen Gott nach seinem eigenen Bilde. Fichte hatte nicht unrecht, wenn er sagte: «Was für eine Philosophie man wählt, richtet sich danach, was für ein Mensch man ist.» Doch als er den Versuch wagte, die rein persönliche Wertung auf die ganze Nation zu übertragen, gelangte er zu den ungeheuerlichsten Trugschlüssen, deren tragische Auswirkungen selbst heute noch nicht überwunden sind.
Von den großen Vertretern der klassischen Philosophie in Deutschland hat Hegel die Zeitgenossen am tiefsten beeinflußt. Während seiner letzten Jahre thronte er wie ein absoluter Monarch im Reiche des Geistes, und kaum einer wagte es, sich gegen ihn aufzulehnen. Männer, die sich bereits auf den verschiedensten Gebieten einen Namen erworben hatten, und solche, denen eine führende Rolle für die Zukunft vorbehalten war, saßen ihm zu Füßen und lauschten seinen Worten wie einem Orakel. Seine Gedanken beeinflußten nicht bloß die besten Köpfe in Deutschland, sie fanden auch in Rußland, Frankreich, Belgien, Dänemark und Italien einen deutlichen Widerhall. Es wird uns heute nicht leicht, jene mächtige Ideenausstrahlung richtig einzuschätzen; noch seltsamer mutet es an, daß Hegels Einfluß sich auf Menschen aller politischen und sozialen Richtungen erstrecken konnte: eingefleischte Reaktionäre und zukunftsschwangere Revolutionäre, Konservative und Liberale, Absolutisten und Demokraten, Monarchisten und Republikaner, Bekämpfer und Befürworter des Eigentums – sie alle hingen wie verzückt an den Brüsten seiner Weisheit.
Bei den meisten läßt sich diese verblüffende Wirkung weniger auf den Inhalt der Hegelschen Lehre zurückführen; es war die seltsame dialektische Art seines Denkens, die sie gefangennahm. Hegel setzte den starren Begriffen seiner Vorgänger die Idee eines ewigen Werdens entgegen, wobei es ihm weniger darauf ankam, die Dinge an sich zu erfassen, als ihren Beziehungen mit anderen Erscheinungen nachzugehen. Er hatte die These Heraklits vom ewigen Fluß der Dinge in seiner Weise gedeutet und einen inneren Zusammenhang der Erscheinungen angenommen, der sich dadurch kundgibt, daß jede ihren eigenen Gegensatz in sich trägt, der sich mit innerer Notwendigkeit auswirken muß, um einer neuen Erscheinung Platz zu machen, die in ihrer Art vollkommener ist als die beiden ersten Formen dieses Werdens. Hegel nannte dies die These, die Antithese und die Synthese. Aber da bei ihm jede Synthese wieder zur These eines neuen Vorganges wird, so entsteht eine ununterbrochene Kette, deren einzelne Glieder fest ineinandergreifen nach einem ewigen göttlichen Plane.
Man hat Hegel dieser Auffassung wegen als einen der großen Künder der Entwicklungslehre gefeiert; mit Unrecht, denn diese rein spekulative Anschauung hat mit dem eigentlichen Entwicklungsgedanken schwerlich etwas gemein. Die großen Begründer der Entwicklungstheorie verbanden mit diesem Gedanken die Vorstellung, daß alle organischen Formen nicht jede für sich als besondere Einheit bestehen, daß sie vielmehr voneinander abstammen, und zwar so, daß alle höheren Gebilde aus einfachen Formen hervorgegangen sind. Dieser Vorgang bildet sozusagen den ganzen Inhalt der Geschichte der organischen Welt und führt zu der Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Arten auf der Erde, deren allmähliche oder auch in rascherem Tempo erfolgende Umgestaltung durch die Veränderungen der Umwelt und der äußeren Lebensbedingungen verursacht wird. Kein ernsthafter Forscher aber ist je darauf verfallen, sich diesen Vorgang im Sinne Hegels vorzustellen: als eine ewige Wiederholung desselben dreigliedrigen Schemas, demzufolge die erste Form mit unerbittlicher Notwendigkeit stets in ihr Gegenteil umschlagen muß, damit der allgemeine Prozeß des Werdens seinen naturgemäßen Fortgang nehmen kann. Dieser ausgeklügelte Gedanke, der nur mit These und Antithese zu arbeiten wußte, hat nicht nur keinerlei Beziehungen zu den wirklichen Erscheinungen des Lebens, er steht auch im schreiendsten Widerspruch mit der eigentlichen Entwicklungsidee, die auf der Vorstellung eines organischen Werdens fußt und schon aus diesem Grunde jede Möglichkeit, daß eine Art sich in ihr Gegenteil verwandeln könnte, als müßige Spekulation einer verstiegenen Einbildung ablehnen muß.
Aber Hegel war es auch, der uns das Denken in Kategorien beibrachte, das so ungeheuerliche Verwirrungen in den Köpfen angerichtet hat und noch immer anrichtet. Indem er ganzen Völkern bestimmte Eigenschaften und Charakterzüge andichtete, die sich im besten Falle nur bei dem Einzelwesen feststellen lassen, verallgemeinert aber zu den unsinnigsten Folgerungen führen müssen, hat er den Wahnvorstellungen moderner Rassentheoretiker und den kollektiven Werturteilen einer verstiegenen Völkerpsychologie erst den Weg geebnet und jenen Ungeist heraufbeschworen, der das Denken lähmt und aus seinen natürlichen Bahnen drängt. Was Hegel sonst geschrieben, ist heute längst vergessen, aber seine Methode der kollektiven Begriffsbildungen spukt noch immer in den Köpfen der Menschen und verleitet sie nicht selten zu den gewagtesten Behauptungen und ungeheuerlichsten Folgerungen, deren Tragweite von den meisten kaum geahnt wird.[61]
Hegel beglückte jedes Volk, das im Laufe des Geschehens eine weltgeschichtliche Rolle spielte, mit einem besonderen Geiste, dessen Aufgabe es war, den Plan Gottes zur Ausführung zu bringen. Jeder Volksgeist ist aber selbst nur «ein Individuum im Gange der Weltgeschichte», deren höhere Zwecke er zu erfüllen hat. Für den Menschen bleibt in dieser Geisterwelt wenig Raum. Er besteht nur insofern, als er irgendeinem Kollektivgeist als Ausdrucksmittel dienen muß. Seine Rolle ist ihm daher klar vorgezeichnet:
«Das Verhalten des Individuums dazu [zum Volksgeist] ist, daß es sich dieses substantielle Sein aneigne, daß dieses seine Sinnesart und Geschicklichkeit werde, auf daß es etwas sei. Denn es findet das Sein des Volkes als eine bereits fertige, feste Welt vor sich, der es sich einverleibt hat. In diesem seinem Werke, seiner Welt genießt sich nun der Geist des Volkes und ist befriedigt.»[62]
Da nun Hegel der Ansicht war, daß in jedem Volke, in dem der «Weltgeist» sich ein Werkzeug zur Ausführung seiner geheimnisvollen Pläne geschaffen hat, ein besonderer Geist lebe, der es für seine vorgedachte Aufgabe erst befähigt, so folgt daraus, daß jedes Volk mit einer besonderen «historischen Mission» betraut ist, die jede Äußerung seiner geschichtlichen Betätigung im voraus bestimmt. Diese Mission ist sein Schicksal, seine Bestimmung, die nur ihm allein und keinem anderen Volke vorbehalten ist und die es aus eigener Kraft nicht ändern kann.
Fichte hatte die von ihm gepredigte «Sendung der Deutschen» durch die besondere Art ihrer Geschichte zu erklären versucht. Er hat dabei die gewagtesten Behauptungen aufgestellt, über die die Zeit längst hinweggeschritten ist; immerhin suchte er nach verständlichen Gründen, um jene angebliche Sendung zu rechtfertigen. Nach Hegel aber ist die Sendung eines Volkes kein Ergebnis seiner Geschichte; die Sendung, mit der es vom Weltgeist betraut wurde, bildet vielmehr den Inhalt seiner Geschichte; und all dies geschieht, damit der Geist endlich «zum Bewußtsein seiner selbst» gelange.
Damit wurde Hegel zum modernen Schöpfer jener blinden Schicksalstheorie, deren Träger in jedem Vorgang der Geschichte eine «historische Notwendigkeit», in jedem Ziel, das Menschen ausgedacht, eine «geschichtliche Sendung» erblicken. In diesem Sinne ist Hegel noch immer aktuell, spricht man doch heute noch mit allem Ernst von der historischen Mission einer Rasse, einer Nation oder einer Klasse, ohne daß die meisten auch nur ahnen, daß jede dieser fatalistischen Vorstellungen, die so lähmend auf das Tun der Menschen wirken, in Hegels Denkmethode wurzelt.
Und doch ist es nur ein blinder Glaube, welcher hier zum Ausdruck kommt, der keinerlei Beziehungen zu der Wirklichkeit des Lebens hat und dessen Folgerungen durch nichts zu beweisen sind. Das ganze Gerede von der «Zwangsläufigkeit des historischen Geschehens» und von den «geschichtlich bedingten Notwendigkeiten» des gesellschaftlichen Lebens – leere Formeln, die von den Anhängern des Marxismus bis zum Überdruß wiederholt werden: was anders ist es, wenn nicht ein neuer Schicksalsglaube, der dem Geisterreiche Hegels entsprungen ist, nur daß in diesem Falle die «Produktionsverhältnisse» die Rolle des «absoluten Geistes» übernommen haben? Und doch zeigt uns das Leben jede Stunde, daß all diese «historischen Notwendigkeiten» nur so lange Bestand haben, wie die Menschen sich damit abfinden und ihnen keinen Widerstand entgegensetzen. In der Geschichte gibt es überhaupt keine Zwangsläufigkeiten, sondern nur Zustände, die man duldet und die in Nichts versinken, sobald die Menschen ihre Ursachen durchschauen und sich dagegen auflehnen.
Der berühmte Ausspruch Hegels: «Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig» – Worte, denen keine dialektische Spitzfindigkeit ihren wahren Sinn zu nehmen vermag – ist gerade deshalb das Leitmotiv jeder Reaktion, weil er das Sichabfinden mit dem Gegebenen zum Grundsatz erhebt und jede Niedertracht, jeden menschenunwürdigen Zustand mit der Unabänderlichkeit des «historisch Notwendigen» zu rechtfertigen versucht. Es ist nur eine Nachahmung der Hegelschen Spiegelfechterei, wenn besonders die Träger des deutschen Sozialismus bisher stets geneigt waren, in jedem gesellschaftlichen Übel eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu erblicken, mit dem man sich wohl oder übel abfinden müsse, bis die Zeit für eine Änderung reif sei oder – um mit Hegel zu sprechen – bis die These in die Antithese umschlage. Was anders liegt dieser Auffassung zugrunde als Hegelscher Fatalismus ins Ökonomische übersetzt? Man findet sich ab mit den Zuständen und fühlt nicht, daß man den Geist erschlägt, der gegen bestehendes Unrecht Sturm läuft.
Kant hatte die unbedingte Unterwerfung des Untertanen unter die Staatsgewalt zu einem Grundsatz der gesellschaftlichen Moral erhoben; Fichte leitete alles Recht vom Staate ab und wollte diesem die ganze Jugend ausliefern, auf daß es den Deutschen endlich vergönnt sei, «Deutsche im wahren Sinne, nämlich Staatsbürger zu sein». Hegel aber feierte den Staat als Selbstzweck, als «die Wirklichkeit der sittlichen Idee», als den «Gott auf Erden». Niemand hat mit dem Staate einen solchen Kultus getrieben, niemand den Geist der freiwilligen Knechtschaft so tief in den Vorstellungen der Menschen verwurzelt wie er. Er hat die Staatsgesinnung zu einem religiösen Prinzip erhoben und die Offenbarungen des Neuen Testaments mit den in Paragraphen gebannten Rechtsbegriffen des Staates in eine Linie gestellt. – «Denn es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes sind und daß es dem Inhalt nach kein Höheres und Heiligeres gibt.»
Hegel hat verschiedentlich betont, daß er seine Auffassung vom Staate den Alten und hauptsächlich Plato zu verdanken habe; doch was ihm wirklich vorschwebte, war der alte preußische Staat, diese Spottgeburt, die den Mangel an Geist durch Kasernendrill und Bürokratenstumpfsinn auszugleichen versuchte. Rudolf Haym hatte nicht unrecht, wenn er mit beißendem Hohne bemerkte, daß bei Hegel «das schöne Standbild des antiken Staates einen schwarz-weißen Anstrich erhalten habe». In der Tat war Hegel nur der Staatsphilosoph der preußischen Regierung, der es nie versäumte, ihre schlimmsten Untaten zu rechtfertigen. Die Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie ist eine grimmige Verteidigung der elenden preußischen Zustände, ein Bannstrahl gegen alle, die es wagten, an dem Althergebrachten zu rütteln. So wandte er sich mit einer Schärfe, die einer öffentlichen Denunziation gleichkam, gegen den Professor J. F. Fries, der bei der Jugend seiner liberal-patriotischen Ideen halber sehr beliebt war, weil dieser in seiner Schrift Vom deutschen Bund und deutscher Staatsverfassung sich nicht entblödet habe zu behaupten, daß in einem richtigen Gemeinwesen «das Leben von unten» – vom «sogenannten Volke», wie Hegel höhnend bemerkte – komme. Eine solche Auffassung war natürlich Hochverrat in seinen Augen, Hochverrat an der «Idee des Staates», die nach ihm einem Volke allein Leben verleihen konnte und schon deshalb gegen jede Kritik gefeit ist, weil ja der Staat das «sittliche Ganze» in sich verkörpert, folglich «der Sittliche in sich» ist. Wenn Haym diese Ausfälle Hegels als eine «wissenschaftliche Rechtfertigung des Karlsbader Polizeisystems und der Demagogenverfolgungen» bezeichnet, so hat er damit kein Wort zuviel gesagt.[63]
Der preußische Staat hatte schon deshalb eine besondere Anziehungskraft für Hegel, weil er in ihm alle nötigen Voraussetzungen gefunden zu haben glaubte, die für das Wesen des Staates überhaupt entscheidend sind. Wie de Maistre und Bonald, die großen Propheten der Reaktion in Frankreich, so hatte auch Hegel erkannt, daß alle und jede Autorität in der Religion wurzelt; deshalb war es das große Ziel seines Lebens, den Staat mit der Religion auf das innigste zu verschmelzen, beide sozusagen zu einer großen Einheit zusammenzufassen, deren einzelne Teile organisch miteinander verwachsen sind. Der Katholizismus schien ihm für diese Aufgabe wenig geeignet, und bezeichnenderweise deshalb nicht, weil er dem Gewissen des Menschen zuviel Spielraum gewährte.
«In der katholischen Kirche dagegen – heißt es in der Philosophie der Geschichte – kann das Gewissen sehr wohl den Staatsgesetzen entgegengesetzt werden. Königsmorde, Staatsverschwörungen und dergleichen sind von den Priestern oft unterstützt und ausgeführt worden.»
Das ist echtester Hegel, und man begreift, wenn sein Biograph Rosenkranz von ihm behauptete, daß es sein Ehrgeiz gewesen sei, der Machiavelli Deutschlands zu werden. Gewiß ist es für den Staat gefährlich, wenn seine Bürger ein Gewissen haben; was er benötigt, sind Menschen ohne Gewissen oder, besser gesagt, Menschen, deren Gewissen ganz auf die Staatsräson eingestellt ist und bei denen das Gefühl, der persönlichen Verantwortlichkeit durch das automatische Bewußtsein, im Interesse des Staates zu handeln, ersetzt wird.
Für diese Aufgabe war nach Hegel nur der Protestantismus berufen, da durch die protestantische Kirche «die Versöhnung der Religion mit dem Recht zustande gekommen ist. Es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom weltlichen Rechte getrennt oder ihm gar entgegengesetzt wäre.» Auf diesem Wege war das Ziel klar vorgezeichnet: Von der Versöhnung der Religion mit dem weltlichen Recht bis zur Vergottung des Staates war nur ein Schritt, und Hegel tat diesen Schritt im vollsten Bewußtsein seiner inneren Folgerichtigkeit.
«Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft. Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.»
Trotzdem brachte es dieser Hohepriester der Autorität um jeden Preis fertig, im letzten Abschnitt seiner Philosophie der Geschichte die Worte niederzuschreiben: «denn die Weltgeschichte ist nichts als die Entwicklung des Begriffes der Freiheit». Es war allerdings nur die Hegelsche Freiheit, von der er sprach, die genau aussah wie die famose Versöhnung der Religion mit dem Recht. Zur Beruhigung schwacher Gemüter fügte er denn auch bald hinzu:
«Die objektive Freiheit aber, die Gesetze der reellen Freiheit, fordern die Unterwerfung des zufälligen Willens, denn dieser ist überhaupt formell. Wenn das Objektive an sich vernünftig ist, so muß die Einsicht dieser Vernunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der subjektiven Freiheit vorhanden.»
Der Sinn der Rede ist reichlich dunkel, wie alles, was Hegel geschrieben hat, aber er besagt im Grunde nichts anderes als die Abdankung des Wollens im Namen der Freiheit; war doch die Freiheit, die Hegel meinte, überhaupt nur ein Polizeibegriff. – Man erinnert sich unwillkürlich der Worte Robespierres: «Die revolutionäre Regierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.» Der Advokat von Arras, der sich mit der «Vernunft» schlafen legte, um mit der «Tugend» aufzustehen, hätte einen guten Schüler Hegels abgegeben.
Man hat des öfteren auf den gesellschaftskritischen Charakter der Junghegelianer hingewiesen, um damit zu beweisen, daß eine solche Ideenrichtung nur aus einer revolutionären Quelle gespeist werden konnte. Doch könnte man mit viel größerem Recht darauf verweisen, daß eine ganze Legion der hartgesottensten und eingefleischtesten Reaktionäre aus der Schule Hegels hervorgegangen ist. Auch darf man nicht vergessen, daß gerade der Junghegelianismus eine ganze Menge reaktionärer Bestandteile mit ins andere Lager herübergerettet hat, wo sie zum Teil heute noch fortwuchern.
Hegels Spiel mit leeren Worten, deren Gehaltlosigkeit er durch eine ebenso schwülstige als unverständliche Symbolik zu verbergen wußte, hat in Deutschland auf Jahrhunderte hinaus den inneren Drang nach echtem Wissen künstlich unterbunden und manchen fähigen Kopf dazu verführt, den Schattenbildern müßiger Spekulationen nachzujagen, anstatt der Wirklichkeit des Lebens, näherzutreten und Herz und Geist für eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen einzusetzen.
Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert,
Ist wie ein Tier auf dürrer Heide,
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
Und ringsumher liegt schöne grüne Weide.
Der preußische Staatsphilosoph Hegel hätte Goethe bei der Prägung dieser lebensvollen Wahrheit Modell gestanden haben können. In der Tat wurde er sein ganzes Leben lang von jenen Geistern, die er selbst heraufbeschworen, im Kreis herumgeführt. Tausende folgten ihm wie einem Fackelträger der Erkenntnis und ahnten nicht, daß es nur ein Irrlicht war, das über Sümpfen geisterte und das sie immer tiefer in das Nebelreich einer unfruchtbaren Metaphysik hineinlockte.
Auf die große Bewegung des Sozialismus wirkte die Hegelei in der Gestalt des Marxismus wie Meltau auf junge Saat. Sie hat die lebensheißen Worte Saint-Simons: «Bedenke, mein Sohn, daß man begeistert sein muß, um große Dinge zu vollbringen», zuschanden gemacht, indem sie die Menschen lehrte, ihre Sehnsucht zu bändigen und dem gleichmäßigen Ticktack der Uhr zu lauschen, das dem stummen Walten unabänderlicher Gesetze Ausdruck gibt, nach dem sich angeblich alles Werden und Vergehen in der Geschichte vollzieht. Der Fatalismus aber ist der Totengräber aller lodernden Sehnsucht, jedes idealen Strebens, aller überschäumenden Kraft, die nach Ausdruck ringt und sich in schöpferisches Tun umsetzen will. Denn er tötet die innere Zuversicht und den tiefen Glauben an die Gerechtigkeit einer Sache, der in derselben Zeit der Glaube an die eigene Kraft ist. – Wenn Friedrich Engels sich rühmte: «Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel», so war es nicht zuletzt diese Abstammung, welche dem Sozialismus in Deutschland einen so trostlosen autoritären Charakter verliehen hat. Sicherlich hätte es dem deutschen Sozialismus mehr gefruchtet, wenn er mehr Anregungen von Lessing, Herder und Jean Paul empfangen hätte, anstatt bei Kant, Fichte und Hegel in die Schule zu gehen.
Revolutionär sein heißt durch Einstellung der eigenen Kraft gesellschaftliche Änderungen ertrotzen. Fatalismus ist es, sich mit den Dingen abzufinden, weil man glaubt, sie nicht ändern zu können. Nur ein Fatalist im übelsten Sinne konnte die Worte sprechen: «Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.» – Sich abfinden mit der Welt, wie sie ist, ist die geistige Vorbedingung für alle und jede Reaktion; denn Reaktion ist nichts anders als Stillstand nach einem Prinzip. Hegel war reaktionär vom Scheitel bis zur Sohle; jedes freiheitliche Empfinden war ihm völlig fremd, denn es paßte nicht in den engen Rahmen seiner fatalistischen Vorstellungen. Er war der starre, unversöhnliche Befürworter eines geistlosen Autoritätsprinzips, schlimmer noch als Bonald und de Maistre, denn diese sahen bloß in der Person des Monarchen die lebendige Verkörperung aller Herrschaft, Hegel aber machte eine politische Maschine, die mit ihren unbarmherzigen Gliedern die Menschen zermalmt und sich von ihrem Schweiße und Blute nährt, zum Gefäß aller Sittlichkeit, zum «Gott auf Erden». Das ist sein Werk vor der Geschichte.
XII. Die Demokratie und der nationale Staat
Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat. Volk und Nation. Der Staat als politisches Kirchengebilde. Die nationale Zugehörigkeit ein politisches Religionsbekenntnis. Die Demokratie als Bahnbrecherin des modernen Nationalbewußtseins. Lassalle über Demokratie und Nation. Nation und Nationalität. Echo der Französischen Revolution in Deutschland. Soziale Zustände. Die Fremdherrschaft. Preußens Zusammenbruch. Die Entstehung der nationalen Bewegung. Arndt und Fichte. Scharnhorst und Gneisenau. Die Bestrebungen des Freiherrn vom Stein. Kabalen des preußischen Junkertums. Fürstliche Versprechungen. Der deutsche Einheitstraum und die deutschen Fürsten. Goethes Urteil über die sogenannten «Freiheitskriege».
Wir haben gesehen, unter welchen Umständen der nationale Staat in die Erscheinung trat, bis er allmählich jenen demokratischen Anstrich erhielt, welcher dem modernen Begriff der Nation das Leben gab. Nur wenn man den mannigfachen Verzweigungen dieser bedeutsamen gesellschaftlichen Umgestaltung in Europa mit wachen Augen nachgeht, wird man sich über das eigentliche Wesen der Nation klarwerden. Die alte Behauptung, welche die Entstehung des nationalen Staates auf das erwachende Nationalbewußtsein der Völker zurückführt, ist nur ein Märchen, das den Trägern der nationalen Staatsidee gute Dienste leistete, aber darum nicht minder falsch ist. Die Nation ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Staates. Es ist der Staat, der die Nation schafft, nicht die Nation den Staat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, besteht zwischen Volk und Nation derselbe Unterschied wie zwischen Gesellschaft und Staat.
Jede gesellschaftliche Bindung ist ein natürliches Gebilde, das sich auf Grund gemeinsamer Bedürfnisse und gegenseitiger Vereinbarung organisch von unten nach oben gestaltet, um die allgemeinen Belange zu schützen und wahrzunehmen. Sogar wenn gesellschaftliche Einrichtungen allmählich erstarren oder rudimentär werden, läßt sich der Zweck ihres Ursprunges in den meisten Fällen deutlich erkennen. – Jede staatliche Organisation aber ist ein künstlicher Mechanismus, der den Menschen von irgendwelchen Machthabern von oben herab aufgezwungen wird und der nie einen anderen Zweck verfolgt, als die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft zu verteidigen und sicherzustellen.
Ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bindungen, ein Sichzusammenfinden von Menschen, welche durch eine gewisse Gleichartigkeit der äußeren Lebensverhältnisse, durch die Gemeinschaft der Sprache und durch besondere Veranlagungen auf Grund klimatischer und geographischer Lebensbedingungen zustande kommen. Auf diese Art entstehen gewisse gemeinsame Züge, die in jedem Gliede des Volksverbandes lebendig sind und einen wichtigen Bestandteil seiner gesellschaftlichen Existenz bilden. Diese innere Verwandtschaft kann ebensowenig künstlich gezüchtet als willkürlich zerstört werden, es sei denn, daß man alle Glieder einer Volksgruppe gewaltsam von der Erde vertilge. – Eine Nation aber ist stets das künstliche Ergebnis machtpolitischer Bestrebungen, wie ja auch der Nationalismus nie etwas anderes gewesen ist als die politische Religion des modernen Staates. Die Zugehörigkeit einer Nation wird nie, wie beim Volke, durch tiefere natürliche Ursachen bestimmt; sie unterliegt stets den Erwägungen der Politik und den Gründen der Staatsräson, hinter der sich immer die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten im Staate verstecken. Ein Häufchen Diplomaten, die lediglich die Geschäftsträger bevorrechteter Kasten und Klassen im Staatsverbande sind, entscheidet oft ganz willkürlich über die nationale Zugehörigkeit bestimmter Menschengruppen, die sich ihrem Machtgebot unterwerfen müssen, weil sie sich nicht anders helfen können, und ohne daß man sie auch nur um ihre Zustimmung gefragt hätte.
Völker und Völkergruppen haben bestanden, lange bevor der Staat in die Erscheinung trat; sie bestehen auch heute noch und entfalten sich ohne das Zutun des Staates und werden nur dann in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt, wenn sich irgendeine äußere Macht in ihr Leben gewaltsam einmischt und dieses in bestimmte Formen zwingt, die ihnen bis dahin wesensfremd geblieben sind. Die Nation aber ist ohne den Staat undenkbar; sie ist mit ihm zusammengeschmiedet auf Gedeih und Verderb und verdankt ihr Dasein lediglich seiner Existenz. Deshalb wird uns das Wesen der Nation stets unerschlossen bleiben, wenn wir versuchen, sie vom Staate zu trennen und ihr ein Eigenleben zuzusprechen, das sie nie besessen hat.
Ein Volk ist stets eine ziemlich engumgrenzte Gemeinschaft; eine Nation aber umfaßt in der Regel eine ganze Anzahl verschiedener Völker und Völkerschaften, die durch mehr oder weniger gewaltsame Mittel in den Rahmen einer gemeinsamen Staatsform gepreßt wurden. In der Tat gibt es in ganz Europa keinen Staat, der nicht aus einer ganzen Reihe der verschiedensten Völkerschaften besteht, die ursprünglich durch Abstammung und Sprache voneinander getrennt waren und lediglich aus dynastischen, wirtschaftlichen oder machtpolitischen Interessen gewaltsam zu einer Nation zusammengeschweißt wurden.
Sogar dort, wo unter dem Einfluß demokratischer Ideengänge die Bestrebungen für nationale Einheit von großen Volksbewegungen getragen wurden, wie dies in Deutschland und Italien der Fall gewesen ist, lag diesen Bestrebungen von Anfang an ein reaktionärer Kern zugrunde, der zu keinen guten Ergebnissen führen konnte. Die revolutionäre Betätigung Mazzinis und seiner Anhänger für die Herstellung des nationalen Einheitsstaates mußte sich unvermeidlich als Hindernis für die soziale Befreiung des Volkes auswirken, deren eigentliche Ziele durch die nationale Ideologie verschleiert wurden. Zwischen dem Menschen Mazzini und dem heutigen Diktator Italiens gähnt ein ganzer Abgrund, aber die Entwicklung der nationalistischen Ideenwelt von der «politischen Theologie» Mazzinis bis zum faschistischen Totalitätsstaat Mussolinis bewegt sich in einer geraden Linie.
Ein Blick auf die neugebackenen nationalen Staatswesen, die infolge des ersten Weltkrieges in die Erscheinung traten, gibt uns einen Anschauungsunterricht, der nicht leicht mißverstanden werden kann. Dieselben Nationalitäten, die sich vor dem Kriege nicht genug empören konnten gegen die Gewalt, die ihnen von fremden Bedrückern angetan wurde, erweisen sich heute, wo sie das Ziel ihrer Wünsche erreicht haben, als die schlimmsten Unterdrücker der nationalen Minderheiten in ihren Ländern und wenden gegen diese dieselben brutalen Methoden moralischer und gesetzlicher Unterjochung an, die sie einst, als sie selber noch die Unterdrückten waren, mit Recht bitter bekämpften. Dieses sollte auch den Blindesten darüber aufklären, daß ein harmonisches Zusammenleben der Völker im Rahmen des heutigen Staatensystems überhaupt nicht möglich ist. Aber jene Völker, die im Namen der nationalen Befreiung das Joch einer verhaßten Fremdherrschaft von sich abschüttelten, haben dadurch auch nichts gewonnen; in den meisten Fällen haben sie nur ein neues Joch auf sich genommen, das häufig viel bedrückender ist als das alte. Polen, Ungarn, Jugoslawien und die Randstaaten zwischen Deutschland und Rußland sind klassische Beispiele dafür.
Die Verwandlung menschlicher Gruppierungen in Nationen, das heißt in Staatsvölker, hat der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung Europas keine neuen Ausblicke erschlossen; sie hat sich vielmehr zu einem der festesten Bollwerke der internationalen Reaktion ausgewachsen und ist heute eines der gefährlichsten Hindernisse für die soziale Befreiung. Die europäische Gesellschaft wurde durch diesen Vorgang in feindliche Gruppen zerstückelt, die sich stets mißtrauisch und oft haßerfüllt gegenüberstehen; und der Nationalismus in jedem Lande wacht mit Argusaugen, daß dieser krankhafte Zustand Bestand hat. Wo immer eine gegenseitige Annäherung der Völker angebahnt wird, dort häufen seine Träger immer wieder neuen Zündstoff an, um die nationalen Gegensätze zu erweitern. Denn der nationale Staat lebt von diesen Gegensätzen und müßte in dem Augenblick verschwinden, wo es ihm nicht mehr gelänge, diese künstliche Scheidung weiterbestehen zu lassen.
Der Begriff der Nation beruht daher auf einem rein negativen Prinzip, hinter dem sich allerdings sehr positive Ziele verborgen halten. Denn hinter allem Nationalen steht der Machtwille kleiner Minderheiten und das Sonderinteresse privilegierter Kasten und Klassen im Staate. Sie bestimmen in Wirklichkeit den «Willen der Nation»; denn «die Staaten als solche haben gar keinen Zweck – wie Menger richtig bemerkte – sondern nur ihre Machthaber». Damit aber der Wille der wenigen der Wille aller werde – denn nur so kann er seine volle Wirksamkeit entfalten –, müssen alle Mittel des geistigen und seelischen Drills herhalten, um ihn im religiösen Bewußtsein der Massen zu verankern und ihn zu einer Sache des Glaubens zu gestalten. Die wahre Stärke jedes Glaubens aber liegt eben darin, daß seine Priester die Trennungslinien, welche den «Rechtgläubigen» von dem Bekennertum anderer Glaubensgemeinschaften scheiden, möglichst scharf herausarbeiten. Ohne die Ruchlosigkeit des Satans wäre es um die Größe Gottes schlecht bestellt. – Nationale Staaten sind politische Kirchengebilde. Das sogenannte Nationalbewußtsein, das dem Menschen nicht angeboren, sondern anerzogen wird, ist eine religiöse Vorstellung; man ist Deutscher, Franzose oder Italiener, wie man Katholik, Protestant oder Jude ist.
Mit der Ausbreitung demokratischer Ideen in Europa beginnt der Aufstieg des Nationalismus in den verschiedenen Ländern. Erst durch das Werden des neuen Staates, der – wenigstens in der Theorie – jedem seiner Bürger das durch die Verfassung gewährleistete Recht sichert, am politischen Leben seines Landes teilzunehmen und über die Wahl seiner Regierung mitzubestimmen, konnte das Nationalbewußtsein in den Massen Wurzel fassen und dem Einzelwesen die Überzeugung beigebracht werden, daß es ein Glied jener großen politischen Gemeinschaft der Nation sei, mit der es untrennbar verwachsen ist und die seinem persönlichen Dasein erst Zweck und Inhalt gibt. In der vordemokratischen Periode konnte ein solcher Glaube nur in dem engen Kreise der privilegierten Stände Boden fassen, während er der großen Mehrheit der Bevölkerung fremd bleiben mußte. Mit Recht bemerkt Lassalle:
«Das Prinzip der freien unabhängigen Nationalitäten ist die Basis und die Quelle, die Mutter und Wurzel des Begriffes der Demokratie überhaupt. Die Demokratie kann nicht das Prinzip der Nationalitäten mit Füßen treten, ohne selbstmörderisch die Hand an ihre eigene Existenz zu legen, ohne sich jeden Boden theoretischer Berechtigung zu entziehen, ohne sich grundsätzlich und von Grund aus zu verraten. Wir wiederholen es, das Prinzip der Demokratie hat seinen Boden und Lebensquell an dem Prinzip der freien Nationalitäten. Es steht ohne dasselbe in der Luft.»[64]
Auch in diesem Punkte unterscheidet sich die Demokratie wesentlich von dem Liberalismus, dessen Blickfeld die Menschheit als ein Ganzes umfaßte oder wenigstens jenen Teil der Menschheit, der dem europäisch-amerikanischen Kulturkreis angehört und der sich unter ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen entwickelt hat. Indem der Liberalismus in seiner Betrachtungsweise vom Einzelwesen ausging und die gesellschaftliche Umwelt danach beurteilte, als ihre Einrichtungen dem Menschen nützlich oder schädlich waren, spielten die nationalen Abgrenzungen für seine Träger nur eine untergeordnete Rolle, so daß sie mit Paine ausrufen mochten: «Die Welt ist mein Vaterland, die Menschen meine Brüder!» Die Demokratie aber, die selber auf der Kollektivvorstellung des Gemeinwillens beruhte, war dem Begriff der Nation wesensverwandter und machte sie zum Träger des Gemeinwillens.
Die Demokratie hat nicht nur dem nationalen Geist zum Leben verholfen, sie hat auch den Begriff des nationalen Staates schärfer umrissen, als dies unter der Herrschaft des Absolutismus je geschehen konnte. Unter der alten Monarchie stand jede politische Erwägung im Zeichen dynastischer Interessen. Zwar waren ihre Träger bestrebt – wie dies aus der französischen Geschichte besonders deutlich hervorgeht –, die nationalen Kräfte immer straffer zusammenzufassen und die gesamte Verwaltung des Landes unter eine zentrale Leitung zu bringen, doch hatten sie dabei stets die Belange der Dynastie im Auge, auch dort, wo sie es ratsam fanden, ihre wahren Absichten zu verschleiern.
Mit dem Beginn der demokratischen Periode fallen alle dynastischen Voraussetzungen weg, und die Nation als solche steht im Brennpunkt des politischen Geschehens. Damit bekommt der Staat selbst einen neuen Ausdruck; er wird nun erst Nationalstaat im vollsten Sinne, indem er alle Einwohner eines Landes als gleichberechtigte Glieder eines Ganzen politisch erfaßt und zusammenschmiedet.
Erfüllt von den Grundsätzen einer abstrakten politischen Gleichheit, unterschieden die Vertreter des demokratischen Nationalismus zwischen Nation und Nationalität. Die Nation galt ihnen als eine politische Gruppierung, die – vereint durch die Gemeinschaft der Sprache und Kultur – sich zu einem selbständigen Staatswesen zusammengefunden hatte. Als Nationalitäten aber betrachtete man jene Völkergruppen, die der Herrschaft eines fremden Staates unterworfen waren und sich um ihre politische und nationale Selbständigkeit bemühten. Der demokratische Nationalismus erblickte in den Kämpfen der unterdrückten Nationalitäten, die bestrebt waren, sich zur Nation umzuformen, ein unverbrüchliches Recht und betätigte sich in diesem Sinne. Wie der einzelne Bürger einer Nation sich im eigenen Lande aller Rechte und Freiheiten unbeschränkt erfreuen sollte, die ihm durch die Verfassung gewährleistet wurden, so sollte auch die Nation als Ganzes in ihrem Eigenleben nach außen hin keiner fremden Macht unterstehen und in ihrer politischen Unabhängigkeit allen anderen Nationen gleich sein.
Es ist kein Zweifel, daß diesen Bestrebungen ein gerechtes Prinzip zugrunde lag – die theoretische Gleichberechtigung jeder Nation und Nationalität ohne Unterschied ihrer politischen und sozialen Bedeutung. Aber gerade hier zeigte es sich bald von Anfang an, daß eine solche Gleichberechtigung mit den machtpolitischen Bestrebungen des Staates niemals in Einklang gebracht werden konnte. Je mehr die Machthaber der einzelnen Staaten in Europa einsehen lernten, daß sie ihre Länder gegen das Eindringen demokratischer Ideengänge nicht abschließen konnten, desto klarer wurde es ihnen auch, daß das Nationalitätsprinzip ein vorzügliches Mittel abgeben mußte, um unter seinem Deckmantel ihre eigenen Interessen zu fördern. Bereits Napoleon I., der schon auf Grund seiner Abstammung von falschen Vorurteilen weniger geplagt wurde als die Vertreter des legitimen Königtums, verstand es ganz vorzüglich, mit Hilfe des Nationalitätsprinzips für seine eigenen geheimen Pläne zu wirken. So richtete er im Mai 1809 von Schönbrunn aus seinen bekannten Aufruf an die Ungarn, in dem er sie aufforderte, das Joch der österreichischen Fremdherrschaft abzuwerfen. – «Ich verlange nichts von euch – so heißt es in jener kaiserlichen Kundgebung –, ich wünsche nur, euch als eine freie und unabhängige Nation zu sehen.»
Man weiß, wie es mit dieser Uneigennützigkeit bestellt war. Napoleon war die nationale Unabhängigkeit Ungarns ebenso gleichgültig, wie ihm im Grunde seines Herzens die Franzosen gleichgültig waren, die ihn trotz seiner fremden Abstammung zum Nationalheros gemacht hatten. Was ihm wirklich am Herzen lag, waren seine eigenen machtpolitischen Pläne. Um diese zu verwirklichen, spielte er mit den Italienern, Illyriern, Polen und Ungarn dieselbe Komödie, die er mit der grande nation vierzehn Jahre lang gespielt hatte. Wie klar Napoleon die Bedeutung des Nationalitätsprinzips für seine eigenen politischen Zwecke erkannt hatte, geht aus jener Äußerung hervor, die uns einer seiner Gefährten auf Sankt Helena von ihm berichtet hat. Er konnte sich nämlich nicht genug darüber wundern, weshalb unter den deutschen Fürsten sich kein einziger gefunden hatte, der genug Grütze besaß, die Idee von der nationalen Einheit Deutschlands, die weit im Volke verbreitet war, als Deckmantel zu benutzen, um die deutschen Völkerschaften unter einer bestimmten Dynastie zu vereinigen.
Seitdem hat das Nationalitätsprinzip in der europäischen Politik einen wichtigen Platz eingenommen. So unterstützte England nach den napoleonischen Kriegen grundsätzlich das Recht der unterdrückten Völkerschaften auf dem Festlande lediglich deshalb, um der kontinentalen Diplomatie Schwierigkeiten zu bereiten, was für den politischen und wirtschaftlichen Aufschwung Englands nur von Vorteil sein konnte. Dabei dachten die englischen Diplomaten natürlich keinen Augenblick daran, den Irländern dieselben Rechte zu gewähren. Lord Palmerston hatte seine ganze äußere Politik auf diese Methode eingestellt; doch kam es dem verschlagenen englischen Staatsmann nie in den Sinn, den unterdrückten Nationalitäten beizustehen, wenn diese seine Hilfe am dringendsten benötigten. Er sah vielmehr mit der größten Seelenruhe zu, wie ihre Befreiungsversuche unter den Krallen der Heiligen Allianz verröchelten.
Napoleon III. verfolgte dieselbe listige Politik und spielte sich als Verteidiger der unterdrückten Nationalitäten auf, während er stets nur die Belange seiner eigenen Dynastie im Auge hatte. Seine Rolle in der italienischen Einheitsbewegung, welche die Einverleibung Nizzas und Savoyens an Frankreich zur Folge hatte, ist ein sprechender Beweis dafür.
Karl Albert von Sardinien unterstützte die nationale Einheitsbewegung Italiens mit allen Mitteln, da er in kluger Voraussicht erkannte, welche Vorteile seiner Dynastie daraus erwachsen mußten. Mazzini und Garibaldi, die unentwegten Vertreter des revolutionären Nationalismus, mußten später ruhig mitansehen, wie der Nachfolger des Sardiniers die Früchte ihrer lebenslangen Tätigkeit für sich einheimste und König des geeinten Italiens wurde, das sie sich einst als demokratische Republik gedacht hatten.
Daß in Frankreich das Nationalgefühl während der Revolution so rasch Wurzel schlagen und einen so mächtigen Aufschwung nehmen konnte, läßt sich hauptsächlich darauf zurückführen, daß die Revolution zwischen den Franzosen und dem alten Europa eine so gewaltige Kluft aufgerissen hatte, die durch die fortgesetzten Kriege stets erweitert wurde. Trotzdem begrüßten die besten und wertvollsten Köpfe aller Länder die Erklärung der Menschenrechte mit ungemischter Begeisterung und glaubten fest daran, daß nunmehr eine Ära der Freiheit und Gerechtigkeit in Europa anbrechen würde. Sogar viele der Männer, die später alles aufboten, um in Deutschland die nationale Erhebung gegen die Fremdherrschaft Napoleons zu entflammen, begrüßten die Revolution mit innerem Jubel. Fichte, Görres, Hardenberg, Schleiermacher, Benzenburg und viele andere standen zuerst völlig unter dem Banne der revolutionären Ideen, die Frankreich ausstrahlte. Es war gerade die bittere Enttäuschung dieser Freiheitssehnsucht, welche Männer wie Jean Paul, Beethoven und viele andere, die früher zu den glühendsten Verehrern des Generals Bonaparte gehörten, in dem sie das Werkzeug einer anbrechenden sozialen Umgestaltung ganz Europas erblickten, bewogen hatte, sich von ihm abzuwenden, nachdem er sich zum Kaiser emporgeschwungen und immer unverhüllter die Absichten des Eroberers hervorkehrte.
Man begreift diese hemmungslose Begeisterung vieler der besten Geister in Deutschland für die Franzosen ohne weiteres, wenn man sich die trostlosen politischen und sozialen Zustände vor Augen hält, welche die deutsche Wirklichkeit am Vorabend der Revolution darstellten. Das deutsche Reich war bloß noch eine in ihrem eigenen Unrat faulende Ländermasse, deren herrschende Kasten und Stände zu keinem inneren Aufschwung mehr fähig waren und sich daher um so fester an das Alte klammerten. Das furchtbare Unglück des Dreißigjährigen Krieges, dessen kaum verheilte Wunden durch die Eroberungszüge Friedrichs II. von neuem aufgerissen wurden, hatte der Bevölkerung des mißhandelten Landes seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt.
«Ein Menschenalter voll namenloser Leiden – sagt Treitschke in seiner Deutschen Geschichte – hatte den bürgerlichen Mut gebrochen, den kleinen Mann gewöhnt, vor den Mächtigen zu kriechen. Unsere freimütige Sprache lernte in alleruntertänigster Ergebenheit zu ersterben und bildete sich jenen überreichen Wortschatz von verschnörkelten knechtischen Redensarten, die sie noch heute nicht gänzlich abgeschüttelt hat.»
Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung lebten beim Ausbruch der Revolution im Zustand der Hörigkeit unter unsäglich kläglichen Bedingungen. Das Land seufzte unter dem Joch zahlloser Winkeldespoten, deren herzlose Eigenliebe nicht davor zurückschreckte, die eigenen Landeskinder als Kanonenfutter an fremde Mächte zu verschachern, um mit dem Blutgelde, das ihnen für die Leben dieser Ärmsten gezahlt wurde, ihre stets leeren Kassen zu füllen. Alle einsichtsvollen Geschichtsschreiber sind sich darüber einig, daß diesem unglückseligen Lande von innen her keine Erlösung kommen konnte. Sogar ein so grimmer Franzosenhasser wie Ernst Moritz Arndt konnte sich dieser Einsicht nicht verschließen.
Deshalb wirkte die französische Invasion zunächst wie ein reinigendes Gewitter, denn die französischen Heere brachten einen revolutionären Geist ins Land und erweckten in den Herzen seiner Bewohner das Gefühl der Menschenwürde, das sie bisher nicht gekannt hatten. Die Verbreitung revolutionärer Ideen im Auslande war eine der gefürchtetsten Waffen der französischen Republik in ihrem verzweifelten Kampfe gegen den europäischen Absolutismus, da sie vor allem darauf eingestellt waren, die Sache der Völker von der Sache der Fürsten zu trennen. Auch Napoleon dachte keinen Augenblick daran, diese unschätzbare Waffe preiszugeben; deshalb führte er überall, wo seine siegreichen Fahnen über fremde Lande wehten, weitgehende Reformen ein, um die Bewohner der besetzten Gebiete an sich zu ketten.
Der Friede von Luneville (1801) hatte den deutschen Kaiser gezwungen, den Rhein als Grenze zwischen Frankreich und Deutschland anzuerkennen. Nach den geschlossenen Verträgen sollten die weltlichen Herrscher des linken Rheinufers durch Besitztümer im Innern des Reiches entschädigt werden. Es begann nun jener schmachvolle Schacher der deutschen Fürsten mit dem «Erbfeind» um jeden Fetzen Land, den der eine auf die Kosten des anderen und alle zusammen auf die Kosten ihrer Völker zu ergattern suchten. Die «Edelsten der Nation» winselten wie getretene Hunde vor Napoleon und seinen Ministern, um bei der vorzunehmenden Teilung möglichst gut abzuschneiden. Ein ähnliches Beispiel niedrigster Charakterverlumpung hat die Geschichte kaum gesehen. Mit Recht sagte der Freiherr vom Stein zu der russischen Kaiserin vor versammeltem Hofe, daß Deutschlands Verderben nur durch die Erbärmlichkeit seiner Fürsten verursacht wurde. Stein war sicherlich kein Revolutionär, aber ein aufrechter Mann, der den Mut hatte, eine Wahrheit auszusprechen, die allen bekannt war. Der deutsche Patriot Ernst Moritz Arndt aber schrieb mit bitterer Verachtung:
«Die helfen konnten, traten zurück, die anderen wurden zertreten; so stand der Bund der Mächtigeren mit den Feinden, und keine offene Schande brandmarkte die Ehrlosen, die sich noch als die Befreier aufstellen, sie, die mit eigener und fremder Ehre feigen Kauf trieben. Man handelte über den Frieden. Von deutschen Fürsten war vielfach die Rede, nie und nirgends vom deutschen Volke … Nie hatten die Fürsten als eine getrennte Partei so fern von der Nation gestanden; ja ihr gegenüber gestanden; sie erröteten nicht im Angesicht eines starken, braven, tapferen Volkes, das sie wie ein unterjochtes behandeln ließen, um den Raub teilen zu können … Ungerechtigkeit wird aus Ungerechtigkeit, Gewalt aus Gewalt, Schande aus Schande geboren, und mongolisch wird Europa zusammenstürzen in seinen Trümmern. So standet ihr da, und so steht ihr wie die Krämer, nicht wie die Fürsten, wie die Juden mit dem Sekel, nicht wie die Richter mit der Waage, noch wie die Feldherrn mit dem Schwert.»[65]
Nach der Schlacht von Austerlitz (1805) und der Gründung des Rheinbundes blieb dem Kaiser Franz nichts anderes übrig, als das Deutsche Reich für erloschen zu erklären; tatsächlich hatte es schon lange keinen Bestand mehr. Sechzehn deutsche Fürsten hatten sich dem Protektorat Napoleons unterstellt und für dieses Musterbeispiel an vaterländischer Gesinnung eine reiche Ernte eingeheimst. Wenn aber patriotische Historiker die Sache so darstellen, als wenn nach diesem offenen Verrat an der Nation die preußische Monarchie nunmehr der letzte Hort der deutschen Völkerschaften gegen die Fremdherrschaft der Franzosen gewesen sei, so ist das eine bewußte Fälschung geschichtlicher Tatsachen. Preußen war innerlich ebenso verseucht und moralisch verlottert wie alle anderen Teile des Reiches. Der Zusammenbruch von 1806: die furchtbaren Niederlagen der preußischen Heere bei Jena und Auerstedt, die schmachvolle Übergabe der Festungen an die Franzosen, ohne daß die adligen Befehlshaber auch nur einen ernsthaften Widerstand geleistet hätten, die Flucht des Königs bis an die russische Grenze und die wüsten Quertreibereien der preußischen Junker, die inmitten dieser grauenvollen Katastrophe an nichts anderes dachten, als ihre elenden Vorrechte zu retten, kennzeichnen die damaligen preußischen Zustände zur Genüge. Die ganze jammervolle Geschichte der Beziehungen zwischen den «hohen Verbündeten» von Rußland, Österreich und Preußen, von denen jeder abwechselnd hinter dem Rücken der anderen für oder gegen Napoleon arbeitete, ist ein wahrer Hexensabbat von feiger Erbärmlichkeit und schnödem Verrat, wie man sie in diesem Umfange in der Geschichte nicht leicht wiederfindet.
Nur eine kleine Minderheit aufrechter Männer, deren Patriotismus mehr als ein Lippenbekenntnis war, schürten durch geheime Gesellschaften und offene Propaganda den nationalen Widerstand im Lande, was ihnen um so leichter wurde, als die Militärherrschaft Napoleons immer schwerer auf der Bevölkerung des ausgesogenen Landes lastete, deren Söhne noch dazu gezwungen waren, die Lücken aufzufallen, welche der Krieg den französischen Heeren geschlagen hatte. Weder die preußische Monarchie noch das preußische Krautjunkertum waren einer solchen Arbeit fähig. Im Gegenteil, sie widersetzten sich allen ernsthaften Versuchen, die ihre Vorrechte in Gefahr bringen konnten, und behandelten Männer wie Stein, Gneisenau, Scharnhorst, Fichte, Arndt, Jahn und sogar Blücher mit unverhohlenem Mißtrauen; nur wenn sie dazu gezwungen waren, gaben sie ihrem Drängen nach, um ihnen bei der nächsten Gelegenheit wieder in den Rücken zu fallen. Das charakterlose Verhalten Friedrich Wilhelms III. Stein gegenüber und die feigen Kabalen, durch das offizielle Preußentum die Bemühungen der deutschen Patrioten fortgesetzt zu durchkreuzen, sprechen eine gar beredte Sprache. Die preußische Monarchie bildete also durchaus keine Ausnahme in dieser traurigen Heldengeschichte des deutschen Fürstentums, und Seume hatte schon recht, wenn er schrieb:
«Was von der Nation und für die Nation zu hoffen wäre, zerstören gewiß die Fürsten und Edelleute, um ihre unsinnigen Privilegien zu retten. Bonapartes beste Trabanten sind von nun an die deutschen Fürsten und Edelleute … Wir sind jetzt wirklich auf dem Punkte, wo wir wie Cicero nicht wissen, ob wir unseren Freunden oder unseren Feinden Sieg wünschen sollen. Hier sind Ruten, und dort sind Skorpionen.»
Und doch waren die Männer, welche auf die nationale Erhebung Deutschlands hinarbeiteten und die an den sogenannten «Freiheitskriegen» einen so hervorragenden Anteil genommen hatten, durchaus keine Revolutionäre, obwohl sie häufig genug von den preußischen Junkern als «Jakobiner» in Verruf gebracht wurden. Fast jeder von ihnen war königstreu bis auf die Knochen und von wahrhaft freiheitlichen Gedankengängen gänzlich unberührt. Eines aber hatten sie begriffen: wollte man aus rechtlosen Hörigen und Erbuntertänigen eine Nation formen und die breiten Massen des Volkes zum Kampfe gegen die Fremdherrschaft aufrütteln, so mußte man vor allem damit beginnen, die empörenden Vorrechte des Adels abzubauen, und dem Mann aus dem Volke bürgerliche Rechte zu gestehen, die man ihm bisher versagt hatte.
«Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen – sagte Scharnhorst –, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, dies ist alles, was wir können. Die Bande des Vorurteils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und in ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unser höherer Wirkungskreis nicht.»
Auch Gneisenau wies in seiner Denkschrift vom Juli 1807 daraufhin, daß von einem Ausgleich Europas erst dann wieder die Rede sein könne, wenn man sich dazu entschließe, den Franzosen nachzueifern, und durch eine Verfassung und die Gleichberechtigung der Stände alle natürlichen Kräfte der Nation freisetze.
«Wollten die übrigen Staaten dieses Gleichgewicht wiederherstellen, dann müßten sie sich dieselben Hilfsquellen eröffnen und sie benutzen. Sie müßten sich die Resultate der Revolution zueignen und gewännen so den doppelten Vorteil, daß sie ihre ganze Nationalkraft einer fremden entgegensetzen könnten und den Gefahren einer Revolution entgingen, die gerade darum noch nicht für sie vorüber sind, weil sie durch eine freiwillige Veränderung einer gewaltsamen nicht vorbeugen wollten.»
Noch deutlicher wurde Hardenberg, der zur Zeit des Tilsiter Friedens auf den Wunsch Napoleons von Friedrich Wilhelm den Abschied erhielt. In seiner Denkschrift über die Reorganisation des preußischen Staates vom 12. September 1807 erklärte er:
«Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegenstreben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergang oder der erzwungenen Annahme derselben entgegengehen muß.» – Und er kommt zu dem Schluß: «Demokratische Grundsätze in einer monarchistischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist!»
Das waren die Ideen, welche damals in den Kreisen der deutschen Patrioten verbreitet waren. Selbst Arndt, dem man sicherlich keine Sympathie für Frankreich vorwerfen kann, mußte einsehen, daß die große Revolution ein Ereignis von europäischer Bedeutung war, und gelangte zu der Erkenntnis: «Alle Staaten, auch die noch keine Demokratien sind, werden von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr demokratisch werden.»
Auch Freiherr vom Stein, ein durch und durch konservativer Geist und ausgesprochener Gegner aller revolutionären Bestrebungen, konnte sich der Einsicht nicht verschließen, daß eine Wiedergeburt des Staates und die Befreiung vom fremden Joch nur möglich sei, wenn man sich zur Abschaffung der Hörigkeit und zur Einführung einer Nationalvertretung entschließe. Allerdings beeilte sich Stein, in dem als sein «politisches Testament» von Schön entworfenen Schriftstück vorsichtig hinzuzufügen:
«Heilig war mir und bleibe uns das Recht und die Gewalt unseres Königs. Aber damit dieses Recht und diese unbeschränkte Gewalt das Gute wirken kann, was in ihr liegt, schien es mir notwendig, der höchsten Gewalt ein Mittel zu geben, wodurch sie die Wünsche des Volkes kennenlernen und ihren Bestimmungen Leben geben kann.»
Das waren sicherlich keine revolutionären Gedankengänge, und doch hatte Stein mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, um auch nur die bescheidensten Reformen durchzuführen. Man weiß, wie gerade die «Edelsten der Nation» ihm fortgesetzt in den Rücken fielen und sogar vor offenem Landesverrat nicht zurückschreckten, um seine patriotischen Pläne zu hintertreiben. Tatsache ist, daß das berühmte «Befreiungsedikt» vom Oktober 1807 die persönliche Hörigkeit zwar dem Namen nach abschaffte, aber da seine Verfasser nicht wagten, den junkerlichen Grundbesitz nur im geringsten anzutasten, so wurden aus den gewesenen Leibeigenen bloß Lohnsklaven der großen Grundbesitzer, die von ihren Herren jederzeit von der Scholle vertrieben werden konnten, wenn sie sich ihrem Willen nicht bedingungslos fügten.
Auch das sogenannte Regulierungsedikt von 1811, das unter Hardenberg zustande kam, war hauptsächlich darauf berechnet, die Landbevölkerung zum Widerstand gegen die Franzosen aufzuwiegeln. Indem man den früheren Hörigen eine Reform des Besitzrechts in Aussicht stellte, die sie in den Stand setzen würde, Eigentümer ihres Bodens zu werden, suchte man ihnen den Kampf gegen die Fremdherrschaft schmackhafter zu machen. Aber nachdem die französischen Heere das Land geräumt hatten, brach die Regierung treulos alle gegebenen Versprechen und überließ die Bevölkerung des flachen Landes dem Elend und der Sklaverei der Junker.
Es war der Zwang der Verhältnisse, welcher die deutschen Fürsten bewogen hatte, ihren Untertanen allerhand schöne Versprechungen zu machen und ihnen eine Verfassung in Aussicht zu stellen, von deren Zustandekommen das erwachende Bürgertum sich Wunderdinge versprach. Man hatte einsehen gelernt, daß nur ein Volkskrieg Deutschland von der französischen Fremdherrschaft befreien konnte, wie sehr auch besonders Österreich sich gegen diesen Gedanken sträubte. Die Ereignisse in Spanien sprachen zu deutlich dafür. So entdeckten die großen Herren denn mit einemmal ihr volksfreundliches Herz und erkannten – der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe – in einer Erhebung der Massen das letzte Mittel, das ihren wankenden Thronen eine Stütze geben konnte.
In dem Aufruf von Kalisch trat der russische Zar als Schwurzeuge für ein kommendes freies und geeintes Deutschland auf, und der König von Preußen versprach seinen getreuen Untertanen eine Verfassung. Auf die breiten Massen, die in geistiger Dumpfheit dahinvegetierten, hätten auch diese Versprechungen keinen sonderlichen Eindruck gemacht, aber das Bürgertum und besonders die Jugend wurden von der patriotischen Begeisterung erfaßt und träumten von Barbarossas Auferstehung und der Wiederherstellung des Reiches in seiner alten Pracht und Herrlichkeit.
Trotzdem zögerte Friedrich Wilhelm noch immer und suchte sich nach beiden Seiten hin zu decken. Sogar als der russische Winter und der Brand von Moskau das Riesenheer Napoleons vernichtet hatten und dieser in rasender Flucht zurück nach Frankreich eilte, konnte der König sich noch immer zu keinem Entschluß aufraffen; denn die Belange der preußischen Dynastie lagen ihm mehr am Herzen als ein nebelhaftes Deutschland, für das weder er noch seine ost-elbische Junkersippe Verständnis hatten. Erst unter dem stets wachsenden Drucke der patriotischen Leidenschaften entschloß er sich endlich zum Krieg, weil ihm in der Tat kein anderer Ausweg mehr blieb. Wie es um die Stimmung unter den Patrioten damals bestellt war, geht aus einem der eigenartigen Briefe Blüchers an Scharnhorst hervor, der vom 5. Januar 1813 datiert ist und unter anderem folgendes sagte:
«jetzt isst wiederum die zeitt zu dhun, was ich schon anno 9 angeratten; nehmlich die gantze nation zu den Waffen aufzuruffen und wan die fürsten nicht wollen und sich dem enttgegen setzen sie samt dem Bonaparte weghjahgen: Denn nicht nuhr Preußen alleyn sondern das gantze Deutsche Vatterland muß widerum Herauffgebracht und die nation hergestelth werden.»
Aber es kam alles anders, als die patriotischen Träger des deutschen Einheitsgedankens es sich vorgestellt hatten. Alle Versprechungen der Großen gingen in Rauch auf, sobald Napoleon geschlagen und die Gefahr einer neuen Invasion beseitigt war. Anstatt der Verfassung kam die Heilige Allianz, anstatt der erhofften bürgerlichen Freiheit kamen die Karlsbader Beschlüsse und die Demagogenverfolgungen. Die Mißgeburt des «Deutschen Bundes» – Jahn nannte ihn den «Deutschen Bunt» – mußte als Ersatzmittel für die erstrebte Einheit des Reiches herhalten. Der Einheitsgedanke wurde von den Regierungen in Acht und Bann erklärt; Metternich gab der Meinung Ausdruck, daß es «keinen verruchteren Gedanken gäbe, als die deutschen Völker in Ein Deutschland vereinigen zu wollen», und die Untersuchungsbehörde in Mainz strich es dem Turnvater Jahn besonders an, daß er die «höchstgefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands zuerst aufgebracht habe», was, nebenbei gesagt, gar nicht zutraf.
Fichtes Reden an die Deutsche Nation wurden verboten, die großen Patrioten den Fängen der Reaktion ausgeliefert. Arndt wurde gemaßregelt und unter Anklage gestellt; Schleiermacher durfte nur noch unter polizeilicher Aufsicht predigen, Jahn wurde in Ketten gelegt, ins Gefängnis geschleppt und sogar nach seiner Freisprechung noch jahrelang seiner Freiheit beraubt. Görres, der mit seinem Rheinischen Merkur, den Napoleon die «fünfte Großmacht» nannte, soviel zur nationalen Erhebung gegen die Franzosen beigetragen hatte, mußte fliehen und im Lande des «Erbfeindes» Schutz suchen gegen die Häscher der preußischen Reaktion. Gneisenau nahm seinen Abschied. Boyen, Humboldt und andere taten dasselbe. Die Burschenschaften wurden aufgelöst, die Universitäten unter die moralische Vormundschaft der Polizei gestellt.
Nie ist ein Volk so schamlos und gründlich um die Früchte seines Sieges betrogen worden; allerdings darf man dabei nicht vergessen, daß es nur eine kleine Minderheit gewesen ist, die so große Hoffnungen auf den Sturz der französischen Fremdherrschaft gesetzt hatte und wirklich glaubte, daß nun für Deutschland die Zeit der Vereinigung im Zeichen der bürgerlichen Freiheit angebrochen sei. Die breiten Massen wurden, wie immer, in den sogenannten «Freiheitskrieg» hineingezwungen und folgten lediglich dem Befehl ihrer angestammten Fürsten mit pflichtschuldigem Gehorsam. Anders läßt sich die widerstandslose Unterwerfung der Völker unter die Schreckensherrschaft der heraufziehenden Reaktion kaum erklären. Heine hatte schon recht, wenn er in seinen Aufsätzen über die Romantische Schule schrieb:
«Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte Napoleons zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl, uns vom fremden Joch zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulang ertragenen Knechtschaft, und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.»
Auch Goethe, der die Freiheitskriege miterlebt hatte und der den Dingen tiefer nachzugehen pflegte als der ewige Spötter Heine, vertrat in diesem Punkte dieselbe Meinung. So bemerkte er im Gespräch mit Luden, bald nach der blutigen Völkerschlacht bei Leipzig:
«Sie sprechen von dem Erwachen, von der Erhebung des deutschen Volkes und meinen, dieses Volk werde sich nicht wieder entreißen lassen, was es errungen und mit Gut und Blut teuer erkauft hat, nämlich die Freiheit. Ist denn wirklich das Volk erwacht? Weiß es, was es, will und was es vermag? … Und ist denn jede Bewegung eine Erhebung? Erhebt sich, wer gewaltsam aufgestöbert wird? Wir sprechen nicht von den Tausenden gebildeter Jünglinge und Männer; wir sprechen von der Menge, von den Millionen. Und was ist denn errungen oder gewonnen worden? Sie sagen, die Freiheit; nämlich Befreiung nicht vom Joche der Fremden, sondern von einem fremden Joche. Es ist wahr: Franzosen sehe ich nicht mehr und nicht mehr Italiener, dafür aber sehe ich Kosaken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Kassuben, Samländer, braune und andere Husaren. Wir haben uns seit einer langen Zeit gewöhnt, unseren Blick nur nach Westen zu richten und alle Gefahr von dorther zu erwarten; aber die Erde dehnt sich auch noch weithin nach Morgen aus.»
Goethe hatte recht: von Morgen kam zwar keine Revolution, wohl aber die Heilige Allianz, die jahrzehntelang wie ein Alpdruck auf Europas Völkern lastete und jedes geistige Leben zu ersticken drohte. Nie hatte Deutschland unter französischer Fremdherrschaft auch nur ähnliches erdulden müssen wie später unter der schmählichen Tyrannei seiner fürstlichen «Befreier».
XIII. Die Romantik und der Nationalismus
Kulturnationalismus. Die deutsche Romantik. Die «verlorene Heimat». Die Erlöseridee. Die Lehre vom «Urvolk». Die Schatten des Gewesenen. Arndts Franzosenhaß. Kleists Katechismus der Deutschen. Ludwig Jahn, ein Vorläufer des Hitlertums. Die Deutschtümelei. Germanischer Urwaldgeist. Die Burschenschaften. Der Einfluß Roms auf die Romantik. Nach Damaskus. Friedrich von Gentz. Adam Müller und die romantische Staatsidee. Ludwig von Haller und der Neoabsolutismus. Franz von Baader, ein Nachfahre der deutschen Mystik. Die Einheit Deutschlands in Traum und Wirklichkeit.
Jeder Nationalismus ist seinem Wesen nach reaktionär, da er bestrebt ist, den einzelnen Teilen der großen Menschenfamilie einen bestimmten Charakter nach einem vorgefaßten Glauben aufzuzwingen. Auch in diesem Punkte zeigt sich die innere Verwandtschaft der nationalen Ideologie mit dem Glaubensinhalt jeder Offenbarungsreligion. Der Nationalismus schafft künstliche Trennungen und Absplitterungen innerhalb einer organischen Einheit, die in der Gattung Mensch ihren Ausdruck findet; in derselben Zeit erstrebt er eine fiktive Einheit, die nur einer Wunschvorstellung entspringt, und seine Träger möchten am liebsten alle Glieder einer bestimmten Menschengruppierung auf einen Ton abstimmen, damit das, was sie von anderen Gruppen unterscheidet, um so schärfer hervortrete. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der sogenannte Kulturnationalismus durchaus nicht vom politischen Nationalismus, dessen machtpolitischen Bestrebungen er in der Regel als Feigenblatt dienen muß. Beide sind geistig nicht voneinander zu trennen und stellen nur zwei verschiedene Formen derselben Bestrebungen dar.
Der Kulturnationalismus tritt am reinsten dort zutage, wo Völker einer Fremdherrschaft unterworfen sind und aus diesem Grunde keine eigenen machtpolitischen Pläne verfolgen können. In diesem Falle beschäftigt sich der «nationale Gedanke» mit Vorliebe mit der kulturschöpferischen Tätigkeit des Volkes und versucht, das nationale Bewußtsein durch die Erinnerung an geschwundenen Glanz und vergangene Größe wachzuhalten. Solche Vergleiche zwischen einer Vergangenheit, die bereits Sage geworden ist, und einer versklavten Gegenwart machen dem Volke das erlittene Unrecht doppelt fühlbar, denn nichts wirkt stärker auf den Geist der Menschen als die Überlieferung. Gelingt es aber solchen unterdrückten Völkergruppen früher oder später, das fremde Joch abzuschütteln und selber als nationale Macht aufzutreten, so tritt die kulturelle Seite ihrer Bestrebungen nur allzu schnell in den Hintergrund, um der nüchternen Wirklichkeit machtpolitischer Erwägungen das Feld zu räumen. Die jüngste Entwicklung der nach dem ersten Weltkriege entstandenen nationalen Staatswesen in Europa legt sprechendes Zeugnis dafür ab.
Auch in Deutschland wurden die nationalen Bestrebungen vor und nach den «Freiheitskriegen» stark von der Romantik beeinflußt, deren Träger sich bemühten, die Überlieferungen einer entschwundenen Zeit im Volke wieder lebendig zu machen und ihm die Vergangenheit im verklärten Lichte erscheinen zu lassen. Als dann später die letzten Hoffnungen, welche die deutschen Patrioten auf die Befreiung vom Joche der Fremdherrschaft gesetzt hatten, wie schillernde Seifenblasen zerstoben waren, da flüchtete sich der Geist um so williger in die mondbeglänzten Zaubernächte und die sehnsuchtsschwangere Märchenwelt der Romantik, um Vergessenheit zu finden vor der grauen Wirklichkeit des Lebens und seinen schmählichen Enttäuschungen.
Bei dem Kulturnationalismus fließen in der Regel zwei besondere Empfindungen ineinander über, die im Grunde nichts miteinander gemein haben. Denn Heimatgefühl ist nicht Patriotismus, ist nicht Liebe zum Staat, nicht Liebe, die in der abstrakten Vorstellung von der Nation ihre Wurzel findet. Es bedarf keiner breitspurigen Erklärungen, um zu zeigen, daß das Stück Erde, auf dem der Mensch die Jahre seiner Jugend verlebt hat, mit seinem inneren Empfinden tief verwachsen ist. Denn es sind die Eindrücke der Kindheit und der frühen Jugend, die am unvergänglichsten sind und am längsten in der Seele des Menschen nachwirken. Die Heimat ist sozusagen das äußere Kleid des Menschen, an dem ihm jede Falte innig vertraut ist. Diesem Heimatgefühl entspringt auch in späteren Jahren jenes stumme Sehnen nach einer Vergangenheit, die längst unter Trümmern begraben liegt, das die Romantiker den Blick so tief nach innen senken ließ.
Mit dem sogenannten «nationalen Empfinden» hat das Heimatgefühl keine Verwandtschaft, obwohl man beide oft genug in einen Topf wirft und nach Falschmünzerart als die gleichen Werte ausgibt. Es ist gerade das «Nationalbewußtsein», welches die zarten Knospen des wahren Heimatgefühls verzehrt, da es stets bestrebt ist, alle Eindrücke, welche der Mensch durch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der heimatlichen Erde empfängt, gleichzuschalten und in eine bestimmte Form zu pressen. Es ist dies das unvermeidliche Ergebnis jener mechanischen Einheitsbestrebungen, die in der Wirklichkeit nur die Bestrebungen des nationalen Staates sind.
Der Versuch, die natürliche Zuneigung des Menschen zur Heimat durch die pflichtgemäße Liebe zur Nation ersetzen zu wollen – ein Gebilde, das seine Entstehung allen möglichen Zufälligkeiten verdankt und wo mit brutaler Faust Elemente zusammengeschmiedet wurden, die kein inneres Bedürfnis zusammenführte –, ist eine der groteskesten Erscheinungen unserer Zeit, denn das sogenannte Nationalbewußtsein ist nichts anderes als ein aus machtpolitischen Erwägungen propagierter Glaube, welcher den religiösen Fanatismus vergangener Jahrhunderte abgelöst hat und sich heute zum größten Hindernis jeder kulturellen Entwicklung ausgewachsen hat. Mit Heimatliebe hat diese blinde Verehrung eines abstrakten Vaterlandsbegriffes nichts zu tun. Heimatliebe kennt keinen «Willen zur Macht», ist frei von jener hohlen und gefährlichen Überheblichkeit dem Nachbarn gegenüber, die zu den eisernen Belangen jedes wie immer gearteten Nationalismus gehört. Heimatliebe treibt weder praktische Politik noch verfolgt sie irgendwelche staatserhaltende Ziele. Sie ist lediglich der Ausdruck eines inneren Empfindens, das ebenso ungezwungen wie die Freude des Menschen an der Natur hervortritt, von der die Heimat ein Teil ist. So betrachtet, verhält sich das Heimatgefühl zu der staatlich verordneten Liebe zur Nation wie ein echtes Erzeugnis zu einem in der Retorte hergestellten Ersatzprodukt.
Der Anstoß zur deutschen Romantik kam aus Frankreich. Rousseaus Schlagwort «Zurück zur Natur!», seine bewußte Empörung gegen den Geist der Aufklärung, seine starke Betonung des rein Gefühlsmäßigen gegen die listige Systematik des Verstandes fanden auch jenseits des Rheins einen merkbaren Widerhall, besonders bei Herder, dem die Romantiker, die früher fast alle im Lager der Aufklärung gestanden hatten, sehr stark verpflichtet waren. Herder selbst war kein Romantiker; sein Blick war zu klar, sein Geist zu ungetrübt, als daß er sich an der Verstiegenheit der romantischen Auffassung von der «Zwecklosigkeit alles Geschehens» hätte begeistern können. Doch brachte ihn seine Abneigung gegen alles Systematische, seine Freude an der Ursprünglichkeit der Dinge, seine Anschauung von der innigen Verbundenheit der Menschenseele mit der Allmutter Natur und vor allem sein tiefes Einfühlungsvermögen in die geistige Kultur fremder Völker und vergangener Zeiten den Trägern der Romantik sehr nahe. In der Tat lassen sich die großen Verdienste, welche sich die Romantiker durch die Erschließung fremder Literaturen und ihre Wiederentdeckung der deutschen Sagenwelt erworben haben, zum großen Teil auf die Anregungen Herders zurückführen, der ihnen den Weg gezeigt hatte.
Aber Herder hatte in allem, was er dachte, die Menschheit als Ganzes im Auge. Er sah – wie Heine so schön sagte – «die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters». Jedes Volk war ihm eine Saite, und aus dem harmonischen Zusammenklang aller Saiten entstand ihm die ewige Melodie des Lebens. Von diesem Gedanken getragen, erfreute er sich an der unendlichen Mannigfaltigkeit des Völkerlebens und folgte mit liebenden Blicken allen Kundgebungen seiner kulturellen Betätigung. Er kannte keine auserwählten Völker und hatte für den Neger und Mongolen dasselbe Verständnis wie für die Angehörigen der weißen Rasse. Wenn man liest, was er über den Plan einer Naturgeschichte der Menschheit in rein menschlichem Sinne zu sagen hatte, so erhält man den Eindruck, als hätte er die Verschrobenheiten unserer modernen Rassentheoretiker und Nationalfetischisten vorausgeahnt.
«Vor allem sei man unparteiisch wie der Genius der Menschheit selbst, man habe keinen Lieblingsstamm, kein Favoritvolk auf der Erde. Leicht verführt eine solche Vorliebe, daß man der begünstigten Nation zu viel Gutes, anderen zu viel Böses zuschreibe. Wäre vollends das geliebte Volk bloß ein kollektiver Name (Kelten, Semiten, Chuschiten usw.), der vielleicht nirgends existiert hat, dessen Abstammung und Fortpflanzung man nicht erweisen kann, so hätte man ins Blaue des Himmels geschrieben.»
Die Träger der Romantik folgten zunächst diesen Spuren und entwickelten eine Menge fruchtbarer Keime, die auf die verschiedensten Ideenrichtungen eine anregende Wirkung hatten. Doch interessiert uns hier lediglich der Einfluß, den sie auf die Entwicklung der nationalen Ideen in Deutschland hatten. Die Romantiker entdeckten für die Deutschen die deutsche Vergangenheit und gewannen ihr manche Seiten ab, die man früher kaum bemerkt hatte. Sie schwelgten förmlich in dieser Vergangenheit, und bei ihren Versuchen, das Gewesene wieder lebendig zu machen, haben sie manchen verborgenen Schatz gehoben, manche verklungene Saite wieder in Schwingung versetzt. Und da die meisten ihrer geistigen Vertreter auch philosophischen Betrachtungen nachgingen, so träumten sie von einer höheren Einheit des Lebens, in der alle Gebiete menschlicher Betätigung – Religion, Staat, Kirche, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Ethik und Alltag – wie Strahlenbündel in einem Brennglas zusammengefaßt werden.
Die Romantiker glaubten an eine verlorene Heimat, an einen gewesenen Zustand geistiger Vollkommenheit, in dem die Lebenseinheit, die sie erstrebten, einmal gegeben war. Seitdem war eine Art Sündenfall eingetreten: die Menschheit war in ein Chaos feindlicher Gegensätze hineingeraten, durch welche die innere Gemeinschaft zwischen den einzelnen Gliedern zerstört und jeder in einen abgerissenen Teil verwandelt wurde, der seine tieferen Beziehungen zum Ganzen verloren hatte. Die Versuche, die Menschen wieder zu einem Ganzen zu einen, führten bisher nur zu mechanischen Bindungen, denen der innere Impuls des eigenen Wachsens und Reifens fehlte. Deshalb vergrößerten sie nur das Übel und töteten die bunte Mannigfaltigkeit der inneren und äußeren Lebensbeziehungen. In dieser Hinsicht galt Frankreich den Romantikern als abschreckendes Beispiel, weil man dort seit Jahrhunderten bestrebt war, alle Erscheinungen des Lebens einem geistlosen politischen Zentralismus einzugliedern, welcher die Ursprünglichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen verfälschte und mit Vorbedacht ihres wahren Charakters entkleidete.
Nach der romantischen Auffassung konnte die verlorene Einheit nicht durch äußere Mittel wiederhergestellt werden, sie mußte vielmehr aus der inneren Seelenstimmung der Menschen hervorwachsen und zur Reife gelangen. Die Romantiker waren fest davon überzeugt, daß in der Seele des Volkes die Erinnerung an jenen Zustand einstiger Vollkommenheit leise schlummerte; doch war die innere Quelle verschüttet und mußte erst allmählich wieder freigelegt werden, bevor jenes stille Ahnen im Bewußtsein des Menschen wieder lebendig werden konnte. Und sie spürten den verborgenen Quellen nach und verloren sich immer tiefer in dem mystischen Halbdunkel einer vergangenen Zeit, deren seltsamer Zauber ihren Geist berauschte. Das deutsche Mittelalter mit seiner bunten Mannigfaltigkeit und seiner unerschöpflichen Gestaltungskraft wurde den Romantikern zu einer neuen Offenbarung, sie glaubten dort die große Lebenseinheit gefunden zu haben, welche die Menschen verloren hatten. Nun sprachen die alten Städte und die gotischen Dome eine besondere Sprache und zeugten von jener verlorenen Heimat, nach der sich die Sehnsucht der Romantik verzehrte. Der Rhein mit seinen sagenumwobenen Burgen, Klöstern und Bergen wurde zum heiligen Strome Deutschlands; alles Vergangene bekam ein anderes Gepräge, einen verklärten Sinn.
So entwickelte sich allmählich eine Art Kulturnationalismus, dessen innerer Gehalt in dem Gedanken gipfelte, daß die Deutschen auf Grund ihrer glänzenden Vergangenheit, die nun ihre Wiedergeburt im Volke erfahren sollte, dazu berufen seien, dem siechen Menschengeschlechte die lang ersehnte Genesung zu bringen. So wurden die Deutschen in den Augen der Romantiker zum auserwählten Volk der Gegenwart, das die Vorsehung selbst dazu ausersehen hatte, eine göttliche Sendung zu erfüllen. Dieser Gedanke kehrte auch bei Fichte immer wieder, dessen philosophischer Idealismus neben der Naturphilosophie Schellings auf die Romantiker den stärksten Einfluß hatte. Fichte hatte die Deutschen als «Urvolk» bezeichnet, dem allein die Erlösung der Menschheit vorbehalten war. Was ursprünglich vielleicht der frommen Begeisterung eines überspannten Dichtergemütes entsprungen ist und daher an sich recht harmlos sein mochte, nimmt bei Fichte bereits den Charakter des konstruierten Gegensatzes an, der jedem Nationalismus im tiefsten zugrunde liegt und bereits die Drachensaat des Völkerhasses in sich trägt. Von der nationalen Überheblichkeit bis zur Verlästerung und Herabsetzung alles Fremden ist in der Regel nur ein Schritt, der besonders in bewegten Zeiten rasch getan wird.
Waren die Deutschen in der Tat ein «Urvolk», wie Fichte behauptete und andere ihm nachgesprochen haben, ein Volk, das mehr von der verlorenen Heimat in sich trug als alle anderen Völker, so konnte sich keine andere Nation mit ihnen messen oder auch nur einen Vergleich mit ihnen bestehen. Um diese Behauptung zu erhärten, war man gezwungen, Völker als Kategorien aufzufassen, sie wie Einzelwesen zu behandeln, um den wirklichen oder vermeintlichen Unterschieden zwischen ihnen die Bedeutung beizumessen, die man brauchte. So begann das Werk des müßigen Spekulierens und Konstruierens, in dem besonders Fichte Außerordentliches geleistet hat. Waren ihm doch die Deutschen das einzige Volk, das Charakter besaß; «denn Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend.» – Woraus natürlich folgte, daß andere Völker, und besonders die Franzosen, charakterlos waren. Man entdeckte, daß es in der französischen Sprache kein Wort für «Gemüt» gab, womit bewiesen war, daß Gott nur die Deutschen mit einem so edlen Gut bedacht hatte.
Aus diesen und ähnlichen Voraussetzungen gelangte man allmählich zu den verwegensten Folgerungen: Da der Franzose kein Gemüt besaß, so war sein Geist nur auf das Sinnliche und Materielle gerichtet, Dinge, welche der inneren Keuschheit des gemütstiefen Deutschen naturgemäß widerstrebten. Aus dem Gemüt erklärte man auch die «angeborene Biederkeit und Treue» des Deutschen; nur wo das Gemüt fehlte, kauerte die Arglist und Tücke auf dem Grunde der Seele, Eigenschaften, welche der Deutsche neidlos anderen Völkern überließ. Wahre Religion wurzelt in der Tiefe des Gemütes. Das erklärte, weshalb sich bei den Franzosen der Geist der Aufklärung entwickeln mußte, der zuletzt in ödeste Freigeisterei ausmündete. Der Deutsche aber erfaßte den Geist des Christentums in seiner ganzen Tiefe und gab ihm einen besonderen Sinn, eine seinem innersten Wesen angemessene Deutung.
Fichte hatte von der Ursprache der Deutschen gesprochen und meinte damit «eine Sprache, die von dem ersten Laut an, der in demselben Volke ausbrach, ununterbrochen und aus dem wirklich gemeinsamen Leben dieses Volkes sich entwickelt hat». So kam er zu dem Schluß, daß nur bei einem «Urvolk», das eine «Ursprache» besitzt, die Geistesbildung ins Leben eingreife, während bei den anderen Völkern, die ihre Ursprache vergessen und eine fremde Sprache angenommen haben – dazu gehörten natürlich vor allen die Franzosen –, die geistige Bildung und das Leben jedes seine eigenen Wege gehe. Aus dieser vermeintlichen Erkenntnis leitete Fichte bestimmte politische und soziale Erscheinungen des Völkerlebens ab, so wenn er in seiner vierten Rede an die Deutsche Nation ausführte:
«In einer Nation von der ersten Art ist das große Volk bildsam, und die Bildner einer solchen erproben ihre Entdeckungen an dem Volke und wollen auf dieses einfließen, dagegen in einer Nation von der zweiten Art die gebildeten Stände vom Volke sich scheiden und des letzteren nicht weiter denn als eines blinden Werkzeugs ihrer Pläne achten.»
Und diese willkürliche Behauptung, deren Unsinnigkeit jede Stunde durch das Leben selbst widerlegt wird, erfährt gerade heute wieder die seltsamsten Kommentare und wird der deutschen Jugend als tiefste Weisheit der Väter vorgetragen. Je höher man die eigene Nation in den Himmel wachsen ließ, desto armseliger und nichtssagender mußte alles andere neben ihr erscheinen. Man sprach den anderen sogar jede schöpferische Begabung ab. Fichte behauptete von den Franzosen, «daß sie sich selbst zum Gedanken der Freiheit und des Rechtsreichs nie erheben können, weil sie den des persönlichen Werts, des rein schöpferischen, durch ihr Denksystem übersprungen haben; auch durchaus nicht begreifen können, daß irgendein anderer Mensch oder Volk so etwas wolle und denke».[66] – Zur Freiheit waren natürlich nur die Deutschen berufen, weil sie Gemüt hatten und ein «Urvolk» waren. Leider spricht man selbst heute noch so oft und so aufdringlich von der «deutschen Freiheit» und der «deutschen Treue», daß es verdächtig anmuten müßte, wenn uns das Dritte Reich keinen so klaren Anschauungsunterricht gegeben hätte, was es mit dieser angeblichen Freiheit und Treue auf sich hat.
Die meisten der Männer, die in der nationalen Bewegung vor und nach 1813 in Deutschland eine führende Rolle spielten, wurzelten tief im Geiste der Romantik, aus deren Schilderungen vom Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation, vom deutschen Mittelalter, von der Sagenwelt der deutschen Vorzeit und vom Zauber der heimatlichen Erde ihr Patriotismus reiche Nahrung sog. Arndt, Jahn, Görres, Schenkendorf, Schleiermacher, Kleist, Eichendorff, Gentz, Körner waren völlig mit romantischen Ideen durchsetzt, und sogar Stein, je älter er wurde, geriet immer tiefer in den Bannkreis der Romantik. Man träumte von der Wiederkehr des alten Reiches unter Österreichs kaiserlichem Banner; nur wenige sahen mit Fichte in dem Preußenkönig den «Zwingherrn zur Deutschheit» und glaubten, daß Preußen dazu berufen sei, die Einheit des Reiches herzustellen.
Bei den meisten dieser Männer gelangte die nationalistische Idee zu ihrem folgerichtigen Abschluß: Sie hatte begonnen als lockende Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat und mit der poetischen Verklärung der deutschen Vergangenheit; danach kam ihren Trägern der Gedanke an die große historische Sendung der Deutschen; man stellte Vergleiche an zwischen dem eigenen Volke und anderen Völkern und verbrauchte zur Ausmalung der eigenen Vorzüge so viel Farbe, daß für die anderen kaum noch etwas übrigblieb. Das Ende war ein wilder Franzosenhaß und eine blöde Deutschtümelei, die häufig an Unzurechnungsfähigkeit grenzte.
Derselbe Entwicklungsgang läßt sich übrigens bei jedem wie immer gearteten Nationalismus feststellen, ganz gleich, ob seine Träger Deutsche, Polen oder Italiener sind, nur daß der Erbfeind bei jeder Nation einen anderen Namen trägt. Man sage nicht, daß die harten Erfahrungen der Fremdherrschaft und der Krieg, der alle schlimmen Leidenschaften der Menschen entfesselt, die deutschen Patrioten zu solch einseitigen und haßerfüllten Gedankengängen geführt haben. Was damals und auch nach den «Freiheitskriegen» sich als deutscher Patriotismus breitmachte, war mehr als die berechtigte Aufwallung gegen ein fremdes Joch; es war die offene Kriegserklärung gegen das Wesen, die Sprache und die geistige Kultur eines Nachbarvolkes, das – wie Goethe sagte – zu «den kultiviertesten der Erde» gehörte, dem er selbst «einen großen Teil seiner eigenen Bildung verdankte».
Arndt, der mit zu den einflußreichsten Männern der patriotischen Erhebung gegen die Herrschaft Napoleons in Deutschland gehörte, kannte in seinem krankhaften Franzosenhaß überhaupt keine Grenze mehr:
«Haß gegen die Fremden, Haß gegen die Franzosen, gegen ihren Tand, ihre Eitelkeit, ihre Liederlichkeit, ihre Sprache, ihre Sitten, ja brennenden Haß gegen alles, was nur von ihnen kommt, das muß alles Deutsche fest und brüderlich vereinen und deutsche Tapferkeit, deutsche Freiheit, deutsche Zucht, deutsche Ehre und Gerechtigkeit oben schweben lassen und wieder in die alte Würde und Herrlichkeit stellen, wodurch unsere Väter vor den meisten Völkern der Erde leuchteten … Was euch in Schande gebracht hat, muß euch wieder zu Ehren bringen. Nur ein blutiger Franzosenhaß kann die deutsche Kraft vereinen, die deutsche Herrlichkeit wiederherstellen, alle edelsten Triebe des Volkes hervortreiben und alle niedrigsten versenken; dieser Haß als Palladium deutscher Freiheit den Kindern und Enkeln überliefert, muß künftig an der Scheide, an dem Vogesus und den Ardennen Germaniens sicherster Grenzhüter sein.»[67]
Bei Kleist steigerte sich der Haß gegen alles Französische zur blinden Raserei. Er machte sich lustig über Fichtes Reden an die Nation und sah in ihm nicht mehr als einen willensschwachen Schulmeister, dem kraftlose Worte den Mut zur Tat ersetzen mußten. Was er forderte, war ein Volkskrieg, wie ihn die Spanier unter der Leitung fanatischer Priester und Mönche gegen die Franzosen führten. In einem solchen Kriege schien ihm jedes Mittel erlaubt: Gift und Dolch, Wortbruch und Verrat. Sein Katechismus der Deutschen, abgefaßt nach dem Spanischen für Kinder und Alte, der bezeichnenderweise in der Form eines Gespräches zwischen einem Vater und seinem Kinde geschrieben ist, gehört wohl zu den wildesten Kundgebungen eines zügellosen Nationalfanatismus, der in seiner furchtbaren Unduldsamkeit jedes menschliche Gefühl mit Füßen tritt. Vielleicht läßt sich dieser grausige Fanatismus zum Teil auf den krankhaften Geisteszustand des unglücklichen Dichters zurückführen; andererseits gibt uns die Gegenwart den besten Anschauungsunterricht, wie eine solche Geistesverfassung künstlich gezüchtet werden kann und mit unheimlicher Gewalt um sich greift, wenn sie durch besondere gesellschaftliche Verhältnisse begünstigt wird.
Ludwig Jahn, der nach Fichtes Tod der geistige Führer der deutschen Jugend wurde, den sie abgöttisch verehrte, trieb die Franzosenfresserei und die nationalistische Verschrobenheit so weit, daß er selbst vielen seiner patriotischen Mitkämpfer auf die Nerven ging. Deshalb nannte ihn Stein einen «fratzenhaften dünkelvollen Narren» und Arndt einen «gereinigten Eulenspiegel». Jahn verungenierte alles und witterte überall fremdes Wesen und französische Lotterie. Liest man die Lebensgeschichte dieses seltsamen Heiligen, so erhält man den Eindruck, in dem «Alten im Barte» einen frühen Vorläufer der modernen Hitlerei vor sich zu haben. Sein rohes anspruchsvolles Poltern, seine unglaubliche Dünkelhaftigkeit und hohle Prahlsucht, seine Freude an geistigem Knotentum, sein gewalttätiger Sinn, seine dreiste Aufdringlichkeit und vor allem seine grenzenlose Unduldsamkeit, die keine andere Meinung achtete und jeden Gedanken, der ihm nicht genehm war, als undeutsch verschrie, das alles machte ihn zum Ahnherrn des heutigen Nationalsozialismus.
Jahn hatte überhaupt keinen eigenen politischen Gedanken. Was ihm am meisten zusagte, war nicht das deutsche Mittelalter, sondern die deutsche Urzeit; dort war er zu Hause und schwelgte geradezu in germanischer Ursprünglichkeit. Er schlug vor, daß zwischen Deutschland und Frankreich eine «Hamme», eine Art Urwald angelegt werde, in dem Auerochsen und wilde Tiere hausten. Ein besonderer Grenzschutz sollte dafür Sorge tragen, daß keinerlei Verkehr zwischen den beiden Ländern stattfände, damit die germanische Tugend nicht durch welsche Verdorbenheit angefressen werde. In seinem aberwitzigen Franzosenhaß ging Jahn so weit, daß er öffentlich predigte, «der tue einerlei Ding, der seine Tochter die französische Sprache oder die Hurerei erlernen lasse». Im Hirne dieses sonderbaren Propheten verzerrte sich alles, am meisten die deutsche Sprache, die er in seinem wilden Reinigungsfanatismus fürchterlich mißhandelte.
Trotzdem genoß Jahn nicht nur die uneingeschränkte Bewunderung der deutschen Jugend. So ernannte ihn die Universität von Jena zum Ehrendoktor und verglich sein ödes Kraftmeiertum mit der Beredsamkeit Luthers. Ein verdienstvoller Sprachforscher wie Thiersch widmete ihm seine deutsche Pindar-Ausgabe, und Franz Passow, Professor der griechischen Literatur in Weimar, erklärte gar, daß seit Luther nichts so Vortreffliches geschrieben wurde wie Jahns Teutsche Turnkunst. – Gäbe uns das heutige Deutschland nicht ein so abschreckendes Beispiel, wie unter dem Drucke besonderer Verhältnisse eine geistlose Phraseologie, von einem rücksichtslosen Knotentum getragen, weite Kreise einer Nation erfassen und in eine bestimmte Richtung bringen kann, so wäre der Einfluß eines wirren Kopfes wie Jahn schwer zu verstehen. Daß dieser Mann bei der Jugend Fichtes Erbe übernehmen durfte, läßt sich nur durch den geistigen Tiefstand des jungen Geschlechts selbst erklären. Sogar ein durch und durch national eingestellter und konservativer Historiker wie Treitschke bemerkte in seiner Deutschen Geschichte: «Es blieb ein krankhafter Zustand, daß die Söhne eines geistreichen Volkes einen lärmenden Barbaren als ihren Lehrer verehrten.»
Das kam eben daher, weil die engherzige Deutschtümelei, die nach den Befreiungskriegen in Deutschland Mode geworden war, zur geistigen Barbarei führen mußte. Die kranke Sucht der Auserwähltheit drängte folgerichtig zur geistigen Entfremdung von der allgemeinen Kultur der Zeit und zu einer völligen Verkennung aller menschlichen Beziehungen. Es war die Zeit, wo der Geist Lessings und Herders das junge Geschlecht nicht mehr anregen konnte, wo Goethe neben, doch nicht in der Nation lebte. Was dabei herauskam, war jener spezifisch deutsche Patriotismus, der nach Heine darin besteht, daß seinen Trägern «das Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß sie das Fremdländische hassen, daß sie nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur enge Deutsche sein wollen».
Es ist ein Unding, in den Männern von 1813 Hüter der Freiheit sehen zu wollen; nicht einer von ihnen wurde von wahrhaft freiheitlichen Gedanken getragen. Fast jeder wurzelte geistig in einer längst vergangenen Zeit, welche der Gegenwart keine neuen Ausblicke mehr erschließen konnte. Das gilt auch für die Burschenschaften, deren schmähliche Unterdrückung durch die siegreiche Reaktion wohl die Hauptursache war, daß man ihr noch heute freiheitliche Bestrebungen nachrühmt. Daß bei den Burschenschaften ein idealistischer Zug vorhanden war, wird niemand bestreiten, aber das ist kein Beweis für ihren freiheitlichen Sinn. Ihr christlich-germanischer Mystizismus, ihre groteske Abwehr gegen alles, was sie «fremdes Wesen» und «fremden Geist» nannten, ihre judenfeindlichen Bestrebungen, die in Deutschland von alters her zum Erbgut aller reaktionären Ideengänge gehörten, und die allgemeine Verschwommenheit ihrer Ansichten, das alles machte sie zu Vertretern eines mystischen Glaubens, in dem sich Bestandteile der verschiedensten Auffassungen in bunter Mischung zusammenfanden, aber sicher nicht zu Bannerträgern einer neuen Zukunft. Als dann nach der Ermordung Kotzebues durch den Studenten Karl Sand die Reaktion zu einem vernichtenden Schlage ausholte und durch die infamen Karlsbader Beschlüsse alle Verbindungen der Jugend unterdrückt wurden, da hatte die Burschenschaft den Kreaturen Metternichs nichts anderes entgegenzustellen als jene hilflosen und ergebungsvollen Strophen Binzers, die mit den Worten endeten:
Das Band ist zerschnitten, war schwarz, rot und gold,
Und Gott hat es gelitten, wer weiß, was er gewollt!
Das Haus mag zerfallen – was hat’s denn für Not?
Der Geist lebt in uns allen, und unsere Burg ist Gott!
Wirkliche Revolutionäre hätten andere Worte gefunden gegen jene brutale Vergewaltigung ihrer tiefsten Menschenwürde. – Vergleicht man die kühnen Anfänge der deutschen Aufklärung mit ihrer großen, alles beherrschenden Idee der Menschenliebe und der Freiheit des Gedankens mit jenen traurigen Ergebnissen eines aus Rand und Band geratenen Nationalbewußtseins, so begreift man den ungeheuren geistigen Rückschlag, den Deutschland erlitten hatte, und weiß den ganzen Ingrimm von Heines Worten zu würdigen:
«Da sehen wir nun das idealistische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann als die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolismus, dem unsere großen Geister: Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.»
Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß die Bekanntesten Vertreter der romantischen Schule, die so viel zur Gestaltung jenes mystischen Nationalbewußtseins in Deutschland beigetragen hatten, fast ausnahmslos im Lager der offenen politischen und klerikalen Reaktion gelandet sind. Das ist um so auffallender, als die meisten von ihnen ihre literarische Laufbahn als Künder der Aufklärung und Gedankenfreiheit begonnen hatten und die große Revolution im Nachbarlande mit Begeisterung begrüßten. War es schon befremdlich, daß ein gewesener Jakobiner wie Görres, der die Zerschlagung des deutschen Reiches mit wilder Freude bejubelt hatte, sich so überraschend schnell in einen der ungestümsten Gegner des Franzosentums verwandelte, so war es noch unbegreiflicher, daß derselbe Görres, der noch in seiner Schrift Teutschland und die Revolution (1820) der wütenden Reaktion mit männlicher Entschlossenheit die Zähne zeigte, sich bald darauf dem Papismus in die Arme warf und in seinem klerikalen Fanatismus so weit ging, daß er sich die Anerkennung Joseph de Maistres verdiente.
Wilhelm und Friedrich Schlegel, Steffens, Tieck, Adam Müller, Brentano, Fouqué, Zacharias Werner und viele andere wurden von der reaktionären Welle erfaßt. Hunderte von jungen Künstlern pilgerten nach Rom und traten in den Schoß der katholischen Kirche zurück, die damals eine gute Ernte hatte. Es war ein wahrer Hexensabbat von brünstiger Bekehrungswut und tobsüchtiger Schwärmerei, der allerdings die innere Überzeugungskraft des mittelalterlichen Menschen abging. Das war das Ende jenes Kulturnationalismus, der als brennende Sehnsucht nach der verlorenen Heimat begonnen hatte, um im Sumpfe der tiefsten Reaktion auszumünden. Georg Brandes hat nicht übertrieben, wenn er sagte:
«Was ihr religiöses Verhältnis betrifft, so strecken alle die in Poesie so revolutionären Romantiker demütig den Hals hin, sobald sie das Joch gewahren. Und in der Politik sind sie es, welche den Wiener Kongreß leiten und seine Manifeste zur Aufhebung der Gedankenfreiheit der Völker zwischen einer Feierlichkeit in der Stephanskirche und einem Austerndiner bei Fanny Elssler verfaßten.»[68]
Und doch darf man die meisten dieser Männer nicht mit einem Gentz, auf den Brandes mit seinen Worten anspielte, auf dieselbe Stufe stellen. Gentz, der neben Metternich, in dessen Solde er stand, für die infamen Karlsbader Beschlüsse am meisten verantwortlich war, war «ein verfaulter Charakter», wie Stein ihn genannt hatte, ein geistreicher Soldschreiber, der seine Feder jedem verkaufte, der ihn dafür bezahlte. Er hatte dem englischen Sozialisten Robert Owen gegenüber in einem Augenblicke zynischer Offenheit das ganze Leitmotiv seines erbärmlichen Lebens in wenigen Worten klargelegt, als dieser, der seinen wahren Charakter nicht kannte, glaubte, ihn für seine sozialen Reformpläne gewinnen zu können: «Wir wünschen nicht, daß die große Masse wohlhabend und unabhängig werde; wie könnten wir sie sonst beherrschen!» – Mit einem Gentz könnte man höchstens noch Friedrich Schlegel vergleichen, der sich ebenfalls zum Soldschreiber Metternichs erniedrigte. Die übrigen Häupter der romantischen Schule gelangten ganz von selbst auf die Bahn der Reaktion, da ihren ganzen Ideengängen ein reaktionärer Keim zugrunde lag, der sie dazu drängte. Die Tatsache, daß fast alle von ihnen denselben Weg gingen, kann wohl als Beweis dienen, daß dieser ganzen Richtung etwas Ungesundes anhaftete, das sie nie überwinden konnten und das den Weg ihrer Entwicklung bestimmte.
Der reaktionäre Kern der deutschen Romantik geht schon aus ihrer Auffassung über den Staat hervor, die schnurstracks zurück zum theoretischen Absolutismus führte. Schon Novalis hatte damit begonnen, dem Staat ein besonderes Eigenleben zuzusprechen, indem er ihn als «mystisches Individuum» betrachtete und daraus folgerte: «Der vollkommene Bürger lebt ganz im Staate.» Ganz im Staate kann aber nur der Mensch leben, den der Staat gänzlich ausfüllt. Eine solche Auffassung deckte sich natürlich nicht mit den liberalen Ideengängen der Aufklärungsperiode; sie war ihr offenkundiger Gegensatz.
Adam Müller, der eigentliche Staatstheoretiker der Romantik, wendete sich denn auch mit aller Entschiedenheit gegen die «Chimäre des Naturrechts», auf welchem die meisten Ideenströmungen des Liberalismus fußten. In seinen Elementen der Staatskunst tritt er der liberalen Auffassung, deren weitgehendster Vertreter in Deutschland Wilhelm von Humboldt gewesen ist, mit allem Nachdruck entgegen und führte aus, daß «der Staat nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilische Sozietät» sei, sondern «die innigste Verbindung des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation zu einem großen, energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen». – Demzufolge konnte der Staat nie ein Mittel für irgendwelche Sonderzwecke oder überhaupt für einen bestimmten Zweck sein, wie der Liberalismus ihn auffaßte; er war vielmehr Selbstzweck in seiner höchsten Form, Zweck, der sich selbst genügt und der in der Einheit von Recht, Nationalität und Religion wurzelt. Wenn es auch oft den Anschein hat, als diene der Staat einer besonderen Aufgabe, so ist dies nach Müllers Auffassung bloß eine optische Täuschung der Theoretiker: in Wirklichkeit dient der Staat nur sich selbst und ist für keinen ein Mittel.
Karl Ludwig von Hallers ebenso seichtes, als unverschämtes Machwerk, das den langatmigen Titel trug, Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, war nur eine grobkörnige und geistlose Wiederholung derselben Gedankengänge, nur daß bei Haller die reaktionäre Tendenz viel offenkundiger und demonstrativer hervortritt. Haller verwarf prinzipiell den Gedanken, daß die bürgerliche Gesellschaft aus einem geschriebenen oder ungeschriebenen Vertragsverhältnis zwischen den Bürgern und dem Staate überhaupt hervorgegangen sein könnte. Der Naturzustand, aus dem alle Einrichtungen der politischen Gesellschaft allmählich geboren wurden, ist gleichbedeutend mit der Ordnung Gottes, die der Ursprung aller Dinge ist. Das erste Ergebnis dieses Zustandes aber war, daß der Starke über alle anderen herrschte; daraus geht hervor, daß alle Macht einem Naturgesetz entspringt, das in Gottes Ordnung begründet ist. Der Mächtige regiert, gründet den Staat, bestimmt das Recht, und das alles nur auf Grund seiner Stärke und Überlegenheit. Die Macht, die er besitzt, ist eine Gabe Gottes, die gerade deshalb unantastbar ist, da sie von Gott kommt. Daraus folgt, daß der König nicht der Diener des Staates ist, sondern sein Herr sein muß. Staat und Volk sind sein Eigentum, sein von Gott erhaltenes legitimes Erbe, mit dem er nach Belieben schalten und walten kann. Ist der König ungerecht und hart, so ist das freilich ein Verhängnis für die Untertanen, doch steht es ihnen nicht zu, durch Selbsthilfe eine Änderung herbeizuführen. Alles, was ihnen in diesem Falle zu tun übrigbleibt, ist, Gott anzurufen, damit er den Herrscher erleuchte und ihn auf den rechten Weg lenke.
Man kann verstehen, wie sehr eine solche Lehre die gekrönten Häupter befriedigen mußte. Ganz besonders hatte es Haller dem preußischen Kronprinzen, dem nachmaligen Friedrich Wilhelm IV., angetan, den man den «Romantiker auf dem Königsthron» getauft hat. Hegels Staatsvergottung war nur ein Schritt weiter in derselben Richtung und fand gerade deshalb eine so bereitwillige Aufnahme in Deutschland, weil die Staatsauffassung der Romantiker seinen Ideen bereits den Weg geebnet hatte.
Der einzige hervorragende Kopf unter den Romantikern, der auch hier eigene Wege ging, war der katholische Philosoph Franz von Baader, dessen Tagebücher eine Menge tiefgründiger Betrachtungen über Staat und Gesellschaft enthalten. Baader, der in seiner Lehre von der ursprünglichen Reinheit des Menschen ausging, bekämpfte Kants Auffassung vom «radikalen Bösen» auf das heftigste und zog besonders gegen die Manie des Regierens zu Felde, die im Menschen die besten Anlagen ersticke und ihn zu jeder selbständigen Betätigung unfähig mache. Aus diesem Grunde pries er die Anarchie als eine Heilkraft der Natur gegen den Despotismus, da sie den Menschen zwinge, auf eigenen Füßen zu stehen. Baader verglich den durch stetes Regieren unmündig gewordenen Menschen mit jenem Narren, der sich einbildete, nicht gehen zu können, und nicht von seinem Platze wich, bis eine ausbrechende Feuersbrunst ihm Beine machte.
«Irrtum und Laster erhalten ihre große Stärke durch Materialisierung, Autorisierung bei Institutionen, zum Beispiel als Gesetz. Und dies letztere ist der große Schaden, der große Riegel unserer Vervollkommnungsfähigkeit, den nur Regierung hervorbringen kann. Sie ist also nicht imstande, etwas Gutes, aber sehr imstande, etwas Schlimmes zu tun, indem sie Torheit und Laster sozusagen unsterblich macht und ihnen eine Bestandheit gibt, die sie für sich nie haben können.»
Baaders staatskritische Auffassung geht nicht auf den Liberalismus zurück, sondern auf die deutsche Mystik. Er war bei Meister Eckehart und Jakob Böhme in die Schule gegangen und gelangte zu einer Art Theosophie, die allen weltlichen Zwangsmitteln skeptisch gegenüberstand. Was ihn am Katholizismus am meisten anzog, war der Universalgedanke der Kirche und die Idee der Christenheit als weltumfassende Gemeinschaft, die nur durch das innere Band der Religion besteht und daher keinen äußeren Schutz nötig hat. Baader war ein Eingänger, ein tiefschürfender Geist, der manchen befruchtet hat, aber auf den allgemeinen Gang der deutschen Entwicklung keinen Einfluß hatte.
So konnte also weder die Romantik noch ihr unmittelbar praktisches Ergebnis, die neuentstandene nationale Bewegung, die zu den Befreiungskriegen führte, Deutschland neue geistige Ausblicke für die freiheitliche Entwicklung seiner Stämme und Völker eröffnen. Im Gegenteil, die staatsphilosophische Auffassung der Romantik konnte der aufkommenden Reaktion nur als moralische Rechtfertigung dienen, während die geschmacklose Deutschtümelei der deutschen Jugend ihr alle anderen Völker entfremden mußte. Dabei geschah das Merkwürdige, daß viele der Träger der Nationalidee gar nicht inne wurden, daß sie die angebliche Befreiung nicht ihrer deutschen Ausschließlichkeit, sondern ausgerechnet jenen «fremdländischen Einflüssen» zu verdanken hatten, gegen die ihr «Deutschtum» so berserkerhaft Sturm lief. Weder Jahns «eichelfressendes Germanentum» mit seiner Urwaldsbegeisterung noch Arndts romantische Träume von einem neuen deutschen Ritterorden an der Westgrenze des Landes noch der sehnsuchtsvolle Ruf des Kaiserherolds Schenkendorf nach der glorreichen Wiederkehr des alten Reiches hätten Napoleon zu Fall bringen können. Es war die Auswirkung fremder Ideen und vom Ausland übernommener Einrichtungen, welche dieses Wunder vollbrachten. Um die Fremdherrschaft abzuschütteln, mußte Deutschland wenigstens einen Teil jener Ideen übernehmen, welche die Französische Revolution ins Leben gerufen hatte. Schon die Tatsache, daß es ein «Volkskrieg» war, an dem sich die Macht Napoleons verbluten mußte, zeigt, wie tief demokratische Ideengänge bereits in Deutschland eingedrungen waren; denn jeder nationalen Erhebung liegt bewußt oder unbewußt ein demokratischer Gedanke zugrunde. Es war diese Form der Kriegführung, welche Frankreich in den Stand setzte, sich gegen ganz Europa behaupten zu können. Deshalb waren ja die deutschen Fürsten und besonders Österreich fast bis zuletzt die grimmigsten Gegner einer nationalen Erhebung, hinter der sie die Hydra der Revolution lauern sahen; fürchteten sie doch mit Gentz, daß ein «nationaler Befreiungskrieg sehr leicht in einen Freiheitskrieg umschlagen könnte». Die Gründung der Landwehr, überhaupt die ganze Heeresreform, die Scharnhorst in Preußen durchführte, ging nach französischem Muster vor sich. Ohne diese wären die Franzosen selbst nach der furchtbaren Katastrophe in Rußland ihren Gegnern noch immer gewachsen gewesen.
Auch die Idee der nationalen Erziehung, die Fichte so sehr in den Vordergrund stellte, die allgemeine Wehrpflicht, der Rechtszwang, der den einzelnen Bürger verpflichtet, ein bestimmtes Amt oder bestimmte Pflichten zu übernehmen, wenn der Staat ihm dies gebietet, und vieles andere war den demokratischen Gedankengängen der großen Revolution entlehnt. Der deutsche Patriotismus übernahm dieses fremde Geistesgut und glaubte, daß es urdeutsches Erzeugnis sei. Wie es Jahn ging, der die deutsche Sprache mit eisernem Besen von allen fremden Bestandteilen reinigen wollte und dabei gar nicht bemerkte, daß er bei der Bildung des «kerndeutschen» Wortes turnen eine romanische Wurzel benutzt hatte.
Die deutsche Einheitsbewegung von 1813 und von 1848-49 scheiterte beide Male an dem Verrat der deutschen Fürsten; als aber die Einheit des Reiches 1871 durch einen preußischen Junker zustande gebracht wurde, da sah die nüchterne Wirklichkeit so ganz anders aus als der schillernde Traum, den man einst geträumt hatte. Das war nicht die «Wiederkehr des alten Reiches», welche die Sehnsucht der Romantik so mächtig angeregt hatte. Mit jenem Reiche hatte die Schöpfung Bismarcks etwa «soviel Ähnlichkeit wie eine Berliner Kaserne mit einer gotischen Kathedrale», wie sich der süddeutsche Föderalist Frantz drastisch ausdrückte. Ebensowenig entsprach sie den liberalen Vorstellungen von einem freien Deutschland, welches der europäischen Völkerfamilie mit seiner geistigen Kultur vorangehen sollte, wie Hoffmann von Fallersleben und die Vorkämpfer der deutschen Einheit von 1848 einst geweissagt hatten. Nein, diese politische Mißgeburt, die ein preußischer Junker gezeugt, war nicht mehr als ein zur Macht gelangtes Großpreußen, das Deutschland in eine riesige Kaserne verwandelte und mit seinem auf die Spitze getriebenen Militarismus und ausgeprägten weltpolitischen Machtbestrebungen nunmehr dieselbe Verhängnisvolle Rolle übernahm, welche der Bonapartismus bisher in Europa gespielt hatte. Schon der Umstand, daß ausgerechnet Preußen, das reaktionärste, in seiner Kultur und Geschichte zurückgebliebenste Land, sich die geistige Führung über alle deutschen Völker anmaßte, ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was bei einer solchen «Schöpfung» herauskommen mußte. Das hatte Bismarcks bedeutendster Gegner, Constantin Frantz, dessen gehaltvolle Schriften den Deutschen heute ebenso unbekannt sind wie die chinesische Sprache, bis ins tiefste erfaßt, wenn er der Meinung Ausdruck gab:
«Denn das muß doch jedermann zugestehen, daß das ein unnatürliches Verhältnis ist, wenn das alte westliche Deutschland, welches schon jahrhundertelang, ehe nur von einem Preußen überhaupt die Rede gewesen, eine Geschichte gehabt, im Vergleich zu welcher die preußische Staatsgeschichte sich gar klein ausnimmt, und als die Mark Brandenburg noch ein halbwüstes Wendenland war – daß dieses alte Deutschland, mit seinen Kernstämmen der Bayern, Sachsen, Franken und Schwaben, der Thüringer und Hessen, jetzt vielmehr von jener Mark beherrscht wird.»[69]
Schon die Mehrzahl der deutschen Patrioten von 1813 wollte von einem geeinten Deutschland unter der Führung Preußens nichts wissen, und Görres schrieb in seinem Rheinischen Merkur zur Zeit des Wiener Kongresses, daß es den Sachsen und Rheinländern nicht einleuchten wollte, daß vier Fünftel deutscher Menschen sich nach dem entferntesten einen Fünftel benennen sollten, das dazu noch halb slawisch sei. In der Tat hatte sich der slawische Bestandteil der preußischen Bevölkerung durch die Eroberung Schlesiens und die Teilung Polens unter Friedrich II. ganz bedeutend vergrößert und betrug mehr als zwei Fünftel der Gesamteinwohnerschaft des Landes. Um so komischer nimmt es sich aus, wenn gerade Preußen sich später am geräuschvollsten als der berufene Hüter echtdeutscher Belange aufspielte.
William Pierson, der selbst von der historischen Sendung Preußens zur Herstellung der deutschen Einheit fest überzeugt war, schilderte in seiner Preußischen Geschichte sehr anschaulich die Verdienste des preußischen Königtums um das Zustandekommen der «preußischen Nationalität» und bezeugt gegen seinen Willen die alte Wahrheit, daß der Staat die Nation und nicht die Nation den Staat schafft.
«Der Staat erhielt eine eigene Nationalität, die getrennten Stämme, die zu ihm gehörten, wurden leichter und rascher zu einem Körper verschmolzen, seit alle denselben Namen als Preußen, alle dieselben Farben, die schwarz-weiße Fahne trugen. Zwar das Preußentum entwickelte sich nunmehr im Unterschied von dem übrigen Deutschland auch um so bestimmter als ein eigenes Wesen; der preußische Staat trat um so entschlossener als ein Eigenes, Besonderes auf.»
Daß unter diesen Umständen die von Bismarck geschaffene nationale Einheit der Deutschen nie und nimmer zu einer «Germanisierung Preußens», sondern unabwendbar zu einer «Verpreußung Deutschlands» führen mußte, war vorauszusehen und wurde durch den Verlauf der deutschen Geschichte seit 1871 in jeder Hinsicht bestätigt.
XIV. Sozialismus und Staat
Der Sozialismus und seine verschiedenen Strömungen. Einfluß demokratischer und liberaler Ideengänge auf die sozialistische Bewegung. Babouvismus und Jakobinertum. Cäsaristische und theokratische Ideen im Sozialismus. Proudhon und der Föderalismus. Die Internationale Arbeiter-Assoziation. Bakunin gegen die zentrale Staatsgewalt. Die Pariser Kommune und ihr Einfluß auf die sozialistische Bewegung. Die parlamentarische Betätigung und die Internationale. Der Deutsch-Französische Krieg und die politische Wandlung Europas. Die modernen Arbeiterparteien und der Kampf um die Macht. Sozialismus und nationale Politik. Autoritärer oder freiheitlicher Sozialismus? Regierung oder Verwaltung?
Mit der Entwicklung des Sozialismus und der modernen Arbeiterbewegung in Europa machte sich eine neue geistige Strömung im Leben der Völker bemerkbar, die vorläufig noch keinen Abschluß gefunden hat, deren Schicksal aber dadurch bestimmt wird, daß je nachdem bei ihren Trägern freiheitliche oder autoritäre Gedankengänge die Oberhand gewinnen und behalten werden. Den Sozialisten aller Richtungen ist die Erkenntnis gemeinsam, daß der gegenwärtige Zustand der gesellschaftlichen Organisation eine stete Ursache der gefährlichsten sozialen Übel ist und auf die Dauer nicht bestehen kann. Gemeinsam ist allen sozialistischen Richtungen auch die Überzeugung, daß eine bessere Ordnung der Dinge nicht durch Änderungen rein politischer Natur herbeigeführt werden kann, sondern nur durch eine gründliche Umgestaltung der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse erreichbar ist, und zwar dergestalt, daß die Erde und alle anderen Mittel der gesellschaftlichen Produktion nicht länger Sondereigentum privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft bleiben, sondern in den Besitz und die Verwaltung der Allgemeinheit übergehen. Nur so wird es möglich sein, daß nicht die Aussicht auf persönlichen Gewinn, sondern das solidarische Bestreben, für die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder Sorge zu tragen, Ziel und Zweck jeder produktiven Tätigkeit sein wird.
Über die besondere Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft aber und über die Mittel und Wege, zu einer solchen zu gelangen, gehen die Ansichten der verschiedenen sozialistischen Richtungen weit auseinander. Das ist nicht verwunderlich, denn wie jede andere Idee, so kam auch der Sozialismus den Menschen nicht als eine Offenbarung des Himmels; er entwickelte sich vielmehr innerhalb der bestehenden Gesellschaftsformen und in unmittelbarer Anlehnung an diese. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Träger von den politischen und sozialen Strömungen der Zeit mehr oder weniger stark beeinflußt wurden, je nachdem die eine oder die andere dieser Strömungen in jedem besonderen Lande Fuß gefaßt hatte. Es ist bekannt, welch großen Einfluß die Ideengänge Hegels auf die Gestaltung des Sozialismus in Deutschland hatten; die meisten seiner Bahnbrecher – Grün, Hess, Lassalle, Marx, Engels – kamen aus dem Ideenkreise der deutschen Philosophie, nur Weitling erhielt seine Anregungen von anderer Seite. In England ist die Durchsetzung der sozialistischen Bestrebungen mit liberalen Anschauungen unverkennbar. In Frankreich sind es die geistigen Strömungen der großen Revolution, in Spanien die Einflüsse des politischen Föderalismus, die in den sozialistischen Auffassungen jener Länder scharf hervortreten. Ähnliches läßt sich in der sozialistischen Bewegung jedes Landes feststellen.
Da aber in einem gemeinsamen Kulturkreise wie Europa Ideen und soziale Bewegungen nicht auf ein bestimmtes Land beschränkt bleiben, sondern naturgemäß auf andere Länder übergreifen, so behalten sie nicht bloß ihr rein lokales Kolorit; sie empfangen vielmehr von außen her die mannigfaltigsten Anregungen, die sich fast unmerklich dem eigenen Gedankengut einverleiben und dieses in ihrer besonderen Weise befruchten. Wie stark sich diese äußeren Einflüsse geltend machen, hängt zum großen Teil von den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Man denke nur an den mächtigen Einfluß der Französischen Revolution und ihre geistigen Niederschläge in den meisten Ländern Europas. Es ist daher ohne weiteres klar, daß eine Bewegung wie der Sozialismus in jedem Lande die verschiedensten Ideenverbindungen eingeht und sich nirgends auf eine ganz bestimmte und besondere Ausdrucksform begrenzt.
Babeuf und die kommunistische Schule, die sich seine Ideen zu eigen machte, sind aus der Ideenwelt des Jakobinertums hervorgegangen, von dessen politischer Anschauungsweise sie völlig beherrscht wurden. Sie waren überzeugt, daß man der Gesellschaft jede beliebige Form geben konnte, vorausgesetzt, daß man über die politischen Machtmittel des Staates verfügte. Und da sich mit der Verbreitung der modernen Demokratie im Sinne Rousseaus der Wunderglaube an die Allmacht der Gesetze tief in die Vorstellungen der Menschen eingenistet hatte, so wurde die Eroberung der politischen Macht zu einem Dogma jener sozialistischen Richtungen, die auf den Ideengängen Babeufs und der sogenannten «Gleichen» fußten. Der ganze Streit dieser Richtungen unter sich drehte sich hauptsächlich um die Frage, wie man sich am besten und sichersten in den Besitz der Staatsgewalt setzen könnte. Während die direkten Nachfolger Babeufs, die sogenannten Babouvisten, an den alten Überlieferungen festhielten und davon überzeugt waren, daß ihre geheimen Gesellschaften eines Tages durch einen revolutionären Handstreich die öffentliche Macht erringen würden, um mit der Hilfe einer proletarischen Diktatur den Sozialismus ins Leben umzusetzen, vertraten Männer wie Louis Blanc, Pecqueur, Vidal und andere den Standpunkt, daß ein gewaltsamer Umsturz nach Möglichkeit zu vermeiden sei, vorausgesetzt, daß der Staat den Geist der Zeit begreife und aus eigenem Antrieb auf eine vollständige Umgestaltung der sozialen Wirtschaft hinarbeite. Beiden Richtungen aber war der Glaube gemeinsam, daß der Sozialismus nur mit der Hilfe des Staates und einer entsprechenden Gesetzgebung durchführbar sei. Pecqueur hatte zu diesem Zwecke bereits ein ganzes Gesetzbuch entworfen – eine Art sozialistischen Code Napoleon das einer weitblickenden Regierung als Wegweiser dienen sollte.
Fast alle großen Bahnbrecher des Sozialismus in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren mehr oder weniger stark von autoritären Vorstellungen beeinflußt. Der geniale Saint-Simon erkannte zwar mit großem Scharfblick, daß die Menschheit einer Zeit entgegenschreite, «wo die Kunst, Menschen zu regieren, durch die Kunst, Dinge zu verwalten» abgelöst würde; aber seine Schüler gebärdeten sich dafür um so autoritätswütiger und landeten schließlich bei der Vorstellung einer sozialistischen Theokratie, bis sie gänzlich von der Bildfläche verschwanden.
Fourier entwickelte in seinem «sozietären System» freiheitliche Gedankengänge von wunderbarer Tiefe und unvergänglicher Bedeutung. So wirkt seine Theorie von der «attraktiven Arbeit» gerade heute in der Zeit der kapitalistischen «Rationalisierung der Wirtschaft» wie eine innere Offenbarung wahren Menschentums. Aber auch er war ein Kind seiner Zeit und wandte sich wie Robert Owen an alle geistlichen und weltlichen Machthaber Europas in der Hoffnung, daß man ihm helfen würde, seine Pläne zu verwirklichen. Vom eigentlichen Wesen der sozialen Befreiung hatte er kaum eine Ahnung und die meisten seiner zahlreichen Schüler fast noch weniger. – Cabets «ikarischer Kommunismus» war durchsetzt mit cäsaristischen und theokratischen Ideen; Blanqui und Barbes waren kommunistische Jakobiner.
In England, wo Godwins tiefgründiges Werk Politische Gerechtigkeit bereits 1793 erschienen war, trug der Sozialismus der ersten Periode einen viel freiheitlicheren Charakter als in Frankreich, da ihm dort der Liberalismus und nicht die Demokratie den Weg geebnet hatte. Aber die Schriften von William Thompson, John Gray und anderen blieben auf dem Festlande fast unbekannt. Robert Owens Kommunismus war eine seltsame Mischung von freiheitlichen Gedankengängen und überlieferten autoritären Begriffen. Sein Einfluß auf die gewerkschaftliche und genossenschaftliche Bewegung Englands war eine Zeitlang sehr bedeutend, verlor sich aber besonders nach seinem Tode immer mehr, um praktischeren Erwägungen Platz zu machen, die allmählich das große Ziel der Bewegung ganz aus den Augen verloren.
Unter den wenigen sozialistischen Denkern jener Periode, die versuchten, ihre sozialistischen Bestrebungen auf eine wirklich freiheitliche Grundlage zu stellen, war Proudhon zweifellos der Bedeutendste. Seine zersetzende Kritik der jakobinischen Überlieferungen, des Regierungswesens und des blinden Glaubens an die Wunderkraft der Gesetze und Dekrete wirkte wie eine befreiende Tat, die in ihrer vollen Größe selbst heute noch nicht völlig erkannt wurde. Proudhon hatte klar erkannt, daß der Sozialismus freiheitlich sein müsse, wenn er als Schöpfer einer neuen gesellschaftlichen Kultur überhaupt in Frage kommen sollte. In ihm brannte die lodernde Flamme einer neuen Zeit, die er vorausahnte und deren soziale Gestaltung er im Geiste klar vor sich sah. Er war einer der ersten, welche der politischen Metaphysik der Parteien die konkreten Tatsachen der Wirtschaft entgegenstellten. Die Wirtschaft war ihm die eigentliche Basis des gesamten sozialen Lebens, und da er mit tiefem Scharfblick erkannt hatte, daß gerade das Wirtschaftliche gegen jeden äußeren Zwang am empfindlichsten ist, so verknüpfte er mit innerer Folgerichtigkeit die Abschaffung der Wirtschaftsmonopole mit der Ausschaltung alles Regierungswesens aus dem Leben der Gesellschaft. Für ihn hatte der Kultus der Gesetze, dem alle Parteien jener Periode mit einem wahren Fanatismus oblagen, nicht die geringste schöpferische Bedeutung, wußte er doch, daß in einem Gemeinwesen von freien und gleichen Menschen nur das freie Übereinkommen das einzige moralische Band aller gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander sein konnte.
«Sie wollen also die Regierung abschaffen?» – fragte man ihn – «Sie wollen keine Verfassung? Wer wird dann die Ordnung in der Gesellschaft erhalten? Was werden Sie an die Stelle des Staates setzen? An die Stelle der Polizei? An die Stelle der großen politischen Gewalten?» «Nichts!» – erwiderte er – «Die Gesellschaft ist die ewige Bewegung. Sie braucht nicht aufgezogen zu werden, und es ist nicht nötig, ihr den Takt zu schlagen; sie trägt ihr Pendel und ihre Feder stets gespannt in sich. Eine organisierte Gesellschaft braucht ebensowenig Gesetze als Gesetzgeber. Die Gesetze sind in der Gesellschaft wie das Spinngewebe im Bienenstock: sie dienen nur dazu, die Bienen zu fangen.»
Proudhon hatte die Übel des politischen Zentralismus in allen Einzelheiten erfaßt; deshalb verkündete er als das Gebot der Stunde die politische Dezentralisation und die Autonomie der Gemeinden. Er war von allen Modernen, die das Prinzip des Föderalismus wieder auf ihre Fahne geschrieben hatten, der hervorragendste. Ein feiner Kopf, war er sich klar darüber, daß die Menschen von heute nicht mit einem Sprung in das Reich der Anarchie gelangen konnten; er wußte, daß die geistige Einstellung seiner Zeitgenossen, die sich im Laufe langer Perioden langsam geformt hatte, nicht im Handumdrehen verschwinden würde. Deshalb erschien ihm die politische Dezentralisation, welche dem Staate immer mehr von seinen Funktionen entziehen sollte, als das geeignetste Mittel, die Abschaffung jeder Regierung des Menschen über den Menschen anzubahnen und in die Wege zu leiten. Er glaubte, daß eine politische und soziale Neugestaltung der europäischen Gesellschaft in der Form selbständiger Gemeinwesen, die auf Grund freier Verträge föderalistisch miteinander verbunden sind, der verhängnisvollen Entwicklung der modernen Großstaaten entgegenwirken könnten. Von diesem Gedanken geleitet, setzte er den nationalen Einheitsbestrebungen Mazzinis und Garibaldis die politische Dezentralisation und den Föderalismus der Gemeinden entgegen, denn er war fest davon überzeugt, daß nur auf diesem Wege eine höhere soziale Kultur der europäischen Völker möglich sei.
Es ist bezeichnend, daß gerade die marxistischen Gegner des großen französischen Denkers in diesen Bestrebungen Proudhons einen Beweis seines «Utopismus» erkennen wollen, indem sie darauf hinweisen, daß die gesellschaftliche Entwicklung trotz alledem den Weg der politischen Zentralisation eingeschlagen habe. Als ob das ein Beweis gegen Proudhon wäre! – Sind durch diese Entwicklung, die Proudhon so klar vorausgesehen hat und deren Gefahr er so meisterhaft zu schildern wußte, etwa die Schäden des Zentralismus behoben oder aus sich selbst überwunden worden? Nein und tausendmal nein! Diese Schäden haben sich seitdem ins Ungeheuerliche gesteigert und waren eine der Hauptursachen, die zu der furchtbaren Katastrophe des Weltkrieges geführt haben, wie sie heute eines der größten Hindernisse sind, die einer vernünftigen Lösung der internationalen Wirtschaftskrise entgegenwirken. Europa windet sich in tausend Zuckungen unter dem eisernen Joch eines geistlosen Bürokratentums, dem jedes selbständige Handeln ein Greuel ist und das am liebsten über alle Völker die Vormundschaft der Kinderstube verhängen möchte. Das sind die Früchte der politischen Zentralisation. Wäre Proudhon ein Fatalist gewesen, so hätte er diese Entwicklung der Dinge als eine «historische Notwendigkeit» der Geschichte aufgefaßt und den Zeitgenossen geraten, sich damit abzufinden, bis der famose «Umschlag der Position in die Negation» eintrete; aber als echter Kämpfer lief er gegen das Übel Sturm und versuchte, die Zeitgenossen zu bewegen, dagegen anzukämpfen.
Proudhon sah alle Folgen einer großstaatlichen Entwicklung voraus und lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Gefahr, die sie bedrohte; in derselben Zeit zeigte er ihnen einen Weg, wie sie dem Übel Einhalt gebieten konnten. Daß sein Wort nur von wenigen beachtet wurde und zuletzt wie eine Stimme in der Wüste verhallte, war nicht seine Schuld. Ihn darob einen «Utopisten» zu nennen, ist ein ebenso billiges wie geistloses Vergnügen. Dann ist auch der Arzt ein Utopist, der aus vorhandenen Ansätzen einer Krankheit deren Folgen voraussagt, und dem Patienten einen Weg zeigt, wie er dem Übel wehren kann. Ist es die Schuld des Arztes, wenn der Kranke seinen Rat in den Wind schlägt und keinen Versuch macht, die Gefahr von sich abzuwenden?
Proudhons Formulierung der Grundsätze des Föderalismus war ein Versuch der Freiheit, der heraufziehenden Reaktion entgegenzuwirken, und seine geschichtliche Bedeutung besteht darin, daß er der Arbeiterbewegung Frankreichs und der übrigen romanischen Länder den Stempel seines Geistes aufgedrückt hat und ihren Sozialismus in die Bahn der Freiheit und des Föderalismus zu leiten versuchte. Wenn erst die Idee des Staatskapitalismus in allen ihren verschiedenen Formen und Abarten endgültig überwunden sein wird, wird man die wahre Bedeutung von Proudhons Geisteswerk richtig einzuschätzen verstehen.
Als später die Internationale Arbeiter-Assoziation ins Leben trat, war es der föderalistische Geist der romanischen Sozialisten, welcher dem großen Bunde seine eigentliche Bedeutung gab und ihn zur Wiege der modernen sozialistischen Arbeiterbewegung Europas machte. Die Internationale selbst war eine Verbindung gewerkschaftlicher Kampforganisationen und sozialistischer Ideengruppen, die sich auf einer föderalistischen Basis zusammengefunden hatten. Aus ihren Reihen entwickelten sich die großen schöpferischen Gedanken einer gesellschaftlichen Wiedergeburt auf der Grundlage eines Sozialismus, dessen freiheitliche Bestrebungen auf jedem ihrer Kongresse immer deutlicher hervortraten, und die für die geistige Entwicklung des großen Arbeiterbundes so bezeichnend waren. Es waren fast ausschließlich die Sozialisten der lateinischen Länder, welche diese Ideenentwicklung angeregt und befruchtet haben.
Während die deutschen Sozialdemokraten jener Periode im sogenannten Volksstaat ihr politisches Zukunftsideal erblickten und auf diese Art die bürgerlichen Überlieferungen des Jakobinertums fortpflanzten, hatten die revolutionären Sozialisten der romanischen Länder sehr wohl erkannt, daß eine neue Wirtschaftsordnung im Sinne des Sozialismus auch eine neue Form der politischen Organisation erheische, um sich ungestört entfalten zu können. Aber sie begriffen auch, daß diese Form der gesellschaftlichen Organisation mit dem heutigen Staatssystem nichts gemein haben konnte, sondern vielmehr dessen geschichtliche Ablösung bedeutete. So entwickelte sich im Schöße der Internationale der Gedanke einer allseitigen Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion und des allgemeinen Verbrauchs durch die Produzenten selbst, und zwar in der Form freier, auf der Basis des Föderalismus verbundener Wirtschaftsgruppen, denen in derselben Zeit auch die politische Verwaltung der Gemeinden obliegen sollte. Auf diese Weise dachte man die Kaste der heutigen Partei- und Berufspolitiker durch Sachverständige ohne Vorrechte zu ersetzen und die Machtpolitik des Staates durch eine friedliche Wirtschaftsordnung zu verdrängen, die in der Gleichheit der Belange und in der gegenseitigen Solidarität in Freiheit verbundener Menschen ihre Grundlage fand.
Um dieselbe Zeit hatte Michael Bakunin das Prinzip des politischen Föderalismus in seiner bekannten Rede auf dem Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga (1867) scharf umrissen und dessen Bedeutung für die friedlichen Beziehungen der Völker untereinander besonders hervorgehoben.
«Jeder zentralisierte Staat – führte Bakunin aus –, wie liberal er sich auch stellen, welch republikanische Form er auch tragen möge, ist notwendigerweise ein Bedrücker, ein Ausbeuter der werktätigen Massen zugunsten der privilegierten Klassen. Er braucht eine Armee, um diese Massen im Zaume zu halten, und das Vorhandensein dieser bewaffneten Macht treibt ihn zum Kriege. Daher komme ich zum Schluß, daß der internationale Friede unmöglich ist, solange nicht das folgende Prinzip mit allen seinen Folgerungen angenommen ist: Jedes Volk, ob schwach oder stark, klein oder groß, jede Provinz, jede Gemeinde hat das absolute Recht, frei, autonom zu sein, ihren Interessen und besonderen Bedürfnissen gemäß zu leben und sich zu verwalten, und in diesem Recht sind alle Gemeinden, alle Völker in dem Grade solidarisch, daß man dieses Prinzip in bezug auf eine einzige Gemeinschaft nicht verletzen kann, ohne alle übrigen gleichzeitig in Gefahr zu bringen.»
Der Aufstand der Pariser Kommune gab den Ideen der lokalen Autonomie und des Föderalismus einen mächtigen Aufschwung in den Reihen der Internationale. Indem Paris sich seiner zentralen Vorrechte über alle anderen Gemeinden Frankreichs freiwillig begab, wurde die Kommune für die Sozialisten der romanischen Länder der Ausgangspunkt einer neuen Bewegung, welche die Föderation der Gemeinden dem zentralen Einheitsprinzip des Staates entgegenstellte. Die Gemeinden wurden ihnen zur politischen Einheit der Zukunft, die Basis für eine neue gesellschaftliche Kultur, die sich organisch von unten nach oben entfaltet und den Menschen nicht durch eine zentrale Macht von oben herab automatisch aufgezwungen wird. So entstand als soziales Vorbild der Zukunft eine neue Vorstellung der gesellschaftlichen Organisation, welche dem eigenen Antrieb der Personen und Gruppen den breitesten Spielraum gewährt und in der gleichzeitig der Geist der Gemeinschaft und das solidarische Interesse für das Wohlergehen aller in jedem einzelnen Gliede des gesellschaftlichen Verbandes lebt und wirkt. Man erkennt deutlich, daß den Trägern dieses Gedankens die Worte Proudhons vor Augen standen: «Die Persönlichkeit ist für mich das Kriterium der sozialen Ordnung. Je freier, unabhängiger, unternehmender die Persönlichkeit in der Gesellschaft, desto besser für die Gesellschaft.»
Während der autoritär eingestellte Flügel der Internationale auch fernerhin die Notwendigkeit des Staates befürwortete und dem Zentralismus das Wort redete, war den freiheitlichen Sektionen in ihrem Schöße der Föderalismus nicht bloß ein politisches Zukunftsideal; er diente ihnen auch als Basis für ihre eigenen organisatorischen Bestrebungen; sollte doch nach ihrer Auffassung die Internationale – soweit dies unter den bestehenden Verhältnissen überhaupt möglich war – der Welt schon heute das Bild einer freien Gesellschaft vor Augen führen. Es war gerade diese Auffassung, die zu jenen inneren Kämpfen zwischen Zentralisten und Föderalisten führte, an denen die Internationale zugrunde gehen sollte.
Die Versuche des Londoner Generalrats, der unter dem unmittelbaren geistigen Einfluß von Marx und Engels stand, seine Machtbefugnisse zu vergrößern und den internationalen Bund der erwachenden Arbeiterschaft der parlamentarischen Politik bestimmter Parteien dienstbar zu machen, mußten naturgemäß auf den schärfsten Widerstand der freiheitlich gesinnten Föderationen und Sektionen stoßen, die an den alten Grundsätzen der Internationale festhielten. So vollzog sich die große Spaltung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, die bis heute noch nicht überbrückt werden konnte, da es sich in diesem Streite um innere Gegensätze von grundsätzlicher Bedeutung handelte, deren Austrag nicht nur für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung, sondern für die Idee des Sozialismus selbst entscheidende Folgen haben mußte. Der unglückselige Krieg von 1870/71 und die nach dem Fall der Pariser Kommune und den revolutionären Ereignissen in Spanien und Italien einsetzende Reaktion in den romanischen Ländern, welche durch Ausnahmegesetze und brutale Verfolgungen jede öffentliche Tätigkeit vereitelte und die Internationale in die Schlupfwinkel geheimer Verbindungen drängte, haben die neueste Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung sehr begünstigt.
Am 20. Juli 1870 schrieb Karl Marx an Friedrich Engels die für seine Person und Geistesrichtung so bezeichnenden Worte:
«Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power (Staatsgewalt), nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis heute in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons usw.»[70]
Marx hatte recht. Der Sieg Deutschlands über Frankreich bedeutete in der Tat einen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Der freiheitliche Sozialismus der Internationale wurde durch die neugeschaffene Lage in den Hintergrund gedrängt und mußte den freiheitsfeindlichen Anschauungen des Marxismus das Feld räumen. Die lebendige, schöpferische, unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit sozialistischer Bestrebungen wurde durch einen einseitigen Doktrinarismus ersetzt, der sich anspruchsvoll als neue Wissenschaft gerierte, in Wirklichkeit aber nur auf einem zu den schlimmsten Trugschlüssen führenden Geschichtsfatalismus beruhte, der jeden wahrhaft sozialistischen Gedanken langsam ersticken mußte. Marx hatte zwar in seiner Jugend das Wort geprägt: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern», er selbst aber hat sein ganzes Leben nichts anderes getan als die Welt und die Geschichte interpretiert. Er hat die kapitalistische Gesellschaft auf seine Weise analysiert und dabei viel Geist und ein enormes Wissen an den Tag gelegt; doch die Schöpferkraft Proudhons blieb ihm versagt. Er war und blieb nur der Analytiker, ein geistreicher und vielwissender Analytiker, aber doch nicht mehr. Aus diesem Grunde hat er den Sozialismus um keinen einzigen schöpferischen Gedanken bereichert, wohl aber hat er den Geist seiner Nachfolger in dem feinen Netzwerk einer listigen Dialektik verstrickt, welche sie außer der Wirtschaft kaum noch etwas anderes sehen läßt in der Geschichte und die ihnen jeden tieferen Einblick in die Welt des sozialen Geschehens verstellt. Er hat sogar jeden Versuch, sich über die mutmaßliche Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft klarzuwerden, grundsätzlich abgelehnt und als Utopismus abgetan. Als ob es möglich wäre, Neues zu schaffen, ohne sich über die Richtlinien Rechenschaft zu geben. Der Glaube an die Zwangsläufigkeit aller sozialen Erscheinungen ließ ihn jeden Gedanken an das Zweckmäßige des gesellschaftlichen Geschehens verwerfen; und doch ist es gerade dieser Gedanke, der jeder schöpferischen Tätigkeit zugrunde liegt.
Mit den Ideen änderten sich auch die Methoden der Arbeiterbewegung. An Stelle der sozialistischen Ideengruppen und der wirtschaftlichen Kampforganisationen im alten Sinne, in welchen die Männer der Internationale die Zellen der kommenden Gesellschaft und die natürlichen Organe für die Neugestaltung und Verwaltung der Produktion erblickt hatten, traten die heutigen Arbeiterparteien und die parlamentarische Betätigung der werktätigen Massen. Die alte sozialistische Lehre, die von der Eroberung der Betriebe und des Grund und Bodens sprach, trat immer mehr in den Hintergrund; statt dessen sprach man bloß noch von der Eroberung der politischen Macht und gelangte damit völlig ins Fahrwasser der heutigen Gesellschaft.
In Deutschland, wo man überhaupt keine andere Form der Bewegung kennengelernt hatte, vollzog sich diese Entwicklung besonders rasch und wirkte von dort aus durch ihre Wahlerfolge auf die sozialistische Bewegung der meisten anderen Länder zurück. Die machtvolle Tätigkeit Lassalles in Deutschland hatte dieser neuen Phase der Bewegung den Weg geebnet. Lassalle war Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Verehrer der Staatsidee im Sinne Fichtes und Hegels und hatte sich dazu noch die Anschauungen des französischen Staatssozialisten Louis Blanc über die sozialen Aufgaben der Regierung zu eigen gemacht. In seinem Arbeiterprogramm erklärte er den werktätigen Klassen Deutschlands, daß die Geschichte der Menschheit ein steter Kampf gegen die Natur gewesen sei und gegen die Beschränkungen, welche diese dem Menschen auferlegt.
«In diesem Kampfe würden wir niemals einen Schritt vorwärts gemacht haben oder jemals weiter machen, wenn wir ihn als einzelne, jeder für sich, jeder allein geführt hätten oder führen wollten. Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu vollbringen.»
Seine Anhänger waren von dieser Sendung des Staates so fest überzeugt, und ihre Staatsgläubigkeit nahm häufig so fanatische Formen an, daß die liberale Presse jener Zeit die Bewegung Lassalles des öfteren beschuldigte, im Solde Bismarcks zu stehen. Das war natürlich nicht richtig, aber das sonderbare Liebäugeln Lassalles mit dem «sozialen Königtum», das besonders in seiner Schrift Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens so auffällig hervortrat, konnte sehr leicht einen solchen Verdacht aufkommen lassen.[71]
Indem die neuentstandenen Arbeiterparteien ihre ganze Wirksamkeit allmählich völlig auf die parlamentarische Betätigung der Arbeiter und die Eroberung der politischen Macht als angebliche Vorbedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus einstellten, schufen sie im Laufe der Zeit eine ganz neue Ideologie, die sich von den sozialistischen Ideengängen der ersten Internationale wesentlich unterschied. Der Parlamentarismus, der in der neuen Bewegung rasch eine dominierende Rolle spielte, lockte eine Menge bürgerlicher Elemente und karrierelüsterner Intellektueller ins Lager der sozialistischen Parteien, wodurch der geistigen Umstellung noch mehr Vorschub geleistet wurde. So entwickelte sich an Stelle des Sozialismus der alten Internationale eine Art Ersatzprodukt, das mit jenem bloß noch den Namen gemein hatte. Auf diese Weise verlor der Sozialismus mehr und mehr den Charakter eines neuen Kulturideals, für das die künstlichen Grenzen der Staaten keine Geltung hatten. In den Köpfen der Führer dieser neuen Richtung vermengten sich die Belange des nationalen Staates mit den geistigen Belangen ihrer Partei, bis sie allmählich überhaupt nicht mehr imstande waren, eine Grenze zwischen beiden wahrzunehmen, und sich daran gewöhnten, Welt und Dinge durch die Brille des nationalen Staates zu betrachten. So konnte es nicht ausbleiben, daß die modernen Arbeiterparteien sich allmählich in das nationale Staatsgefüge als notwendiger Bestandteil eingliederten und sehr viel dazu beitrugen, dem Staate das innere Gleichgewicht wiederzugeben, das er bereits eingebüßt hatte.
Es wäre falsch, diese seltsame Ideenumstellung lediglich als einen bewußten Verrat der Führer bewerten zu wollen, wie man das oft getan hat. In Wahrheit handelt es sich hier um ein langsames Hineinwachsen in die Gedankenwelt des bürgerlichen Staates, welches durch die praktische Betätigung der heutigen Arbeiterparteien bedingt war und sich notwendigerweise auf die geistige Einstellung ihrer Träger auswirken mußte. Dieselben Parteien, die einst auszogen, um unter der Flagge des Sozialismus die politische Macht zu erobern, sahen sich durch die eiserne Logik der Umstände mehr und mehr in eine Stellung gedrängt, wo sie Stück für Stück ihres ehemaligen Sozialismus der bürgerlichen Politik preisgeben mußten. Der einsichtigere Teil ihrer Anhänger erkannte zwar die Gefahr und erschöpfte sich gelegentlich in einer unfruchtbaren Opposition gegen die taktischen Richtlinien der Partei, die schon deshalb erfolglos bleiben mußte, da sie sich lediglich gegen bestimmte Auswüchse des politischen Parteisystems, nie aber gegen dieses selbst richtete. So wurden die sozialistischen Arbeiterparteien – ohne daß dies der großen Mehrheit ihrer Anhänger auch nur zum Bewußtsein gekommen wäre – Prellblöcke im Kampfe zwischen Kapital und Arbeit und Wegbereiter für einen kommenden Staatskapitalismus.
Die Stellung der meisten dieser Parteien während des Krieges und besonders nach dem Kriege spricht dafür, daß unsere Auffassung nicht übertrieben ist und durchaus den Tatsachen entspricht. In Deutschland hat diese Entwicklung einen geradezu tragischen Verlauf genommen, dessen Tragweite sich vorläufig noch gar nicht übersehen läßt. Die sozialistische Bewegung dieses Landes war in den langen Jahren parlamentarischer Routine geistig völlig versandet und zu keiner schöpferischen Tat mehr fähig. Das ist der Grund, weshalb die deutsche Revolution so erschreckend arm an wirklichen Ideen war. Das alte Wort: «Wer vom Papste lebt, stirbt daran», war auch an der sozialistischen Bewegung in Erfüllung gegangen. Sie hatte so lange vom Staate gegessen, bis ihre innere Lebenskraft erschöpft war und sie nichts mehr von Bedeutung vollbringen konnte.
Der Sozialismus konnte seine Rolle als Kulturideal der Zukunft nur behaupten, wenn er seine ganze Tätigkeit darauf einstellte, zusammen mit dem Monopol des Besitzes auch jede Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu beseitigen. Nicht die Eroberung, sondern die Ausschaltung der Macht aus dem Leben der Gesellschaft mußte das große Ziel bleiben, dem er zustrebte, das er niemals aufgeben durfte, wenn er sich nicht selber aufgeben wollte. Wer da glaubt, die Freiheit der Persönlichkeit durch die Gleichheit der Belange ersetzen zu können, hat das Wesen des Sozialismus überhaupt nicht erfaßt. Für die Freiheit gibt es keinen Ersatz, kann es nie einen Ersatz geben. Die Gleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen für alle und jeden ist nur eine notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Menschen, aber nie ein Ersatz für diese. Wer sich gegen die Freiheit vergeht, vergeht sich gegen den Geist des Sozialismus. Sozialismus heißt solidarisches Zusammenwirken der Menschen auf Grund eines gemeinsamen Zieles und derselben Rechte für jedermann. Solidarität aber beruht nur auf freier Entschließung und kann nicht erzwungen werden, wenn sie nicht in Tyrannei umschlagen soll.
Jede wahrhaft sozialistische Tätigkeit muß daher im kleinsten und im größten von dem Gedanken getragen sein, dem Monopolismus auf allen Gebieten, und besonders auf dem der Wirtschaft entgegenzuwirken und die Summe der persönlichen Freiheit im Rahmen des gesellschaftlichen Verbandes mit allen zu Gebote stehenden Kräften zu erweitern und zu sichern. Jede praktische Betätigung, die zu anderen Ergebnissen führt, ist abwegig und für wirkliche Sozialisten untragbar. Danach ist auch das leere Geschwätz von der «Diktatur des Proletariats» als Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Sozialismus zu bewerten. Solche Übergänge kennt die Geschichte überhaupt nicht. Es gibt lediglich primitivere und kompliziertere Formen in den verschiedenen Entwicklungsphasen des gesellschaftlichen Geschehens. Jede neue Gesellschaftsordnung ist in ihren ursprünglichen Ausdrucksformen naturgemäß unvollendet; nichtsdestoweniger aber müssen alle weiteren Entwicklungsmöglichkeiten ihrer zukünftigen Gestaltung in jeder ihrer neugeschaffenen Einrichtungen vorhanden sein, wie in einem Embryo bereits das ganze Geschöpf vorhanden ist. Jeder Versuch, einer neuen Ordnung der Dinge wesentliche Bestandteile eines alten, in sich selbst überlebten Systems einzuverleiben, hat bisher stets zu denselben negativen Ergebnissen geführt; entweder wurden solche Versuche durch die jugendliche Kraft der gesellschaftlichen Neugestaltung bald im Anfang durchkreuzt, oder aber die zarten Keime und hoffnungsvollsten Ansätze des Neuen wurden von den übernommenen Formen des Gewesenen so stark eingeengt und in ihrer natürlichen Entfaltung behindert, daß sie allmählich wieder verkümmerten und ihre innere Lebensfähigkeit langsam absterben mußte.
Wenn ein Lenin – ähnlich wie Mussolini – sich zu dem Ausspruch verstieg, daß die «Freiheit ein bürgerliches Vorurteil» sei, so beweist das nur, daß sein Geist sich überhaupt nicht zum Sozialismus aufzuschwingen vermochte, sondern in dem alten Vorstellungskreise des Jakobinertums steckengeblieben war. Es ist überhaupt ein Unding, von einem freiheitlichen und einem autoritären Sozialismus zu sprechen: der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein!
Die beiden großen politischen Ideenströmungen des Liberalismus und der Demokratie hatten auf die innere Entwicklung der sozialistischen Bewegung einen starken Einfluß. Die Demokratie mit ihren staatsbejahenden Grundsätzen und ihrem Bestreben, das Einzelwesen den Geboten eines eingebildeten «Gemeinwillens» zu unterwerfen, mußte sich in einer Bewegung wie dem Sozialismus um so verhängnisvoller auswirken, als sie dieser den Gedanken einblies, dem Staate zu den Gebieten, die er bereits beherrschte, auch noch das ungeheure Gebiet der Wirtschaft auszuliefern und ihm dadurch eine Macht zu verleihen, die er nie vorher besessen hatte. Heute zeigt es sich immer deutlicher – die Erfahrungen in Rußland haben es bestätigt –, daß solche Bestrebungen nie und nimmer im Sozialismus ausmünden können, sondern unwiderruflich zu seinem grotesken Zerrbild, dem Staatskapitalismus, führen müssen.
Von der anderen Seite führte der vom Liberalismus befruchtete Sozialismus folgerichtig zu den Ideengängen von Godwin, Proudhon, Bakunin und ihren Nachfolgern. Der Gedanke, das Betätigungsfeld des Staates auf ein Minimum zu begrenzen, trug schon den Keim eines noch weitgehenderen Gedankens in sich: den Staat im ganzen zu überwinden und den «Willen zur Macht» aus der menschlichen Gesellschaft auszuschalten. Wenn der demokratische Sozialismus unendlich viel dazu beigetragen hat, den schwindenden Glauben in den Staat wieder neu zu festigen, und in seiner weiteren Entwicklung theoretisch beim Staatskapitalismus landen mußte, so führte der von der liberalen Ideenwelt inspirierte Sozialismus in einer geraden Linie zur Idee der Anarchie, das heißt zu der Vorstellung eines gesellschaftlichen Zustandes, wo der Mensch nicht länger der Vormundschaft einer höheren Macht unterworfen ist und alle Beziehungen zwischen sich und seinesgleichen durch gegenseitiges Übereinkommen selber regelt. Der Liberalismus selbst konnte diese höchste Phase einer bestimmten Ideenentwicklung deshalb nicht erreichen, weil er die wirtschaftliche Seite der Frage zuwenig ins Auge gefaßt hatte, wie bereits an einer anderen Stelle ausgeführt wurde. Nur auf der Basis der genossenschaftlichen Arbeit und der Gemeinsamkeit aller gesellschaftlichen Belange ist wahre Freiheit möglich; denn es gibt keine Freiheit des Einzelwesens ohne Gerechtigkeit für alle. Auch die persönliche Freiheit wurzelt im sozialen Bewußtsein des Menschen und erhält erst durch dieses ihren eigentlichen Sinn. Die Idee der Anarchie ist die Synthese von Liberalismus und Sozialismus: Befreiung der Wirtschaft von allen Fesseln der Politik; Befreiung der Kultur von allen machtpolitischen Einflüssen; Befreiung des Menschen durch die solidarische Verbundenheit mit seinesgleichen oder, wie Proudhon sagte: «Vom sozialen Gesichtspunkt gesehen, sind Freiheit und Solidarität verschiedene Ausdrücke für denselben Begriff. Indem die Freiheit eines jeden in der Freiheit der anderen nicht mehr eine Schranke, wie die Erklärung der Menschenrechte von 1793 sagt, sondern eine Stütze findet, ist der freieste Mensch derjenige, der die meisten Beziehungen zu seinen Mitmenschen hat.»
XV. Der Nationalismus als politische Religion
Der Faschismus als letztes Ergebnis der nationalen Ideologie. Sein Kampf gegen die liberale Ideenwelt. Mussolini als Gegner des Staates. Seine politische Wandlung. Giovanni Gentile, der Staatsphilosoph des Faschismus. Nationalismus als Wille zum Staat. Die faschistische Staatsidee und der moderne Monopolkapitalismus. Zeitgenössische Wirtschaftsbarbarei. Der Staat als Zerstörer der Gemeinschaft. Die Freiheit als gesellschaftliches Bindemittel. Die Erziehung des modernen Massenmenschen am laufenden Band. Der Kampf gegen die Persönlichkeit. Der Totalitätsstaat. Nationalismus als politische Offenbarungsreligion. Niedergang oder Aufstieg?
Der moderne Nationalismus, der im italienischen Faschismus und im deutschen Nationalsozialismus seinen vollendetsten Ausdruck gefunden hat, ist der Todfeind jeder liberalen Denkweise. Die völlige Austilgung aller freiheitlichen Gedankengänge ist für seine Träger die erste Vorbedingung für das «Erwachen der Nation», wobei man in Deutschland sonderbarerweise Liberalismus und Marxismus in einen Topf wirft – ein Umstand, der allerdings nicht weiter in Erstaunen setzt, wenn man weiß, wie gewalttätig die Verkünder des Dritten Reiches mit Tatsachen, Ideen und Personen umspringen. Daß auch der Marxismus, ebenso wie die Demokratie und der Nationalismus, in seinen Grundideen von einer Kollektivvorstellung, nämlich der Klasse, ausgeht und schon aus diesem Grunde keine inneren Beziehungen zum Liberalismus haben kann, machte seinen hitlerfrommen Gegnern wenig Sorgen.
Daß dieser moderne Nationalismus mit seinem bis auf die Spitze getriebenen Staatsfanatismus den liberalen Ideen keine gute Seite abzugewinnen vermochte, ist ohne weiteres verständlich. Weniger verständlich war die Behauptung seiner führenden Männer, daß der heutige Staat von Grund auf liberal verseucht sei und aus diesem Grunde seine gewesene machtpolitische Bedeutung verloren habe. Tatsache ist, daß die politische Entwicklung der letzten hundertfünfzig Jahre nicht den Weg gegangen ist, welchen der Liberalismus erhofft hatte. Von dem Gedanken, die Funktionen des Staates möglichst zu beschränken und sein Betätigungsfeld auf ein Minimum zu begrenzen, ist wenig in Erfüllung gegangen. Das Betätigungsfeld des Staates wurde nicht abgebaut, es hat sich vielmehr mächtig ausgedehnt und vervielfältigt, und die sogenannten liberalen Parteien, die mit der Zeit immer tiefer in das Fahrwasser der Demokratie hineingerieten, haben dazu reichlich beigetragen. In der Wirklichkeit hat sich der Staat nicht liberalisiert, sondern nur demokratisiert; dadurch ist sein Einfluß auf das persönliche Leben des Menschen nicht vermindert worden, vielmehr stets gewachsen.
Es gab eine Zeit, wo man der Ansicht sein konnte, daß die Souveränität der Nation sich mit der Souveränität eines legitimen Monarchen nicht vergleichen ließe und aus diesem Grunde die Machtstellung des Staates schwächen müßte. Solange die Demokratie noch um ihre Anerkennung kämpfen mußte, konnte man einer solchen Auffassung eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Aber diese Zeit ist längst vorüber. Nichts hat die innere und äußere Sicherheit des Staates seither so gefestigt als der religiöse Glaube an die Souveränität der Nation, welche durch das allgemeine Stimmrecht periodisch immer wieder feierlich sanktioniert wird. Daß es sich hier nur um eine religiöse Vorstellung politischer Natur handelt, ist unbestreitbar. Auch Clemenceau, als er innerlich vereinsamt und verbittert am Abschlusse seiner Laufbahn angelangt war, äußerte sich in demselben Sinne: «Das allgemeine Stimmrecht ist ein Spielzeug, das man bald über hat. Aber man darf es nicht laut sagen, denn das Volk muß eine Religion haben, So ist es … Traurig, aber wahr.»[72]
Der Liberalismus war der Aufschrei der menschlichen Persönlichkeit gegen die alles nivellierenden Bestrebungen des absoluten Regimes und später gegen den Ultrazentralismus und die blinde Staatsgläubigkeit des Jakobinertums und seiner verschiedenen demokratischen Abarten. In diesem Sinne wurde er noch von Mill, Buckle und Spencer aufgefaßt. Aber sogar Mussolini, der den Liberalismus auf das grimmigste befehdete, vertrat nicht allzulange vor seiner Wandlung häufig Ideen, die dem Liberalismus abgelauscht waren, so wenn er schrieb:
«Mit seiner ungeheuren bürokratischen Maschine gibt einem der Staat das Gefühl des Erstickens. Der Staat war für das Einzelwesen erträglich, solange er sich damit begnügte, Soldat und Polizist zu sein; heute aber ist der Staat alles: Bankier, Wucherer, Spielhöllenbesitzer, Schiffer, Kuppler, Versicherungsagent, Briefträger, Eisenbahner, Unternehmer, Lehrer, Professor, Tabakverkäufer und unzähliges anderes mehr, außer seinen früheren Beschäftigungen als Polizist, Richter, Gefängniswärter und Steuereintreiber. Der Staat, dieser Moloch mit den schrecklichen Zügen, sieht heute alles, tut alles, kontrolliert alles und richtet alles zugrunde. Jede Staatsfunktion ist ein Unglück. Ein Unglück die Staatskunst, die Staatsschifffahrt, die staatliche Lebensmittelfürsorge – und die Litanei könnte bis ins Unendliche fortgehen … Wenn die Menschen nur eine blasse Ahnung von dem Abgrund hätten, auf den sie zugehen, so würde die Zahl der Selbstmorde wachsen: wir aber gehen der vollständigen Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit entgegen. Der Staat ist jene furchtbare Maschine, die lebendige Menschen verschluckt und sie als tote Ziffern wieder ausspuckt. Das menschliche Leben hat keine Geheimnisse mehr, keine Intimität, weder im Materiellen noch im Geistigen; alle Ecken werden durchschnüffelt, alle Bewegungen gemessen, jeder ist in sein Fach eingesperrt und nummeriert wie im Zuchthaus.»[73]
Das wurde geschrieben wenige Jahre vor dem «Marsch auf Rom». Seine neueste Offenbarung ist Mussolini also ziemlich rasch gekommen, wie so vieles andere. In der Tat trat die sogenannte Staatsauffassung des Faschismus erst in die Erscheinung, nachdem der Duce zur Macht gelangt war. Bis dahin schillerte die faschistische Bewegung in allen Farben des Regenbogens, wie in seiner ersten Phase in Deutschland der Nationalsozialismus. Sie hatte überhaupt kein einheitliches Gepräge. Ihre Ideologie war ein buntes Gemisch geistiger Bestandteile aus allen möglichen Ideenrichtungen. Was ihr Gehalt gab, war die Brutalität ihrer Methoden, ihr rücksichtsloses Draufgängertum, das schon deshalb keine andere Meinung achtete, weil es selber keine zu vertreten hatte. Was dem Staate zum vollendeten Zuchthaus bisher noch gefehlt hatte, das hat ihm die faschistische Diktatur bis zum Überfluß gegeben. Der liberale Aufschrei Mussolinis verstummte sofort, als der Diktator die staatlichen Machtmittel fest in seinen Händen wußte. Hält man sich den raschen Gesinnungswechsel Mussolinis über die Bedeutung des Staates vor Augen, so erinnert man sich unwillkürlich an einen Ausspruch des jungen Marx:
«Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen. Jede Art der Freiheit hat daher immer existiert, nur einmal als besonderes Vorrecht, das andere Mal als allgemeines Recht.»
In der Tat hatte Mussolini aus der Freiheit ein Vorrecht für sich gemacht und gelangte damit zur brutalsten Unterdrückung aller anderen; denn eine Freiheit, welche die Verantwortung des Menschen seinen Mitmenschen gegenüber durch ein geistloses Machtgebot zu ersetzen trachtet, ist schnöde Willkür, Verleugnung jeder Gerechtigkeit und alles Menschentums. Aber auch der Despotismus verlangt eine Rechtfertigung dem Volke gegenüber, das er vergewaltigt. Aus dieser Notwendigkeit wurde der neue Staatsbegriff des Faschismus geboren.
Auf dem 1931 in Berlin tagenden «Internationalen Hegelkongreß» entwickelte Giovanni Gentile, der Staatsphilosoph des faschistischen Italien, seine Auffassung vom Wesen des Staates, die in der Vorstellung vom sogenannten «Totalitätsstaat» gipfelte. Gentile bezeichnete Hegel als den ersten und wirklichen Begründer des Staatsbegriffes und verglich seine Staatstheorie mit der auf dem Naturrecht und dem gegenseitigen Vertrag beruhenden liberalen Auffassung vom Staate. Der Staat – so führte er aus – ist für diese Auffassung nur die Grenze, an der sich die natürliche und unmittelbare Freiheit des Einzelwesens bescheiden soll, damit überhaupt so etwas wie ein soziales Zusammenleben möglich werde. Für diese Lehre bedeutet also der Staat nur ein Mittel, um den in seinen natürlichen Ursprüngen unhaltbaren Zustand der Menschheit zu bessern, sie ist also etwas Negatives, eine Tugend, die aus der Not geboren wurde. Hegel hat diese jahrhundertealte Lehre gestürzt. Er als erster betrachtete den Staat als die höchste Form des objektiven Geistes, er als erster verstand, daß nur im Staate das wahre ethische Selbstbewußtsein verwirklicht wird. – Allein Gentile begnügte sich nicht mit dieser Würdigung von Hegels Staatsauffassung, sondern suchte diese noch zu überbieten. Er rügte an Hegel, daß er den Staat zwar als die höchste Form des objektiven Geistes betrachtete, aber über diesen noch die Sphäre des absoluten Geistes setzte, so daß Kunst, Religion und Philosophie, die nach Hegel dem absoluten geistigen Reich angehören, mit dem Staate in gewisse Widersprüche treten müßten. Eine moderne Staatstheorie, meinte Gentile, sollte diese Widersprüche verarbeiten, und zwar dergestalt, daß dem Staate auch die Werte der Kunst, Religion und Philosophie eigentümlich werden. Nur dann könne der Staat als die höchste Form des menschlichen Geistes überhaupt gedacht werden, der nicht in der Gesondertheit beharrt, sondern sich auf den allgemeinen und ewigen Willen, auf die höchste Allgemeinheit bezieht.[74]
Es ist klar, wohin die Sehnsucht des faschistischen Staatsphilosophen zielte: War für Hegel der Staat der «Gott auf Erden», so möchte Gentile ihm am liebsten den Platz des ewigen und einzigen Gottes einräumen, der keine anderen Götter neben und über sich duldet und restlos über alle Gebiete des menschlichen Geistes und aller menschlichen Betätigung gebietet. Es ist dies das letzte Wort einer politischen Ideenentwicklung, die in ihrer abstrakten Verstiegenheit alles Menschentum aus dem Auge verliert und für die das Einzelwesen nur noch insofern in Betracht kommt, als man es dem nimmersatten Moloch als Opfergabe in die glühenden Arme wirft. Der moderne Nationalismus ist nur noch Wille zum Staat um jeden Preis, völliges Aufgehen des Menschen in den höheren Zwecken der Macht. Dieses ist gerade das Bezeichnende: der Nationalismus von heute entspringt weder der Liebe zum eigenen Lande noch zur eigenen Nation; er wurzelt vielmehr in den ehrgeizigen Plänen einer diktaturlüsternen Minderheit, die entschlossen ist, dem Volke eine bestimmte Staatsform aufzuzwingen, auch wenn diese dem Willen der Mehrheit durchaus widerstrebt. Der blinde Glaube an die Wunderkraft der nationalen Diktatur soll dem Menschen die Liebe zur Heimat, den Sinn für die geistige Kultur seiner Zeit ersetzen; die Liebe zum Mitmenschen wird zermalmt an der Größe des Staates, dem die Menschen als Futter dienen müssen.
Hier ist der Unterschied zwischen dem Nationalismus einer vergangenen Zeit, der in Männern wie Mazzini und Garibaldi seine Träger fand, und den ausgesprochen gegenrevolutionären Bestrebungen des modernen Faschismus, der auch heute noch lange nicht überwunden ist. – In seinem berühmten Manifest vom 6. Juni 1862 bekämpfte Mazzini die Regierung Viktor Emanuels und klagte sie des Verrates und der konterrevolutionären Bestrebungen gegen die Einheit Italiens an, wobei er den Unterschied zwischen der Nation und dem bestehenden Staate deutlich hervorhob. Sein Losungswort «Gott und das Volk» – wie immer man darüber denken mag – sollte der Welt verkünden, daß die Ideen, die er verfolgte, aus dem Volke stammen und von diesem gebilligt werden. Auch die Lehre Mazzinis trug zweifellos die Keime einer neuen Form menschlicher Sklaverei in sich; aber er handelte in gutem Glauben und konnte die geschichtlichen Fernwirkungen seiner national-demokratischen Bestrebungen nicht voraussehen. Wie ehrlich er diesen ergeben war, zeigt sich am deutlichsten in dem Gegensatze zwischen ihm und Cavour, der die machtpolitische Bedeutung des Nationalismus wohl erkannt hatte und gerade aus diesem Grunde den «politischen Romantizismus» Mazzinis grundsätzlich ablehnte, weil dieser – wie Cavour sagte – «vor lauter Freiheitsbeteuerungen den Staat nicht sah».
Fest steht, daß die Patrioten jener Zeit zwischen dem Staate und den nationalen Bestrebungen des Volkes einen deutlichen Abstand einhielten. Diese Stellung entsprang zweifellos einer falschen Deutung der geschichtlichen Tatsachen, und doch ist es gerade dieser Trugschluß, der uns die Männer des «Jungen Europa» menschlich näherbringt, denn keiner wird ihre aufrichtige Liebe zum Volke in Abrede stellen. Dem Nationalismus von heute ist eine solche Liebe völlig fremd, und wenn seine Träger um so häufiger davon sprechen, so fühlt man unwillkürlich den falschen Klang und merkt, daß kein inneres Empfinden dahintersteckt. Der Nationalismus von heute schwört nur auf den Staat und brandmarkt die eigenen Volksgenossen als Landesverräter, wenn sie sich den politischen Zielen der nationalen Diktatur widersetzen oder ihren Plänen auch nur ablehnend gegenüberstehen.
Der Einfluß liberaler Ideengänge im vergangenen Jahrhundert hatte immerhin bewirkt, daß sogar konservativ eingestellte Elemente zu der Überzeugung gelangten, daß der Staat des Bürgers wegen da sei. Der Faschismus aber verkündete mit brutaler Offenherzigkeit, daß der Zweck des Einzelwesens sich darin erschöpfe, vom Staate verbraucht zu werden. – «Alles für den Staat; nichts gegen den Staat!» wie Mussolini es faßte: dies ist das letzte Wort einer nationalen Metaphysik, die in faschistischen Bestrebungen der Gegenwart eine erschreckend greifbare Gestalt angenommen hat. War dies schon immer der verborgene Sinn aller nationalistischen Theorien, so wurde es nunmehr ihr ausgesprochenes Ziel. Dieses Ziel klar umrissen zu haben, ist das einzige Verdienst ihrer heutigen Vertreter, die in Italien und besonders in Deutschland von den Trägern der kapitalistischen Wirtschaft nur deshalb so heiß umschwärmt und freigebig unterstützt wurden, weil sie dem neuen Monopolkapitalismus so weit entgegenkamen und dessen Pläne für die Errichtung eines industriellen Hörigkeitssystems nach Kräften fördern halfen.
Denn zusammen mit den Grundsätzen des politischen Liberalismus sollen auch die Ideengänge des wirtschaftlichen Liberalismus außer Kurs gesetzt werden. Wie der politische Faschismus dem Menschen heute die neue Heilsbotschaft beizubringen versucht, daß er nur insofern eine Lebensberechtigung beanspruchen könne, als er dem Staat als Betriebsstoff diene, so bemühte sich der moderne Wirtschaftsfaschismus, der Welt darzutun, daß die Wirtschaft nicht des Menschen wegen existiere, sondern daß der Mensch der Wirtschaft halber dar sei und lediglich dem Zweck diene, von dieser vernutzt zu werden. Wenn der Faschismus gerade in Deutschland die furchtbarsten und unmenschlichsten Formen angenommen hat, so ist dies nicht zum wenigsten darauf zurückzuführen, daß die barbarischen Gedankengänge deutscher Wirtschaftstheoretiker und fahrender Industrialisten ihm sozusagen seine Wege vorgedacht haben. Deutsche Wirtschaftsführer von Weltruf, wie Hugo Stinnes, Fritz Thyssen, Ernst von Borsig und manche andere haben durch die brutale Offenherzigkeit ihrer Gesinnung immer wieder den Beweis erbracht, in welche Abgründe kalter Menschenverachtung der menschliche Geist sich verirren kann, wenn ihm jedes soziale Gefühl abhanden gekommen ist und er mit lebendigen Menschen bloß noch wie mit toten Ziffern rechnet. Und in der deutschen Gelehrtenwelt fanden sich stets «vorurteilslose Geister», die bereit waren, den ungeheuerlichsten und menschenfeindlichsten Theorien eine «wissenschaftliche Grundlage» zu geben.
So erklärte Professor Karl Schreber von der Technischen Hochschule in Aachen, daß für den modernen Arbeiter die Lebenshaltung des vorgeschichtlichen Neandertalmenschen durchaus angemessen sei und daß für ihn eine aufsteigende Entwicklungsmöglichkeit überhaupt nicht in Betracht komme. In ähnlichen Gedankengängen bewegte sich Professor Ernst Horneffer von der Universität in Gießen, der auf den Tagungen des deutschen Unternehmertums häufig wissenschaftliche Gastrollen gab und auf einer dieser Zusammenkünfte folgendes ausführte:
«Die Gefahr der sozialen Bewegung kann allein dadurch gebrochen werden, daß eine Teilung der Massen stattfindet. Denn der Tisch des Lebens ist bis auf den letzten Platz besetzt, und darum kann die Wirtschaft ihren Angestellten niemals mehr als die nackte Existenz gewähren. Das ist ein unumstößliches Naturgesetz. Darum ist auch jede Sozialpolitik eine namenlose Dummheit.»
Herr Horneffer hat seine menschenfreundliche Lehre später in einer besonderen Schrift, Der Sozialismus und der Todeskampf der deutschen Wirtschaft, grundsätzlich klargelegt und gelangte dabei zu folgenden Schlüssen:
«Ich behaupte, daß sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiter grundsätzlich, im wesentlichen, im großen und ganzen überhaupt nicht ändern läßt, daß sich die Arbeiter mit dieser ihrer wirtschaftlichen Lage, d. h. mit einem Lohnsatz, der nur gerade ihr Leben fristet, mit dem sie nur die allernotwendigsten, dringlichsten, unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse decken können, ein für allemal abfinden müssen, daß eine grundsätzliche Änderung ihrer wirtschaftlichen Stellung, eine Emporhebung auf einen wesentlichen anderen Stand der wirtschaftlichen Bedingungen nie und nimmer geschehen kann, daß dieser Wunsch für alle Zeit unerfüllbar ist.»
Um dem Einwand zu begegnen, daß es unter diesen Umständen leicht geschehen könnte, daß der Lohn sogar zur Befriedigung der allernotwendigsten Bedürfnisse nicht mehr ausreiche, führte der gelehrte Professor mit beneidenswerter Seelenruhe aus, daß in diesem Falle die öffentliche Mildtätigkeit nachhelfen, und wenn diese nicht ausreiche, der Staat als Träger des sittlichen Volksgeistes dieser zur Seite stehen müsse. – Dr. F. Giese von der Technischen Hochschule in Stuttgart, der sich für die Rationalisierung der Wirtschaft nach «wissenschaftlichen Methoden» besonders stark ins Zeug legte, ging über die frühzeitige Ausschaltung des heutigen Arbeiters aus seinem Berufe mit den dürren Worten hinweg:
«Die Betriebsleitung kann aber darin ein einfaches biologisches Gesetz erblicken, das heute überall die Leistungsfähigkeit des Menschen im Konkurrenzkampf in früheren Jahren zum Abschluß kommen läßt. Das Färben der Haare ist in Amerika üblich; aber wir verkennen darin nicht eine naturgemäße Entwicklung, gegenüber der Mitleid und Geduld vielleicht die schlechtesten Verfahren einer Menschenbehandlungstechnik im Betrieb wären.»
Das Wort Menschenbehandlungstechnik ist besonders sinnig und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, auf welche Abwege uns der kapitalistische Industrialismus bereits geführt hat. Liest man solche Herzensergüsse wie den obigen, so begreift man erst den tiefen Sinn dessen, was Bakunin über die Aussichten einer Regierung von reinen Wissenschaftlern gesagt hat. Die Folgen eines solchen Versuches wären in der Tat unausdenkbar.
Daß eine ebenso geistlose wie brutale Gemütsathletik sich heute öffentlich als wissenschaftliche Erkenntnis breitmachen kann, ist ein Beweis für den asozialen Geist einer Zeit, die durch ein bis auf die Spitze getriebenes System der Massenausbeutung und durch ihre blinde Staatsgläubigkeit alle natürlichen Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen systematisch unterbunden und das Einzelwesen gewaltsam aus dem Kreise einer Gemeinschaft gerissen hat, mit der es innerlich verwurzelt war. Denn die Behauptung des Faschismus, daß der Liberalismus und das in ihm verkörperte Freiheitsbedürfnis des Menschen die Gesellschaft atomisiert und in ihre einzelnen Bestandteile aufgelöst habe, während der Staat die menschlichen Gruppierungen sozusagen mit einem schützenden Rahmen umgab und dadurch verhinderte, daß das Gemeinwesen auseinanderfiel, ist eitler Trug und beruht im besten Falle auf einer groben Selbsttäuschung.
Nicht das Freiheitsbedürfnis hat die Gesellschaft atomisiert und im Menschen asoziale Instinkte wachgerufen, sondern die empörende Ungleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen und vor allem der Staat, der den Monopolismus großzüchtete und dadurch wie ein eiterndes Krebsgeschwür das feine Zellengewebe der gesellschaftlichen Beziehungen zerstörte. Wäre der Gesellschaftstrieb des Menschen kein natürliches Bedürfnis, das er bereits auf der Schwelle des Menschentums als Erbe grauer Ahnen empfangen und seitdem unausgesetzt entwickelt und erweitert hat, so wäre auch der Staat nicht imstande gewesen, die Menschen zu einem engeren Verbände zusammenzuführen. Denn man schafft keine Gemeinschaft, indem man Elemente gewaltsam zusammenkettet, die einander grundsätzlich widerstreben. Gewiß kann man den Menschen zwingen, gewisse Pflichten zu erfüllen, solange man die notwendigen Machtmittel dazu hat, aber man wird sie nie dazu bringen, das Erzwungene mit Liebe und aus innerem Bedürfnis zu vollbringen. Es gibt eben Dinge, die kein Staat erzwingen kann, und wäre seine Macht noch so groß – dazu gehören vor allen anderen das Gefühl der sozialen Verbundenheit und die inneren Beziehungen von Mensch zu Mensch.
Zwang bindet nicht, Zwang scheidet die Menschen nur, denn es fehlt ihm der innere Antrieb aller sozialen Bindungen: der Geist, der die Dinge erkennt, und die Seele, welche die Gefühle des Mitmenschen erfaßt, weil sie sich mit ihm verwandt fühlt. Indem man die Menschen demselben Zwange unterwirft, bringt man sie einander nicht näher; im Gegenteil, man schafft nur Entfremdung zwischen ihnen und züchtet die Triebe des Eigennutzes und der Absonderung. Soziale Bindungen haben nur dann Bestand und erfüllen ihren Zweck bis ins tiefste, wenn sie auf Freiwilligkeit beruhen und den eigenen Bedürfnissen der Menschen entspringen. Nur unter solchen Voraussetzungen ist ein Verhältnis möglich, wo die soziale Verbundenheit und die persönliche Freiheit des Einzelwesens so innig miteinander verwachsen sind, daß man sie beide nicht mehr als besondere Wesenheiten scheiden kann.
Wie in jeder Offenbarungsreligion das Einzelwesen darauf angewiesen ist, das versprochene Himmelreich für sich selbst zu erwerben, ohne sich um die Erlösung der anderen groß zu kümmern, da es mit der eigenen genug zu tun hat, so versucht auch der Mensch innerhalb des Staates sich mit diesem abzufinden, so gut er kann, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wieweit dies den anderen gelingen mag oder nicht. Es ist der Staat, welcher das soziale Gefühl des Menschen grundsätzlich untergräbt, indem er in allen Dingen als Vermittler auftritt und versucht, jeden auf dieselbe Norm zu bringen, die für seine Träger das Maß aller Dinge ist. Je leichter der Staat sich über alle persönlichen Bedürfnisse seiner Bürger hinwegsetzen kann, je tiefer und rücksichtsloser er in ihr Eigenleben eindringt und ihre privaten Rechte mißachtet, desto erfolgreicher erstickt er in ihnen das Gefühl der sozialen Verbundenheit, desto leichter fällt es ihm, die Gesellschaft in ihre einzelnen Teile aufzulösen und sie als totes Zubehör dem politischen Hebelwerk der Maschine einzugliedern.
Die Technik ist heute dabei, den mechanischen Menschen zu konstruieren, und man hat bereits ganz artige Ergebnisse auf diesem Gebiete erzielt. Schon gibt es Automaten in Menschengestalt, die sich auf eisernen Gliedern hin und her bewegen, gewisse Dienste verrichten, richtig Geld herausgeben und einiges mehr tun. Es liegt etwas Unheimliches in dieser Erfindung, die berechnetes menschliches Denken vortäuscht und doch nur ein maskiertes Uhrwerk ist, das widerspruchslos den Willen seines Herrn erfüllt. Doch es hat den Anschein, daß der mechanische Mensch nicht bloß ein bizarrer Einfall der modernen Technik ist. Wenn die Völker des europäisch-amerikanischen Kulturkreises sich nicht in absehbarer Zeit zu ihren besten Überlieferungen zurückfinden, dann liegt allerdings die Gefahr nahe, daß wir der Ära des mechanischen Menschen mit Riesenschritten entgegenmarschieren.
Der moderne Massenmensch, dieser entwurzelte Weggenosse der modernen Technik im Zeitalter des Kapitalismus, der fast nur noch von äußeren Antrieben beherrscht und von allen Stimmungen des Augenblicks auf- und abgewirbelt wird, da ihm die Seele einschrumpfte und das innere Gleichgewicht verlorenging, das sich nur an einer wahren Gemeinschaft aufrichten kann, kommt dem mechanischen Menschen schon bedenklich nahe. Der kapitalistische Großbetrieb, die Arbeitsteilung, die heute im Taylorsystem und in der sogenannten Rationalisierung der Industrie ihre höchsten Triumphe feiert, die öde Kasernendisziplin, die dem wehrpflichtigen Bürger methodisch eingedrillt wird, verbunden mit der modernen Bildungsdressur und allem, was damit zusammenhängt, sind Erscheinungen, deren Tragweite man nicht unterschätzen darf, wenn man sich über die inneren Zusammenhänge des heutigen Zustandes klarwerden will. Der moderne Nationalismus aber mit seiner ausgesprochenen Freiheitsfeindlichkeit und seiner geistlosen, bis zum Extrem entwickelten militaristischen Einstellung ist nur die Brücke zu einem gehirn- und seelenlosen Automatentum, das allerdings zu dem bereits angekündigten «Untergang des Abendlandes» führen müßte, wenn ihm nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Vorläufig aber glauben wir noch nicht an eine so düstere Zukunft; wir sind vielmehr fest davon überzeugt, daß die Menschheit auch heute noch eine Menge verborgener Kräfte und schöpferischer Triebe in ihrem Schöße trägt, die sie befähigt, die unheilvolle Krise, welche die gesamte menschliche Kultur bedroht, siegreich zu überwinden.
Was uns heute von allen Seiten umringt, ist einem wüsten Chaos vergleichbar, das alle Keime des gesellschaftlichen Niederganges zur vollen Reife entfaltete, und doch gibt es in diesem tollen Wirbel des Geschehens auch zahlreiche Ansätze eines neuen Werdens, das sich abseits von den Wegen der Parteien und des politischen Lebens vollzieht und hoffnungsfreudig in die Zukunft weist. Diese jungen Ansätze zu fördern, zu pflegen, zu stärken, damit sie nicht vor der Zeit zugrunde gehen, ist heute die vornehmste Aufgabe jedes ringenden Menschen, der von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände überzeugt ist, doch nicht in müder Ergebenheit dem Schicksal seinen Lauf läßt, sondern nach neuen Gestaden Ausschau hält, welche der Menschheit einen neuen Aufstieg ihrer geistigen und gesellschaftlichen Kultur verheißen. Ein solcher Aufstieg aber kann sich nur im Zeichen der Freiheit und der sozialen Verbundenheit durchsetzen, denn nur aus diesen kann jene tiefste und reinste Sehnsucht nach einem Zustand sozialer Gerechtigkeit emporsprießen, die im solidarischen Zusammenwirken der Menschen ihren Ausdruck findet und einer neuen Gemeinschaft die Wege ebnet. Das wissen die Träger der faschistischen und nationalistischen Reaktion ganz genau; deshalb hassen sie die Freiheit als die Sünde gegen den heiligen Geist der Nation, der nur ihr eigener Ungeist ist.
«Die Menschen sind der Freiheit müde – sagte Mussolini –, sie haben mit ihr eine Orgie gefeiert. Die Freiheit ist heute nicht mehr die keusche und strenge Jungfrau, für welche die Generationen der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts kämpften und starben. Für die unternehmende, unruhige, rauhe Jugend, welche sich in der Morgendämmerung der neuen Geschichte zeigt, gibt es andere Werte, die einen viel größeren Zauber ausüben: Ordnung, Hierarchie, Disziplin. Man muß einmal für allemal wissen, daß der Faschismus keine Götter kennt, keine Fetische anbetet. Über den mehr oder weniger verwesten Körper der Göttin Freiheit ist er bereits hinwegmarschiert und wird, wenn nötig, zurückkehren, um noch einmal darüber hinwegzumarschieren … Die Tatsachen bedeuten mehr als das Buch, die Erfahrungen mehr als die Doktrin, die großen Erfahrungen des Nachkrieges, jene, die jetzt vor unseren Augen sich vollziehen, zeigen die Niederlage des Liberalismus. In Rußland und in Italien zeigt es sich, daß man außer, über und gegen die ganze liberale Ideologie regieren kann. Der Kommunismus und der Faschismus stehen außerhalb des Liberalismus.»[75]
Das ist deutlich, wenn auch die Schlüsse, die er aus dieser neuesten Erkenntnis zog, sehr anfechtbar sind. Daß man «gegen die ganze liberale Ideologie» regieren kann, wußte man lange vor ihm, denn jede Gewaltherrschaft hat sich diesen Grundsatz zu eigen gemacht. Die Heilige Allianz wurde nur zu dem Zwecke gegründet, um die liberalen Ideen von 1789, die in der ersten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte niedergelegt waren, in Europa auszumerzen, und Metternich ließ kein Mittel unversucht, um diese stumme Sehnsucht der Despoten in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber er hatte mit seinen menschenfeindlichen Versuchen auf die Dauer ebensowenig Erfolg wie vor ihm Napoleon, der sich über die Freiheit ganz ähnlich aussprach wie Mussolini und wie ein Besessener daraufhinarbeitete, jede menschliche Regung, jeden Pulsschlag des gesellschaftlichen Lebens auf den Rhythmus seiner riesigen Staatsmaschine einzustellen.
Aber auch das stolze Wort vom Faschismus, der «keine Götzen kennt, keine Fetische anbetet», verliert jede Bedeutung, denn der Faschismus hat nur deshalb alle Götzen von ihren Säulen gestürzt, alle Fetische auf den Kehricht geworfen, um an ihre Stelle einen riesigen Moloch zu setzen, der die Seele des Menschen frißt und seinen Geist unter ein kaudinisches Joch beugt: Der Staat alles, der Mensch nichts! Der Lebenszweck des Bürgers, vom Staate verbraucht, «von der Maschine verschlungen und als tote Ziffer wieder ausgespuckt zu werden». – Denn darin erschöpft sich die ganze Aufgabe des sogenannten «Totalitätsstaates», den man in Italien und Deutschland aufgerichtet hat. Um dieses Ziel zu erreichen, vergewaltigte man den Geist, schlug man jedes menschliche Gefühl in Ketten und zertrat mit schamloser Brutalität die junge Saat, aus der die Zukunft Wachsen sollte. Nicht nur die Arbeiterbewegung aller Richtungen wurde das Opfer der faschistischen Diktatur; jeder, der es wagte, gegen den Stachel zu locken oder der sich den neuen Gewalthabern gegenüber auch nur neutral verhalten wollte, mußte am eigenen Leibe erfahren, wie der Faschismus «über den Körper der Freiheit hinwegmarschierte».
Kunst, Theater, Wissenschaft, Literatur und Philosophie gerieten unter die schmachvolle Vormundschaft eines Regimes, dessen geistlose Träger vor keinem Verbrechen zurückschreckten, um zur Macht zu gelangen und sich in ihrer neuen Stellung zu behaupten. Die Zahl der Opfer, die in jenen blutigen Tagen der faschistischen Machtergreifung und später in Italien und Deutschland von entmenschten Gesellen hingemordet wurden, geht in die Tausende. Viele Tausende unschuldiger Menschen wurden aus ihrer Heimat verjagt und ins Exil gehetzt, unter ihnen eine lange Reihe hervorragender Gelehrten und Künstler von Weltruf, die jeder anderen Nation zur Zierde gereicht hätten. Barbarische Horden drangen in die Wohnungen friedlicher Bürger, plünderten die Privatbüchereien und verbrannten Hunderttausende der besten Werke auf den öffentlichen Plätzen der Städte. Andere Tausende wurden dem Schöße ihrer Familien entrissen und in die Konzentrationslager geschleppt, wo ihre menschliche Würde täglich mit Füßen getreten wurde und viele von feigen Henkersknechten langsam zu Tode gequält oder zum Selbstmord getrieben wurden.
In Deutschland nahm dieser Wahnsinn besonders bösartige Formen an durch den künstlich großgezüchteten Rassenfanatismus, der sich hauptsächlich gegen die jüdischen Bürger des Landes richtete. Die Barbarei längst vergangener Jahrhunderte war plötzlich zu neuem Leben erwacht. Eine wahre Sintflut gemeiner Hetzschriften, die an die niedrigsten Instinkte des Menschen appellierte, ging auf Deutschland nieder und verunreinigte alle Kanäle der öffentlichen Meinung.[76] – Gebiete, welche sogar der wildeste Despotismus bisher nie berührt hatte, wie zum Beispiel die Beziehungen der Geschlechter, wurden in Deutschland der Aufsicht des Staates unterstellt, der besondere Rassenämter einsetzte, um das Volk vor «Rassenschande» zu bewahren und Ehen zwischen Juden, Farbigen und sogenannten Ariern als Verbrechen zu brandmarken und gesetzlich zu bestrafen; womit die sexuelle Ethik glücklich auf dem Niveau der Viehzucht angelangt war.
Man hat den Faschismus als Beginn einer antiliberalen Epoche in der Geschichte Europas bezeichnet, die aus den Massen selbst hervorging und dafür Zeugnis ablege, daß die «Zeit des Individuums» vorüber sei. In der Wirklichkeit aber standen hinter dieser Bewegung nur die machtpolitischen Bestrebungen einer kleinen Minderheit, die es verstanden hat, eine außergewöhnlich günstige Lage für ihre Sonderzwecke auszunutzen. Auch in diesem Falle bewahrheitet sich das Wort des jungen Generals Bonaparte: «Man gebe dem Volk ein Spielzeug, es wird sich die Zeit damit vertreiben und sich leiten lassen, vorausgesetzt, daß man ihm das letzte Ziel geschickt zu verbergen weiß.» – Und um dieses letzte Ziel geschickt zu verbergen, gibt es kein besseres Mittel, als die Masse von einer Seite zu fassen, die ihr den Glauben suggeriert, daß sie das auserwählte Werkzeug einer höheren Macht ist und einem heiligen Zwecke dient, der ihrem Leben erst Inhalt und Farbe gibt. In dieser Verwurzelung der faschistischen Bewegung in dem Anbetungsbedürfnis der Massen liegt ihre eigentliche Stärke. Denn auch der Faschismus ist nur eine primitive religiöse Massenbewegung im politischen Gewände.
Der französische Professor Verne von der medizinischen Fakultät an der Sorbonne, der als Delegierter an dem Internationalen Kongreß zur Förderung der Wissenschaften in Bologna (1927) teilnahm, schilderte in der französischen Zeitung Le Quotidien die seltsamen Eindrücke, die er in Italien empfangen hatte:
«In Bologna hatten wir den Eindruck, in eine Stadt des Taumels gekommen zu sein. Die Mauern der Stadt waren vollständig mit Plakaten bedeckt, die ihr einen mystischen Charakter verliehen; Dio ce l’ha dato, guai a chi lo tocca! (Gott hat ihn uns geschickt, wehe dem, der ihn antastet!) Das Bildnis des Duce war in allen Schaufenstern zu sehen. Das Zeichen des Fascio, ein leuchtendes Zeichen, war auf allen Monumenten und sogar auf dem berühmten Turm von Bologna aufgerichtet»
Diese Worte des französischen Gelehrten spiegeln den Geist einer Bewegung wider, die in dem primitiven Anbetungsbedürfnis der Massen ihre stärkste Stütze findet und die nur deshalb breite Schichten der Bevölkerung so mächtig erfassen konnte, da sie ihrer Wundergläubigkeit am weitesten entgegenkam, nachdem sie sich von allen anderen enttäuscht fühlten.
Dieselbe Erscheinung konnte man in Deutschland beobachten, wo der Nationalsozialismus in überraschend kurzer Zeit zu einer riesigen Bewegung angeschwollen war und Millionen Menschen in einen blinden Taumel versetzte, die mit gläubiger Inbrunst das Kommen des Dritten Reiches erhofften und von einem bis vor wenigen Jahren völlig unbekannten Manne, der bisher nicht den geringsten Beweis irgendeiner Befähigung erbracht hatte, das Ende aller Not erwarteten. Auch diese Bewegung war letzten Endes nur ein Werkzeug für die machtpolitischen Bestrebungen einer Minderheit, die es verstand, ihr «letztes Ziel klug zu verbergen», wie der listige Bonaparte sich auszudrücken beliebte.
Aber die Bewegung selbst trug alle Zeichen eines religiösen Massenwahns, der von ihren Hintermännern bewußt gefördert wurde, um den Gegner einzuschüchtern und aus dem Felde zu schlagen. Sogar ein so konservativ eingestelltes Blatt wie die Tägliche Rundschau charakterisierte einige Zeit vor Hitlers Machtergreifung die religiöse Besessenheit der nationalsozialistischen Bewegung mit den treffenden Worten:
«Was jedoch den Grad der Verehrung angeht, dürfte Hitler den Papst weit hinter sich lassen. Da lese man nur seine Reichszeitung, den Völkischen Beobachter. Tag für Tag huldigen ihm Zehntausende. Kindliche Unschuld überschüttet ihn mit Blumen. Der Himmel spendet ‹Hitlerwetter›. Sein Flugzeug durchtrotzt gefährliche Elemente. Jede Nummer bringt den Führer in immer neuen Stellungen im Lichtbild. Selig, wer ihm ins Auge sah! In seinem Namen wünscht man dem einzelnen und Deutschland Glück: ‹Heil Hitler!› Säuglinge begnadet man mit seinem verheißungsvollen Namen. Ja, an Hausaltären mit seinem Bild suchen zarte Seelen Aufrichtung. Und in seinem Blatte liest man bereits von Unserem Obersten Führer, mit bewußter Großschreibung dieses auf Hitler bezogenen Eigenschaftswortes. Das alles wäre nicht möglich, wenn Hitler diese Vergötterung nicht förderte … Mit welch religiöser Inbrunst seine Massen an seine Sendung zu seinem kommenden Reich glauben, zeigt folgende in den Hitler-Mädchengruppen verbreitete Umdichtung des Unservaters: Adolf Hitler, du bist unser großer Führer, Dein Name macht die Feinde erzittern, Dein Drittes Reich komme, Dein Wille sei allein Gesetz auf Erden. Laß uns täglich Deine Stimme hören, und befiehl uns durch Deine Führer, denen wir gehorchen wollen unter Einsatz unseres Lebens. Das geloben wir! Heil Hitler!»
Man könnte über diese blinde Glaubensbrunst, die in ihrer kindlichen Hilflosigkeit fast harmlos anmutet, ruhig hinweggehen. Aber diese scheinbare Harmlosigkeit verschwindet sofort, wenn der Fanatismus der Eiferer den Mächtigen und Machtlüsternen als Werkzeug ihrer geheimen Pläne dienen muß. Dann treibt man den Glaubenswahn der Unmündigen, der aus den verborgenen Quellen des religiösen Empfindens gespeist wird, bis zur wildesten Besessenheit und schmiedet daraus eine Waffe von unwiderstehlicher Gewalt, die jedem Unheil den Weg bahnt. Man sage nicht, daß die furchtbare materielle Not unserer Tage für diesen Massenwahn allein verantwortlich sei, indem sie den Menschen, die vom Elend langer Jahre zermürbt sind, die Überlegung raubt und sie jedem vertrauen läßt, der ihre nagende Sehnsucht durch anreizende Wunschvorstellungen nährt. Die Kriegsbesessenheit von 1914, welche die ganze Welt in einen wahnwitzigen Taumel versetzte und die Menschen allen Gründen der Vernunft unzugänglich machte, wurde zu einer Zeit entfesselt, als es den Völkern materiell wesentlich besser ging und sie das Gespenst der wirtschaftlichen Unsicherheit noch nicht jederzeit im Nacken fühlten. Das zeigt, daß sich diese Erscheinungen nicht rein Wirtschaftlich erklären lassen und daß im Unterbewußtsein des Menschen verborgene Kräfte vorhanden sind, die sich logisch nicht erfassen lassen. Es ist der religiöse Drang, der auch heute noch im Menschen lebendig ist, wenn auch die Formen des Glaubens sich gewandelt haben. Das «Gott will es!» der Kreuzfahrer würde in Europa heute kaum noch ein Echo auslösen, aber es gibt noch immer Millionen Menschen, die zu allem bereit sind, wenn die Nation es will. Das religiöse Empfinden hat politische Formen angenommen, doch der politische Mensch unserer Tage steht dem Nur-Menschen ebenso feierlich gegenüber wie der Mensch, der vor Jahrhunderten im Banne der kirchlichen Dogmatik stand.
Hier aber liegt die Gefahr. Der absolute Despot vergangener Zeiten mochte sich immerhin auf die Legitimität seines Gottesgnadentums berufen, doch fiel jede seiner Handlungen in ihren Folgen immer wieder auf seine Person zurück, denn vor der Welt mußte sein Name alles Recht und Unrecht decken, da sein Wille als höchstes Gesetz galt. Doch unter dem Deckmantel der Nation läßt sich alles verbergen: die nationale Fahne deckt jedes Unrecht, jede Unmenschlichkeit, jede Lüge, jede Schandtat, jedes Verbrechen. Die kollektive Verantwortlichkeit der Nation erstickt das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelwesens und bringt den Menschen so weit, daß er begangenes Unrecht überhaupt übersieht, ja, dieses ihm sogar als verdienstvolle Tat erscheint, wenn es im Interesse der Nation begangen wird.
«Die Idee der Nation – sagt der indische Dichterphilosoph Tagore – ist eines der wirksamsten Betäubungsmittel, die der Mensch erfunden hat. Unter dem Einfluß seiner Dünste kann ein ganzes Volk sein systematisches Programm krassester Selbstsucht ausführen, ohne sich im geringsten seiner sittlichen Verderbtheit bewußt zu werden – ja, es wird gefährlich gereizt, wenn man es darauf hinweist.»
Tagore nannte die Nation die «organisierte Selbstsucht». Die Bezeichnung ist gut gewählt, nur darf man nie vergessen, daß es sich dabei stets um die organisierte Selbstsucht privilegierter Minderheiten handelt, die sich hinter dem Vorhang der Nation, d. h. hinter der Gläubigkeit der breiten Massen verborgen hält. Man spricht von nationalen Belangen, nationalem Kapital, nationalen Absatzgebieten, nationaler Ehre und nationalem Geiste, doch vergißt man, daß sich hinter alledem nur die eigennützigen Interessen machtlüsterner Politiker und beutelustiger Geschäftsleute versteckt halten, für die die Nation ein bequemes Mittel ist, ihre persönliche Habsucht und ihre machtpolitischen Ränke vor den Augen der Welt zu verschleiern.
Die ungeahnte Entwicklung des kapitalistischen Industrialismus hat die Möglichkeit nationaler Massensuggestionen bis zu einem Grade gefördert, von dem man sich früher nichts träumen ließ. In den heutigen Großstädten und Mittelpunkten der industriellen Betätigung leben Millionen Menschen dicht zusammengedrängt, die durch Presse, Kino, Radio, Erziehung, Partei und hundert andere Mittel seelisch und geistig unausgesetzt in einem bestimmten Sinne gedrillt und um ihr persönliches Eigenleben gebracht werden. In den Betrieben der kapitalistischen Großindustrie ist die Arbeit seelenlos geworden und hat für das Einzelwesen den Charakter der Schöpferfreude verloren. Indem sie zum öden Selbstzweck wurde, hat sie den Menschen zum ewigen Galeerensklaven erniedrigt und ihm das Wertvollste geraubt: die innere Freude am geschaffenen Werk, den Schöpferdrang der Persönlichkeit. Der einzelne fühlt sich selbst bloß noch als unbedeutender Bestandteil eines riesenhaften Mechanismus, in dessen Gleichklang jede persönliche Note erstirbt.
Indem der Mensch sich die Kräfte der Natur Untertan machte, doch im steten Kampfe mit den äußeren Bedingungen vergaß, seinem Handeln einen sittlichen Inhalt zu geben und die Errungenschaften seines Geistes der Gemeinschaft dienstbar zu machen, wurde er selber der Sklave des Apparates, den er geschaffen hatte. Es ist diese stets ungeheure Last der Maschine, die auf uns wuchtet und unser Leben zur Hölle macht. Wir haben unser Menschentum verloren und sind dafür Berufsmenschen, Geschäftsmenschen, Parteimenschen geworden. Man hat uns in die Zwangsjacke der Nation gesteckt, um unsere «völkische Eigenart» zu bewahren, aber unsere Menschlichkeit ist vor die Hunde gegangen, und unsere Beziehungen zu anderen Völkern haben sich in Haß und Mißtrauen verwandelt. Um die Nation zu schützen, opfern wir ihr Jahr für Jahr ungeheuerliche Summen unseres Einkommens, während die Völker immer tiefer im Elend versinken. Jedes Land gleicht einem bewaffneten Lager und verfolgt mit innerer Angst und tödlichem Argwohn jede Bewegung des Nachbarn, ist aber jederzeit bereit, an jeder Kabale gegen diesen mitzuwirken und sich auf seine Kosten zu bereichern. Daraus folgt, daß es stets darauf sehen muß, seine Angelegenheiten Männern anzuvertrauen, die ein weites Gewissen haben, denn nur solche haben die besten Aussichten, sich zu behaupten in dem ewigen Ränkespiel der inneren und äußeren Politik. Das erkannte schon Saint-Simon, wenn er sagte:
«Jedes Volk, das Eroberungen machen will, ist gezwungen, die bösartigsten Leidenschaften in sich zu überspannen, es ist gezwungen, die höchsten Rangstellungen Männern mit gewalttätigem Charakter einzuräumen sowie solchen, die sich am hinterlistigsten zeigen.»[77]
Und zu allem kommt die stete Furcht vor einem Kriege, dessen mutmaßliche Folgen mit jedem Tage unabsehbarer und entsetzlicher werden. Sogar unsere gegenseitigen Verträge und Vergleiche mit anderen Nationen bringen uns keine Erleichterung, denn sie werden in der Regel mit bestimmten Hintergedanken abgeschlossen; ist doch unsere sogenannte nationale Politik vom gefährlichsten Eigennutz getragen und kann schon aus diesem Grunde nie zu einer wirklichen Entspannung oder gar zu einem von allen ersehnten Ausgleich der nationalen Gegensätze führen.
Von der anderen Seite haben wir unser technisches Können bis zu einem Grade entwickelt, der geradezu phantastisch anmutet; doch der Mensch ist dadurch nicht reicher, sondern stets ärmer geworden. Unsere gesamte Wirtschaft ist in einen Zustand fortgesetzter Unsicherheit geraten, und während man in frevelhafter Weise Millionenwerte der Vernichtung preisgibt, um die Preise hochzuhalten, leben in jedem Lande Millionen Menschen im furchtbarsten Elend und gehen schmählich zugrunde in einer Welt des Überflusses und der sogenannten Überproduktion. Die Maschine, die dem Menschen die Arbeit erleichtern sollte, hat sie ihm schwerer gemacht und ihren Erfinder mählich selbst zur Maschine gewandelt, der jede seiner Bewegungen dem stählernen Räder und Hebelwerke anpassen muß. Und wie man die Leistungsfähigkeit des kunstvollen Mechanismus bis ins kleinste berechnet, so berechnet man auch die Muskel- und Nervenkraft des lebendigen Produzenten nach bestimmten wissenschaftlichen Methoden und begreift nicht, will nicht begreifen, daß man ihm damit die Seele raubt und sein Menschentum aufs tiefste schändet. Wir sind immer mehr unter die Herrschaft der Mechanik geraten und opfern lebendiges Menschendasein dem toten Gleichlauf der Maschine, ohne daß den meisten das Ungeheuerliche dieses Beginnens auch nur zum Bewußtsein kommt. Deshalb geht man über diese Dinge vielfach mit einer Gleichgültigkeit und Herzenskälte hinweg, als wenn es sich dabei um tote Gegenstände und nicht um Menschenschicksale handelte.
Und um diesen Zustand der Dinge zu erhalten, stellen wir alle technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften in den Dienst des organisierten Massenmordes, erziehen wir unsere Jugend zu uniformierten Totschlägern, liefern die Völker der geistlosen Tyrannei einer lebensfremden Bürokratie aus, stellen den Menschen von der Wiege bis zum Grabe unter Polizeiaufsicht, errichten überall Gefängnisse und Zuchthäuser und bevölkern jedes Land mit ganzen Armeen von Angebern und Spionen. Muß eine solche Ordnung, aus deren krankem Schöße fortgesetzt brutale Gewalt, Unrecht, Lüge, Verbrechen und moralische Fäulnis wie giftige Keime verheerender Seuchen hervorgehen, allmählich nicht auch den konservativsten Geist davon überzeugen, daß sie zu teuer erkauft ist?
Das Überhandnehmen der Technik auf Kosten der menschlichen Persönlichkeit und besonders die fatalistische Ergebenheit, mit der die große Mehrheit sich mit diesem Zustand abfindet, sind auch die Ursache, weshalb in dem Menschen von heute das Freiheitsbedürfnis weniger rege ist und bei vielen dem Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit das Feld geräumt hat. Diese Erscheinung ist nicht weiter verwunderlich, denn unsere ganze Entwicklung ist heute an einem Punkt angelangt, wo fast jeder Mensch Vorgesetzter oder Untergebener oder auch beides ist. Dadurch ist der Geist der Abhängigkeit gewaltig gestärkt worden, denn der wahrhaft freie Mensch gefällt sich weder in der Rolle des Vorgesetzten noch des Untergebenen und ist vor allem darauf bedacht, seine inneren Werte und persönlichen Fähigkeiten in einer Weise zur Geltung zu bringen, die ihm erlaubt, in allen Dingen ein eigenes Urteil zu haben, das ihn zu selbständigem Handeln befähigt. Die fortgesetzte Bevormundung unseres Tuns und Denkens hat uns schwach und verantwortungslos gemacht. Daher das Geschrei nach dem starken Mann, der aller Not ein Ende machen soll. Dieser Ruf nach dem Diktator ist kein Zeichen der Stärke, sondern ein Beweis der inneren Haltlosigkeit und Schwäche, wenn auch diejenigen, die ihn ausstoßen, sich redlich Mühe geben, recht entschlossen auszusehen. Was der Mensch selbst nicht besitzt, das begehrt er am meisten. Weil man sich selber zu schwach fühlt, setzt man sein Heil an die Stärke des anderen; weil man selber zu feige oder zu eingeschüchtert ist, die eigenen Hände zu regen, um seines Schicksals Schmied zu werden, vertraut man sein Schicksal anderen an. Wie recht hatte Seume, wenn er sagte: «Die Nation, welche nur durch einen einzigen Mann gerettet werden kann oder soll, verdient Peitschenschläge!»
Nein, der Weg zur Gesundung kann nur in der Richtung der Freiheit liegen, denn jeder Diktatur liegt ein bis auf die Spitze getriebenes Abhängigkeitsverhältnis zugrunde, das die Sache der Befreiung niemals fördern kann. Sogar dann, wenn die Diktatur nur als ein Übergangsstadium gedacht ist, um ein gewisses Ziel zu erreichen, drängt die praktische Betätigung ihrer Träger – vorausgesetzt, daß sie überhaupt die ehrliche Absicht hatten, der Sache des Volkes zu dienen, sie immer weiter von ihren ursprünglichen Zielen ab. Nicht bloß deshalb, weil jede provisorische Regierung, wie Proudhon sagte, stets bestrebt ist, permanent zu werden, sondern vor allem deshalb, weil jede Macht in sich unschöpferisch ist und schon aus diesem Grunde direkt zum Mißbrauch anreizt. Man glaubt, die Macht als Mittel zu gebrauchen, doch das Mittel wächst sich bald zum Selbstzweck aus, hinter dem alles andere verschwindet. Gerade weil die Macht unfruchtbar ist und aus sich selbst nichts Schöpferisches gebären kann, ist sie gezwungen, sich die schaffenden Kräfte in der Gesellschaft dienstbar zu machen und sie in ihren Sold zu pressen. Sie muß ein falsches Kleid anlegen, um ihre eigene Schwäche zu verdecken, und dieser Umstand verleitet ihre Träger zu falschen Vorspiegelungen und bewußter Hintergehung. Indem sie bestrebt ist, die Schöpferkraft der Gemeinschaft ihren Sonderzwecken Untertan zu machen, zerstört sie in derselben Zeit die tiefsten Wurzeln dieser Kraft und versandet die Quellen jeder schöpferischen Betätigung, die wohl Befruchtung, aber keinen Zwang erträgt.
Man kann ein Volk nicht befreien, indem man es lediglich einer neuen und größeren Gewalt unterstellt und so den Kreislauf der Blindheit von neuem beginnt. Jede Form der Abhängigkeit führt unvermeidlich zu einem neuen System der Sklaverei, die Diktatur mehr noch als jede andere Regierungsform, da sie jedes abfällige Urteil über die Tätigkeit ihrer Träger gewaltsam unterdrückt und dadurch jede bessere Einsicht von vornherein unterbindet. Jedes Abhängigkeitsverhältnis aber wurzelt im religiösen Bewußtsein des Menschen und lähmt seine schöpferischen Kräfte, die sich nur in der Freiheit ungestört entfalten können. Die ganze menschliche Geschichte war bisher ein steter Kampf zwischen den kulturschaffenden Kräften der Gesellschaft und den Machtbestrebungen bestimmter Kasten, deren Träger dem kulturellen Streben feste Schranken setzten oder sich wenigstens bemühten, dies zu tun. Das Kulturelle gibt dem Menschen das Bewußtsein seiner Menschlichkeit und Schöpferstärke; die Macht aber vertieft in ihm das Gefühl seiner Abhängigkeit und seiner sklavischen Gebundenheit.
Es gilt, den Menschen vom Fluche der Macht, vom Kannibalentum der Ausbeutung zu befreien, um alle schöpferischen Kräfte in ihm zu lösen, die seinem Leben fortgesetzt neuen Inhalt geben können. Die Macht erniedrigt ihn zum toten Bestandteil der Maschine, die ein höherer Wille in Bewegung setzt; die Kultur macht ihn zum Herrn und Gestalter seines eigenen Schicksals und vertieft in ihm das Gefühl der Gemeinschaft, aus dem alles Große geboren wird. Die Erlösung der Menschheit von der organisierten Bevormundung des Staates, aus der engen Gebundenheit der Nation ist der Beginn eines neuen Menschentums, das in der Freiheit seine Flügel wachsen fühlt und in der Gemeinschaft seine Stärke findet. Auch für die Zukunft gilt die milde Weisheit Laotses:
Der Bahn gemäß walten ist Walten ohne Gewalt:
Ausgleichende Rückwirkung richtet in der Gemeinschaft.
Wo Krieg war, wächst Dorn,
und erntelos ist das Jahr.
Der Gute ist und braucht nicht Gewalt:
Ist und rüstet sich nicht mit Glanz;
Ist und brüstet sich nicht mit Ruhm;
Ist und stützt sich nicht auf Tat;
Ist und gründet sich nicht auf Strenge;
Ist und strebt nicht nach Macht.
Höhepunkt deutet Niedergang.
Außer der Bahn ist alles aus der Bahn.
XVI. Die Nation als Gemeinschaft von Sitte, Gewohnheit und gleichen Interessen
Der Begriff der Nation im Wandel der Zeit. Die Nation als Abstammungsgemeinschaft. Die Nation als Interessengemeinschaft. Teilung der Nation in Kasten, Stände und Klassen. Nationalbelange und Klasseninteressen. Das Beispiel des Ruhrkonflikts. Die nationale Politik Poincarés. Die Verhandlungen der deutschen Schwerindustrie mit dem «Erbfeind» gegen die deutsche Arbeiterschaft. Die «Volksgemeinschaft» am Werke. Die Pensionäre der deutschen Republik. Die Nation als Gemeinschaft der geistigen Belange. Religions- und Parteikämpfe. Weltanschauliche Gegensätze. Die Nation als Gemeinschaft der Sitten und Gebräuche. Stadt und Land. Arme und Reiche. Die nationale Überlieferung. Die Zugehörigkeit zur Nation als Folge machtpolitischer Bestrebungen. Nord- und Südamerika. Nation und Gesellschaft.
Die Begriffe Nation und Nationalität haben im Laufe der Zeit manche Wandlung erfahren und besitzen selbst heute noch denselben Doppelsinn wie der Begriff Rasse. Im Mittelalter bezeichnete man die Landsmannschaften der Studenten an den Universitäten als Nationen. So war die berühmte Universität zu Prag in die «vier Nationen» der Bayern, Böhmen, Polen und Sachsen gegliedert. Man sprach auch häufig von einer Nation der Ärzte, der Schmiede, der Rechtsgelehrten usw. Auch Luther machte noch einen deutlichen Unterschied zwischen Volk und Nation und bezeichnete in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation ausschließlich die Träger der politischen Macht, Fürsten, Ritter und Bischöfe, als Nation im Gegensatz zum gewöhnlichen Volke. Dieser Unterschied erhielt sich ziemlich lange, bis im Sprachgebrauch die Grenze zwischen Nation und Volk allmählich zu schwinden begann. Vielfach haftete dem Begriff ein übler Beigeschmack an. So eiferte Ludwig Jahn in seinem Deutschen Volkstum:
«Was aber dann weiter eigentlich das Höchste ist, in Griechenland und auch in Rom dafür galt, ist noch immer bei uns ein Schimpfwort: Volk und Nation. ‹Er ist unter das Volk gegangen›, sagt man von elenden Läuflingen, die von Heer zu Heer um des Handgelds willen ausreißen und in einem Paar Schuh sieben Potentaten dienen. ‹Das ist rechte Nation!›, und der Sprachgebrauch meint Zigeuner, Gaunergesindel, Landstreicher und Schacherjuden.»
Es gab eine Zeit, wo man sich damit begnügte, den Begriff Nation auf eine menschliche Gemeinschaft anzuwenden, deren Glieder am selben Orte geboren wurden, infolgedessen durch gewisse solidarische Beziehungen miteinander verbunden waren. Dieser Auffassung entspricht auch der Sinn des lateinischen Wortes natio am besten, dem der Ausdruck Nation entsprungen ist. Sie ist um so verständlicher, als ihr die Vorstellung der engeren Heimat zugrunde liegt. Allein dieser Begriff entspricht weder unserer heutigen Vorstellung von der Nation, noch steht er im Einklang mit den nationalen Bestrebungen der Zeit, welche der Nation möglichst weite Grenzen stecken. Würde die Nation sich in der Tat bloß auf den engeren Umkreis des Ortes erstrecken, wo ein Mensch zum erstenmal das Licht der Welt erblickt, und das nationale Empfinden lediglich als natürliches Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen zu bewerten sein, welche durch die Stätte ihrer Geburt zu einer Gemeinschaft verschweigt sind, so könnte nach dieser Auffassung auch nicht von Deutschen, Türken oder Japanern die Rede sein; man könnte höchstens von Hamburgern, Parisern, Amsterdamern oder Venezianern sprechen, ein Zustand, der in den Stadtrepubliken des alten Griechenland und in den föderalistischen Gemeinwesen des Mittelalters tatsächlich existierte.
Man faßte denn auch später den Begriff Nation viel breiter und wollte darin eine menschliche Gruppierung erkennen, die sich aus der Gemeinschaft der materiellen und geistigen Belange, der Sitten, Gebräuche und Überlieferungen entwickelt hat, mithin eine Art «Schicksalsgemeinschaft» darstellt, welche die Gesetze ihres besonderen Lebens in sich trägt. Diese Auffassung ist bei weitem nicht so klar wie die erste und steht dazu mit den täglichen Erfahrungen des Lebens auf gespanntestem Fuße. Jede Nation umfaßt heute die verschiedensten Kasten, Stände, Klassen und Parteien, die nicht nur ihre besonderen Interessen verfolgen, sondern sich häufig mit ausgesprochener Feindschaft gegenüberstehen. Die Folgen davon sind unzählige, nie endende Konflikte und innere Gegensätze, die sich ungleich schwerer überbrücken lassen als die zeitweiligen Streitigkeiten zwischen verschiedenen Nationen und Staaten.
Dieselben Nationen, die sich noch gestern auf dem Felde der Ehre bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden, um ihre wirklichen oder vermeintlichen Gegensätze durch blutige Kriege auszutragen, schließen morgen oder übermorgen mit ihren gewesenen Feinden Schutz- und Trutzbündnisse gegen andere Nationen, mit denen sie früher durch Handelsverträge und Vereinbarungen politischer oder militärischer Natur verbunden waren. Doch der Kampf zwischen den verschiedenen Klassen innerhalb derselben Nation läßt sich nie aus der Welt schaffen, solange die Klassen selbst bestehen und die Nation durch wirtschaftliche und politische Gegensätze innerlich zerklüftet ist. Sogar dann, wenn durch außergewöhnliche Verhältnisse oder katastrophale Ereignisse die Klassengegensätze scheinbar überwunden oder zeitweilig ausgeschaltet erscheinen, wie dies durch die Verkündung des sogenannten Burgfriedens im ersten Weltkriege der Fall war, handelt es sich immer nur um eine vorübergehende Erscheinung, welche dem Zwange der Umstände entspringt und deren eigentliche Bedeutung den breiten Massen des Volkes noch nicht klar wurde. Solche Bündnisse aber haben keinen Bestand und gehen bei der ersten Gelegenheit wieder in die Brüche, da ihnen die innere Bindung einer wirklichen Gemeinschaft fehlt. Ein tyrannisches Regierungssystem mag unter gewissen Umständen zeitweilig in der Lage sein, den offenen Austrag innerer Konflikte zu unterbinden, wie dies im faschistischen Italien und Deutschland der Fall war, aber man schafft keine natürlichen Gegensätze aus der Welt, indem man dem Volke verbietet, darüber zu sprechen.
Die Liebe zur eigenen Nation hat noch keinen Unternehmer davon abgehalten, ausländische Arbeitskräfte heranzuziehen, wenn diese billiger waren und er dabei besser auf seine Rechnung kam. Ob die eigenen Volksgenossen dabei zu Schaden kommen, spielt für ihn die allerkleinste Rolle. Der persönliche Gewinn ist in diesem Falle das Ausschlaggebende, und die sogenannten nationalen Belange kommen nur dann in Frage, wenn sie mit den eigenen Interessen nicht in Widerspruch geraten. Wo dies der Fall ist, verpufft jede patriotische Begeisterung. Wie es um die sogenannten nationalen Belange bestellt ist, darüber hat uns Deutschland in den furchtbaren Jahren nach dem ersten Weltkriege einen Unterricht erteilt, der nicht leicht mißverstanden werden kann.
Deutschland befand sich nach dem verlorenen Kriege in einer schlimmen Lage. Es hatte Wirtschaftsgebiete von großer Wichtigkeit preisgeben müssen; dazu waren ihm die Absatzgebiete im Ausland fast völlig verlorengegangen. Und zu allem kamen die hochgeschraubten Wirtschaftsdiktate der Sieger und der Zusammenbruch des alten Regimes. Wenn das Schlagwort von der nationalen Gemeinschaft überhaupt einen Sinn hat, so hätte es sich in diesem Falle zeigen müssen, ob die Nation in der Tat gewillt war, den neugeschaffenen Tatsachen einmütig zu begegnen und die Last des Unglücks auf alle Schichten der Bevölkerung gerecht zu verteilen. Allein die besitzenden Klassen dachten gar nicht daran; sie versuchten vielmehr, aus allem Gewinn zu schlagen, mochten die breiten Schichten des eigenen Volkes auch darüber vor die Hunde gehen; ihr patriotisches Gebaren war lediglich auf den Profit gestimmt. Es waren die Vertreter des preußischen Junkertums und der deutschen Schwerindustrie, die in den furchtbaren Jahren des Krieges immer wieder die rücksichtsloseste Annexionspolitik befürwortet und durch ihre unersättliche Gier die große Katastrophe des Zusammenbruches heraufbeschworen hatten. Nicht zufrieden mit den fabelhaften Gewinnen, die sie während des Krieges erzielt hatten, dachten sie nach dem großen Völkermorden nicht eine Sekunde daran, der Nation auch nur einen Pfennig des Errafften zu opfern. Es waren die Vertreter der deutschen Schwerindustrie, die sich vom Reiche die Steuern stunden ließen, die auch dem ärmsten Arbeiter von seinem kärglichen Verdienste abgezogen wurden; sie waren es, welche die Kohlenpreise in unerhörter Weise in die Höhe trieben, während die Nation bei kalten Ofen frieren mußte, und die es verstanden, aus den Papierkrediten der Reichsbank riesige Gewinne zu ergattern. Diese unmittelbare Spekulation mit dem Währungselend, das gerade durch jene Kreise verursacht wurde, gab der Schwerindustrie erst die Macht, ihre Herrschaft über die hungernde Nation fest zu begründen. Ihre Vertreter waren es, die unter der Leitung von Hugo Stinnes die Ruhrbesetzung direkt herausforderten, für welche die deutsche Nation fünfzehn Goldmilliarden opfern mußte, zu denen sie keinen Heller beigetragen haben.
Der Ruhrkonflikt in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen ist die prächtigste Illustration für die kapitalistische Interessenpolitik als Hintergrund der nationalen Ideologie. Die Besetzung des Ruhrgebiets war nur eine Fortsetzung derselben verbrecherischen Machtpolitik, die zur Entfesselung des Weltkrieges geführt hatte und welche die Völker vier Jahre lang zur Schlachtbank schleifte. In diesem Kampf handelte es sich ausschließlich um Interessengegensätze zwischen der deutschen und französischen Schwerindustrie. Wie die Vertreter der deutschen Schwerindustrie während des Krieges die unentwegten Verteidiger des Annexionsgedankens gewesen sind und die Angliederung des Erzbeckens von Briey-Longwy an Deutschland eines der Hauptziele der alldeutschen Propaganda war, so folgte die nationale Politik Poincarés später denselben Spuren und vertrat die unverhüllten Annexionsgelüste der französischen Schwerindustrie und ihres mächtigen Organs, des Comité de Forge. Dieselben Ziele, die vorher die deutschen Großindustriellen verfolgten, wurden nun von den Vertretern der französischen Schwerindustrie aufgenommen: nämlich die Errichtung gewisser Monopole auf dem Festlande unter der Leitung bestimmter kapitalistischer Gruppen, für die das sogenannte Nationalinteresse noch stets das Aushängeschild für ihre rücksichtslosen Geschäftsinteressen gewesen ist. Es war die Vereinigung der lothringischen Eisengruben mit den Kohlenlagern des Ruhrbeckens in der Gestalt eines mächtigen Montantrust, welche die französische Schwerindustrie plante und die ihr das unbeschränkte Monopol auf dem Kontinent sichern sollte. Und da die Interessen der Großindustriellen sich mit den Interessen der Reparationsgewinnler deckten und von der militärischen Kaste offen begünstigt wurden, so arbeitete man von dieser Seite mit allen Mitteln auf eine Besetzung des Ruhrgebietes hin.
Doch bevor es so weit kam, fanden zwischen der deutschen und französischen Schwerindustrie Verhandlungen statt, um eine friedliche, rein geschäftliche Lösung der Frage herbeizuführen, durch welche beide Teile nach dem Verhältnis ihrer Kräfte ihren Vorteil ziehen sollten. Eine solche Verständigung wäre auch zustande gekommen, denn die deutschen Schwerindustriellen hätten sich den Teufel um die nationalen Belange des Reiches geschert, solange sie ihr Schäfchen ins Trockene bringen konnten. Aber da ihnen von der englischen Kohlenindustrie, für die ein Montantrust auf dem Festlande ein schwerer Schlag gewesen wäre, zweifellos größere Vorteile in Aussicht gestellt wurden, so entdeckten sie plötzlich wieder ihr nationales Herz und ließen es auf die Besetzung ankommen. Zusammen mit den Arbeitern und Angestellten, die sich abermals für die Belange ihrer Herren mißbrauchen ließen, da ihnen die inneren Zusammenhänge unbekannt waren, organisierten sie den passiven Widerstand, und die stinnisierte Presse stieß gewaltig in die nationale Posaune, um den Haß im Lande gegen den Erbfeind bis zur Siedehitze zu entfachen. Doch als der Widerstand zusammenbrach, da warteten Herr Stinnes und die übrigen Vertreter der deutschen Schwerindustrie nicht auf die Regierung Stresemann, sondern verhandelten mit den Franzosen auf eigene Faust. Am 5. Oktober 1923 kamen die Herren Stinnes, Klöckner, Velsen und Voegler mit dem französischen General Degoutte zusammen und suchten diesen zu bewegen, den deutschen Arbeitern des besetzten Gebietes den Zehnstundentag aufzuzwingen, denselben Arbeitern, die noch am Tage vorher ihre Verbündeten gewesen waren im passiven Widerstände gegen die französischen Kabinette. Gibt es eine bessere Illustration für die Nation als Interessengemeinschaft?[78]
Poincaré nahm die angeblichen Verfehlungen Deutschlands in den Kohlenlieferungen als Vorwand, um französische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschieren zu lassen. Natürlich war das nur eine Finte, um den Plänen seiner Hintermänner den Anstrich der Gesetzlichkeit zu geben. Das geht schon daraus hervor, daß Frankreich damals, mit der einzigen Ausnahme Englands, das kohlenreichste Land in Europa war. Die französische Regierung sah sich sogar gezwungen, auf die Einführung von Saarkohlen eine Extrasteuer von zehn vom Hundert einzufahren, um die französische Kohle auf dem heimischen Markte zu schützen. Tatsache ist, daß man 20 Prozent dieser Kohle wieder nach Deutschland zurückbeförderte und überhaupt nur 35 Prozent derselben der französischen Industrie zuführte.
Von der anderen Seite haben die deutschen Schwerindustriellen und ihre Verbündeten durch die rücksichtslose Verteidigung ihrer Sonderinteressen alles getan, um der französischen Regierung das Spiel zu erleichtern. Sie waren es, die sich allen Versuchen, eine Stabilisierung der Mark herbeizuführen, am hartnäckigsten widersetzten, weil sie durch die Inflation des Geldes die Besteuerung der Industrie und des Großgrundbesitzes am bequemsten sabotieren und auf die Schultern der Werktätigen in Stadt und Land abwälzen konnten. Auf Grund dieser dunklen Machenschaften entwickelte sich nicht nur ein Heer von Valutaspekulanten und sonstigen Schiebern, die aus der ungeheuerlichen Verelendung der breiten Masse riesige Gewinne ziehen konnten, man gab damit auch Frankreich die Gelegenheit, aus dem deutschen Valutaelend noch Extragewinne herauszuschinden. So lieferte Deutschland nach dem Zeugnis des gewesenen französischen Finanzministers Laseyrie bis Ende September 1921 an Frankreich Brennstoffe im Werte von 2571 Millionen Franken, wofür ihm auf Grund der Markentwertung bloß 980 Millionen Franken gutgeschrieben wurden. Der Geschäftsegoismus der guten deutschen Patrioten verschaffte also dem «Erbfeind» noch eine besondere Einnahmequelle auf Kosten der ungeheuerlichen Ausbeutung der deutschen Arbeiterschaft und der untergehenden Mittelschichten.
Als aber der Ruhrkampf zu Ende war und die Industriellen der besetzten Gebiete die sogenannten Micum-Verträge abschließen mußten, da dachte keiner von ihnen auch nur eine Sekunde an die Millionengewinne, die sie während der Inflationsperiode errafft hatten; sie forderten vielmehr vom Reiche eine angemessene Entschädigung für ihre Verluste, und die Regierung Luther-Stresemann beeilte sich, ohne sich dabei um das Etatsrecht des Reichstages zu kümmern, ihnen die Kleinigkeit von 706,4 Millionen Goldmark für «Micumschäden» auszuhändigen, für welche dem Reiche nur 446,4 Millionen Goldmark auf dem Reparationskonto gutgeschrieben wurden – ein Vorgang, wie er in der Geschichte parlamentarischer Staaten nicht häufig vorkommen dürfte.
Kurz, die Vertreter der Schwerindustrie, des Großgrundbesitzes und der Börse haben sich wegen der angeblichen Gemeinschaft der nationalen Belange nie den Kopf zerbrochen. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, sich infolge des verlorenen Krieges mit kleineren Gewinnen zu begnügen, um die große Mehrheit der Nation nicht rettungslos im Elend verkommen zu lassen. Sie stahlen zusammen, was ihnen unter die Hände kam, während sich die Nation mit trockenem Brote und Kartoffeln nähren konnte und Hunderttausende deutscher Kinder an Unterernährung zugrunde gingen. Keiner dieser Schmarotzer dachte auch nur daran, daß ihre ungezügelte Gefräßigkeit die ganze Nation dem Verderben preisgab. Und während die Arbeiter und der Mittelstand in den großen Städten im Elend verkamen, wurde Stinnes der Besitzer fabelhafter Reichtümer; die übrigen Vertreter der deutschen Schwerindustrie bereicherten sich im selben Tempo.
Und wie stand es mit den sogenannten «Edelsten der Nation»? Das deutsche Volk, das seit Jahren im trostlosesten Elend dahinsiechte, zahlte seinen gewesenen Fürsten fabelhafte Summen als «Entschädigung», und diensteifrige Gerichte sorgten dafür, daß ihnen kein Pfennig verlorenging. Dabei handelt es sich nicht bloß um Entschädigungen an die durch die Novemberrevolution von 1918 gestürzten Landesvertreter, sondern auch um solche, die seit Jahr und Tag an die Abkömmlinge kleiner Potentaten ausgezahlt werden, deren Länder seit 130 Jahren überhaupt von der Landkarte verschwunden waren. An diese Nachkommen gewesener Winkeldespoten zahlt das Reich allein jährlich die Kleinigkeit von 1.834.139,91 Mark. Von den bis zum Ausbruch der Revolution regierenden Fürsten stellten die Hohenzollern allein Entschädigungsanträge von 200 Millionen Goldmark. Die Ansprüche sämtlicher Exfürsten übertreffen die Dawes-Anleihe um das Vierfache. Während man den Ärmsten der Armen fortgesetzt die paar Groschen kürzte, die nicht genügten, die notwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen, kam es keinem jener «Edlinge» in den Sinn, einen Pfennig dranzugehen, um das Elend zu lindern; wie Shylock bestanden sie auf ihrem Pfund Fleisch und gaben der Welt ein klassisches Beispiel, wie es um die angebliche Interessengemeinschaft der Nation bestellt war.
Das gilt nicht bloß für Deutschland. Die angebliche Gemeinschaft der nationalen Belange besteht in keinem Lande und ist nicht mehr als eine Vorspiegelung falscher Tatsachen im Interesse kleiner Minderheiten. So wurde die französische Presse während des Ruhrkampfes nicht müde, dem Volke immer wieder zu versichern, daß Deutschland zum Zahlen gezwungen werden müßte, wenn Frankreich nicht zugrunde gehen wolle, und wie überall, so nahm man auch dort diese Beteuerungen für bare Münze. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß von den ungeheuren Summen, die Deutschland nach Beendigung des Krieges an Frankreich abführen mußte, nur ein verschwindend kleiner Teil der französischen Nation als solcher zugute kam und dem Wiederaufbau der zerstörten Gebiete zugewendet wurde. Wie überall, so floß auch dort der Löwenanteil in die unergründlichen Taschen privilegierter Minderheiten. Von den 11,4 Milliarden Goldmark, welche Deutschland bis zum 31. Dezember 1921 als Reparationszahlungen an Frankreich abgeführt hatte, wurden nur 2,8 Milliarden für den Wiederaufbau verwendet; 4,3 Milliarden wurden allein für die Besatzung und die interalliierten Kommissionen in Deutschland aufgebraucht.
In Frankreich wie in Deutschland war der leidende Teil stets die werktätige Bevölkerung, aus deren Fell die besitzenden Klassen beider Länder Riemen schnitten. Während die Träger des Großkapitalismus der am Kriege beteiligten Länder ungeheuerliche Gewinne einheimsten und fast im eigenen Fette erstickten, mußten Millionen unglücklicher Menschenkinder mit ihren toten Leibern die Schlachtfelder der ganzen Welt düngen. Und auch später, als sich die Form des Krieges nur geändert hatte, sind die werktätigen Klassen in der Gesellschaft die eigentlichen Leidtragenden, während Grundbesitzer, Industrieunternehmer und die Herren der Börse aus ihrem Elend klingende Münze prägen.
Man werfe einen Bück auf die modernen Rüstungsindustrien der verschiedenen Länder, die Millionen Arbeiter beschäftigen und über ungeheure Kapitalien verfügen, und man bekommt eine sonderbare Vorstellung von der Gemeinschaft der nationalen Belange. In diesen Industrien gehört der Patriotismus und die Wahrnehmung der nationalen Belange ganz offenkundig zum Geschäft. Die Gelder, die von dieser Seite zur Hebung der nationalen Begeisterung verausgabt werden, sind genau so verbucht wie alle anderen Ausgaben zur Wahrung der Geschäftsinteressen. Doch hat der nationale Gedanke bisher keine Firma in der Rüstungsindustrie davon abgehalten, ihre Mord- und Zerstörungswerkzeuge jedem Staate zu verkaufen, der ihr die verlangten Preise dafür zahlte. Wo dies nicht geschah, dort waren wohlerwogene Geschäftsinteressen mit im Spiele. Ebensowenig läßt sich die Hochfinanz irgendeines Landes durch patriotische Gründe davon abhalten, fremden Staaten die notwendigen Gelder für Kriegsrüstungen zu borgen, auch wenn dadurch die Sicherheit des eigenen Landes gefährdet wird. Geschäft ist eben Geschäft.[79]
Es ist eine durchaus normale Erscheinung, daß die großen Unternehmen der internationalen Rüstungsindustrie sich geschäftlich vereinigen, um den gegenseitigen Wettbewerb zu beseitigen und die Gewinne reichlicher zu gestalten. Von den zahlreichen Körperschaften dieser Art seien hier nur erwähnt der Nobel Dynamit Trust, der 1886 gegründet wurde und dem englische, französische, deutsche und italienische Firmen angehörten, ganz besonders aber die Harvey Continental Steel Company, die 1894 ins Leben trat, nachdem die Harvey Stahlwerke in New Jersey ein neues Verfahren erfunden hatten, dünnere und stärkere Panzerplatten herzustellen, die sofort von den verschiedenen Regierungen für ihre Flotten verwendet wurden. Die ersten Direktoren jenes internationalen Panzerplatten-Trusts waren Charles Cammell, Charles E. Ellis (Firma John Brown & Co., England), Edward M. Fox (Harvey Steel Company, New Jersey, Amerika), Maurice Gény (Schneider & Co., Frankreich), Joseph de Montgolfier (Schifffahrt-und Eisenbahngesellschaft, Frankreich), Léon Lévy (Vorsitzender der Chatillion-Commentry Compagnie in Frankreich), Josef Ott (A. G. Dillingers Hüttenwerke, Deutschland), Ludwig Klüpfel (Friedrich Krupp AG, Deutschland), Albert Vickers.
Dieselben Leute, deren bezahlte Presse jahrein, jahraus die schamloseste Hetze gegen andere Länder und Nationen betreiben muß, um den nationalen Geist im eigenen Volke wachzuhalten, trugen nicht die kleinsten moralischen Bedenken, sich mit den Rüstungsindustrien des Auslands geschäftlich zu verbünden, und sei es auch nur, um das eigene Vaterland desto besser schröpfen zu können. So hat die aufsehenerregende Putiloff-Affäre im Januar 1914 klar erwiesen, daß in den Putiloff-Werken von St. Petersburg nicht nur französisches und deutsches Kapital in holder Eintracht zusammenarbeiteten, sondern daß auch erstklassige Fachleute aus der Rüstungsindustrie beider Länder den Russen bei der Herstellung ihrer schweren Geschütze behilflich waren. Mit grimmer Ironie schrieb der gutunterrichtete Verfasser eines Buches, in dem die ungeheuerliche Käuflichkeit der nationalen Presse in Frankreich schonungslos aufgedeckt wurde, über jene bezeichnenden Vorgänge:
«Die Putiloff-Werke, außerstande, die Aufträge des russischen Staates zu bewältigen, waren seit 1910 mit der Bank der Union Parisienne, die ihnen 24 Millionen lieh, sowie mit Schneider von den Creuzot-Werken, der ihnen die Pläne der 75-Millimeter-Geschütze, seine Ingenieure und die notwendigen Techniker lieferte, und auch mit Krupp in Essen, welcher die Erfahrungen der deutschen schweren Artillerie und seine sachverständigen Vorarbeiter zur Verfügung stellte, in eine Interessengemeinschaft getreten. – Wir sehen hier, wie französische und deutsche Ingenieure und Arbeiter brüderlich vereint unter der Aufsicht von Verwaltungsbeamten und Geldleuten, von denen die einen zur Gruppe der Union Parisienne gehörten und die anderen mit der Deutschen Bank verschwägert waren, an Geschützen arbeiteten, mit denen sie sich später gegenseitig totschießen sollten. Etwas ganz Wundervolles, diese Herrschaft des internationalen Kapitalismus!»[80]
Im Jahre bildete sich in England eine Gesellschaft, die sich die Aufgabe gestellt hatte, das englische Zweigunternehmen der Firma Whitehead & Co. in Fiume zu erwerben und unter ihre Regie zu nehmen. Andere englische Rüstungsfirmen beteiligten sich an dem Unternehmen, dessen Direktorium in Ungarn sich 1914 aus folgenden Personen zusammensetzte: Graf Edgar Hoyos, Generaldirektor, Albert Edward Jones, Henry Whitehead (Firma Armstrong-Whitworth), Saxton William Armstrong Noble (Geschäftsführer der Firma Vickers für Europa), Arthur Trevor Dawson (geschäftsführender Direktor der Firma Vickers) und Professor Sigismund Dankl. Wie wir sehen, fast alles englische Namen und Vertreter der bekanntesten und mächtigsten Firmen der englischen Rüstungsindustrie.
Und unter diesem Direktorium und dieser Unternehmergesellschaft wurde das deutsche Unterseeboot No. 5 gebaut, das im Jahre 1915 den französischen Panzerkreuzer Leon Gambetta mit 600 Franzosen an Bord in der Meeresstraße von Otranto versenkte.
Man könnte noch eine Menge ähnlicher Beispiele heranziehen, doch würde dabei nur eine stete Wiederholung derselben blutigen Wahrheit herauskommen. Daß sich in dieser Hinsicht auch nach dem Weltkriege nichts geändert hat, hat der bekannte englische Lord Robert Cecil noch im Juni 1932 auf einer Riesenkundgebung der «Friedenskreuzfahrerinnen» in London ausdrücklich bezeugt. Lord Cecil richtete sehr scharfe Angriffe gegen die internationale Rüstungsindustrie und hob besonders deren dunklen Einfluß auf die Pariser Presse hervor. Einige der größten französischen Zeitungen wurden nach seinen Angaben von den Interessen der Stahl- und Eisenindustrie aufgekauft und arbeiteten Tag und Nacht gegen die internationale Abrüstungskonferenz. Daß die geradezu jämmerliche Haltung des sogenannten Völkerbundes in der japanisch-chinesischen Frage zum größten Teil auf die elenden Machenschaften der internationalen Rüstungsindustrie zurückzuführen ist, ist ein offenes Geheimnis. Natürlich bewegt sich die internationale Hochfinanz in denselben Bahnen.[81]
Es ist daher völlig sinnlos, von einer Gemeinschaft der nationalen Interessen zu sprechen, denn was die herrschenden Klassen jedes Landes als nationale Belange bisher verteidigt haben, ist nie etwas anderes gewesen als die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft, welche durch wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung der breiten Massen erkauft werden mußten, wie ja auch der Grund und Boden des sogenannten Vaterlandes und seine natürlichen Reichtümer stets im Besitze jener Klassen gewesen sind, so daß man mit vollem Recht von einem «Vaterland der Reichen» gesprochen hat. – Wäre die Nation in der Tat eine Interessengemeinschaft, als welche man sie bezeichnet hat, so hätte es in der modernen Geschichte nie Revolutionen und Bürgerkriege gegeben, denn aus reinem Vergnügen haben Völker wohl kaum zu der Waffe des Aufstandes ihre Zuflucht genommen; ebensowenig wie die endlosen Lohnkämpfe, die für das System des Kapitalismus so bezeichnend sind, etwa deshalb stattfinden, weil es den werktätigen Schichten der Bevölkerung zu wohl ist.
Wenn aber von einer Gemeinschaft der rein materiellen und wirtschaftlichen Interessen innerhalb der Nation keine Rede sein kann, so ist dies noch weniger der Fall, soweit die geistigen Belange der Nation in Frage kommen. Religiöse und weltanschauliche Probleme haben Nationen nicht selten in ihren tiefsten Tiefen aufgewühlt und in feindliche Lager gespalten, wobei nicht verkannt werden soll, daß auch in solchen Kämpfen wirtschaftliche und politische Motive mitwirkten und nicht selten eine bedeutende Rolle spielten. Man denke an die blutigen Kämpfe, die sich in Frankreich, England, Deutschland und anderen Ländern zwischen den Anhängern der alten Kirche und den verschiedenen Richtungen des Protestantismus abgespielt haben und durch welche das innere Gleichgewicht der Nation bis ins tiefste erschüttert wurde; oder an die heftigen und nicht selten sehr gewaltsamen Zusammenstöße des demokratischen Bürgertums mit den Trägern des absolutistischen Regimes; an den mörderischen Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas für und gegen die Aufrechterhaltung der Negersklaverei und tausend andere Erscheinungen in der Geschichte aller Völker, und man wird leicht ermessen, was die Behauptung von der Nation als Hüterin der geistigen Belange wert ist.
Jede Nation ist heute gespalten in Dutzende verschiedener Parteien und Ideenrichtungen, deren Tätigkeit das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl zersetzt und die Fabel von der geistigen Interessengemeinschaft der Nation Lügen straft. Jede dieser Parteien hat ihre eigene Parteiräson, nach der sie alles bekämpft, was ihre Existenz bedrohen könnte, und kritiklos alles verhimmelt, was ihren Sonderzwecken förderlich ist. Und da jede Richtung nur die Ansichten eines gewissen Teiles der Nation, nie aber diese selbst in ihrer Allgemeinheit vertreten kann, so ergibt sich daraus, daß die sogenannten geistigen Belange der Nation oder der angebliche nationale Gedanke in so viel verschiedenen Farben schillern, als es Parteien und Ideenrichtungen in einem Lande gibt. Deshalb behauptet auch jede Partei von sich, daß bei ihr die geistigen Belange der Nation am besten gewahrt sind, was in kritischen Zeiten zur Folge hat, daß sie alle anderen Auffassungen und Bestrebungen als vaterlandsfeindlich und landesverräterisch verketzert – eine Methode, die zwar nicht viel Geist erfordert, die aber ihren Zweck bisher nie verfehlt hat. Deutschland und Italien sind klassische Zeugen dafür. Übrigens findet man diesen Widerstreit der Ideen und Anschauungen nicht bloß zwischen Parteien, die sich als Vertreter bestimmter Wirtschaftsprinzipien und machtpolitischer Bestrebungen gegenüberstehen; man findet ihn auch zwischen Richtungen, die weltanschaulich auf demselben Boden stehen und lediglich aus Gründen untergeordneter Natur miteinander in Widerspruch geraten sind. Gerade in solchen Fällen wirkt sich der Kampf zwischen den verschiedenen Fraktionen vielfach noch unversöhnlicher aus und erreicht nicht selten einen Grad des Fanatismus, der Unbeteiligten geradezu unbegreiflich erscheint. – Je tiefer man den Dingen nachgeht, desto klarer erkennt man, daß es mit der Einheitlichkeit der geistigen Belange innerhalb der Nation schlecht bestellt ist. In der Wirklichkeit ist dieser Glaube nur eine Illusion, die so lange Bestand haben wird, als es den herrschenden Klassen im nationalen Staate gelingt, die breiten Schichten der Bevölkerung durch äußeres Blendwerk über die wahren Ursachen der gesellschaftlichen Zerrissenheit hinwegzutäuschen. Die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Belange und der geistigen Bestrebungen innerhalb derselben Nation entwickelt aber naturgemäß besondere Sitten und Lebensgewohnheiten bei den Angehörigen der verschiedenen Gesellschaftsklassen; es ist daher sehr gewagt, von einer Gemeinschaft der nationalen Sitten und Gebräuche zu sprechen. Eine solche Auffassung hat nur ganz bedingten Wert. In der Tat, welche Gemeinschaft könnte in dieser Hinsicht auch bestehen zwischen einem Insassen des Berliner «Millionen-Viertels» und einem Bergarbeiter des Ruhrgebietes, zwischen einem Holzfäller im bayerischen Hochwald und einem ostelbischen Junker, zwischen einem modernen Industriemagnaten und einem einfachen Lohnarbeiter, zwischen einem preußischen General und einem holsteinischen Fischer, zwischen einer mit allem Luxus umgebenen Lebedame und einer Heimarbeiterin im schlesischen Eulengebirge? – Jedes größere Land birgt in sich eine Unmenge von Unterschieden klimatischer, kultureller, wirtschaftlicher und allgemein gesellschaftlicher Natur. Es hat seine großen Städte, seine entwickelten Industriegebiete, seine weltverlassenen Weiler und Gebirgstäler, in die kaum ein Schimmer des modernen Lebens gedrungen ist. Diese unendliche Verschiedenheit der geistigen und materiellen Lebensbedingungen schließt von vornherein jede engere Gemeinschaft der Sitten und Gebräuche aus.
Jeder Stand, jede Klasse, jede Schicht der Gesellschaft entwickelt ihre besonderen Lebensgewohnheiten, in die der Außenseiter schwer einzudringen vermag. Es ist durchaus keine Übertreibung, zu behaupten, daß zwischen der Arbeiterbevölkerung verschiedener Nationen eine größere Gemeinschaft der allgemeinen Sitten und Lebensgewohnheiten besteht als zwischen den besitzenden und besitzlosen Schichten derselben Nation. Ein Arbeiter, der ins Ausland verschlagen wird, wird sich zwischen Angehörigen seines Berufes oder seiner Klasse sehr bald zurechtfinden, während ihm die Tore zu anderen Gesellschaftsklassen des eigenen Landes hermetisch verschlossen sind. Das gilt natürlich auch für alle anderen Klassen und Schichten der Bevölkerung.
Die scharfen Gegensätze zwischen Stadt und Land, die heute fast in allen Staaten vorhanden sind, bilden eines der größten sozialen Probleme unserer Zeit. Bis zu welchem Grade diese Gegensätze gedeihen können, darüber hat uns Deutschland in der schweren Zeit der Geldentwertung eine Lehre erteilt, die man nicht leicht vergessen kann, damals, als die planmäßig organisierte Aushungerung der Städte vor sich ging und das geflügelte Wort von dem «Volke, das bei vollen Scheunen verhungern müsse», geprägt wurde. Jede Berufung an den nationalen Geist und die angebliche Interessengemeinschaft der Nation verhallte damals wie ein Schrei in der Wüste und zeigte mit voller Deutlichkeit, daß das Märchen von der Gemeinschaft der nationalen Belange wie eine Seifenblase zerstiebt, sobald die Sonderinteressen bestimmter Klassen in die Erscheinung treten. – Aber zwischen Stadt und Land bestehen nicht bloß Gegensätze wirtschaftlicher Natur; zwischen beiden besteht auch eine starke gefühlsmäßige Abneigung, die sich allmählich aus der Verschiedenheit der gesellschaftlichen Lebensbedingungen ergeben hat, und die heute sehr tief wurzelt. Es gibt wenig Städter, die sich völlig in die Vorstellungsweise und Lebensauffassung des Bauern hineinversetzen können. Dem Bauern aber fällt es vielleicht noch schwerer, in das Geistes- und Seelenleben des Städters einzudringen, gegen den er seit Jahrhunderten einen stummen Groll empfindet, der sich nur aus den bisherigen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt Land erklären läßt.
Dieselbe Kluft besteht auch zwischen den intellektuellen Schichten der Nation und den breiten Massen der werktätigen Bevölkerung. Sogar unter jenen Intellektuellen, die seit Jahr und Tag in der sozialistischen Arbeiterbewegung tätig sind, gibt es ganz wenige, die wirklich imstande sind, in das innere Empfinden und den Vorstellungskreis des Arbeiters völlig einzudringen. Manche Intellektuelle empfinden dies sogar sehr peinlich, ein Umstand, der des öfteren Anlaß zu tragischen inneren Konflikten gibt. Selbstverständlich handelt es sich in diesem Falle nicht um angebotene Verschiedenheiten des Denkens und Empfindens, sondern um Ergebnisse einer besonderen Lebensweise, welche den Einwirkungen einer andersgearteten Erziehung und einer anderen gesellschaftlichen Umwelt entspringen. Je älter ein Mensch wird, desto schwerer fällt es ihm, sich diesen Einwirkungen zu entziehen, deren Ergebnisse ihm zur zweiten Natur werden. Diese unsichtbare Wand, die heute zwischen den Intellektuellen und den Massen der Werktätigen in jeder Nation vorhanden ist, ist eine der Hauptursachen des geheimen Mißtrauens, das weite Kreise der Arbeiterschaft, meistens ganz unbewußt, den Intellektuellen entgegenbringen und das sich allmählich in der bekannten «Theorie von der schwieligen Faust» verdichtet hat.
Um wieviel schwerer fällt es, geistige Berührungspunkte zwischen den Vertretern des Großkapitals und der Arbeiterschaft einer Nation herzustellen. Für Millionen Arbeiter ist der Kapitalist nur eine Art Polyp, der sich von ihrem Schweiße, und Blute nährt; viele begreifen sogar nicht, daß hinter den wirtschaftlichen Funktionen auch noch rein menschliche Qualitäten stehen können. Der Kapitalist aber steht den Bestrebungen der Arbeiter in den meisten Fällen ganz weltfremd, ja häufig mit jener ausgesprochen herrischen Verachtung gegenüber, die von den Werktätigen oft drückender und demütigender empfunden wird als die Tatsache der wirtschaftlichen Ausbeutung selbst. Während er gegen die Arbeiterschaft des eigenen Landes stets von einem gewissen Mißtrauen erfüllt ist, dem sich nicht selten offene Feindseligkeit beimischt, bezeigt er den besitzenden Klassen anderer Nationen fortgesetzt seine Anhänglichkeit, auch dort, wo es sich nicht bloß um rein wirtschaftliche oder politische Fragen handelt. Dieses Verhältnis mag von Zeit zu Zeit eine Trübung erfahren, wenn die Interessengegensätze zu heftig aufeinanderprallen, aber der innere Widerstreit zwischen den besitzenden und den besitzlosen Klassen innerhalb derselben Nation verschwindet nie.
Auch mit der Gemeinschaft der nationalen Überlieferung ist es nicht weit her. Geschichtliche Überlieferungen sind schließlich noch etwas anderes als das, was uns in den Bildungsanstalten des nationalen Staates beigebracht wird. Überhaupt ist die Überlieferung an sich nicht das Wesentliche; viel wichtiger ist, wie das Überlieferte von den Trägern der verschiedenen Gesellschaftsschichten innerhalb der Nation aufgefaßt, ausgelegt und empfunden wird. Deshalb ist die Vorstellung von der Nation als Schicksalsgemeinschaft so irreführend und zweideutig. Es gibt Ereignisse in der Geschichte jeder Nation, die von allen ihren Gliedern als Schicksal empfunden werden, doch die Art dieses Empfindens ist sehr verschieden und wird vielfach bestimmt durch die Rolle, welche die eine oder die andere Partei oder Klasse in jenen Ereignissen gespielt hat. – Als zur Zeit der Kommune in Paris 35.000 Männer, Frauen und Kinder der Arbeiterschaft zur Strecke gebracht wurden, da wurde diese grauenhafte Niederlage zweifellos beiden Seiten zum Schicksal. Doch während die einen mit durchschossener Brust und zerrissenen Gliedern die Straßen der Hauptstadt bedeckten, gab ihr Tod den anderen die Möglichkeit, ihre Herrschaft neu zu festigen, die der verlorene Krieg gründlich erschüttert hatte. Und in diesem Sinne lebt die Pariser Kommune auch in den Überlieferungen der Nation. Für die Besitzenden bleibt der Aufstand vom 18. März 1871 eine «wüste Auflehnung der Canaille gegen Gesetz und Ordnung», für die Arbeiterschaft eine «glorreiche Episode im Befreiungskampfe des Proletariats».
Man könnte ganze Bände ausfüllen mit ähnlichen Beispielen aus der Geschichte aller Nationen. Außerdem geben uns die geschichtlichen Ereignisse in Ungarn, Deutschland, Österreich usw. den besten Unterricht, wie es um die Schicksalsgemeinschaft der Nation bestellt ist. Brutale Gewalt kann einer Nation ein gemeinsames Schicksal auferlegen, ebenso wie sie Nationen willkürlich schaffen und vernichten kann; denn die Nation ist nichts organisch Gewordenes, sondern etwas vom Staate künstlich Geschaffenes, mit dem sie auf das innigste verwachsen ist, wie uns jedes Blatt der Geschichte zeigt. Der Staat selbst aber ist kein organisches Gebilde, und die soziologische Forschung hat festgestellt, da er überall und zu allen Zeiten durch das gewaltsame Eingreifen kriegerisch veranlagter Elemente in das Leben friedlicher Menschengruppen in die Erscheinung trat. Nation ist daher ein rein politischer Begriff, der lediglich durch die Zugehörigkeit der Menschen zu einem bestimmten Staate zustande kommt. Auch im sogenannten Völkerrecht hat das Wort Nation ausschließlich diese Bedeutung, was schon daraus hervorgeht, daß jeder Mensch durch Naturalisierung Angehöriger irgendeiner Nation werden kann.
Mit welcher Willkür die Zugehörigkeit ganzer Völkergruppen zu einer Nation durch den brutalen Zwang des Stärkeren bestimmt wird, darüber gibt uns die Geschichte jedes Landes eine Menge Beispiele. So legten sich die Bewohner der heutigen französischen Riviera eines Tages als Italiener schlafen und erwachten am anderen Tage, als Franzosen, weil eine Handvoll Diplomaten es so bestimmt hatte. Die Helgoländer waren ein Glied der britischen Nation und getreue Untertanen der englischen Regierung, bis es dieser einfiel, die Insel an Deutschland zu veräußern, wodurch die nationale Zugehörigkeit ihrer Einwohner einem gründlichen Wechsel unterworfen wurde. War es am Tage vor dieser Entscheidung ihr größtes Verdienst, gute englische Patrioten zu sein, so wurde ihnen diese höchste Tugend nach der Übergabe der Insel an Deutschland als die größte Sünde gegen den «Geist der Nation» angerechnet. Solche Beispiele gibt es eine Menge; sie sind bezeichnend für die ganze Gestaltungsgeschichte des modernen Staates. Man werfe einen Blick auf die geistlosen und stümperhaften Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages, und man erhält ein klassisches Beispiel, wie Nationen künstlich fabriziert werden.
Und wie der Stärkere heute und zu allen Zeiten über die nationale Zugehörigkeit des Schwächeren nach Belieben verfügen konnte, so war und ist er auch imstande, das Bestehen einer Nation willkürlich zu tilgen, wenn ihm dies aus staatsmännischen Gründen geboten erscheint. Man lese die Erwägungen, aus denen heraus Preußen, Österreich und Rußland seinerzeit ihre Intervention in Polen begründeten und die Teilung dieses Landes vorbereiteten. Sie sind niedergelegt in dem famosen Traktat vom 5. August 1772 und bilden ein wahres Musterbeispiel von bewußter Verlogenheit, widerlicher Heuchelei und brutaler Gewalt. – Gerade weil man sich über diese Erscheinungen bisher zu wenig Rechenschaft gegeben hat, hat man sich über das eigentliche Wesen der Nation den merkwürdigsten Illusionen hingegeben. Es sind nicht die nationalen Unterschiede, die zur Gründung verschiedener Staatswesen führen, es sind die Staaten, welche die nationalen Unterschiede künstlich schaffen und grundsätzlich fördern, die ihnen als moralische Rechtfertigung für ihre Existenz dienen müssen. Tagore hat diesen inneren Gegensatz zwischen Nation und Gesellschaft in die trefflichen Worte gekleidet:
«Eine Nation im Sinne politischer und wirtschaftlicher Vereinigung eines Volkes ist die Erscheinung, die eine ganze Bevölkerung bietet Die menschliche Gesellschaft als solche hat keinen über sie hinausreichenden Zweck. Sie ist Selbstzweck. Sie ist die Form, in der der Mensch als soziales Wesen sich von selbst ausdrückt. Sie ist die natürliche Ordnung menschlicher Beziehungen, die den Menschen die Möglichkeit gibt, in gemeinsamem Streben ihre Lebensideale zu entwickeln.»[82]
Daß eine Nation sich nicht organisch aus sich selbst entwickelt, sich selber schafft, wie so oft behauptet wird, daß sie vielmehr das künstliche Erzeugnis des Staates ist, das verschiedenen Menschengruppen mechanisch aufgezwungen wird, dafür bietet uns der Gegensatz in der politischen Gestaltung Nord-und Südamerikas ein treffliches Beispiel. In Nordamerika gelang es der Union, alles Land von der kanadischen bis zur mexikanischen Grenze und vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean in einen mächtigen Föderativstaat zusammenzufassen – ein Vorgang, der durch Umstände verschiedener Art sehr begünstigt wurde. Und dies geschah, obwohl die Vereinigten Staaten das bunteste Völkergemisch beherbergen, zu dem alle Rassen und Nationen Europas und auch anderer Erdteile ihren Beitrag geliefert haben, so daß man mit Recht von einem melting pot of nations (Schmelztiegel der Nationen) spricht.
Süd- und Zentralamerika dagegen zerfallen in sechzehn verschiedene Staaten mit sechzehn verschiedenen Nationen, obgleich die Rassenverwandtschaft zwischen diesen Völkern ungleich größer ist als in Nordamerika und alle – mit Ausnahme des Portugiesischen in Brasilien und der verschiedenen Indianersprachen – auch dieselbe Sprache sprechen. Doch die politische Entwicklung Lateinamerikas war eine andere. Zwar erstrebte auch Simon Bolivar, der Befreier Südamerikas vom spanischen Joche, einen föderativen Staatenbund aller südamerikanischen Länder, doch gelang es ihm nicht, diesen Plan auszuführen, da ehrgeizige Diktatoren und Generale wie Prieto in Chile, Gamarra in Peru, Flores in Ekuador, Rosas in Argentinien usw. diesem Plane mit allen Mitteln entgegenarbeiteten. Bolivar wurde von all diesen Quertreibereien seiner Nebenbuhler so enttäuscht, daß er kurz vor seinem Tode die Worte niederschrieb: «In Südamerika gibt es weder Treue noch Glauben, weder bei den Menschen noch unter den einzelnen Staaten. Jeder Vertrag, ist hier nur ein Fetzen Papier, und was man hierzulande Verfassung nennt, ist nur eine Sammlung solcher Fetzen.»
Als Ergebnis der Machtbestrebungen kleiner Minderheiten und diktatorisch veranlagter Individuen entstand auf diese Art eine ganze Anzahl nationaler Staaten, die sich im Namen der nationalen Belange und der nationalen Ehre gegenseitig bekriegten, ganz wie bei uns. – Hätten sich die politischen Ereignisse in Nordamerika ähnlich entwickelt wie in den Ländern des südlichen Kontinents, so gäbe es auch dort heute Kalifornier, Michiganer, Kentuckier oder Pennsylvanier, wie es in Südamerika Argentinier, Chilenen, Peruaner oder Brasilianer gibt. Der beste Beweis, daß dem Wesen der Nation rein politische Bestrebungen zugrunde liegen.
Wer sich der Illusion hingibt, daß die Gemeinschaft der materiellen und geistigen Belange und die Gleichartigkeit der Sitten, Gebräuche und Überlieferungen das eigentliche Wesen der Nation bestimmen, und aus dieser willkürlichen Voraussetzung die moralische Notwendigkeit nationaler Bestrebungen abzuleiten versucht, täuscht sich selbst und andere. Von einer solchen Art der Gemeinschaft ist bei keiner der bestehenden Nationen etwas zu verspüren. Die Macht der sozialen Umstände ist auch in diesem Falle stärker als die abstrakten Voraussetzungen aller und jeder nationalistischen Ideologie.
XVII. Die Nation als Sprachengemeinschaft
Die Nation als Sprachgemeinschaft. Sprache und Kultur. Fremde Bestandteile in der Sprache. Purismus und Sprachentwicklung. Schriftsprache und Volkssprache. Religion, Wissenschaft, Kunst, Beruf als Vermittler neuer Sprachwerte. Sprache und Bild. Die Bedeutung der Lehnwörter in der Sprachentwicklung. Orientalische Symbolik in der Sprache. Fremdes Sprachgut im heimischen Gewand. Sprache und Denken. Natur und Sprache. Arbeit und Sprache. Der Symbolismus der Sprache. Sprachliche Atavismen. Die Unlogik der Sprachbildung. Die stete Umbildung sprachlicher Ausdrücke. Hinfälligkeit der psychologischen Sprachtheorien. Der Einfluß des Kulturkreises ist stärker als die Bande der gemeinschaftlichen Sprache. Der Werdegang der englischen Sprache. Mundart und Sprache. Der Glaube an die «Ursprache». Über den gemeinsamen Stammbaum der arischen Sprachen. Völker, die ihre Sprache wechselten. Nationen mit verschiedenen Sprachgebieten.
Von allen Merkmalen, die man zur Begründung der nationalen Ideologie herangezogen hat, ist die Sprachgemeinschaft das weitaus wichtigste. Viele sehen in der Gemeinschaft der Sprache das wesentliche Charakterzeichen der Nation überhaupt. In der Tat bildet die gemeinsame Sprache ein starkes Band jeder menschlichen Gruppierung, und Wilhelm von Humboldt sagte nicht mit Unrecht: «Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache.» – Karl Julius Weber sah in der Sprache das Hauptkennzeichen der Nationalität: «In nichts drückt sich der Nationalcharakter oder das eigene Gepräge der Seelen- und Geisteskraft so sprechend aus als in der Sprache eines Volkes.»
Auch die bekanntesten Träger nationalistischer Ideengänge im vergangenen Jahrhundert – Arndt, Schleiermacher, Fichte, Jahn und die Männer des deutschen Tugendbundes, Mazzini, Pisacane, Niemojowsky, Dwernicki, das «Junge Europa» und die deutschen Demokraten von 1848 begrenzten ihre Vorstellungen von der Nation auf das gemeinsame Sprachgebiet. Arndts Lied Was ist des Deutschen Vaterland? legt Zeugnis dafür ab. Dabei ist es bezeichnend, daß Arndt sowohl als Mazzini ihren nationalen Einheitsbestrebungen nicht die Volkssprache, sondern die Schriftsprache zugrunde legten, um zu einem möglichst großen Vaterlande zu gelangen.
Die gemeinsame Sprache mußte den Trägern des nationalen Gedankens so schon deshalb so gewichtig erscheinen, als sie das vornehmste Ausdrucksmittel eines Volkes ist und gewissermaßen als Gesamtergebnis seines geistigen Lebens betrachtet werden muß. Die Sprache ist nicht die Erfindung einzelner Menschen.
An ihrer Entstehung und Entwicklung hat die Gesamtheit mitgearbeitet und wirkt unablässig weiter mit, solange eine Sprache überhaupt am Leben ist. Deshalb erschien die Sprache den Befürwortern des nationalen Gedankens als das reinste Ergebnis des nationalen Schaffens und wurde ihnen zum ungetrübten Symbol der nationalen Einheit. Und doch beruht diese Auffassung, so bestrickend und unwiderlegbar sie den meisten erscheinen mag, auf einer ganz willkürlichen Voraussetzung. Von den heute bestehenden Sprachen gibt es keine mehr, die sich aus einem bestimmten Volke entwickelt hat. Es ist möglich, daß es einmal homogene Sprachen gegeben hat, allein diese Zeit liegt weit hinter uns und verliert sich in der grauesten Vorzeit der Geschichte. Die Einheitlichkeit der Sprache verschwindet in dem Augenblick, wo gegenseitige Beziehungen zwischen verschiedenen Horden, Stämmen und Völkerschaften stattfinden. Je zahlreicher und mannigfaltiger diese Beziehungen sich im Laufe der Jahrtausende gestalten, desto größere Anleihen macht jede Sprache bei anderen Sprachen, jede Kultur bei anderen Kulturen.
Demnach ist keine Sprache ein rein nationales Erzeugnis, das einem bestimmten Volke oder gar einer bestimmten Nation entsprungen ist. Bei jeder unserer heutigen Kultursprachen haben Menschen von verschiedener Abstammung Mitarbeit geleistet, wie es ja auch nicht ausbleiben kann, daß eine Sprache, solange sie überhaupt gesprochen wird, fortgesetzt fremdes Sprachgut in sich aufnimmt, trotz allen Gezeters der Reinigungsfanatiker. Ist doch jede Sprache ein Gebilde, das sich stets im Flusse befindet, keiner festen Regel gehorcht und allen Lehrsätzen der Logik ins Gesicht schlägt. Nicht bloß, daß sie fortgesetzt die mannigfachsten Anleihen bei anderen Sprachen vornimmt – eine Erscheinung, welche durch die unzähligen Einflüsse und Berührungspunkte des kulturellen Lebens bedingt ist –: auch ihr bereits vorhandener Wortschatz befindet sich in steter Umbildung. Ganz allmählich und unmerkbar ändern sich die Schattierungen und Abstufungen der Begriffe, die im Worte ihren Ausdruck finden, so daß es nicht selten vorkommt, daß ein Wort uns heute gerade das Gegenteil von dem sagt, was, es den Menschen ursprünglich vermittelt hatte.
Es gibt überhaupt keine Kultursprache, die nicht eine schwere Menge fremdes Sprachgut enthält; sie von diesen fremden Eindringlingen reinigen zu wollen, müßte zu einer völligen Auflösung der Sprache führen, vorausgesetzt, daß eine solche Reinigung überhaupt möglich wäre. Jede europäische Sprache, gleichviel welche, birgt eine Unmenge fremder Bestandteile in sich, mit denen man häufig ganze Wörterbücher ausfüllen könnte. Wie würde zum Beispiel die deutsche oder holländische Sprache aussehen, wenn man sie aller französischen und lateinischen Lehnwörter entkleiden würde, von Wörtern anderen Ursprungs gar nicht zu reden! Wie die spanische Sprache ohne ihre zahllosen, den Germanen und Arabern entlehnten Wortbildungen! Und welche Unmengen deutscher, französischer und sogar türkischer Wörter sind in die russische und polnische Sprache eingedrungen. Ebenso beherbergt die ungarische Sprache eine große Anzahl Wörter italienischen und türkischen Ursprungs. Rumänisch besteht nur zur Hälfte aus Wörtern lateinischer Abkunft; drei Achtel seines Wortschatzes sind dem Slawischen, ein Achtel dem Gotischen, Türkischen, Magyarischen und Griechischen entnommen. Im Albanischen hat man bisher nur fünf- oder sechshundert Stammwörter feststellen können; alles andere ist ein Gemisch der verschiedensten Sprachbestandteile. Sehr fein bemerkt Fritz Mauthner in seinem großen Werke Beiträge zu einer Kritik der Sprache, daß es lediglich «dem Zufall des Standpunktes zu verdanken sei, wenn wir zum Beispiel die französische Sprache als romanisch und die englische als germanisch bezeichnen». – Daß aber auch die lateinische Sprache, von der alle romanischen Sprachen ihre Herkunft ableiten, selbst wieder mit einer Unmenge Wörter griechischen Ursprungs – man zählt deren einige tausend – durchsetzt ist, ist allbekannt.
Für die Entwicklung jeder Sprache ist diese Aufnahme fremden Sprachgutes unentbehrlich. Kein Volk lebt für sich. Jeder dauernde Verkehr mit anderen Völkern hat zur Folge, daß man ihren Sprachen Wörter entlehnt, was bei der gegenseitigen kulturellen Befruchtung gar nicht zu umgehen ist. Die zahllosen Berührungspunkte, welche die Kultur tagtäglich zwischen Völkern herstellt, lassen ihre Spuren in der Sprache zurück. Neue Dinge, Ideen, Auffassungen, religiöse, politische und allgemein gesellschaftliche Begriffe führen zu neuen Ausdrücken und Wortbildungen, wobei die ältere und höher entwickelte Kultur eines Volkes naturgemäß einen stärkeren Einfluß auf weniger entwickelte Völkergruppen hat und diese mit neuen Gedanken befruchtet, die in der Sprache ihren Ausdruck finden.
Manche der neugewonnenen Sprachelemente passen sich den Lautgesetzen der fremden Sprache allmählich so vollkommen an, daß ihr Ursprung später überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Daß Wörter wie Existenz, Idee, Melodie, Musik, Muse, Nation, Religion und hundert andere Fremdwörter in unserer Sprache sind, empfinden die meisten unwillkürlich. Auch daß die Sprache des politischen Lebens mit fremden Wörtern völlig durchsetzt ist; daß Wörter wie Bourgeoisie, Proletariat, Sozialismus, Bolschewismus, Anarchie, Kommunismus, Liberalismus, Konservativismus, Faschismus, Terrorismus, Diktatur, Revolution, Partei, Parlament, Demokratie, Monarchie, Republik usw. kein deutsches Sprachgut sind, erkennt jeder auf den ersten Blick. – Doch gibt es auch eine schwere Menge fremder Abkömmlinge in unserer Sprache, die uns im Laufe der Zeit so geläufig wurden, daß wir ihre fremde Herkunft vollständig vergessen haben. Wer würde zum Beispiel heute Wörter wie Abenteuer, Anker, Arzt, Bezirk, Bluse, Bresche, Brief, Essig, Fenster, Frack, Gruppe, Kaiser, Kantor, Kasse, Keller, Kelter, Kerker, Kette, Kirsche, Koch, Koffer, Kohl, Kreuz, Küche, Lampe, Laune, Markt, Mauer, Meile, Meister, Mühle, Müller, Münze, Öl, Orgel, Park, Pfahl, Pfau, Pfeffer, Pfeiler, Pfirsich, Pflanze, Pforte, Pfosten, Pfühl, Pfütze, Pfund, Pöbel, Prinz, Pulver, Radieschen, Rest, Schüssel, Schule, Schwindler, Schreiben, Siegel, Speicher, Speise, Spott, Straße, Teller, Tisch, Trichter, Vogt, Ziegel, Zirkel, Zoll, Zwiebel und zahllose andere, wer würde diese Wörter heute noch als Fremdlinge in unserer Sprache empfinden?
Sehr häufig verändert sich das fremde Wort im Laufe der Zeit so gründlich, daß wir ihm unwillkürlich einen ganz anderen Sinn unterlegen, weil es in seiner verstümmelten Form an andere Wörter anklingt. So hat das Wort Armbrust weder mit Arm noch mit Brust etwas gemein, sondern geht vielmehr auf das lateinische Wort arcubalista zurück, das soviel wie Bogenwerfer, Wurfmaschine bedeutet. Das Wort Ebenholz hat keinerlei Beziehung zu eben oder glatt, entstammt vielmehr dem griechisch-lateinischen Ausdruck ebenus, der wiederum auf das hebräische Wort hobnim zurückgeht, von obni: steinern. Unser Vielfraß hat mit Fressen gar nichts zu tun, denn das Wort entstammt dem norwegischen fjeldfross, zu deutsch: Bergkater. Murmeltier kommt nicht von murmeln, sondern gestaltete sich im Mittelalter aus den lateinischen Wörtern murem, Akkusativ von mus, und montis oder montanum ist Bergmaus. Das Wort Tolpatsch tauchte im 17. Jahrhundert zuerst in Süddeutschland auf. Es war die volkstümliche Bezeichnung für die ungarischen Soldaten. Das Wort selbst verdankt dem ungarischen Worte talpas seine Entstehung, das soviel wie breitfüßig bedeutet. Das Wort Ohrfeige entstammt dem holländischen veeg, Streich. Trampeltier geht auf das lateinische dromedarius zurück. Hängematte kommt von dem südamerikanischen Worte hamaca. Der Gaunersprache ist unser Kümmelblättchen entnommen, das mit Kümmel nichts gemein hat, vielmehr auf das hebräische Wort gimel, das ist drei, zurückzuführen ist. Auch das heute soviel gebrauchte Wort Pleite ist hebräischen Ursprungs und kommt von pletah: Flucht.
Viele Spuren hat das Französische in unserer Sprache zurückgelassen. So ist unser sinnwidrig zusammengekoppeltes «mutterseelenallein», aus dem uns heute die ganze Empfindungsseligkeit des «deutschen Gemütes» entgegenschillert, aus moi tout seul (ich ganz allein) entstanden. Fisimatenten kommt von fils de ma taute, Sohn meiner Tante. Den deutschen Wörtern forsch und Forsche liegt das französische force zugrunde. Wenn wir unser Leben in die «Schanze schlagen», so hat das mit Schanze nichts zu tun; der Ausdruck entstammt vielmehr dem französischen Wort chance: Wurf, Gelegenheit, Glücksfall. Daher auch unser Ausdruck, jemandem etwas zuschanzen. Das früher vielgebrauchte Wort Schwager für Kutscher verdankt zweifellos dem französischen Chevalier, das ist Reiter, seine Entstehung.
Solche Beispiele lassen sich in jeder Sprache zu Tausenden anführen; sie sind bezeichnend für den Geist der Sprache, für die Entwicklung des menschlichen Denkens überhaupt. Es wäre grundverkehrt, dieses Eindringen fremden Sprachgutes lediglich auf das Guthaben der Schriftsprache setzen zu wollen, weil in dieser die Vorstellungsweise der gebildeten Gesellschaftsschichten zum Ausdruck gelangt, während man oft ganz ohne Grund annimmt, daß die Volkssprache gegen das Eindringen fremder Sprachelemente besser geschützt sei und diese rein gefühlsmäßig ablehne. Zugegeben, daß in der Sprache der Gebildeten und vornehmlich in der Sprache der Gelehrten durch die Anwendung wahllos herangezogener Fremdwörter oft des Guten zuviel getan wird, so daß man nicht ganz mit Unrecht von einer «Kastendünkelsprache» gesprochen hat. Wenn man bedenkt, daß das bekannte Heysesche Fremdwörterbuch nicht weniger als hunderttausend fremde Ausdrücke enthält, die einem Dutzend verschiedener Sprachen entlehnt sind und die alle im Deutschen ihre Anwendung finden sollen, so kann einen in der Tat ob dieses Überflusses ein geheimes Grauen ankommen. Trotzdem ist es durchaus irrig anzunehmen, daß die Sprache des Volkes dem Eindringen fremder Sprachkörper größeren Widerstand entgegensetze. Tatsache ist, daß es in den sogenannten Mundarten aller europäischen Kultursprachen, in denen die Sprache des Volkes ja am reinsten zum Ausdruck kommt, nur so wimmelt von fremdländischen Ausdrücken. So gibt es eine ganze Reihe süddeutscher Dialekte, in denen man ohne große Mühe eine stattliche Anzahl slawischer, romanischer und sogar hebräischer Wortbildungen feststellen kann, wie ja auch dem Berliner in seiner Mundart hebräische Worte wie Ganef, Galach, Mischpoche, Tinef, meschugge usw. durchaus geläufig sind. Erinnert sei auch an das bekannte Wort Wilhelms II.: «Ich dulde keine Miesmacher!» Auch das Wort Kaffer, das im Volksmunde fast überall in Deutschland gebraucht wird, um damit einen beschränkten oder albernen Menschen zu bezeichnen, steht in keiner Beziehung zu dem südafrikanischen Volke der Kaffern, sondern wurzelt vielmehr in dem hebräischen Ausdruck Kafar: Dorf.
Es kommt häufig vor, daß die ursprüngliche Bedeutung eines Lehnwortes vollständig verlorengeht und durch andere Begriffe ersetzt wird, die mit dem gewesenen Sinn des Wortes kaum noch eine Ähnlichkeit haben. In anderen Fällen nimmt das fremde Wort nur eine andere Färbung an, so daß sein ursprünglicher Sinn noch zu erkennen ist. Man kann auf diesem Gebiete sehr interessante Entdeckungen machen, die ganz überraschende Einblicke in den inneren Zusammenhang der Dinge gewähren. So bezeichnet man in meiner rheinhessischen Heimat einen Menschen, der schielt, im Volksmund als Masik. Das Wort entstammt dem Hebräischen und hat die Bedeutung von Dämon oder Kobold. In diesem Falle hat sich der ursprüngliche Sinn des Wortes erheblich verändert, doch erkennt man noch ganz deutlich den inneren Zusammenhang dieser Wandlung, denn ein Schielender galt in vergangenen Zeiten als «von Dämonen besessen» oder mit dem «bösen Blick« behaftet.
Im südwestlichen Deutschland ruft man einem Betrunkenen ein gutgelauntes Scheßwui nach, vom französischen je suis: ich bin. Jemand aus seiner Stellung entfernen heißt, daß man ihn geschaßt hat; dem französischen chasser: jagen, fortjagen entnommen. Mumm haben kommt vom lateinischen animus; Kujon vom französischen coquin, Schurke; Schmanfutist von je m’en fous: ich schere mich den Teufel drum! Eine ganze Reihe sehr derber fremdländischer Ausdrücke, denen man bereits in den Schriften des genialen Sprachschöpfers Johann Fischart begegnet, der sie in der einen oder der anderen Form Rabelais entlehnt hat, sind noch heute in der Sprache des Volkes lebendig. Außerdem gibt es noch eine ganze Reihe fremder Wörter aus jener Gegend, die bereits in die Schriftsprache eingedrungen sind und die in der Volkssprache des südlichen und südwestlichen Deutschland allgemeinen Kurswert besitzen. Man denke an schikanieren, malträtieren, alterieren, kujonieren, genieren, poussieren und hundert andere Ausdrücke. Der Mann aus dem Volke gebraucht diese Wörter tagtäglich, und ihre Verdeutschung würde ihm fremd klingen. Es ist daher durchaus falsch, wenn man von der natürlichen Reinheit der Volkssprache fabuliert, denn sie ist nirgends, zu finden.
Gewiß sollten wir beim Ausdruck unserer Gedanken nach Möglichkeit deutsches Sprachgut benutzen, soweit uns dieses zur Verfügung steht; schon das einfache Sprachgefühl verlangt dies. Aber wir wissen auch, daß unser bestes Sprachgut mit einer Menge fremder Bestandteile durchsetzt ist, deren Herkunft uns heute gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt, und wir wissen ferner, daß ungeachtet aller Bemühungen der sogenannten Sprachreiniger es nicht zu verhindern ist, daß fortgesetzt fremdes Sprachgut in den verschiedenen Sprachen Eingang findet. Jede neue geistige Erscheinung, jede gesellschaftliche Bewegung, die über die engen Grenzen des eigenen Landes hinausgreift, jede neue Einrichtung, die wir anderen Völkern entlehnen, jeder Fortschritt in der Wissenschaft und seine unmittelbaren Auswirkungen auf dem Gebiete der Technik, jede Umstellung der allgemeinen Verkehrsverhältnisse, jede Veränderung in der Weltwirtschaft und ihre politischen Folgen, jede neue Offenbarung in der Kunst verursacht das Eindringen neuer Lehnworte in die Sprache.
So brachten uns das Christentum und die Kirche eine ganze Invasion griechischer und lateinischer Wortbildungen, die man früher nicht kannte. Viele dieser neuen Ausdrücke haben sich im Laufe der Zeit so gründlich verändert, daß man ihnen den Fremdling kaum noch anmerkt. Man denke an Wörter wie Abt, Altar, Bibel, Bischof, Dom, Kantor, Kaplan, Kapelle, Kreuz, Messe, Mönch, Münster, Nonne, Papst, Priester, Probst, Teufel und eine lange Reihe anderer Ausdrücke, die uns die katholische Kirche gebracht hat. – Dieselbe Erscheinung wiederholte sich mit der Verbreitung des Römischen Rechts in deutschen Landen. Die Umstellung der Rechtsverhältnisse nach römischem Muster brachte uns eine Menge neuer Begriffe, die notwendigerweise ihren Eingang in die Sprache finden mußten. Überhaupt hat die Berührung mit der römischen Welt die Sprachen der germanischen Völker völlig durchsetzt mit neuen Ausdrücken und Wortbildungen, welche die Germanen wiederum ihren slawischen und finnischen Nachbarn zuführten.
Die Entwicklung des Militarismus und der Heeresorganisation brachte uns eine ganze Flut neuer Wörter aus dem Französischen, welche die Franzosen ihrerseits den Italienern entlehnt hatten. Die meisten dieser Wörter haben ihr artfremdes Gepräge völlig beibehalten. Man denke an Armee, Marine, Artillerie, Infanterie, Kavallerie, Regiment, Kompanie, Schwadron, Bataillon, Major, General, Leutnant, Sergeant, Munition, Patrone, Bajonett, Bombe, Granate, Schrapnell, Kaserne, Baracke, equipieren, exerzieren, füsilieren, chargieren, rekrutieren, kommandieren und zahllose andere Wörter des militärischen Lebens.
Die Einführung neuer Genußmittel hat unsere Sprache um eine ganze Anzahl fremder Ausdrücke bereichert. Man denke an Kaffee und Zucker aus dem Arabischen, an Tee aus dem Chinesischen, an Tabak aus dem Indianischen, an Sago aus dem Malaiischen, an Reis aus dem Lateinisch-Griechischen, an Kakao aus dem Mexikanischen usw. – Von den neuen Wortbildungen, welche die Wissenschaft der Sprache tagtäglich beschert, sei hier gar nicht die Rede; ebensowenig von den zahllosen Wortprägungen, die sich in der Sprache der Kunst eingebürgert haben. Ihre Zahl ist ganz unübersehbar. Heute ist es der Sport, der sich in Deutschland so schnell verbreitet und die Sprache mit einer Menge englischer und amerikanischer Fachausdrücke verunziert hat, die ihrer natürlichen Schönheit sicher nicht zuträglich sind. Sogar dort, wo man sich nach Kräften bemüht, Fremdwörter auszumerzen und durch deutsche Wortprägungen zu ersetzen, kommt häufig geradezu Ungeheuerliches zustande.
Doch es handelt sich nicht bloß um sogenannte Lehnwörter, die einer fremden Sprache entnommen und der eigenen in irgendeiner Form zugeführt werden. Es gibt auch noch eine andere Erscheinung in der Entwicklung jeder Sprache, für die man die Bezeichnung Lehnübersetzung geprägt hat. Wenn irgendein bisher unbekannter Begriff aus einem anderen Kulturkreise in unser geistiges und gesellschaftliches Leben eindringt, so geschieht es nicht immer, daß wir zusammen mit dem neuen Gedanken auch den fremden Ausdruck dafür in die eigene Sprache aufnehmen. Es kommt häufig vor, daß wir den neuerworbenen Begriff in die eigene Sprache übersetzen, indem wir aus dem vorhandenen Sprachgut eine neue, bisher nicht gebräuchliche Wortbildung schaffen. Hier tritt das Fremde sozusagen in der Maske der eigenen Sprache an uns heran. Auf diese Art sind Wörter wie Halbwelt aus demimonde, Aussperrung aus lock-out, Halbinsel aus peninsula, Zwieback aus biscuit, Wolkenkratzer aus skyscraper und hunderte ähnliche Wortbildungen entstanden. In seinem sprachkritischen Werke führt Mauthner eine Menge dieser «Bastardübersetzungen» an, wie er sie nennt, Wörter wie Ausdruck, fischen, Rücksicht, Wohltat und andere mehr, die alle auf die gleiche Weise entstanden sind.
Solche Lehnübersetzungen gibt es in jeder Sprache eine ganze Menge. Sie wirken geradezu revolutionierend auf den Werdegang der Sprache und zeigen uns vor allem die ganze Hinfälligkeit jener Auffassung, die da behauptet, daß in jeder Sprache der Geist des eigenen Volkes zum Ausdruck gelange und in ihr lebe und wirke. In Wahrheit ist jede Lehnübersetzung nur ein Beweis für das fortgesetzte Eindringen fremder Kulturelemente in unseren eigenen Kulturkreis, sofern ein Volk überhaupt von einer «eigenen Kultur» sprechen darf.
Man gebe sich doch einmal Rechenschaft darüber, wie stark die orientalische Vorstellungsweise des Alten und Neuen Testaments auf das Erbgut aller europäischen Sprachen eingewirkt hat. Wir haben nicht bloß einzelne Begriffsbildungen im Auge, wie Kainszeichen, Uriasbrief, salomonisches Urteil, sein Kreuz haben, Judaslohn usw., die uns ganz geläufig sind. Ganze Satzbildungen sind aus der Bibel in alle Sprachen eingedrungen, und zwar so tief, daß sie sich auch in der Sprache des Alltags Heimatrecht erworben haben. Man denke an folgende Beispiele, die leicht verzehnfacht werden könnten: Sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufen; ein Tau durch ein Nadelöhr ziehen; die Lenden gürten; den Wölfen im Schafspelz gleichen; feurige Kohlen aufs Haupt sammeln; den Teufel mit Beelzebub austreiben; neuen Wein in alte Schläuche füllen; sein Licht unter den Scheffel stellen; nicht wert sein, jemandem die Schuhriemen zu lösen; sein Pfund vergraben; klug sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben; Mücken seihen und Kamele verschlucken; dem Prediger in der Wüste gleichen; arm wie Hiob sein; mir geht ein Licht auf; mit feurigen Zungen reden; übertünchten Gräbern gleichen; seine Hände in Unschuld waschen, und eine lange Reihe ähnlicher Gleichnisse.
In der Tat gehört die Lehnübersetzung mit zu den seltsamsten Dingen in der Sprache überhaupt. Wer hier tiefer schürft, wird zu Erkenntnissen gelangen, die das Märchen von der unbefleckten Empfängnis der nationalen Sprache in Nichts auflösen. Die Lehnübersetzungen legen beredtes Zeugnis dafür ab, wie stark die Kultur die Menschen miteinander verbindet. Dieses Band ist gerade deshalb so dauerhaft, weil es sich sozusagen von selber knüpft und den Menschen nicht durch äußeren Zwang auferlegt wird. Verglichen mit der Kultur, ist das sogenannte Nationalbewußtsein nur das künstlich Geschaffene, das den politischen Machtbestrebungen kleiner Minderheiten in der Gesellschaft als Rechtfertigung dienen muß.
Die Kultur kennt keine solchen Hinterwege; schon deshalb nicht, weil sie nicht mechanisch geformt, sondern organisch geworden ist. Sie ist das Gesamtergebnis menschlicher Betätigung und befruchtet unser Leben bedingungslos und ohne Vorbehalt. Die Lehnübersetzungen sind nichts anderes als geistige Anleihen, welche die verschiedenen Völkergruppen eines bestimmten Kulturkreises und darüber hinaus beieinander zu machen pflegen. Gegen diesen Einfluß sträubt sich das sogenannte Nationalgefühl vergeblich, und Fritz Mauthner bemerkt mit gutem Recht:
«Vor dem Eingreifen des Nationalgefühls, vor dem Einsetzen puristischer Bewegungen entlehnen die Volksgenossen aus dem fremden Sprachschatz; nachher werden Entlehnungen von Fremdwörtern vermieden, aber um so massenhafter wandern die fremden Begriffe durch Übersetzungen in die Sprache herüber. Es gibt neuere Völker von so empfindlichem Nationalgefühl, daß sie den Purismus bis zum äußersten Extrem getrieben haben (Neugriechen und Tschechen). Sie können aber nur ihre Volkssprache isolieren, nicht ihre Weltanschauung, die begriffliche Seelensituation.»[83]
Die Sprache ist eben kein besonderer Organismus, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht, wie man früher einmal geglaubt hat; sie ist die Ausdrucksform menschlicher Einzelwesen, die gesellschaftlich miteinander verbunden sind. Sie ändert sich zusammen mit den geistigen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen und ist in hohem Grade von diesen abhängig. In der Sprache äußert sich das Denken des Menschen; dieses selbst aber ist keine rein persönliche Angelegenheit, wie sooft angenommen wird, sondern ein innerer Vorgang, der fortgesetzt durch die gesellschaftliche Umwelt angeregt und beeinflußt wird. Im Denken des Menschen spiegelt sich nicht bloß seine natürliche Umgebung wider, sondern auch alle Beziehungen, die er mit seinesgleichen unterhält. Je enger der Verband ist, dem wir angehören, je reicher und mannigfaltiger die kulturellen Beziehungen sind, die wir mit unseren Mitmenschen unterhalten, desto stärker sind die Wechselwirkungen, die uns mit der gesellschaftlichen Umwelt verbinden und die unser Denken ununterbrochen beeinflussen.
So ist also das Denken keineswegs ein Vorgang, der lediglich im Seelenleben des Einzelwesens seine Erklärung findet, sondern gleichzeitig ein Reflex der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, der sich im Hirne des Menschen zu bestimmten Vorstellungen verdichtet. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist der gesellschaftliche Charakter des menschlichen Denkens unbestreitbar, und da die Sprache nur die Lebensäußerung unseres Denkens ist, so ist ihre Existenz mit dem Leben der Gesellschaft verwurzelt und durch diese bedingt. Was übrigens schon daraus hervorgeht, daß die Sprache dem Menschen nicht angeboren wird, sondern erst auf Grund seiner gesellschaftlichen Beziehungen von ihm erworben werden muß. – Damit soll nicht der Anschein erweckt werden, daß mit dieser Auffassung alle Rätsel des Denkens und der Sprache selbst gelöst seien. Es gibt gerade auf diesem Gebiete noch so vieles, für das wir keine genügende Erklärung besitzen, und die bekannte Auffassung Goethes, daß eigentlich «niemand den anderen verstehe und keiner bei denselben Worten dasselbe denkt, was der andere denkt», hat sicherlich ihren tiefen Sinn. Es gibt noch viele unbekannte und rätselhafte Dinge in uns und um uns, über die das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Doch nicht darum handelt es sich hier, sondern lediglich um den sozialen Charakter des Denkens und der Sprache, der unserer Ansicht nach unbestreitbar ist.
Auch darüber, wie die Sprache entstanden ist, konnten wir uns bisher nur in Vermutungen ergehen, doch scheint uns die Annahme Haeckels, daß der Mensch seinen Werdegang als stummes Wesen begonnen habe, wenig wahrscheinlich. Es ist vielmehr anzunehmen, daß der Mensch, der den geselligen Instinkt bereits von seinen Vorgängern im Tierreich ererbt hatte, schon bei seinem Erscheinen auf der Bildfläche des Lebens über gewisse sprachliche Ausdrucksmittel verfügte, wie roh und unentwickelt diese immer sein mochten. Ist doch die Sprache im weitesten Sinne kein ausschließliches Besitztum des Menschen, sondern etwas, das sich bei allen gesellschaftlich lebenden Gattungen nachweisen läßt. Daß zwischen diesen Arten eine gegenseitige Verständigung vor sich geht, ist nach allen Beobachtungen kaum zu bestreiten. Es ist nicht die Sprache als solche, sondern die besondere Form der menschlichen Sprache, die artikulierte Sprache, die Begriffe formt und infolgedessen das Denken zu den höchsten Leistungen befähigt, die den Menschen von anderen Gattungen unterscheidet.
Sehr wahrscheinlich war die menschliche Sprache in ihren Anfängen zunächst nur auf gewisse Laute beschränkt, die der Natur abgelauscht waren; dazu kamen vielleicht noch Ausdrücke, die Schmerz, Überraschung oder Freude bekundeten. Diese Laute wurden innerhalb der Horde zur Bezeichnung gewisser Dinge gebräuchlich und erbten sich auf die Nachkommen fort. Mit diesen ersten dürftigen Anfängen waren die notwendigen Vorbedingungen für die weitere Entwicklung der Sprache gegeben. Die Sprache selbst aber wurde dem Menschen ein wertvolles Mittel im Kampfe für die Existenz, das zweifellos am meisten zu dem fabelhaften Aufstieg seiner Art beigetragen hat.
Durch die gemeinsame Arbeit, der die Horde oblag, ergab sich allmählich eine ganze Reihe besonderer Bezeichnungen, ebenso für die Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Jede neue Erfindung, jede Entdeckung trug dazu bei, das vorhandene Sprachgut zu bereichern, bis diese Entwicklung mit der Zeit zu der Entstehung bestimmter Wortbilder oder Symbole führte, woraus sich eine neue Art des Denkens ergeben mußte. War die Sprache zuerst nur der Ausdruck des Denkens, so wirkte sie nunmehr auf dieses zurück und beeinflußte seine Wege. Der bildliche Ausdruck der Wörter, der ursprünglich rein sinnlichen Wahrnehmungen entsprungen war, erhob sich allmählich ins Geistige und schuf damit die ersten Vorbedingungen des abstrakten Denkens. Damit entstand jene seltsame Wechselwirkung zwischen der Sprache und dem menschlichen Denken, die sich mit der fortschreitenden kulturellen Entwicklung immer mannigfaltiger und verwickelter gestaltete, so daß man nicht ganz mit Unrecht behauptet hat, daß «die Sprache für uns denke».
Aber gerade diese bildlichen Ausdrücke, die sogenannten Wortsymbole, sind den Einflüssen im Wandel des Geschehens am meisten unterworfen und verändern ihren ursprünglichen Sinn so gründlich, daß dieser nicht selten ins Gegenteil umschlägt. Das geschieht in der Regel gegen jede Logik; doch der Sprache ist mit Logik überhaupt nicht beizukommen, ein Umstand, der den meisten Sprachreinigern nie beifällt. Viele Wörter verschwinden allmählich aus der Sprache, ohne daß sich dafür ein bestimmter Grund angeben ließe – ein Vorgang, den wir auch heute noch sehr gut beobachten können. So muß die alte «Gasse» der «Straße» immer mehr den Rang abtreten, so wird die «Stube» immer häufiger vom «Zimmer» verdrängt, so muß der «Knabe» dem «Jungen», das «Haupt» dem «Kopf», das «Antlitz» dem «Gesicht» weichen. – Andererseits behaupten sich eine Menge Wörter in der Sprache, deren einstiger Sinn längst verlorenging. So sprechen wir immer noch von einer Flinte, einer Feder, einem Silbergulden, obwohl wir fast vergessen haben, daß unsere Väter oder Großväter ihr Schreibzeug dem Gefieder der Gans zu entnehmen pflegten, obwohl ein Gulden eigentlich Gold bedeutet, also mit Silber nichts gemein haben kann. Wir ergötzen uns an dem «trockenen Humor» eines Menschen und ahnen nicht einmal, daß dieses dem Lateinischen entnommene Wort die Bedeutung von Nässe, Saft, Feuchtigkeit besaß. Doch die Sprache bringt noch andere Dinge fertig. So war ein Ritter, der aus dem Kampfe in seine Burg zurückkehrte und seine Rüstung ablegte, «entrüstet»; wir aber geraten in den Harnisch, wenn wir uns entrüsten. Jede Sprache besitzt eine Menge solcher Ungereimtheiten, die sich nur dadurch erklären lassen, daß die Menschen gewissen Dingen oder Vorgängen allmählich einen anderen Sinn beilegten, ohne daß ihnen dies zum Bewußtsein kam.
Der deutsche Sprachforscher Ernst Wasserzieher hat uns in einigen vortrefflichen Schriften, denen wir die obigen Beispiele entnommen haben, die Symbolik der Sprache packend geschildert und gezeigt, daß wir fast nur in Bildern sprechen, ohne uns darüber Rechenschaft abzulegen.[84] Wenn Bäuerinnen Ähren lesen auf dem Felde, wenn ein Soldat seinem Regiment die Fahne vorträgt, wenn wir eine Pfütze übertreten, wenn sich unser Bild im Bache spiegelt, so sind das Wirklichkeitsvorgänge, die keiner näheren Erklärung bedürfen. Wenn wir aber eine Zeitung lesen, ein Gedicht vortragen, das Gesetz übertreten, oder wenn sich im Auge die Seele des Menschen spiegelt, so ist hier die Symbolik der Sprache am Werk und führt uns gewisse Vorgänge bildlich vor Augen, bei deren Zustandekommen die sinnliche Wahrnehmung einst Patendienste leisten mußte.
Diese Begriffsbildungen sind nicht nur einem steten Wechsel unterworfen; jede neue Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens schafft auch neue Wortbildungen, die den früheren Geschlechtern unverständlich bleiben müßten, da ihnen die sozialen und geistigen Ursachen für diese Neubildungen der Sprache unbekannt gewesen sind. Der Weltkrieg mit seinen unmittelbaren Begleiterscheinungen auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens gibt uns ein treffliches Beispiel dafür. Eine Menge neuer Wörter, die vor dem Kriege niemand verstanden hätte, sind damals in die Sprache eingezogen. Man denke an Trommelfeuer, Gasangriff, Flammenwerfer, Feldgrauer, Stoßtrupp, Stellungskrieg, Einnebelung, Sperrgebiet, Bezugsschein, Kriegsgewinnler, Übergangswirtschaft und hundert andere. Solche Neubildungen treten aber im Laufe der Zeit auf allen Gebieten menschlicher Betätigung in die Erscheinung und verdanken ihre Entstehung dem steten Wandel der gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Auf diese Weise ändert sich die Sprache innerhalb bestimmter Zeitabschnitte so gründlich, daß sie späteren Generationen, die, rückwärtsschauend, ihren Werdegang verfolgen, immer fremder erscheint, bis allmählich ein Punkt erreicht wird, wo sie überhaupt nicht mehr zu verstehen ist und bloß dem Forscher noch etwas zu sagen hat.
Wir sprechen schon heute nicht mehr die Sprache Schillers und Goethes. Die Sprache von Fischart, Hans Sachs und Luther gibt uns schon manches Rätsel auf und bedarf vielfach der Erklärung, um uns die Menschen jener Zeit und ihre Lebensauffassung näherzubringen. Je weiter wir zurückgreifen auf die Zeit Walthers von der Vogelweide und Gottfrieds von Straßburg, desto dunkler und unverständlicher wird uns der Sinn der Sprache, bis wir endlich bei einem Punkte anlangen, wo uns die «eigene Sprache» wie ein fremdes Gebilde anmutet, dessen Rätsel wir nur noch mit Hilfe der Übersetzung überwinden können. – Man lese einige Strophen der berühmten «Heliandhandschrift», die angeblich auf die Veranlassung Ludwigs des Frommen, nicht lange nach der Bekehrung der Sachsen zum Christentum, von einem unbekannten sächsischen Dichter verfaßt wurde. Jenes Deutsch aus der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts klingt uns heute wie eine fremde Sprache, und ebenso fremd sind uns die Menschen, die es gesprochen haben.
Die Sprache Rabelais’ wurde hundert Jahre nach seinem Tode in Frankreich kaum noch verstanden. Der heutige Franzose kann den Urtext des großen Humanisten bloß noch mit Hilfe eines besonderen Wörterbuches ergründen. Mit der Errichtung der französischen Akademie (1629) war der französischen Sprache eine strenge Hüterin erstanden, die sich nach Kräften bemühte, alle volkstümlichen Ausdrücke und Redewendungen aus der Sprache auszumerzen. Man nannte das: die Sprache verfeinern; in Wirklichkeit nahm man ihr nur die Urwüchsigkeit des Ausdrucks und beugte sie in das Joch eines unnatürlichen Despotismus, von dem sie sich später gewaltsam befreien mußte. Fénélon und sogar Racine haben diesem Empfinden verschiedentlich Ausdruck gegeben; Diderot aber schrieb ganz unumwunden:
«Wir haben unsere Sprache durch eine allzu große Verfeinerung arm gemacht; da uns sehr häufig nur ein bestimmtes Wort für einen Gedanken zur Verfügung steht, so lassen wir lieber die Kraft des Gedankens verschwimmen, da wir davor zurückschrecken, einen angeblich unedlen Ausdruck zu gebrauchen. Auf diese Weise ist uns eine Menge Wörter verlorengegangen, die wir bei Amyot und Montaigne freudig bewundern. Der sogenannte gute Stil hat sie nur deshalb aus der Sprache verbannt, weil sie vom Volke benutzt werden. Das Volk aber, das immer bestrebt ist, die Großen nachzuäffen, wollte sich später dieser Wörter selbst nicht mehr bedienen, so daß sie mit der Zeit vergessen wurden.»
Die Sprache Shakespeares gibt heute sogar dem gebildeten Engländer mancherlei Rätsel auf, nicht bloß, weil in ihr noch viel altes Sprachgut lebendig ist, das im heutigen Englisch nicht mehr benutzt wird, sondern hauptsächlich deshalb, weil der Dichter zahlreiche Wörter noch in einem Sinne gebrauchte, die ihrer heutigen Bedeutung nicht mehr entspricht. – Bis zu den Canterbury Tales Geoffrey Chaucers zurück ist schon eine schwierige Reise, während der Urtext des Liedes vom Beowulf dem Engländer von heute ein unbekanntes Land ist. – Dem heutigen Spanier bereitet das Original des Don Quijote mancherlei Schwierigkeiten, die immer unüberwindlicher werden, je mehr er sich dem alten Text des Cid nähert. – Je tiefer man in die Vergangenheit einer Sprache eindringt, desto fremder erscheint sie uns; ihre Anfänge feststellen zu wollen, wäre ein vergebliches Unterfangen. Wer könnte zum Beispiel mit Bestimmtheit sagen, wann man in Italien und Frankreich die lateinische Sprache aufgab und anfing, italienisch und französisch zu sprechen? Wer wollte feststellen, wann das verdorbene Latein der lingua romana rustica sich zum Spanischen oder, besser gesagt, zum Kastilianischen gestaltet hat? Die Sprache ändert sich eben so unbemerkbar, daß den einander folgenden Geschlechtern ihre Wandlung kaum zum Bewußtsein kommt. Damit gelangen wir zu einem Punkte, der für unsere Untersuchung von wesentlicher Bedeutung ist.
Die Vertreter der nationalen Ideologie vertreten den Standpunkt, daß die Nationalität eine natürliche innere Einheit darstelle und in ihrem tiefsten Wesen etwas Feststehendes, Unwandelbares sei. Zwar können auch sie nicht bestreiten, daß die geistigen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen jeder Nationalität einem steten Wechsel unterliegen, aber sie suchen sich mit der Behauptung zu helfen, daß diese Wandlungen nur die äußeren Lebensformen berühren, nicht aber das eigentliche Wesen der Nationalität. – Wäre nun die Sprache in der Tat das besondere Kennzeichen des nationalen Geistes, so müßte auch sie eine besondere Einheit darstellen, die durch das Wesen der Nation selbst bestimmt wird und den besonderen Charakter jedes Volkes offenbart. In der Tat hat es an Behauptungen dieser Art nicht gefehlt.
Schon Fichte machte den Versuch, aus der Sprache den Charakter der Nation abzuleiten. Mit der ganzen Überschwenglichkeit seiner hochgeschraubten patriotischen Begeisterung behauptete er von der deutschen Sprache, daß sich in ihr das Ungestüm einer Naturkraft offenbare, die ihr Leben, Stärke und Ausdruck verleihe, während den Völkern lateinischer Zunge, ganz besonders den Franzosen, nur eine gezierte, rein konventionelle Sprache zur Verfügung stehe, die ihrem Wesen Gewalt antue und in der sich der eigentliche Charakter jener Völker kundgebe. – Wilhelm von Humboldt entwickelte später eine ganze Theorie, die den Beweis erbringen sollte, daß sich in dem Bau und der Ausdrucksfähigkeit der Sprache die besondere Art eines Volkes offenbare. – «Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist, und ihr Geist ihre Sprache; man kann sich beide nie identisch genug denken.»[85]
Seitdem sind ähnliche Theorien des öfteren hervorgetreten; die Versuche von Vierkandt, Hüsing, Finck und anderen legen Zeugnis dafür ab. Bei all diesen Versuchen, von denen manche sehr geistreich vorgetragen wurden, war der Wunsch der Vater des Gedankens. Sie tragen den Stempel des Gemachten auf der Stirne; man fühlt, daß sie künstlich aufgezogen sind. Wirkliche und unantastbare Beweise für die Richtigkeit jener Theorien sind bisher nirgends erbracht worden. Deshalb ist der bekannte Sprachforscher Sandfeld-Jensen durchaus im Recht, wenn er der Behauptung Fincks, daß «der Bau der deutschen Sprache als Ausdruck deutscher Weltanschauung» zu betrachten sei, entgegentritt und erklärte, daß Finck den Nachweis für seine Behauptung nicht erbracht habe und daß ein anderer Forscher mit ebenso guter Begründung zu einem ganz anderen Ergebnis gelangen könnte. – «Auf diesem schwierigen Gebiete», sagt Sandfeld-Jensen, «das gewöhnlich ‹Völkerpsychologie› genannt wird, läuft man jeden Augenblick Gefahr, dem sicheren Boden entrückt zu werden und sich in leerem Philosophieren zu verlieren.»[86]
Nein, die Sprache ist nicht das Ergebnis einer besonderen Volkseinheit, sie ist ein im steten Wechsel begriffenes Gebilde, in dem sich die geistige und gesellschaftliche Kultur der verschiedenen Phasen unserer Entwicklung widerspiegelt. Sie ist stets im Fluß und gleicht dem Proteus, der in seinem Gestaltungswandel unerschöpflich ist. Dieser ewige Wechsel in der Sprache ist ja die Ursache, weshalb es alte und neue, lebendige, absterbende und tote Sprachen gibt.
Wenn sich die Sprache aber stets wandelt, wenn sie sich bereitwillig fremden Einflüssen ergibt und für Abkömmlinge anderer Art immer eine offene Tür hat, so ist sie nicht nur ein getreues Abbild der Kultur überhaupt, sie erbringt auch damit den Beweis, daß wir mit ihrer Hilfe nie und nimmer in das geheimnisvolle «Wesen der Nation» eindringen können, das sich angeblich im tiefsten Grunde immer gleichbleibt.
Je gewissenhafter wir den Anfängen einer Sprache nachgehen, desto weniger Beziehungen hat sie mit dem Kulturkreise, dem wir angehören, desto klaffender wird der Abstand, der uns von den Menschen vergangener Zeiten trennt, bis sich zuletzt alles in undurchdringlichem Nebel verliert. Wenn ein Franzose oder ein Engländer, sei es ein Denker, ein Staatsmann, ein Künstler, uns heute einen gewissen Gedanken vorträgt, so verstehen wir ihn ohne weiteres, obwohl wir zwar nicht derselben Nation, wohl aber demselben Kulturkreis angehören und durch unsichtbare Bande mit den geistigen Strömungen unserer Zeit verbunden sind. Allein das Fühlen und Denken der Menschen vergangener Jahrhunderte bleibt uns zum großen Teile fremd und undurchdringlich, auch wenn sie derselben Nation angehörten, da sie anderen kulturellen Einflüssen unterworfen waren. Um uns jenen Zeiten näherzubringen, bedürfen wir eines Mittels, das uns die Wirklichkeit ersetzen muß – der Überlieferung. Wo aber die Überlieferung einsetzt, dort beginnt das Reich der Dichtung. Wie sich die Urgeschichte jedes Volkes in der Mythologie verliert, so spielt auch das Mythische in der Überlieferung die wichtigste Rolle.
Es sind nicht bloß die sogenannten «Geschichtsauffassungen», die uns das Geschehen vergangener Zeiten in einem «besonderen Lichte» erscheinen lassen. Auch die angeblich «objektive Geschichtsschreibung» ist nie frei von Mythenbildung und Geschichtsklitterung. Meistenteils geschieht dies ganz unbewußt, kommt es doch darauf an, wie stark die persönliche Einstellung des Geschichtsschreibers das Bild beeinflußt, das er sich über bestimmte geschichtliche Vorgänge gemacht hat, und wie er die auf uns gekommenen Überlieferungen auslegt. Bei dieser persönlichen Einstellung aber spielt die gesellschaftliche Umwelt, in der er lebt, der Stand, dem er angehört, die politische oder religiöse Meinung, die er vertritt, eine große Rolle. Die sogenannte «vaterländische Geschichte» der einzelnen Länder ist eine einzige große Dichtung, die mit den wirklichen Begebenheiten kaum noch einen inneren Zusammenhang hat. In der «Geschichte», wie sie in den Schulbüchern der verschiedenen Nationen gelehrt wird, betreibt man die Geschichtsklitterung aus Prinzip. Menschliche Voreingenommenheit, ererbte Vorurteile und überlieferte Begriffe, an denen zu rütteln man entweder zu feige oder zu bequem ist, beeinflussen sehr häufig das Urteil ernster Forscher und verleiten sie zu willkürlichen Konstruktionen, die mit der historischen Wirklichkeit wenig gemein haben. Niemand aber ist solchen Einflüssen stärker unterworfen als die Träger nationalistischer Ideengänge, denen eine Wunschvorstellung nur allzu häufig die nüchternen Tatsachen ersetzen muß.
Daß die Entstehung und Entwicklung einer Sprache sich nicht nach nationalen Grundsätzen vollzieht oder der besonderen Vorstellungsart eines bestimmten Volkes entspringt, ist für jeden klar, der sehen will. Man werfe einen Blick auf den Werdegang der englischen Sprache, die von allen europäischen Sprachen heute die verbreitetste ist. Von der Sprache der keltischen Stämme, die vor der römischen Invasion die britischen Inseln bewohnten, haben sich verschiedene Mundarten in Wales, Irland und auf der Insel Man, im schottischen Hochgebirge und in der französischen Bretagne bis heute erhalten. Doch hat das Bretonische mit dem heutigen Englisch keinerlei Verwandtschaft, weder im Satzbau noch in der Wortbildung. Als dann im ersten Jahrhundert die Römer das Land ihrer Herrschaft unterwarfen, versuchten sie natürlich, ihrer Sprache Eingang im Volke zu verschaffen. Vermutlich beschränkte sich die Verbreitung der lateinischen Sprache vornehmlich auf die Städte und die größeren Niederlassungen im südlichen Teile des Landes, wo die römische Herrschaft am stärksten Fuß gefaßt hatte. Immerhin konnte es nicht ausbleiben, daß während der fast vierhundertjährigen Römerherrschaft im Lande zahlreiche Sprachentlehnungen stattgefunden haben. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, das sich auf diese Art im Laufe der Zeit ein besonderes lokales Latein entwickelt hätte, aus dem – ähnlich wie in Italien, Frankreich und Spanien – ein neues Sprachgebilde hervorgegangen wäre.
Diese Entwicklung aber wurde gründlich gestört, als im 5. und 6. Jahrhundert niederdeutsche Stämme, wie die Angeln, Sachsen und Juten, in Britannien eindrangen und das Land nach längeren Kämpfen mit den kriegerischen Völkerschaften des Nordens für sich eroberten. So wurde die Sprache der neuen Eroberer allmählich die Landessprache, wobei es auch in diesem Falle nicht ohne mannigfache Sprachentlehnungen abging. Mit der dänischen Invasion im 8. und 10. Jahrhundert drang ein neues germanisches Idiom in die Sprache des Landes ein, dessen Einfluß noch heute deutlich zu erkennen ist. Bis endlich nach dem Einfall der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer die vorhandene Sprache mit dem normannischen Französisch völlig durchsetzt wurde, und zwar so, daß nicht nur eine bedeutende Vermehrung des alten Sprachgutes durch sogenannte Lehnwörter vor sich ging, sondern auch tiefgehende Änderungen im Geiste und Aufbau der Sprache stattgefunden haben. Aus diesen mannigfachen Übergängen und Sprachmischungen entwickelte sich allmählich die heutige englische Sprache.
Jede Sprache hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich, wenn auch die einzelnen Phasen ihres Werdeganges nicht immer so deutlich zu verfolgen sind. Nicht nur hat jede Sprache im Laufe ihrer Entwicklung eine Menge fremdes Sprachgut in ihren Wortschatz aufgenommen; sehr häufig hat auch der grammatische Aufbau der Sprache durch enge Berührung mit anderen Völkern wesentliche Änderungen erfahren. Ein Musterbeispiel dafür bieten die heutigen Balkansprachen, deren Herkunft auf ganz verschiedene Sprachstämme zurückgeht. Nichtsdestoweniger haben diese Sprachen nach der einmütigen Bestätigung namhafter Sprachforscher ein merkwürdig einheitliches Gepräge erhalten, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Phraseologie als auch auf die Entwicklung ihres Satzbaues. So ist ihnen zum Beispiel der Infinitiv mehr oder weniger verlorengegangen. Eine der sonderbarsten Erscheinungen sprachlicher Entwicklung bietet das Bulgarische. Nach der einstimmigen Ansicht bekannter Sprachforscher wie Schleicher, Leskien, Brugman, Kopitar und anderer steht das Bulgarische der altslawischen Kirchensprache näher als alle anderen slawischen Sprachen der Gegenwart, obgleich es außer zweitausend türkischen und ungefähr tausend griechischen Wörtern auch zahlreiche Ausdrücke aus dem Persischen, Arabischen, Albanischen und Rumänischen aufgenommen hat. Die Grammatik der bulgarischen Sprache aber hat ganz andere Formen angenommen. So wird der bestimmte Artikel dem Hauptwort angehängt wie im Albanischen und Rumänischen; außerdem ist Bulgarisch von allen slawischen Sprachen die einzige, die ihre sieben Fälle fast vollständig eingebüßt hat und diese durch Präpositionen ersetzt wie das Italienische oder das Französische.
Solche Beispiele kennt die vergleichende Sprachwissenschaft eine Menge. Das ist auch die Ursache, weshalb die moderne Sprachforschung immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, daß alle früheren Einteilungen der Sprachen nach verschiedenen Stammesgruppen im besten Falle nur als denktechnische Hilfsmittel zu bewerten sind, aber der Wirklichkeit wenig entsprechen. Weiß man doch heute, daß selbst die tibeto-chinesischen, die ural-altaiischen und die semitischen Sprachen mit einer Menge indogermanischen Sprachgutes durchsetzt sind, ebenso das Altägyptische. Von der hebräischen Sprache behauptet man sogar, daß sie ihrem Bau nach semitisch, ihrem Wortschatz nach aber indogermanisch sei. C. Meinhof, einer der besten Kenner der afrikanischen Sprachen, vertritt sogar den Standpunkt daß die semitischen, hamitischen und indogermanischen Sprachen demselben Sprachkreis angehören.
Doch es sind nicht bloß fremdländische Einflüsse, welche die Entwicklung jeder Sprache beeinflussen jedes große Ereignis im Leben eines Volkes oder einer Nation, das ihre Geschichte in andere Bahnen lenkt, läßt tiefe Spuren in der Sprache zurück. So hatte die große Französische Revolution nicht nur tiefgreifende Änderungen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben Frankreichs zur Folge, sie verursachte auch eine vollständige Umwälzung in der Sprache und sprengte die Ketten, welche der Dünkel der Aristokratie und der unter ihrem Einfluß stehenden Literaten ihr angelegt hatten. Gerade in Frankreich hatte sich die Sprache, die am Hofe, in den Salons und in der Literatur benutzt wurde, so maßlos «verfeinert», daß sie jede Kraft des Ausdrucks zu verlieren schien und sich nur noch in Geistreicheleien erging. Zwischen der Sprache der Gebildeten und der des Volkes lag ein Abgrund, der ebenso unüberbrückbar war wie die Kluft, die zwischen den privilegierten Ständen und der breiten Masse des Volkes gähnte. Erst die Revolution bot diesem Niedergang der Sprache Einhalt. Das neuerwachte politische und gesellschaftliche Leben bereicherte sie mit einer Menge kraftvoller und volkstümlicher Ausdrücke, von denen die meisten Bürgerrecht behielten, obgleich man in den Jahren der Reaktion sich nach Kräften bemühte, jeden Ausdruck aus der Sprache auszuschalten, der an die Revolution gemahnte. In seiner 1801 erschienenen Neologie führte Mercier über zweitausend Wortbildungen an, die das Zeitalter Ludwigs XIV. nicht kannte, doch war damit die Zahl der neuen Wortschöpfungen, die aus der Revolution hervorgegangen sind, bei weitem nicht erschöpft. – «Neue Wörter und Ausdrücke stürmten in solcher Zahl auf die Sprache ein», schrieb Paul Lafargue in seinem sehr bemerkenswerten Aufsatz, «daß man die Zeitungen und Schriften jener Zeit den Höflingen Ludwigs XIV. nur durch Übersetzungen hätte verständlich machen können.»[87]
Die Volkssprache ist überhaupt ein Kapitel für sich. Betrachtet man die Sprache kurzerhand als das wesentliche Kennzeichen der Nation, so übersieht man dabei nicht selten, daß die gegenseitige Verständigung zwischen den Angehörigen derselben Nation oft nur durch die allgemeine Schriftsprache möglich wird. Die Schriftsprache aber, welche sich in jeder Nation erst allmählich herausarbeitet, ist der Volkssprache gegenüber stets das künstlich Geschaffene. Deshalb stehen Schrift- und Volkssprache stets auf gespanntem Fuße, da sich diese nur widerwillig dem äußeren Zwange unterwirft. Gewiß entwickelt sich jede Schriftsprache zunächst aus einer bestimmten Mundart. Gewöhnlich ist dies die Mundart einer wirtschaftlich und kulturell vorgeschrittenen Gegend, deren Bewohner auf Grund ihrer höheren geistigen Entwicklung auch über einen größeren Wortschatz gebieten, der ihnen allmählich ein gewisses Übergewicht über andere Mundarten verschafft. Diese Entwicklung läßt sich in jedem Lande deutlich beobachten. Allmählich nimmt die Schriftsprache auch Wörter aus anderen Mundarten auf, wodurch die Möglichkeit einer sprachlichen Verständigung innerhalb eines größeren Gebietes gefördert wird. So finden wir bereits in der Bibelübersetzung Luthers, die auf der obersächsischen Mundart fußte, eine ganze Anzahl Ausdrücke, die anderen deutschen Mundarten entlehnt waren. Viele Wörter, die Luther in seiner Übersetzung benutzte, waren im südlichen Deutschland so unbekannt, daß sie ohne eine besondere Erklärung nicht verstanden wurden. So zum Beispiel fühlen, gehorchen, Seuche, täuschen, Lippe, Träne, Kahn, Ufer, Hügel usw. Den hochdeutschen Mundarten entnommen sind staunen, entsprechen, tagen, Unbill, Ahne, dumpf, während Damm, Beute, beschwichtigen, flott, düster, sacht niederdeutschen Ursprunges sind.[88]
Es ist also die Schriftsprache, die eine Verständigung in weiterem Umfange vermittelt, nicht die Volkssprache. Der Dithmarscher oder der Ostpreuße befindet sich schon im Ausland, wenn er nach Bayern oder Schwaben kommt. Dem Friesländer klingt das sogenannte «Schwiezerduetsch» so fremd wie Französisch, obgleich er mit dem Schweizer dieselbe Schriftsprache gemein hat. Daß ein Süddeutscher den mannigfachen Mundarten des Niederdeutschen ganz hilflos gegenübersteht, weiß jeder, der die kleinste Erfahrung hat. Derselben Erscheinung begegnen wir in der Sprache jeder Nation. Der Londoner kann den Schotten, der seine Mundart spricht, kaum verstehen. Dem Pariser ist das Französische des Gascogners oder des Wallonen fremd, während dem Provenzalen die Geheimnisse des Pariser Argot ohne besonderes Studium ewig unverständlich bleiben. Das Italienisch des Neapolitaners macht dem Spanier weniger Beschwerden als dem Venezianer oder dem Mann aus Genua. Die Sprache des Andalusiers unterscheidet sich stark von der Sprache des Kastiliers – von dem Katalonier nicht zu reden, der eine eigene Sprache spricht.
Der Sprachforscher, der zwischen Mundart und Sprache eine feste Grenze ziehen könnte, müßte noch geboren werden. In den meisten Fällen ist es ganz unmöglich, festzustellen, wo eine Mundart aufhört, ein sogenannter Dialekt zu sein, und als besondere Sprache betrachtet werden muß. Daher auch die Unsicherheit in den Angaben über die Zahl der Sprachen auf der Erde, die von manchen Sprachforschern auf etwa 800, von anderen auf 1.500 und 2.000 geschätzt wird.
Die dialektfreie Sprache aber, die aus der Schriftsprache erst wird, ist nie imstande, uns den Geist und die besondere Eigenart einer Mundart richtig zu vermitteln. Jede Übertragung aus einer fremden Sprache hat ihre Mängel, die sich nie ganz überwinden lassen. Und doch ist es leichter, aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, als aus einer Mundart des eigenen Landes in die gemeinsame Schriftsprache zu übertragen. Das trockene Geschehen der Dinge läßt sich schon wiedergeben, doch nie der lebendige Geist, der mit der Mundart steht und fällt. Alle Versuche, Fritz Reuter ins Hochdeutsche zu übertragen, sind bisher gescheitert und können nie einen Erfolg haben, wie es verlorene Liebesmühe wäre, die Alemannischen Gedichte Hebels oder Dialektdichter wie Friedrich Stoltze, Franz von Kobell oder Daniel Hirtz ins Schriftdeutsche übertragen zu wollen.
Nicht selten ist die Frage, ob eine Sprache als Mundart oder als besonderes Sprachgebilde zu betrachten ist, eine rein politische Angelegenheit. So ist Holländisch heute eine besondere Sprache, weil die Holländer ein eigenes Staatswesen besitzen; wäre das nicht der Fall, so würde man Holländisch sehr wahrscheinlich heute als eine niederdeutsche Mundart betrachten. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Dänisch und Schwedisch. In Deutschland sowohl als in Schweden besteht zwischen den verschiedenen Mundarten des Landes oft ein größerer Unterschied als zwischen Deutsch und Holländisch oder Schwedisch und Dänisch. Andererseits sehen wir, wie unter dem Einfluß eines besonders hochgeschraubten Nationalismus tote Sprachen wieder zu neuem Leben erweckt werden, wie das Keltische in Irland und das Hebräische in den jüdischen Kolonien Palästinas.
Die Sprache geht überhaupt ganz sonderbare Wege und stellt uns immer wieder vor neue Rätsel, die kein Forschereifer bisher entwirren konnte. Es ist noch nicht lange her, als man glaubte, daß alle vorhandenen und bereits verschwundenen Sprachen auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen. Ohne Zweifel hat dabei die Mythe vom verlorenen Paradies eine Rolle gespielt. Der Glaube an ein erstes Menschenpaar führte folgerichtig zu der Vorstellung einer gemeinsamen Ursprache, als die man natürlich das Hebräische – die «heilige Sprache» betrachtete. Allein die fortschreitende Erkenntnis über die Abstammung des Menschen setzte auch diesem Glauben eine Schranke. Dieser entschiedene Bruch mit den alten Auffassungen machte erst die Bahn frei für eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der Sprache. Die Folge war, daß eine ganze Reihe willkürlicher Voraussetzungen preisgegeben werden mußte, die mit den Ergebnissen der modernen Sprachforschung in hoffnungslosen Widerspruch geraten waren. So fiel unter anderem auch die Hypothese von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Sprache nach bestimmten Lautgesetzen, wie sie von Schleicher und seinen Nachfolgern vertreten wurde. Bis man mählich zu der Überzeugung gelangte, daß die langsame Gestaltung der Sprache überhaupt kein gesetzmäßiger Vorgang ist und sich ganz regellos und ohne innere Ordnung vollzieht. Als sich dann später auch die Theorie von der sagenhaften «arischen Rasse» in Wohlgefallen auflöste und zusammen mit ihr die phantasiereichen Spekulationen, die man an die vermeintliche Existenz einer solchen Rasse geknüpft hatte, da geriet auch die Hypothese von der gemeinschaftlichen Abstammung der sogenannten indogermanischen Sprachen, die man auch häufig die «arischen» nennt, stark ins Wanken und läßt sich heute kaum noch aufrechthalten.
«Die Fabel von einem gemeinsamen Stammbaum der sogenannten arischen Sprachen ist jetzt nach den skeptischen Arbeiten von Johannes Schmidt nicht mehr aufrechtzuhalten und wird auch von den führenden Sprachwissenschaftlern vorsichtig vermieden. Ich sehe die Zeit nicht ferne, wo man den Begriff Sprachverwandtschaft gar nicht mehr gebrauchen, wo man die Ähnlichkeit von Sprachbestandteilen größerenteils auf Entlehnungen zurückführen und kleinerenteils unerklärt lassen wird, wo man endlich darauf verzichten wird, die Methoden der Historie auf prähistorische Zeiten anzuwenden, die Wissenschaft der Überlieferung auf die Zeit ohne Überlieferung. Ihre Triumphe feiert die Stammbaumzeichnerei der vergleichenden Sprachwissenschaft für Zeiten, aus denen wohl Literaturquellen, aber nicht die historischen Zusammenhänge auf uns gekommen sind. Wo wir die Zusammenhänge kennen, im Lichte der historischen Zeit, da gibt es keine Tochtersprachen mehr, da gibt es nur noch Entlehnungen der schwächeren Kultur von der stärkeren Kultur (wobei oft genug Mode, Religion oder Kriegsruhm darüber entschieden haben mag, was schwächer und was stärker heißen sollte), Einzelentlehnungen und Massenentlehnungen, Entlehnungen aus besonderen Kulturzweigen und Entlehnungen ganzer Kulturen.»[89]
Der Ursprung und die Gestaltung der verschiedenen Sprachen ist in so undurchdringliches Dunkel gehüllt, daß man sich nur an der Hand unsicherer Hypothesen vorwärtstasten kann. Um so mehr Vorsicht ist geboten auf einem Gebiete, auf dem man so leicht auf hoffnungslose Irrwege geraten kann. – Eines steht jedoch fest: Die Vorstellung, daß jede Sprache das ureigenste Erzeugnis eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Nation sei und daher einen rein nationalen Charakter besitze, entbehrt jeder Begründung und ist nur eine der zahllosen Wahnvorstellungen, die sich im Zeitalter der Rassentheorien und des Nationalismus so unangenehm bemerkbar machen.
Steht man aber schon ja auf dem Standpunkte, daß die Sprache der Wesensausdruck der Nationalität sei, so muß man naturgemäß daraus folgern, daß ein Volk oder eine Nation als solche aufhören zu bestehen, wenn sie aus dem einen oder dem anderen Grunde ihre Sprache aufgeben, eine Erscheinung, die in der Geschichte durchaus nicht selten ist. Oder ist man etwa der Ansicht, daß mit dem Wechsel der Sprache auch eine Umwandlung des «nationalen Geistes» oder der «Seele der Nation» eintrete? Wäre dies der Fall, so würde es nur beweisen, daß die Nationalität ein sehr unsicherer und jeder festen Basis entbehrender Begriff ist.
Völker haben im Laufe ihrer Geschichte ihre Sprache des öfteren gewechselt, und es ist zumeist nur eine Frage des Zufalls, welche Sprache ein Volk heute spricht. Die Völker germanischer Abkunft bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme; sie haben nicht nur die Sitten und Gebräuche fremder Völker, sondern auch deren Sprachen verhältnismäßig leicht angenommen und die eigene vergessen. Als die Normannen im 9. und 10. Jahrhundert sich im nördlichen Frankreich niederließen, dauerte es kaum hundert Jahre, bis sie ihre Sprache vollständig vergessen hatten und nur noch französisch sprachen. Bei der Eroberung Englands und Siziliens im 11. Jahrhundert wiederholte sich dieselbe Erscheinung noch einmal. Die normannischen Eroberer verlernten in England das angenommene Französisch und übernahmen allmählich die Sprache des erbeuteten Landes, deren Entwicklung sie allerdings stark beeinflußten. In Sizilien und Süditalien aber verschwand der normannische Einfluß gänzlich und ließ kaum eine Spur zurück. Die Eroberer verloren sich vollständig in der einheimischen Bevölkerung, deren Sprache und vielfach orientalische Sitten sie angenommen hatten. – Und nicht bloß die Normannen. Eine ganze Reihe germanischer Völkerschaften haben auf ihren Wanderungen und Eroberungszügen ihre alte Sprache aufgegeben und sich zu anderen bequemt. Man denke an die Langobarden in Italien, an die Franken in Gallien, an die Goten in Spanien, nicht zu reden von Vandalen, Sueven, Alanen und vielen anderen. Nicht nur die germanischen Stämme haben einen solchen Wechsel ihrer Sprache erlebt; Völker und Stämme der verschiedensten Abstammung haben dasselbe Schicksal über sich ergehen lassen müssen.
Wenn Ludwig Jahn, der große deutsche Patriot, der aus Prinzip keinen Franzmann leiden mochte, die Worte niederschrieb: «In seiner Muttersprache ehrt sich jedes Volk, in der Sprache Schatz ist die Urkunde seiner Bildungsgeschichte niedergelegt; ein Volk, das seine eigene Sprache verlernt, gibt sein Stimmrecht in der Menschheit auf und ist zur stummen Rolle auf der Weltbühne verwiesen», so vergaß er leider, daß das Volk, dem er angehörte, die Preußen, auch zu den Völkern gehörten, die ihre Sprache verlernt, also «ihr Stimmrecht in der Menschheit aufgegeben» hatten. Die alten Preußen waren nicht bloß ein Mischvolk, in dem der slawische Einschlag bei weitem der stärkste war; sie besaßen auch ihre eigne Sprache, die mit dem Lettischen und Litauischen verwandt war und sich bis ins 16. Jahrhundert erhalten hatte. – Der Sprachforscher Dirr sagte daher mit Recht: «Es gibt so wenig, vielleicht gar keine Völker, die nicht ihre Sprache im Laufe ihrer Geschichte gewechselt hätten. Manche mehrmals.»
Bemerkenswert in dieser Hinsicht sind die Juden. Ihre Urgeschichte ist wie die der meisten Völker gänzlich unbekannt, doch kann man annehmen, daß sie bereits als Mischvolk in die Geschichte eingetreten sind. Während der jüdischen Herrschaft in Palästina waren dort zwei Sprachen im Gebrauch: Hebräisch und Arameisch, was daraus hervorgeht, daß der Gottesdienst in beiden Sprachen abgehalten wurde. Schon geraume Zeit vor der Zerstörung Jerusalems gab es in Rom eine große jüdische Gemeinde, die einen nicht unbedeutenden Einfluß ausübte und die lateinische Sprache angenommen hatte. Auch in Alexandrien lebten zahlreiche Juden, die nach dem verunglückten Aufstand der Makkabäer durch zahllose Flüchtlinge Zuwachs erhielten. In Ägypten nahmen die Juden die griechische Sprache an, übersetzten ihre «heiligen Schriften» ins Griechische, deren Text zuletzt bloß noch in dieser Übersetzung studiert wurde. Ihre besten Köpfe nahmen Anteil an dem reichen geistigen Leben und schrieben fast nur noch griechisch.
Als dann im Anfang des 8. Jahrhunderts die Araber in Spanien einfielen, strömten viele Juden ins Land, in dem schon früher, wie in Nordafrika, eine ganze Reihe jüdischer Niederlassungen bestanden. Unter der Herrschaft der Mauren genossen die Juden sehr große Freiheiten, die ihnen erlaubten, an dem kulturellen Aufbau des Landes hervorragend mitzuwirken, das in jener Zeit einer Oase glich inmitten der geistigen Finsternis, in die Europa versunken war. So wurde Arabisch die Sprache des jüdischen Volkes; sogar religionsphilosophische Werke wie der Moreh Nebuchim (Führer der Verirrten) von Moses ben Maimon und die Cosari des berühmten Dichters Jehuda Halevi wurden in Arabisch geschrieben und erst später ins Hebräische übersetzt. Nach der Austreibung der Juden aus Spanien begaben sich zahlreiche Familien nach Frankreich, Deutschland, Holland und England, wo bereits überall jüdische Gemeinden bestanden, welche die Sprache ihrer Wirtsvölker angenommen hatten. Als dann später die grausamen Judenverfolgungen in Frankreich und Deutschland in die Erscheinung traten, strömten Scharen jüdischer Flüchtlinge nach Polen und Rußland. Sie brachten ihr altes Ghettodeutsch, das vielfach mit hebräischen Ausdrücken durchsetzt war, mit in die neue Heimat, wo im Laufe der Zeit zahlreiche slawische Wörter in ihre Sprache eindrangen. So entwickelte sich das sogenannte Jiddisch, die heutige Sprache der Ostjuden, das in den letzten fünfzig Jahren eine ziemlich umfangreiche Literatur geschaffen hat, die sehr wohl einen Vergleich mit der Literatur der übrigen kleinen Völkergruppen in Europa bestehen kann. – Wir haben es hier mit einem Volke zu tun, das im Laufe seiner langen und leidensvollen Geschichte seine Sprache häufig gewechselt hat, ohne dadurch seinen inneren Zusammenhang zu verlieren.
Andererseits gibt es eine ganze Anzahl Fälle, wo die Sprachgemeinschaft mit den Grenzen der Nation überhaupt nicht zusammenfällt, und wieder andere, wo in demselben Staate verschiedene Sprachen in Gebrauch sind. Durch die Sprache ist der Bewohner von Roussillon mehr mit dem Katalonier, der Korsikaner mit dem Italiener, der Elsässer mit dem Deutschen verbunden, obwohl sie alle der französischen Nation angehören. Der Brasilianer spricht dieselbe Sprache wie der Portugiese; in den übrigen Staaten Südamerikas ist Spanisch die Landessprache. Die Neger von Haiti sprechen französisch, ein sehr verstümmeltes Französisch, das aber nichtsdestoweniger ihre Muttersprache ist, denn sie besitzen keine andere. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas spricht man dieselbe Sprache wie in England. In den Ländern Nordafrikas und Kleinasiens ist Arabisch die verbreitetste Sprache. Ähnliche Beispiele gibt es noch eine ganze Menge.
Von der anderen Seite spricht man in einem so kleinen Lande wie der Schweiz vier verschiedene Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch. Belgien hat zwei Landessprachen: Flämisch und Französisch. In Spanien benutzt man außer dem offiziellen Kastilianisch noch Baskisch, Katatonisch und Portugiesisch. Es gibt kaum einen Staat in Europa, der nicht in kleinerem oder größerem Umfange fremdsprachliche Elemente beherbergt.
Die Sprache ist also kein Merkzeichen der Nation; sie ist sogar nicht immer entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation. Jede Sprache ist durchsetzt mit einer Menge fremden Sprachgutes, in dem die Vorstellungsweise und die geistige Kultur anderer Völker lebendig ist. Aus diesem Grunde sind alle Versuche, das sogenannte Wesen der Nation auf die Sprache zurückzuführen, hinfällig und ermangeln jeder tieferen Beweiskraft.
XVIII. Die Nation im Lichte der modernen Rassentheorien
Rassenforschung und Rassentheorie. Über die Einheit der Gattung Mensch. Die angeblichen Urrassen Europas. Über den Begriff «Rasse». Die Entdeckung der Blutgruppen und die Rasse. Körpermerkmale und geistige Eigenschaften, Gobineaus Theorie von der Ungleichheit der menschlichen Rassen. Der Arier. Die Geschichte als Rassenkampf, Rassentheorie und Herrenrecht. Die Rassentheorie Chamberlains. Chamberlain und Gobineau. Der Germane als Schöpfer aller Kulturen. Christus als Germane. Der Protestantismus als Rassenreligion. Germanentum und Judentum als feindliche Pole. Die politischen Bestrebungen Chamberlains. Die Theorie Ludwig Woltmanns. Rassentheorie und Vererbung. Einfluß der natürlichen Umwelt. Moderne Rassentheorien. Die «Rassenseele». Die Rassenmerkmale deutscher Kulturträger. Die Macht der erworbenen Eigenschaften. Hunger und Liebe. Die Rasse im Weltkriege. Die Aufnordungstheorie. Verrufserklärung anderer Rassen. Die Folgen einer Wahnvorstellung. Die Widersprüche in der modernen Rassenliteratur. Menschen und Ideen im Lichte der Rassentheorie. Rasse und Macht.
Zu den bisher behandelten Auffassungen über das Wesen der Nation ist noch eine andere getreten, die sich besonders heute geräuschvoll bemerkbar macht und gerade in Deutschland zahlreiche Anhänger gefunden hat. Es ist hier von der «Gemeinschaft des Blutes» die Rede, von dem angeblichen Einfluß der Rasse auf die Gestaltung der Nation und ihre geistigen und kulturellen Schöpfergaben. Man muß hier von Anfang an klare Grenzen ziehen zwischen rein wissenschaftlichen Untersuchungen über die Entstehung der Rassen und ihre besondere Beschaffenheit und den sogenannten Rassentheorien, deren Befürworter sich vermessen haben, aus wirklichen oder vermeintlichen Körpermerkmalen der Rasse ein Werturteil über die geistigen, sittlichen und kulturellen Veranlagungen bestimmter Menschengruppen abzuleiten. Ein solches Unterfangen mutet um so bedenklicher an, als wir nicht bloß über die Entstehung der Rassen, sondern über die Entstehung des Menschen überhaupt bis heute völlig im unklaren sind und uns lediglich auf einige Hypothesen berufen könnten, von denen wir nicht wissen, bis zu welchem Grade sie der Wirklichkeit entsprechen.
So ist man sich über das vermutliche Alter des Menschengeschlechtes in fachwissenschaftlichen Kreisen durchaus nicht einig, und es verging eine geraume Zeit, bis man sich dazu entschlossen hatte, das erste Auftreten des Menschen auf der Erde in die Diluvialzeit zu verlegen; doch mehren sich die Stimmen, die der Meinung Ausdruck geben, daß seine Vergangenheit sich bis in die Tertiärperiode zurückführen lasse. Auch die Frage über die Urheimat des Menschen ist noch völlig in Dunkel gehüllt und hat lebhafte Meinungsverschiedenheiten unter den namhaftesten Vertretern der Naturwissenschaften hervorgerufen, die besonders während der letzten Jahre durch die Ergebnisse der Cameron-Cable-Expedition in Südafrika und der von Roy Chapman Andrews geführten amerikanischen Expeditionen in der äußeren Mongolei wieder stark in den Vordergrund getreten sind. Ebenso ungeklärt bleibt die Frage, ob die Entstehung des Menschen sich innerhalb eines bestimmten Gebietes vollzogen hat, oder ob die Menschwerdung in verschiedenen Teilen der Erde ungefähr gleichzeitig vor sich ging. Mit anderen Worten: ob die Gattung Mensch eines Stammes ist und die Verschiedenheit der Rassen erst nachträglich durch Wanderungen und eine Veränderung der äußeren Lebensbedingungen verursacht wurde, oder ob der Unterschied der Rassen durch die Verschiedenheit der Abstammung von Anfang an gegeben war. Die meisten Forscher vertreten auch heute noch den Standpunkt der Monogenese und sind der Ansicht, daß die Menschheit auf einen gemeinsamen Urstamm zurückgeht und Rassenabstufungen erst später durch die Veränderung der Umwelt eingetreten sind. Auch Darwin vertrat diese Auffassung, wenn er sagte: «Alle Menschenrassen sind ineinander so unendlich näher als irgendeinem Affen, daß ich alle als von einer Form abstammend ansehen möchte.» Was so hervorragende Vertreter der Wissenschaft bisher an der Einheit des Menschengeschlechtes festhalten ließ, war vornehmlich die Beschaffenheit des menschlichen Knochengerüstes, das für die ganze Körpergliederung maßgebend ist und das bei allen Menschenrassen eine erstaunliche Ähnlichkeit des Baus aufweist.
Zu all diesen Schwierigkeiten kommt noch der Umstand, daß man sich über den Begriff Rasse überhaupt nicht klar ist, was schon daraus hervorgeht, daß man mit der Einteilung der vorhandenen Menschenrassen höchst willkürlich umspringt. So begnügte man sich lange Zeit mit den vier Rassen Linnés, dann brachte uns Blumenthal eine fünfte und Buffon eine sechste Rasse, denen Peschel mit einer siebenten und Agassiz mit einer achten folgten. Bis endlich Haeckel von zwölf, Morton von zweiundzwanzig und Crawfurd von sechzig Rassen sprachen, die später um das Doppelte vermehrt wurden. Weshalb ein so verdienstvoller Forscher wie Luschan mit Recht behaupten durfte, daß es ebenso unmöglich sei, die Zahl der vorhandenen Rassen festzustellen, wie die Zahl der bestehenden Sprachen zu ermitteln, da man eine Rasse von einer Varietät ebenso schwer unterscheiden könne wie eine Sprache von einer sogenannten Mundart. Stellt man den weißen Nordeuropäer neben einen Neger und einen typischen Mongolen, so fällt der Unterschied sogar dem Laien sofort ins Auge. Geht man aber den zahllosen Abstufungen dieser drei Rassen gründlich nach, so gelangt man zuletzt zu einem Punkte, wo man nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wo die eine Rasse aufhört und die andere anfängt.
Das gotische Wort reizza hatte eigentlich nur die Bedeutung von Riß oder Linie.[90] In diesem Sinne fand es seinen Eingang in die meisten europäischen Sprachen, wo es allmählich auch zur Bezeichnung anderer Dinge herangezogen wurde und noch wird. So versteht man im Englischen unter race nicht nur eine besondere Tier- oder Menschengruppe mit bestimmten vererbbaren Körpermerkmalen; das Wort wird auch gebraucht für einen Wettbewerb der Geschwindigkeit, wie z. B. ein Pferderennen, für einen Lebenslauf, eine starke Wasserströmung und einiges mehr. In Frankreich erhielt das Wort neben anderen noch eine politische Bedeutung, indem man es mit dem Werdegang der verschiedenen Dynastien in Verbindung brachte. So sprach man von den Merowingern, Karolingern und Capetingern als von der ersten, zweiten und dritten Rasse. Eine ähnliche Vieldeutigkeit hat auch das Wort im Spanischen und Italienischen. Später wurde es vornehmlich von Tierzüchtern gebraucht, bis es allmählich zum Modewort bestimmter politischer Richtungen wurde, so daß wir uns erst nach und nach daran gewöhnen mußten, das Wort Rasse mit einer bestimmten Vorstellung zu verknüpfen, die aber in sich selbst noch immer so unklar ist, daß ein Anthropologe von der Bedeutung F. von Luschans sagen durfte: «…Ja, das Wort Rasse selbst hat mehr und mehr an Bedeutung verloren und würde am besten ganz aufgegeben werden, wenn es irgendwie durch ein weniger vieldeutiges zu ersetzen wäre.»
Seit der Entdeckung der berühmten menschlichen Knochenreste im kleinen Neandertal (1856) hat die wissenschaftliche Forschung ungefähr hundert ähnliche Funde in verschiedenen Gegenden der Erde gemacht, die alle auf die Diluvialzeit zurückgeführt werden. Man darf die dadurch gewonnenen Erkenntnisse jedoch keineswegs überschätzen, denn es handelt sich bisher fast immer um Einzelexemplare, mit denen sich keine sicheren Vergleiche anstellen lassen; außerdem geben uns einfache Knochenüberreste keinerlei Vorstellung über die Hautfarbe, das Haar und die nähere Gesichtsbildung jener vorgeschichtlichen Menschen. Aus der Schädelbildung der aufgefundenen Menschenexemplare scheint nur das eine mit einer gewissen Sicherheit hervorzugehen, daß es sich bei diesen Funden um mindestens drei verschiedene Varietäten handelt, die man nach den Orten benannt hat, wo die Überreste zutage gefördert wurden. So spricht man heute von einer Neandertalrasse, einer Aurignacrasse und einer Cro-Magnon-Rasse. Von diesen scheint der Neandertalmensch der primitivste gewesen zu sein, während der Cro-Magnon-Mensch sowohl seiner Schädelbildung als auch den aufgefundenen Werkzeugen nach zu urteilen der entwickeltste Sprößling der damaligen Bevölkerung Europas gewesen sein dürfte.
In welchem Verhältnis diese drei Rassen – wenn es sich überhaupt um solche handelt – zueinander gestanden haben und woher sie gekommen sind, weiß keiner. Ob die Neandertaler wirklich aus Afrika stammen und in Europa eingewandert sind, ob sie jahrtausendelang große Gebiete unseres Kontinents bevölkert haben, bis sie vor ungefähr 40.000 Jahren von der aus Asien eingewanderten Aurignacrasse verdrängt wurden, wie Klaatsch und Heilborn annehmen, ist natürlich nur eine Hypothese. Ebenso fraglich ist es, ob der Cro-Magnon-Mensch in der Tat das Ergebnis einer Mischung zwischen dem Neandertaler und dem Aurignacmenschen ist, wie von manchen Forschern angenommen wird. Gänzlich verfehlt aber ist der Versuch, die heutigen Rassen Europas von diesen drei «Grundrassen» ableiten zu wollen, da wir ja gar nicht wissen können, ob es sich bei diesen Varietäten wirklich um ursprüngliche Rassen handelte oder nicht. Das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher.
Reine Rassen fehlen nicht nur in Europa, man findet solche auch nicht unter sogenannten wilden Völkerschaften, auch wenn diese ihre Heimat in den entlegensten Teilen der Erde gefunden haben, wie zum Beispiel die Eskimos oder die Bewohner Feuerlands. Ob es einmal sogenannte Urrassen gegeben hat, läßt sich heute kaum noch feststellen; wenigstens berechtigt uns der heutige Stand unseres Wissens keineswegs, mit bestimmten Behauptungen hervorzutreten, die aller greifbaren Beweise entbehren. Daraus geht hervor, daß der Begriff Rasse nichts Festes und Unveräußerliches umschreibt, sondern ein im steten Flusse befindliches Etwas ist, das sich im Zustand fortgesetzter Umbildung befindet. Vor allem aber muß man sich hüten, Rasse mit Art oder Gattung zu verwechseln, wie dies bei den heutigen Rassentheoretikern leider so häufig geschieht. Rasse ist nur ein künstlich geschaffener Einteilungsbegriff biologischer Natur, welcher der Wissenschaft als denktechnisches Mittel dient, um bestimmte Wahrnehmungen unter Dach und Fach zu bringen. Nur die Menschheit als Ganzes bildet eine naturgeschichtliche Einheit, eine Art. Dafür spricht in erster Linie die unbeschränkte Kreuzungsfähigkeit innerhalb der Gattung Mensch. Jede geschlechtliche Verbindung zwischen Abkömmlingen der verschiedensten Rassen ist fruchtbar; ebenso die ihrer Nachkommen. Diese Erscheinung ist einer der stärksten Gründe für den gemeinsamen Ursprung des Menschengeschlechts.
Mit der Entdeckung der sogenannten Blutgruppen glaubte man zuerst dem Problem der Rasse auf den Grund zu kommen, aber auch hier folgte die Enttäuschung auf dem Fuße. Als es Karl Landsteiner gelungen war festzustellen, daß die Menschen sich nach drei verschiedenen Blutgruppen unterscheiden, denen Jansky und Moss noch eine vierte beigesellten, glaubten manche, diese Verschiedenheit des Blutes, deren Feststellung besonders für die medizinische Wissenschaft von so großer Bedeutung war, auf die Existenz von vier Urrassen zurückführen zu müssen. Doch es stellte sich bald heraus, daß diese vier Blutgruppen bei allen Rassen zu finden sind, wenn auch die Blutgruppe 3 bei Eskimos und Indianern spärlicher vorkommt. Vor allem aber zeigte es sich, daß ein langköpfiger, mit allen Merkmalen der nordischen Rasse ausgestatteter Blondling derselben Blutgruppe angehören kann wie ein dunkelhäutiger Negersprößling oder ein schlitzäugiger Chinese. Für unsere Rassentheoretiker, die so viel von der «Stimme des Blutes» zu erzählen wissen, zweifellos eine sehr betrübliche Tatsache.
Die Mehrzahl der Rassentheoretiker vertritt den Standpunkt, daß die sogenannten Rassenmerkmale von der Natur selbst geschaffenes Erbgut sind, das durch äußere Lebensbedingungen nicht beeinflußt wird und sich unverändert auf die Nachkommen überträgt, vorausgesetzt, daß bei der Fortpflanzung ein rassenverwandtes Ehepaar in Frage kommt. Deshalb ist Rasse Schicksal, Fatum des Blutes, dem keiner entgehen kann. – Unter Rassenmerkmalen versteht man vornehmlich die Form des Schädels, die Hautfarbe, die besondere Beschaffenheit des Haares und der Augen, die Form der Nase und die Körpergröße. Ob diese Merkmale in der Tat so «unveräußerlich» sind, wie unsere Rassentheoretiker es haben wollen, ob sie wirklich nur durch Rassenkreuzung verändert werden können oder ob nicht auch die natürliche und soziale Umwelt eine Veränderung rein physiologischer Rassenmerkmale herbeiführen kann, ist ein Kapitel, das für die Wissenschaft noch lange nicht abgeschlossen ist.
Wie die besonderen Merkmale der verschiedenen Rassen ursprünglich zustande kamen, darüber können wir heute nur Vermutungen anstellen, doch spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie auf dem einen oder anderen Wege durch eine Veränderung der natürlichen Umwelt erworben wurden, eine Auffassung, die von den bedeutendsten Anthropologen heute vertreten wird. Wir kennen bereits eine ganze Anzahl verbürgter Tatsachen, aus denen hervorgeht, daß körperliche Rassenmerkmale durch Veränderung der äußeren Lebensbedingungen andere Formen annehmen und diese auf die Nachkommen vererben. In seinem vortrefflichen Werke Rasse und Kultur berichtet Friedrich Hertz unter anderem von den Versuchen der beiden Forscher Schröder und Pictet, denen es gelang, bei Weichtieren und Insekten durch Änderung der Umwelt den Nahrungstrieb, die Art der Eiablage und der Verpuppung, den Brutinstinkt usw. in so nachhaltiger Weise zu verändern, daß die Änderungen erblich übertragen wurden, obgleich die modifizierten Lebensbedingungen später wieder in Wegfall kamen. – Bekannt sind auch die Versuche, die der amerikanische Gelehrte Tower mit dem Coloradokäfer anstellte. Tower setzte das Insekt kälteren Temperaturen aus und brachte es zuwege, daß durch diese und andere Einflüsse eine Änderung gewisser Merkmale eintrat, die auch auf die Nachkommen übergingen.
E. Vatter berichtet über die Erfahrungen des russischen Anthropologen Iwanowsky während der dreijährigen Hungerperiode in Rußland nach dem Kriege. Iwanowsky hatte an 2.114 Männern und Frauen aus den verschiedensten Teilen des Landes Messungen vorgenommen, und zwar geschah dies in einem halbjährigen Abstande, so daß jedes Individuum sechsmal untersucht wurde. Dabei stellte sich heraus, daß die Körpergröße im Durchschnitt um 4 bis 5 Zentimeter herabgesetzt, der horizontale Kopfumfang sowie Länge- und Querdurchmesser verkürzt, der Längenbreitenindex geändert war. Bei den Großrussen war er gesunken, ebenso bei den Weiß und Kleinrussen, Syriern, Baschkiren, Kalmücken und Kirgisen, während er bei den Armeniern, Grusiniern und Krimtataren gestiegen war, also der Prozentsatz der Kurzköpfigen sich gehoben hätte. Weiter war der Nasenindex kleiner geworden. Nach Iwanowsky ist die «Unbeweglichkeit anthropologischer Typen eine Sage».[91]
Veränderung der Nahrung und des Klimas, Einfluß hoher Temperaturen, große Feuchtigkeit usw. haben unbestreitbar Änderungen gewisser Körpermerkmale zur Folge. So war der bekannte amerikanische Anthropologe F. Boas in der Lage, den Nachweis zu erbringen, daß die Schädelform bei den Nachkommen der in Amerika eingewanderten Europäer eine auffallende Änderung zeige, und zwar dergestalt, daß zum Beispiel die Abkömmlinge kurzschädeliger Ostjuden langköpfiger und die langschädeliger Sizilianer kurzköpfiger geworden sind, die Schädelgestaltung also einer gewissen Durchschnittsform zustrebt.[92] Dieses Ergebnis ist um so bedeutungsvoller, weil es sich dabei um eine Veränderung körperlicher Merkmale handelt, die nur durch äußere Einflüsse auf die sogenannte Erbeinheit der Rasse zu erklären sind. – Von ganz besonderer und in ihren Wirkungen noch gar nicht übersehbarer Bedeutung sind die Ergebnisse, die man während der letzten Jahre durch die Einflüsse von Röntgen- und Kathodenstrahlen erzielt hat. Versuche, wie sie an der Universität von Texas von Professor H. J. Müller gemacht wurden, führten zu Ergebnissen, die eine vollständige Revolution auf dem Gebiete der Vererbungstheorien voraussehen lassen, weil dadurch nicht nur bewiesen wurde, daß künstliche Eingriffe in das Leben der Erbmasse und folglich eine vorsätzliche Änderung der Rassenmerkmale möglich sind, sondern daß auch durch solche Versuche die Erzeugung neuer Rassen künstlich bewirkt werden kann.
Aus alledem geht hervor, daß körperliche Merkmale durchaus nicht so unveränderlich sind und daß eine Änderung solcher auch ohne Rassenkreuzung möglich ist. Um so ungeheuerlicher ist es, von rein körperlichen Merkmalen auf seelische und geistige Eigenschaften zu schließen und daraus ein sittliches Werturteil abzuleiten. Zwar hatte bereits Linné bei seinem Versuche einer Rasseneinteilung der Menschheit auch sittliche Faktoren herangezogen, wenn er sagte:
«Der Amerikaner ist rötlich, cholerisch, aufgerichtet; der Europäer weiß, sanguinisch, fleischig; der Asiate gelblich, melancholisch, zäh; der Afrikaner schwarz, phlegmatisch, schlaff. Der Amerikaner ist hartnäckig, zufrieden, frei; der Europäer scharfsinnig, beweglich, erfinderisch; der Asiate grausam, prachtliebend, geizig; der Afrikaner schlau, träge, gleichgültig. Der Amerikaner ist bedeckt mit Tätowierungen und regiert durch Gewohnheiten; der Europäer ist bedeckt mit anliegenden Kleidern und regiert durch Gesetze; der Asiate ist gehüllt in weite Gewänder und regiert durch Meinungen, der Afrikaner ist mit Fett gesalbt und regiert durch Willkür.»
Doch Linné verfolgte mit seinem Schema keine politischen Absichten. Schon die Naivität, von Tätowierungen, Kleidern und gesalbten Körpern auf Regierungsformen zu schließen, beweist die Harmlosigkeit seines Versuches. Doch wie sonderbar uns die Auffassungen des schwedischen Naturforschers heute anmuten, so haben wir kein Recht, darüber zu lächeln angesichts der beschämenden Tatsache, daß seit dem letzten Jahrhundert eine ganze Sintflut sogenannter Rassenliteratur über uns ergangen ist, die auch nichts Besseres vorzubringen wußte, als was Linné vor zweihundert Jahren zu sagen hatte. Denn wenn der schwedische Gelehrte Tätowierungen, Kleider und gesalbte Negerleiber mit Regierungsformen in Verbindung brachte, so war das lange nicht so schlimm, als wenn man heute die Kulturfähigkeit, den Charakter und die sittliche und geistige Veranlagung der einzelnen Rassen von der Hautfarbe, dem Nasenrücken oder der Form des Schädels abzuleiten bemüht ist.
Der erste, der den Versuch machte, das Auf und Ab der Völker in der Geschichte als ein Spiel von Rassengegensätzen zu erklären, war der französische Graf Arthur de Gobineau. Gobineau, der während seiner diplomatischen Laufbahn manches ferne Land gesehen hatte, war ein ziemlich fruchtbarer Schriftsteller, doch interessiert uns hier nur sein Hauptwerk Essai sur l’inégalité desraces humaines, das 1855 erschienen ist. Nach seinen eigenen Angaben hatte die Pariser Februarrevolution von 1848 Gobineau den ersten Anstoß zur Formulierung seiner Ideen gegeben. Er sah in den revolutionären Ereignissen jener Zeit nur die unvermeidliche Folge der großen Umwälzung von 1789-94, unter deren gewaltigen Zuckungen die feudale Welt in Trümmer fiel. Über die Ursachen dieses Zusammenbruches hatte er sich sein eigenes Urteil gebildet. Für ihn war die Französische Revolution nichts anderes als der Aufstand des kelto-romanischen Rassengemischs, das all die Jahre in geistiger und wirtschaftlicher Abhängigkeit gelebt hatte, gegen die fränkisch-normannische Herrenkaste. Diese Kaste waren nach Gobineau die Abkömmlinge jener nordischen Eroberer, die einst ins Land eingedrungen und die kelto-romanische Bevölkerung ihrer Herrschaft unterworfen hatten. Es war die Rasse mit den lichten Augen, dem blonden Haar und der hohen Gestalt, die für Gobineau den Inbegriff aller geistigen und körperlichen Vollendung bildete und deren überragende Intelligenz und Willensstärke ihr ganz von selbst die Rolle zuwies, für die sie seiner Auffassung nach berufen war in der Geschichte.
Ganz neu war diese Idee allerdings nicht. Sie spukte bereits lange vor dem Ausbruch der Französischen Revolution in den Köpfen der Aristokratie. So behauptete schon Henri de Boulainvilliers (1658-1722), der Verfasser einiger historischer Arbeiten, die aber erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden, daß der französische Adel der Herrenkaste der germanischen Eroberer entstamme, während die breite Masse des Bürgertums und der Bauernschaft als Abkömmlinge der unterworfenen Rasse der Kelten und Römer zu betrachten sei. Boulainvilliers suchte auf Grund dieser These alle Vorrechte des Adels zu rechtfertigen, sowohl dem Volke als dem König gegenüber, und forderte für seine Klasse das Recht, daß die Regierung des Landes stets in ihren Händen liege. – Gobineau griff diese These auf, aber er erweiterte sie beträchtlich, indem er sie auf die ganze menschliche Geschichte übertrug. Da er aber – wie er selbst einmal sagte – «nur das glaubte, was ihm glaubenswert erschien», so konnte es nicht ausbleiben, daß er zu den gewagtesten Konstruktionen gelangte.
Wie Joseph de Maistre einst behauptete, daß er noch nie einem Menschen, sondern immer nur Franzosen, Deutschen, Italienern usw. begegnet sei, so erklärte auch Gobineau, daß der ideelle Mensch nur in den Köpfen der Philosophen sein Wesen treibe. In der Wirklichkeit ist der Mensch nur der Ausdruck der Rasse, der er angehört; denn die Stimme des Blutes ist Schicksalsstimme, der sich kein Volk entziehen kann. Weder die klimatische Umwelt noch die sozialen Lebensbedingungen haben einen nennenswerten Einfluß auf die Gestaltungskraft der Völker. Die treibende Kraft aller Kultur ist die Rasse, allen voran die arische Rasse, die selbst unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen Größtes zu schaffen imstande ist, solange sie die Verbindung mit minderwertigen Rassenelementen vermeidet. Der Einteilung des französischen Naturforschers Cuvier folgend, unterscheidet Gobineau drei große Rasseneinheiten: die weiße, die gelbe und die schwarze Rasse. Jede dieser drei Rassen stellte einen besonderen Versuch Gottes in der Erschaffung des Menschen dar: Gott hatte mit dem Neger begonnen, um zuletzt den weißen Menschen nach seinem eigenen Bilde zu formen. Zwischen diesen drei großen Rasseneinheiten besteht keine innere Verwandtschaft, da sie verschiedener Abstammung sind. Eine Verwandtschaft kommt nur durch Rassenkreuzung zustande. Alles, was außerhalb jener drei Grundrassen besteht, ist Rassengemisch oder, wie Gobineau sagt, Mestizentum, das durch Verbindungen zwischen Weißen, Gelben und Schwarzen ins Leben gerufen wurde.
Es versteht sich, daß nach Gobineau die weiße Rasse den beiden anderen in allen Dingen weit überlegen ist. Sie ist eine Edelrasse im besten Sinne, denn sie besitzt außer ihrer körperlichen Schönheit auch die hervorragendsten geistigen und seelischen Eigenschaften, vor allem geistigen Fernblick, hervorragende Organisationsbefähigung und ganz besonders den inneren Drang des Eroberers, der dem gelben und dem schwarzen Menschen gänzlich fehlt und der dem Arier allein die Kraft gibt, als Gründer großer Staatswesen und Zivilisationen in der Geschichte zu wirken.
Gobineau unterscheidet zehn große Kulturperioden in der Geschichte, welche alle bedeutenden Epochen der menschlichen Zivilisation umfassen und die wir ausschließlich dem Wirken der arischen Rasse zu verdanken haben. Die Entstehung, Entwicklung und der Verfall dieser großen Epochen menschlicher Kultur bilden nach seiner Auffassung den Inhalt der ganzen menschlichen Geschichte, wobei Zivilisation und Degeneration die beiden Pole sind, um die sich alles Geschehen dreht. Gobineau, dem der Gedanke einer organischen Entwicklung völlig fremd war, versuchte, den Werdegang und den Verfall der großen Zivilisationen durch die Entartung der Rasse zu erklären, und zwar der Herrenrasse, denn für ihn war die breite Masse minderwertiger Elemente, welche die große Mehrheit jedes Staatswesens ausmacht, nur dazu da, zu ihrem eigenen Heile von den reinrassigen Eroberern regiert zu werden. Alle Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Einrichtungen sind lediglich auf Veränderungen der Rasse zurückzuführen. Der Verfall eines Reiches und seiner Kultur tritt dann ein, wenn große Mengen fremden Blutes in die Reihen der Herrscherkaste einströmen. Dadurch entsteht nicht nur eine Veränderung der äußeren Rassenmerkmale, sondern auch ein Wechsel in den seelischen und geistigen Bestrebungen der Herrenrasse, der zu einem allmählichen oder raschen Verfall führt. In dieser inneren Zersetzung der edlen Rasse findet der Untergang aller großen Kulturen seine letzte und endgültige Erklärung.
Je stärker die Bestandteile der weißen Urrasse im Blute eines Volkes, vertreten sind, desto hervorragender gestaltet sich seine kulturelle Betätigung, desto größer sind seine staatsbildenden Kräfte, während ein zu starkes Einströmen des Neger- oder Mongolenblutes die kulturschöpferischen Eigenschaften der alten Rasse untergräbt und sie allmählich der inneren Auflösung preisgibt. – Im Gegensatz zu Chamberlain und den meisten Vertretern moderner Rassentheorien war Gobineau in seinen Ausblicken in die Zukunft durchaus pessimistisch. Er konnte sich der Überzeugung nicht verschließen, daß die germanische Rasse, diese «letzte Blüte des arischen Stammes», wie er sie nannte, in deren Adern das Blut der Urrasse noch am stärksten kreist, dem unvermeidlichen Untergange geweiht war. Die starke Verbreitung republikanischer und demokratischer Ideen erschien ihm als ein untrügliches Zeichen des inneren Verfalls; sie kennzeichnete den Sieg des Mestizentums über die arische Edelrasse; denn nach Gobineau war nur die Monarchie befähigt, etwas Dauerndes zustande zu bringen, da sie das Grundgesetz ihr Seins in sich selbst trägt, während die Demokratie stets von äußeren Kräften abhängig ist und aus diesem Grunde nichts Hervorragendes schaffen kann. Nur das entartete Blut der Mischrasse schreit nach Demokratie und Revolution. – In diesem Punkt kommt Gobineau den Anschauungen Joseph de Maistres, des geistigen Bannerträgers der Reaktion, ganz nahe, mit dem er noch manches andere gemein hat, so vor allem die geradezu haarsträubende Vergewaltigung geschichtlicher Tatsachen und die kaum faßbare Naivität begrifflicher Konstruktionen. Nur daß de Maistre im Protestantismus die Wurzel alles Übels erblickte, was schließlich auf dasselbe hinausläuft, denn die Demokratie war für Gobineau nur eine politische Abart des Protestantismus.
In einem Punkte unterscheidet sich Gobineau ganz erheblich von allen späteren Vertretern der Rassentheorie: Er hatte kein Verständnis für nationalistische Bestrebungen und stand dem Begriff Vaterland mit ausgesprochener Feindschaft gegenüber. Bei seinem Abscheu gegen alles, was irgendwie an die Demokratie gemahnte, war keine andere Stellung möglich. Hatte doch die Idee des Vaterlandes und der Nation erst durch die große Revolution jene besondere Prägung erhalten, die ihr heute eigen ist. Das genügte für Gobineau, das Vaterland als eine «kanaanitische Ungeheuerlichkeit» zu verhöhnen, welche die arische Rasse gegen ihren Willen von den Semiten übernommen hätte. Solange der Hellenismus arisch war, war die Idee des Vaterlandes den Griechen gänzlich fremd. Als aber die Blutmischung mit den Semiten immer stärker um sich griff, mußte die Monarchie der Republik den Platz räumen. Das semitische Element drängte zum Absolutismus, wie Gobineau sich ausdrückte; doch das arische Blut, das in der Mischrasse der späteren Griechen noch immer lebendig war, widersetzte sich dem persönlichen Despotismus, wie er in Asien üblich war, und gelangte folgerichtig zu dem Despotismus einer Idee – der Idee des Vaterlandes.
In diesem Punkte ist Gobineau durchaus konsequent; seine Vaterlandslosigkeit ist das unmittelbare und bewußt empfundene Ergebnis seiner Rassentheorie. Wäre die Nation in der Tat eine Abstammungsgemeinschaft, eine Rasseneinheit, so müßte sich der Rasseninstinkt als das stärkste Bindemittel für sie auswirken. Besteht sie aber aus den verschiedensten Rassenbestandteilen – eine Tatsache, die kein Rassentheoretiker zu bestreiten wagt –, dann muß der Rassengedanke auf den Begriff der Nation wie Sprengpulver wirken und ihre stärksten Fundamente in Trümmer schlagen. Geistreicher und phantasiebegabter als alle seine späteren Nachfolger zusammengenommen, hatte Gobineau den Gegensatz zwischen Rasse und Nation erkannt und zwischen der reinrassigen Führerschicht der Nation und dem Mestizentum der breiten Massen eine scharfe Grenze gezogen, die unsere nationalistisch eingestellten Rassentheoretiker vergeblich zu überbrücken suchen. Der Gedanke, daß die breiten Schichten der Nation nur Heloten sind, die sich willenlos dem Gebot einer durch das Blut bestimmten privilegierten Kaste unterwerfen müssen, ist in der Tat die größte Gefahr für den nationalen Zusammenhalt.
Die Bewunderer Gobineaus haben sich die Vaterlandslosigkeit des Meisters dadurch erklären wollen, daß er sich in seinen Gedanken ein «ideelles Vaterland» geschaffen habe, das seinem innersten Empfinden entsprach und zugleich dem patriotischen Bedürfnis, das angeblich jedem Menschen innewohnt, Rechnung trug. Allein eine solche Erklärung ist keine Bohne wert. Wenn der Mensch sich willkürlich die Fiktion eines ideellen Vaterlandes schaffen kann, so beweist dies nur, daß die Vorstellungen vom Vaterlande und der Nation selber fiktive Begriffe sind, die dem Einzelwesen anerzogen werden und jederzeit durch andere Fiktionen verdrängt werden können. – Gobineau war ein fanatischer Gegner der menschlichen Gleichberechtigung; deshalb erschien ihm die Revolution als eine Entweihung der von Gott eingesetzten Ordnung. Seine ganze Rassenideologie war nur das Ergebnis eines tieferen Wunsches: den Menschen den Glauben an die Unabänderlichkeit der gesellschaftlichen Ungleichheit einzupflanzen. Wie Malthus den Überflüssigen erklärte, daß der Tisch des Lebens nicht für alle gedeckt sei, so wollte Gobineau der Welt beweisen, daß die Knechtung der breiten Massen schicksalsbedingt und ein Gesetz der Natur ist. Nur wenn die Instinkte des minderwertigen Rassengemischs sich im Blute der Herrenkaste auswirken, entsteht der Glaube an die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Für Gobineau aber war dieser Glaube nur eine Illusion, die unwiderruflich zur völligen Zersetzung jeder gesellschaftlichen Ordnung führen mußte.
Während Gobineau in seiner französischen Heimat fast jede Anerkennung versagt blieb und sogar seine rein literarischen Werke dort geringer eingeschätzt wurden, als sie es verdienen, hat er auf die Entwicklung des Rassengedankens, besonders in Deutschland, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt. Durch seine Bekanntschaft mit Richard Wagner, in dessen Hause auch Schemann, der deutsche Biograph und Übersetzer Gobineaus, seine erste Bekanntschaft machte, bildete sich später die sogenannte Gobineau-Gesellschaft, die für die Verbreitung seines Rassenwerkes Sorge trug und auch weiterhin im Sinne des phantasiebegabten Franzosen wirkte, dem trotz aller wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten eine gewisse Größe nicht abgesprochen werden kann, die seinen späteren Nachfahren völlig abgeht.
Einen weit stärkeren Einfluß als Gobineau hatte der Engländer Houston Stewart Chamberlain auf die Entwicklung des Rassengedankens in Deutschland und darüber hinaus, dessen Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) eine ziemlich weite Verbreitung fand. Chamberlain erfreute sich der besonderen Huld Wilhelms II., den er von einer Seite zu fassen wußte, wo er am sterblichsten war. Er verglich seine Regierung mit einem «aufgehenden Morgen» und stellte ihm das Zeugnis aus, daß er «überhaupt der erste Kaiser» sei. Für solche plumpen Schmeicheleien hatte der spätere Schloßherr von Doorn ein sehr empfängliches Ohr, und so konnte es nicht ausbleiben, daß Chamberlain auf höheren Befehl in die Reihen der zeitgenössischen großen Geister aufrückte. Die Grundlagen fanden in den Reihen der regierenden Kaste in Deutschland einen reißenden Absatz. Um dem Werke eine möglichst weite Verbreitung zu sichern, wurde ein besonderer Fonds gegründet; der Kaiser protegierte es in eigener Person und beglückte damit manche deutsche Privat- und Stadtbücherei und sämtliche Schulen des Reiches. Nach den boshaften Angaben Bülows pflegte Wilhelm seinen Hofdamen ganze Abschnitte des Buches vorzulesen, bis sie darüber einschliefen.
In der Regel sieht man in Chamberlain nur den Vollender der Rassentheorie Gobineaus, wobei man nicht verfehlt, seine geistige Überlegenheit nachdrücklich zu betonen. Gegen eine solche Auffassung kann nicht scharf genug Front gemacht werden. Chamberlain war nur der Nutznießer Gobineaus; seine Grundlagen wären ohne diesen undenkbar. Keiner, der die beiden Werke ernsthaft miteinander vergleicht, kann sich dieser Einsicht verschließen. Chamberlain hatte die rassenideologische Geschichtsphilosophie Gobineaus erst im Hause seines Schwiegervaters Richard Wagner kennengelernt und sie in ihren wesentlichen Zügen für sein eigenes Werk übernommen.
Was Rasse eigentlich ist, erfahren wir bei Chamberlain ebensowenig wie bei Gobineau. Er ist der vollendetste Mystiker des Rassengedankens, der sich bei ihm zu einer gläubig empfundenen Rassenmythologie verdichtet. Äußere Merkmale wie Schädelformen, Beschaffenheit und Farbe des Haares, der Haut, des Auges usw. haben für ihn nur eine bedingte Bedeutung; auch die Sprache ist nicht maßgebend. Maßgebend ist lediglich das instinktive Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich durch die «Stimme des Blutes» kundgibt. Dieses «Gefühl der Rasse im eigenen Busen», das allerdings keiner Kontrolle untersteht und wissenschaftlich nicht zu erfassen ist, ist im Grunde alles, was Chamberlain uns von der Rasse zu sagen hat.
Wie Gobineau, so erblickt auch Chamberlain in jeder großen Kulturperiode ein unbestreitbares Ergebnis des germanischen Geistes und beschlagnahmt mit kühler Selbstverständlichkeit das Kulturgut aller Völker und alle großen Geister, welche die Menschheit hervorgebracht, für seine Edelrasse. Die Germanen sind das Salz der Erde, denn sie sind von der Natur selbst mit allen geistigen und seelischen Eigenschaften ausgestattet worden, die sie dazu bestimmen, die «Herren der Welt» zu sein. Diese angeblich historische Berufung der Germanen geht für den Verfasser der Grundlagen aus aller bisherigen Geschichte klar hervor, so daß jeder Zweifel darüber verstummen muß; denn es waren Germanen, die als Führerschicht auch bei allen nichtgermanischen Völkergruppen wie Franzosen, Italienern, Spaniern, Russen usw. eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben; nur ihrem Einfluß ist es zu verdanken, daß sich in jenen Ländern überhaupt eine Kultur entwickeln konnte. Auch die großen Kulturen des Ostens sind auf diese Weise entstanden; sie wuchsen unter dem Einfluß germanischen Blutes zu ungeahnter Größe empor und gingen zugrunde, als durch Blutmischungen mit minderwertigen Rassen die geistige Spannkraft nachließ und der Wille zur Macht in der niedergehenden Herrenkaste erloschen war.
Daß Rassenkreuzung der kulturellen Entwicklung förderlich sein kann, bestreitet auch Chamberlain nicht, solange es sich bei der Mischung um verwandte Rassen handelt; denn eine edle Rasse arbeitet sich erst allmählich durch Mischung mit mehr oder weniger gleichwertigen Rassen heraus. Hier ist der Punkt, wo sich die Auffassung Chamberlains von der Gobineaus scheidet. Für Gobineau steht die Rasse am Anfang aller menschlichen Geschichte. Sie besitzt ihre bestimmten körperlichen und geistigen Merkmale, die sich erblich übertragen und nur durch Kreuzung mit anderen Rassen eine Änderung erfahren, und da er überzeugt war, daß das Blut der edlen Rasse durch Kreuzungen mit gelben und schwarzen Rassenelementen im Laufe der Jahrtausende immer mehr entwertet wurde und seine kostbaren Eigenschaften einbüßte, deshalb sah er mit sorgenvollen Blicken in die Zukunft. Chamberlain, an dem die Lehre Darwins nicht spurlos vorüberging, sah in der Rasse keinen Ausgangspunkt, sondern ein Ergebnis, der Entwicklung. Nach seiner Auffassung entsteht die Rasse durch natürliche Zuchtwahl im Kampf ums Dasein, welcher die Unfähigen ausmerzt und nur die starken, für die Fortpflanzung der Art befähigtsten Individuen bestehen läßt. Mithin ist die Rasse das Endergebnis eines fortgesetzten Trennungsvorganges von einer verwandten Gattung.
Ist aber die Rasse ein Ergebnis und nicht der Ausgang der Entwicklung, dann ist die Entstehung edler Rassen auch für die Zukunft gewährleistet, vorausgesetzt, daß die herrschende Oberschicht einer Nation die Lehren der Geschichte beherzigt und dem drohenden «Rassenchaos» durch eine entsprechende Rassenhygiene vorbeugt. Zur Erhärtung seiner Behauptung zieht Chamberlain die Erfahrungen des Züchters heran und zeigt uns, wie eine edle Rasse von Pferden, Hunden oder Schweinen zustande kommt; wobei er allerdings das Wesentlichste vergißt, nämlich, daß die Kreuzungen der menschlichen Rassen im Laufe der Jahrtausende sich unter ganz anderen Voraussetzungen vollzogen haben als die sogenannten «Veredlungsversuche» im Stalle des Züchters. Für Gobineau bestand das Wort zu Recht: Im Anfang war die Rasse. Deshalb bedeutete ihm die Nation nichts, erschien ihm die Idee des Vaterlandes als eine listige Erfindung des semitischen Geistes. Chamberlain aber, der an die Züchtung einer edlen Rasse glaubte, wollte die Nation zur Reinrassigkeit erziehen, und da ihm die deutsche Nation für diesen Zweck am geeignetsten erschien, weil seiner Behauptung nach das germanische Blut in ihren Adern noch am stärksten pulsierte, so wurde ihm der Teutone zum Träger der Zukunft.
Nachdem Chamberlain den edlen Germanen mit allen erdenklichen körperlichen, geistigen und seelischen Vorzügen in einer wahrhaft großzügigen Weise ausgestattet hatte, blieb den Völkern anderer Abstammung nichts übrig, als sich der stolzen Herrenrasse bedingungslos zu unterwerfen und im Schatten ihrer alles überragenden Größe ein bescheidenes Dasein zu fristen. Sind diese anderen doch nur Kulturdünger der Geschichte; um so schlimmer für sie, wenn sie das nicht einsehen wollen.
Nach Chamberlain bildet der Gegensatz zwischen Romanen und Germanen den ganzen Inhalt der modernen Geschichte, und da die romanische Welt, die aus dem großen Völkerchaos hervorgegangen ist, sich den «materialistischen Bestrebungen» der katholischen Kirche auf Gedeih und Verderb verschrieben hat, verschreiben mußte, da ihr die Stimme des Blutes keine andere Wahl ließ, so wird ihm der Protestantismus zur Großtat germanischer Kultur. Der Deutsche aber ist der berufenste Träger der protestantischen Sendung, durch welche das Christentum erst seinen wahren Inhalt erhält. Daß die Christen sich ausgerechnet den Juden Jesus zum Heiland auserkoren hatten, war freilich bitter, ließ sich aber nicht mehr rückgängig machen. Doch stand nicht im Evangelium geschrieben, daß Christus in Galiläa das Licht der Welt erblickte? Und sofort stellt sich bei Chamberlain der Instinkt der Rasse ein und ließ ihn verkünden, daß gerade in jenem Teile Palästinas große Rassenkreuzungen vor sich gegangen waren, und vor allem, daß in Galiläa germanische Stämme sich niedergelassen hatten. Mußte man da nicht annehmen, daß Christus ein Germane gewesen ist? War es doch undenkbar, daß aus dem «materialistisch verseuchten Judentum» eine Lehre hervorgehen konnte, deren seelenvoller Inhalt dem jüdischen Geiste völlig entgegengesetzt ist.
Chamberlain bekundete einen geradezu krankhaften Widerwillen gegen alles Jüdische, der so weit ging, daß er seinen gläubigen Lesern einzureden wagte, daß ein germanisches Kind, dessen Sinnenleben noch nicht verdorben und durch die Vorurteile der Erwachsenen getrübt wurde, ganz instinktiv empfinde, wenn ein Jude in seiner Nähe weile. Trotzdem brachte er es fertig, den spanischen Juden, den sogenannten Sephardim, das beste Zeugnis auszustellen, während er die Aschkenasim, die Juden der nördlichen Länder, nicht tief genug herabsetzen konnte. Allerdings gründete sich seine Vorliebe für die Sephardim auf die Vermutung, daß diese in Wirklichkeit Goten gewesen seien, die sich in großer Zahl zum Judentum bekehrt hätten, eine Erkenntnis, die dem großen Virtuosen unbewiesener Behauptungen erst nachträglich gekommen ist, denn sie findet sich erst in der dritten Auflage seines Buches. – Wieso die Goten, diese unverfälschten Sprößlinge am edlen Baume des Germanentums, sich trotz ihrer «mystischen Veranlagung» und ihres angeborenen Sinnes für «religiöse Vertiefung», die nach Chamberlain das Erbgut ihrer Rasse sind, in die Arme des «materialistischen Judentums» mit seinem «toten Ritual», seinem «sklavischen Gehorsam», seinem «despotischen Gotte» werfen konnten, bleibt ewig unbegreiflich. In diesem Falle mußte die «Rasse im eigenen Busen» völlig versagt haben; anders läßt sich das Unerhörte nicht erklären. – Von ähnlichen Behauptungen wimmelt es nur so in Chamberlains Rassenwerk. Es gibt kaum ein anderes Werk, das eine so beispiellose Unzuverlässigkeit des verwendeten Materials, ein so verwegenes Jonglieren mit leeren Vermutungen der gewagtesten Art aufzuweisen hätte. Darüber sind sich nicht nur die Gegner, sondern auch ausgesprochene Bekenner des Rassengedankens wie Albrecht Wirth, Eugen Kretzer und manche andere völlig einig. Sogar ein so selbstgefälliger Vertreter der Rassentheorie wie Otto Hauser spricht von dem Werke Chamberlains als von «den so vielfach der tatsächlichen Grundlagen entbehrenden Grundlagen des 19. Jahrhunderts».[93]
Wie Gobineau, so ist auch Chamberlain ein fanatischer Gegner aller liberalen und demokratischen Ideen und sieht in diesen lediglich eine gegen das Germanentum gerichtete Gefahr. Für ihn sind Freiheit und Gleichheit Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen; wer die Gleichheit will, muß ihr die Persönlichkeit opfern, die allein der Träger der Freiheit sein kann. Allein die Freiheit Chamberlains ist von ganz anderer Art. Es ist die «Freiheit, die der Staat nur unter der Bedingung zu schützen vermag, daß er ihr Grenzen zieht». «Der Mensch wird nicht dadurch frei, daß man ihm politische Rechte verleiht; vielmehr dürfen ihm vom Staate nur politische Rechte verliehen werden, wenn er sich innerlich zur Freiheit durchgerungen hat; sonst werden diese angeblichen Rechte immer nur zum Mißbrauch durch andere dienen.»[94]
Dieser Ausspruch beweist, daß Chamberlain weder das Wesen der Freiheit noch das des Staates je erfaßt hatte. Wie sollte er auch? Ist doch der Schicksalsglaube das völlige Gegenteil des Freiheitsbegriffes; kein Schicksalsglaube aber trägt so sehr das Kainszeichen seiner freiheitsfeindlichen Gesinnung auf der Stirne wie das Kismet der Rasse. Chamberlains Freiheitsbegriff ist der des satten Spießers, dem die Ordnung erste Bürgerpflicht ist und der seine Rechte nimmt, wie sie ihm vom Staate zugemessen werden. Vor einer solchen Freiheit hat noch kein Despot gezittert; aber jedes Quentlein Recht, das sich der Mensch im offenen Kampfe gegen die Tyrannei des Überlieferten erringen mußte, trieb den Despoten den Angstschweiß auf die Stirne. Chamberlains «innere Freiheit» ist nur ein leeres Wort; nur wo das innere Erleben der Freiheit sich in rettende Tat umsetzt, hat der Freiheitsgeist eine wirkliche Heimstätte. «…wer in Natur und Kraft und Stoff befangen bleibt, muß die Freiheit wenn er redlich ist – fahren lassen», meint Chamberlain. Wir aber denken, daß, wer sich nicht fortgesetzt bemüht, die Freiheit in «Kraft und Stoff» umzusetzen, für alle Zeiten ein Sklave bleiben muß. Ein abstrakter Freiheitsbegriff, der seine Träger nie dazu begeistern kann, für ihre Rechte in die Schranken zu treten, ist dem Weibe gleich, dem die Natur die Gabe der Fruchtbarkeit versagte. Chamberlains Freiheitsbegriff ist die Illusion der Impotenz, ein listiges Umdeuten des inneren Knechtschaftsgefühls, das zu keiner Tat fähig ist. Da hatte Ibsen eine andere Vorstellung von der Freiheit, wenn er sagte:
«Ich werde nie dafür zu haben sein, die Freiheit als gleichbedeutend mit politischer Freiheit anzusehen. Was Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten; und was ich den Kampf für die Freiheit nenne, ist doch nichts anderes als die ständige, lebendige Aneigenung der Freiheitsidee. Wer die Freiheit anders besitzt denn als das zu Erstrebende, der besitzt sie tot und geistlos, denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die Eigenschaft, sich während der Aneigenung stetig zu erweitern, und wenn deshalb einer während des Kampfes stehenbleibt und sagt: jetzt habe ich sie! – so zeigt er eben dadurch, daß er sie verloren hat. Aber gerade diese tote Art, einen gewissen festgelegten Freiheitsstandpunkt zu haben, ist etwas für die Staatsverbände Charakteristisches; und eben das habe ich gemeint, als ich sagte, es sei nichts Gutes.»[95]
Chamberlain ist nie stehengeblieben auf dem Wege zur Freiheit, weil er sich nie auf diesem Wege befunden hat. Seine Kritik der Demokratie fußt in der Vergangenheit; er ist der Mann mit der Rückwärtsperspektive, dem jedes Ergebnis der Revolution schon deshalb verhaßt ist, weil es das Zeichen seines revolutionären Ursprungs auf der Stirne trägt. Das, was sich heute Demokratie nennt, kann nur durch Kräfte überwunden werden, die nicht im Vergangenen, sondern in der Zukunft wurzeln. Nicht im Gewesenen liegt das Heil, sondern in der steten Erweiterung des Freiheitsbegriffes und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen. Auch die Demokratie hat den Willen zur Macht nicht überwunden, weil sie an den Staat gefesselt war und an den Vorrechten der Besitzenden nicht zu rütteln wagte. – Chamberlain wurzelte nicht in der Zukunft; sein Blick war unverwandt auf das Vergangene gerichtet. Deshalb verwarf er sogar die konstitutionelle Monarchie als dem germanischen Geiste wesensfremd und vertrat die Idee eines absoluten Königtums über ein «freies Volk», was immer er sich darunter vorstellte. Er war einer der Unentwegten, die sich bis zuletzt jeder Beschränkung der monarchischen Gewalt in Preußen widersetzten, und stand, wie alle seine Vor- und Nachfahren in der Rassentheorie, mit beiden Füßen im Lager der unverhüllten politischen und sozialen Reaktion.
Man sollte annehmen, daß ein Werk wie die Grundlagen, das für eine ernste Erkenntnis nicht den geringsten Anhaltspunkt bietet, das weder Rücksicht auf gesellschaftliche Verhältnisse noch auf das langsame Werden geistiger Bestrebungen nimmt und in dem sich eigentlich nur die gewalttätige Willkür des Verfassers kundgibt, an seinen tollen Widersprüchen hätte scheitern müssen. Doch weit gefehlt. Es wurde den regierenden Kasten in Deutschland zum direkten Verhängnis. So stark war die Verblendung, welche dieses Werk heraufbeschworen hatte, daß der gewesene Kaiser noch in seinen Lebenserinnerungen schreiben konnte:
«Das Germanentum in seiner Herrlichkeit ist dem erstaunten deutschen Volke durch Chamberlain in seinen ‹Grundlagen des 19. Jahrhunderts› klargemacht und gepredigt worden. Aber wie der Zusammenbruch des deutschen Volkes zeigt, erfolglos.»
Daß der entthronte Vertreter des Gottesgnadentums auch dann noch das deutsche Volk für den Zusammenbruch verantwortlich machte, ist eine ebenso geschmackvolle Bekundung des «herrlichen Germanengeistes» wie die traurige Rolle derjenigen, die den hoffnungslosen Toren einst mit sklavischer Überschwenglichkeit als «Germanenkaiser» gefeiert hatten, um ihm nach seinem Sturze den Eselsfußtritt zu versetzen und ihn sogar als «Judenstämmling» in Verruf zu bringen.
Was Chamberlain so herrlich begonnen hatte, das wurde von Männern wie Woltmann, Hauser, Günther, Clauß, Madison Grant, Rosenberg und vielen anderen im selben Geiste fortgesetzt. Woltmann, der gewesene Marxist und Sozialdemokrat, der eines Tages den Klassenkampf an den Nagel hängte und sich zum Rassenkampf bekehrte, versuchte die geschichtlichen Belege zu erbringen für das, was Gobineau und Chamberlain über den Ursprung und Charakter fremder Kulturen behauptet hatten, indem er ein ungeheures Material zusammentrug, aus dem hervorgehen sollte, daß alle bedeutenden Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte Frankreichs und Italiens germanischer Abstammung gewesen seien. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte er die Porträts von einigen hundert hervorragenden Persönlichkeiten der Renaissanceperiode auf ihre germanischen Rassenmerkmale hin geprüft, um der erstaunten Welt zu verkünden, daß die meisten von ihnen blondes Haar und blaue Augen hatten. Woltmann war förmlich besessen von seiner blau-blonden Theorie und geriet jedesmal in Entzücken, wenn er glaubte, einen neuen Blondling entdeckt zu haben.[96]
Man fragt sich vergeblich, was durch solche Feststellungen eigentlich bewiesen werden soll. Daß in Frankreich und Italien germanische Rassenelemente vorhanden sind, hat noch kein Mensch bezweifelt. Beide Völker sind eben mischrassig wie die Deutschen, wie alle anderen Völker in Europa. Frankreich und Italien sind wiederholt von germanischen Stämmen überflutet worden, wie sich des öfteren Völkerwellen slawischer, keltischer und mongolischer Stämme über Deutschland ergossen haben. Doch bis zu welchem Grade die Kultur eines Volkes durch die Rasse bestimmt wird, ist eine Frage, auf die noch keine Wissenschaft eine Antwort gefunden hat und wohl kaum finden wird. Wir sind hier lediglich auf Vermutungen angewiesen, die uns den Wert wirklicher Tatsachen nicht ersetzen können. Wissen wir doch noch nicht einmal etwas Bestimmtes über die Entstehungsursachen rein äußerlicher Rassenmerkmale wie der Farbe des Haares, der Augen usw.
Dabei ist die ganze Porträt-Diagnose Woltmanns und seines Nachfolgers Otto Hauser keine Bohne wert, denn sie ist das allerunzuverlässigste Mittel, das zur Feststellung bestimmter Merkmale überhaupt herangezogen werden kann. In den Bilderbüchern unserer Rassenastrologen machen sich solche Belege sehr gut und erfüllen dort auch ihren Zweck, doch dem ernsten Forscher bieten sie kaum einen Anhaltspunkt. Das Werk des Künstlers ist keine Photographie, die unbestechlich wiedergibt, was ist. Es ist in erster Linie als eine Wiedergabe dessen zu bewerten, was der Künstler mit dem inneren Auge schaut. Das innere Bild, das dem Künstler vorschwebt und ohne das ein Kunstwerk nie zustande käme, beeinträchtigt aber nicht selten die Ähnlichkeit des Werkes mit dem Original in sehr hohem Maße. Auch spielt der persönliche Stil und die Schule, welcher der Künstler angehört, dabei eine wichtige Rolle. Welchem wirklichen Forscher würde es zum Beispiel einfallen, aus Porträts unserer heutigen Kubisten oder Futuristen die Merkmale der Rasse ergründen zu wollen? – Abgesehen davon, geben dieselben Porträts, die Woltmann als Belege für den germanischen Ursprung der französischen und italienischen Kultur dienen müssen, anderen Vertretern des Rassengedankens Veranlassung zu ganz anderen Betrachtungen. So erklärte zum Beispiel Albrecht Wirth, der selbst in der Rasse den ausschlaggebenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung zu erkennen glaubt, in seinem Werke Rasse und Volk:
«Ein seltsamer Fehler der Betrachtung war es, wenn Woltmann und Anhänger in so vielen Genies und Talenten Italiens und Frankreichs germanische Züge entdeckten. Für unbefangene Augen beweisen die Bilder, die Woltmann selbst zur Erläuterung gab, geradezu das Gegenteil: Baschkiren-, Mittelmeer-, Negertypus.»
In der Tat gibt es in der langen Porträtgalerie, die Woltmann zur Bekräftigung seiner These der Welt vor Augen führt, kaum einen Typus, der als unverfälschter Träger der germanischen Rasse gelten könnte. Jedem von ihnen sind die unverkennbaren Merkmale des Mischlings mehr oder weniger deutlich auf die Stirne geschrieben. Wenn aus den Untersuchungen Woltmanns und Hausers überhaupt ein «Gesetz der Geschichte» abzuleiten wäre, so könnte es nur dieses sein: daß Rasseninzucht die geistige Spannkraft allmählich untergräbt und den langsamen Verfall zur Folge hat, während Rassenmischungen der kulturellen Befähigung stets neue Lebenskräfte zuführt und das Hervorbringen von genialischen Persönlichkeiten begünstigt. Dasselbe gilt auch für die deutschen Kulturträger, und Max von Gruber sagte nicht mit Unrecht:
«Und wenn wir die Körperlichkeit unserer größten Männer auf die Rassigkeit prüfen, finden wir zwar bei vielen nordische Merkmale, aber bei fast keinem nur nordische. Der erste Blick zeigt dem Kundigen, daß weder Friedrich der Große noch Freiherr vom Stein noch Bismarck reine Norden waren; von Luther, Melanchthon, Leibniz, Kant, Schopenhauer gilt dasselbe, ebenso von Liebig und Julius Robert Mayer und Helmholtz, von Goethe, Schiller und Grillparzer, von Dürer, Menzel und Feuerbach und schon gar von den größten Genies der deutschesten aller Künste, der Musik, von Bach und Gluck und Haydn bis Brückner. Sie waren alle Mischlinge; dasselbe gilt von den großen Italienern. Michelangelo und Galilei waren, wenn überhaupt, doch sicher keine reinen Norden. Zu den Anlagen der Norden mußten anscheinend Ingredienzien von anderen Rassen hinzukommen, um die glückliche Komposition von Anlagen zu geben.»[97]
Mag Woltmann immerhin behaupten, daß «Dante, Raphael, Luther etc. Genien gewesen, nicht weil, sondern trotzdem sie Mischlinge sind», und daß «ihre genialen Anlagen das Erbteil der germanischen Rasse sei», so bleibt das nur leeres Gerede, solange man nicht imstande ist, die Wirkung der Rasse auf die geistigen Anlagen des Menschen einwandfrei festzustellen und wissenschaftlich zu erhärten. Mit derselben Logik könnte man behaupten, daß das Geniale in Männern wie Luther, Goethe, Kant oder Beethoven auf den Einschlag «alpinischen» oder «ostischen» Blutes zurückzuführen sei. Bewiesen wäre damit auch nichts, aber die Welt wäre um eine Behauptung reicher. In der Tat fanden sich während des Krieges jenseits der Vogesen Männer wie Paul Souday und andere, die erklärten, daß alle wirklich großen Persönlichkeiten, die Deutschland hervorgebracht habe, keltischen und nicht germanischen Ursprungs gewesen seien. Warum nicht?
Die jüngsten Vertreter der sogenannten Rassenlehre geben sich große Mühe, ihren Anschauungen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, und berufen sich vornehmlich auf die Gesetze der Vererbung, die in der modernen Naturwissenschaft eine so bedeutende Rolle spielen und noch so viel umstritten sind. Unter Vererbung versteht die Biologie zunächst die durch allgemeine Beobachtung festgestellte Tatsache, daß Pflanzen und Tiere ihren Erzeugern ähnlich sind und daß sich diese Ähnlichkeit augenscheinlich darauf zurückführen läßt, daß die Nachkommen aus Teilchen desselben Protoplasmas entstehen und sich aus denselben oder ähnlichen Erbanlagen entwickeln. Daraus geht hervor, daß dem Protoplasma besondere Kräfte innewohnen, die auch bei Absonderung kleinster Teile die Eigenschaften des Ganzen auf die Nachkommen übertragen. So gelangte man zu der Erkenntnis, daß die eigentlichen Ursachen der Vererbung in einem bestimmten Zustand der lebenden Zellensubstanz, die wir Protoplasma nennen, gesucht werden müssen.
So wertvoll diese Erkenntnis immer sein mochte, brachte sie uns der eigentlichen Lösung der Frage kaum näher, stellte sie doch die Wissenschaft unmittelbar vor eine ganze Reihe neuer Probleme, deren Lösung nicht minder schwierig war. Vor allem galt es, die Vorgänge festzustellen, die im Protoplasma die Vererbung bestimmter Merkmale bewirken, eine Aufgabe, die mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Ebenso sind die inneren Vorgänge, welche der Vererbung vorausgehen, noch völlig in Dunkel gehüllt. Es ist der Wissenschaft zwar gelungen, die Existenz sogenannter chemischer Moleküle und das Bestehen bereits ziemlich entwickelter Organe innerhalb der Zellengewebe festzustellen, aber die besondere Gruppierung der Moleküle und die inneren Ursachen, auf welche der Unterschied der Eiweißgruppen in der toten und in der lebenden Substanz zurückzuführen ist, blieb uns bis heute unbekannt. Man kann ruhig sagen, daß wir auf diesem schwierigen Gebiete noch immer fast nur auf Vermutungen angewiesen sind, da keine der zahlreichen Erblichkeitslehren bisher imstande war, den Schleier der Maja zu lüften, der bis heute über den eigentlichen Vorgängen der Vererbung ausgebreitet ist. Dafür waren wir in der Beobachtung der Rassenkreuzungen und ihrer Ergebnisse bedeutend erfolgreicher; allerdings handelt es sich hier weniger um eine Erklärung von Ursachen als um eine Feststellung von Tatsachen.
Schon vor siebzig Jahren hatte der Augustinermönch Gregor Mendel in seinem stillen Klostergarten zu Brunn Kreuzungen mit 22 Unterarten von Erbsenpflanzen vorgenommen und dabei folgendes Ergebnis erzielt: Die Kreuzung einer gelben mit einer grünen Varietät hatte zur Folge, daß die Nachkommen alle gelben Samen trugen und das Grün völlig ausgemerzt schien. Als er jedoch die gelben Bastardpflanzen mit ihren eigenen Pollen bestäubte, trat bei den Nachkommen das verschwundene Grün wieder auf, und zwar in einem ganz bestimmten Verhältnis: von je vier Pflanzen der zweiten Generation waren drei gelbsämig und eine grünsämig. Das Merkmal der grünen Varietät war also nicht verschwunden, sondern durch das Merkmal der gelben bloß verdeckt worden. Mendel spricht daher von rezessiven oder verdeckten und dominanten oder verdeckenden Merkmalen. Die rezessiven Pflanzen – in diesem Falle also die grünsämigen – erwiesen sich bei erneuter Befruchtung als erbbeständig, solange die Selbstbefruchtung streng eingehalten wurde und keine neue Kreuzung eintrat. Die dominanten Pflanzen aber spalteten sich bei jeder weiteren Generation regelmäßig. Ein Drittel ihrer Nachkommen waren wieder reine Dominanten, die ihr besonderes Merkmal erbbeständig beibehielten; die anderen zwei Drittel «mendelten», d. h. sie spalteten sich bei der Fortpflanzung wieder in dominante und rezessive Exemplare, und zwar immer in derselben Proportion von 3:1. Im selben Verhältnis wiederholte sich der Vorgang stets von neuem.
Zahllose Versuche namhafter Botaniker und Zoologen haben seitdem die Regeln Mendels im großen und ganzen bestätigt; auch stimmen sie mit den Ergebnissen der modernen Zytologie oder Zellenlehre gut überein, soweit diese das Wachstum und die Teilung der Zellen zu beobachten imstande ist. Man kann daher annehmen, daß diese Regeln für alle organischen Wesen bis zum Menschen hinauf ihre Gültigkeit haben und daß in der gesamten Natur ein einheitliches Walten der Vererbungsvorgänge stattfindet; aber diese Erkenntnis beseitigt nicht die zahllosen Schwierigkeiten, die uns bisher einen tieferen Einblick in dieses geheimnisvolle Geschehen versagt haben. Aus den Mendelschen Erblichkeitsregeln geht klar hervor, daß sich die Merkmale beider Eltern in einem bestimmten Verhältnis auf die Nachkommen übertragen. Andererseits hat die zellenkundliche Forschung ergeben, daß die Erbanlagen eines Lebewesens in den sorgsam geteilten Kernstückchen der Keimzelle, die wir Chromosome nennen, zu suchen sind. Aus allem, was die Wissenschaft bisher mit mehr oder weniger Sicherheit feststellen, konnte, scheint hervorzugehen, daß in der befruchteten Keimzelle alle Erbanlagen paarweise vertreten sind, und zwar so, daß ein Paarling aus der Samenzelle des Vaters, der andere aus der Eierzelle der Mutter herrührt.
Da man aber nicht annehmen kann, daß sich die Erbanlagen beider Eltern in ihrer Gesamtheit auf jedes Kind übertragen, weil in diesem Falle ihre Zahl mit jeder neuen Generation größer und größer werden müßte, so gelangte man zu der Annahme, daß nur im Kern der Soma- oder Körperzelle alle Erbanlagen eines Lebewesens vorhanden sind, die Keimzelle aber zuletzt noch einer besonderen Teilung unterliegt, so daß sie nur die Hälfte aller Anlagen, das heißt von jedem Merkmalspaar nur einen Paarling empfängt. Man nimmt an, daß in der gewöhnlichen Körperzelle des Menschen 48 Chromosome vorhanden sind, die empfangsfähige Keimzelle aber deren nur 24 in sich birgt. Damit ist aber nicht gesagt, daß der Mensch nur 24 Merkmalspaare besitzt, die als Träger der Vererbung in Frage kommen. In jedem Chromosom können mehrere Paarlinge verschiedener Merkmalspaare vorhanden sein, wodurch bei den Nachkommen die allerverschiedensten Mischungsverhältnisse in die Erscheinung treten können. Da aber jede Befruchtung eigentlich eine Kreuzung ist, auch wenn es sich um Wesen derselben Rasse handelt, weil es in der Natur keine zwei Einzelwesen gibt, die sich völlig gleich sind, so folgt daraus, daß bei jedem Befruchtungsvorgang die mannigfachsten Ergebnisse entstehen können. So treten bei nur zwei verschiedenen Erbfaktoren schon in der zweiten Generation 4 Varietäten auf, bei drei 8, bei vier 16, bei zehn 1.024 und so fort. Durch diese schier unübersehbaren Kombinationsmöglichkeiten wird eine Übersicht über die Ergebnisse der Vererbungsvorgänge nicht nur immer schwieriger, sondern geradezu unmöglich.
Und doch war hier nur von rein körperlichen Merkmalen die Rede. Wo aber geistige oder seelische Veranlagungen in Frage kommen, werden die Vorgänge noch viel verwickelter, weil hier eine Auslese oder Fixierung der einzelnen Eigenschaften gar nicht möglich ist. Sind wir doch nicht imstande, geistige Merkmale in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen und jeden Teil von den übrigen abzusondern. Geistige und seelische Veranlagungen werden uns als Ganzes zugemessen; sogar wenn wir annehmen, daß die Mendelschen Erblichkeitsregeln auch auf diesem Gebiete zutreffen, so fehlt uns doch jedes Mittel, ihre Wirksamkeit der wissenschaftlichen Beobachtung zu erschließen.
Macht man sich ferner klar, daß reine Rassen heute nirgends zu finden sind, ja aller Wahrscheinlichkeit nach nie existiert haben, daß alle europäischen Völker nur eine Mischung aus allen möglichen Rassenbeständen darstellen, die sich nach außen hin, aber auch innerhalb derselben Nation lediglich durch die Proportion der einzelnen Bestandteile unterscheidet, so bekommt man erst eine Vorstellung von den Schwierigkeiten, die sich dem Forscher bei jedem Schritt entgegenstellen. Hält man sich weiter vor Augen, wie unsicher die Ergebnisse der anthropologischen Forschung in bezug auf die verschiedenen Rassen heute noch sind, und besonders, wie mangelhaft unser Wissen über die inneren Vorgänge der Vererbung zur Zeit noch ist, so kann man sich der Einsicht nicht verschließen, daß jeder Versuch, auf so unsicheren Grundlagen eine Theorie aufzubauen, die uns angeblich den tiefsten Sinn alles historischen Geschehens enthüllt und ihre Träger befähigt, über die sittlichen, geistigen und kulturellen Qualitäten der verschiedenen Menschengruppen ein unfehlbares Werturteil abzugeben, entweder als sinnlose Spielerei oder grober Unfug aufgefaßt werden muß. Daß solche Theorien besonders in Deutschland eine so weite Verbreitung finden konnten, ist ein bedenkliches Zeichen für den geistigen Niedergang einer Gesellschaft, die jeden inneren moralischen Halt verloren hat und daher bestrebt ist, gewesene ethische Werte durch ethnische Begriffe zu ersetzen.
Von den gegenwärtigen Vertretern des Rassengedankens ist Dr. Hans Günther, der bekannteste und meist umstrittene. Seine zahlreichen Schriften und besonders seine Rassenkunde des deutschen Volkes haben in diesem Lande eine außergewöhnliche Verbreitung gefunden und auf weite Kreise einen Einfluß gewonnen, den man nicht unterschätzen darf. Was Günther von seinen Vorgängern unterscheidet, ist nicht der Inhalt seiner Lehre, sondern das Bemühen, dieser einen wissenschaftlichen Mantel umzuhängen, um ihr ein Ansehen zu geben, das sie nicht besitzt. Günther hat zur Begründung seiner Auffassung ein umfangreiches Material herangezogen, aber das ist auch alles. Wo es sich darum handelt, Gedankengänge von entscheidender Bedeutung wissenschaftlich zu belegen, versagt er gründlich und fällt stets in die Methoden Gobineaus und Chamberlains, zurück, die lediglich auf einer Wunschvorstellung fußten. Der Arier tritt bei ihm gänzlich in den Hintergrund, auch der germanische Mensch hat seine Rolle ausgespielt; Günthers Ideal ist die nordische Rasse, die er ebenso freigebig mit den kostbarsten erbgeborenen Eigenschaften ausstattet wie Gobineau den Arier und Chamberlain den Germanen. Außerdem hat er die Rasseneinteilung Europas um einen neuen Bestandteil bereichert und bereits vorhandenen Einteilungsbegriffen andere Namen beigelegt, ohne daß unser Wissen dadurch etwas gewonnen hätte.
Der amerikanische Gelehrte Ripley, der als erster den Versuch machte, eine anthropologische Geschichte der europäischen Völker zu schreiben, begnügte sich mit drei Haupttypen, die er als die teutonische, die keltisch-alpine und die mediterrane Rasse bezeichnete. Später fügte man diesen drei noch eine vierte, die dinarische Rasse bei und glaubte, in diesen vier Grundtypen die Hauptbestandteile der rassenmäßigen Zusammensetzung Europas erkannt zu haben. Außer diesen vier Hauptrassen gibt es in Europa noch vorderasiatische, semitische, mongolide und negerische Rasseneinschläge. Natürlich darf man sich diese vier Typen nicht als reine Rassen vorstellen; vor allem handelt es sich hier um eine Arbeitshypothese für die Wissenschaft, um eine Einteilung der europäischen Bevölkerung nach mehr oder weniger bestimmten Richtlinien überhaupt vornehmen zu können. Die Masse der europäischen Völker besteht nur aus Kreuzungsergebnissen dieser Rassen. Diese selber aber sind bloß Ergebnisse bestimmter Mischungen, die mit der Zeit gewisse Formen angenommen haben, wie dies bei jeder Rassenbildung der Fall ist. – Günther hat diesen vier Hauptrassen überflüssigerweise noch eine fünfte angegliedert, die sogenannte ostbaltische Rasse; neben dieser neuen Entdeckung hat er mit der alpinen Rasse eine Umtaufung vorgenommen, die bei ihm die ostische heißt. Ein Grund für diese Änderung lag überhaupt nicht vor, und sein erbittertster Gegner im völkischen Lager, Dr. Merkenschlager, mag schon recht haben, wenn er annimmt, daß Günther mit dieser Umbenennung der alpinen in eine ostische Rasse lediglich den Zweck verfolgte, sie «dem Gefühl seiner Lesermassen bereits als ‹belastet› vorzustellen und den urteilslosen Massen die Auslegung in ‹ostjüdisch› zu erleichtern».
Wie fast alle heutigen Rassentheoretiker, so geht auch Günther in seinen Betrachtungen von den modernen Vererbungstheorien aus; es sind besonders die hypothetischen Voraussetzungen des Neomendelismus, die ihm dabei als Unterlage dienen müssen. Nach diesen Auffassungen unterliegen, die erblichen Anlagen keinerlei äußeren Einflüssen, so daß eine Änderung der Erbfaktoren nur durch Kreuzung eintreten kann. Daraus soll hervorgehen, daß der Mensch und jedes andere Lebewesen lediglich als Ergebnisse bestimmter Erbanlagen zu betrachten sind, die sie bereits vor ihrer Geburt empfangen haben und die weder durch Einflüsse der natürlichen und sozialen Umwelt noch durch irgendwelche anderen Wirkungen von ihrem schicksalbedingten Wege abgedrängt werden können.
Hier liegt der wesentliche Irrtum aller und jeder Rassentheorie, die Ursache ihrer unvermeidlichen Fehlschlüsse. Günther und mit ihm alle anderen Vertreter des Rassengedankens gehen von Voraussetzungen aus, die durch nichts zu beweisen sind und jederzeit durch Beispiele des alltäglichen Lebens und der Geschichte auf ihre innere Haltlosigkeit hin festgenagelt werden können. Ernst nehmen könnte man diese Behauptungen nur, wenn ihre Vertreter in der Lage wären, für folgende drei Punkte schlüssige Beweise zu erbringen: erstens, daß Erbanlagen in der Tat unveränderlich sind und von den Einflüssen der Umwelt nicht berührt werden; zweitens, daß körperliche Merkmale als untrügliche Zeichen für bestimmte seelische und geistige Eigenschaften betrachtet werden müssen; drittens, daß das Leben des Menschen lediglich durch seine angeborenen Anlagen bestimmt wird und erworbene oder anerzogene Eigenschaften auf sein Geschick keinen wesentlichen Einfluß haben können.
Was die erste Frage betrifft, so wurde bereits früher ausgeführt, daß die Wissenschaft eine ganze Reihe verbürgter Tatsachen kennt, aus denen unwiderruflich hervorgeht, daß Einflüsse der Umwelt auf die Erbanlagen bestehen und Änderungen dieser zur Folge haben können. Der Umstand, daß es zahlreichen Forschern gelungen ist, durch Bestrahlungen, Temperaturveränderungen usw. eine Umgestaltung der Erbanlagen zu bewirken, spricht dafür. Dazu kommen die Einflüsse der Domestikation, deren Bedeutung besonders von Eduard Hahn und Eugen Fischer stark hervorgehoben wurde und den letzteren zu dem Ausspruch veranlaßte: «Der Mensch ist eine Domestikationsform, und die Domestikation ist es, die seine starke Variabilität verursacht oder mitverursacht.»
Über die Zweite Frage hilft keine Spitzfindigkeit hinweg. Läßt sich doch nicht der Schatten eines Beweises dafür erbringen, daß äußere Rassenmerkmale wie die Form des Schädels, Farbe des Haares, schlanker oder gedrungener Körperbau usw. in irgendwelchen Beziehung zu den geistigen, seelischen oder sittlichen Anlagen des Menschen stehen, so daß zum Beispiel ein hochgewachsener, blondhaariger und blauäugiger Norde auf Grund seiner äußeren Körpermerkmale über Eigenschaften sittlicher und geistiger Natur verfügt, die man bei Abkömmlingen anderer Rassen nicht finden könnte. Unsere Rassenideologen behaupten das zwar, aber darin liegt ja die ganze Haltlosigkeit ihrer Lehre, daß sie Dinge behaupten, für deren Richtigkeit auch nicht der bescheidenste Beweis zu erbringen ist.
Es wurde bereits früher betont, daß in der langen Reihe der genialen Persönlichkeiten, die sich um die geistige Kultur Deutschlands verdient gemacht haben, kaum einer zu finden ist, dessen Aussehen den Idealvorstellungen vom nordischen Menschen auch nur halbwegs entspricht; und gerade die größten unter ihnen stehen körperlich den Phantasiegebilden der Günther, Hauser, Clauß usw. am fernsten. Man denke an Luther, Goethe, Beethoven, denen die äußeren Merkmale der sogenannten nordischen Rasse fast gänzlich fehlen und die sogar von den hervorragendsten Vertretern des Rassengedankens als ausgesprochene Mischlinge mit ostischem, vorderasiatischem und negerisch-malaiischem Bluteinschlag bezeichnet werden. – Noch schlimmer würde es aussehen, wenn man erst einmal dazu überginge, die Schwerathleten in der Arena des Rassenkampfes, die Hitler, Alfred Rosenberg, Goebbels, Streicher usw. der Blutprobe zu unterziehen, um diesen würdigen Vertretern der nordischen Rasse und der nationalen Belange die Gelegenheit zu geben, ihre Anwartschaft auf das Dritte Reich auch blutmäßig zu erhärten.[98]
Wenn es unbestreitbar ist, daß Männer wie Sokrates, Horaz, Michelangelo, Dante, Luther, Galilei, Rembrandt, Goya, Rousseau, Pestalozzi, Herder, Goethe, Beethoven, Byron, Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Balzac, Dumas, Poe, Strindberg, Ibsen, Zola und hundert andere Mischlinge gewesen sind, so ist doch damit der Beweis erbracht, daß äußere Rassenmerkmale für die geistigen und seelischen Anlagen des Menschen überhaupt nicht in Frage kommen. Es wirkt geradezu erheiternd, wenn man sieht, mit welchen Ausflüchten unsere modernen Rassenfetischisten sich über diese schwierigen Dinge hinwegsetzen. So fand sich Dr. Clauß mit der unbequemen Rassenzugehörigkeit Beethovens einfach damit ab, daß er erklärte:
«Beethoven war, was seine musikalische Begabung angeht, ein nordischer Mensch. Das erweist deutlich genug der Stil seines Werkes; daran wird nichts geändert durch die Tatsache, daß sein Leib – anthropologisch betrachtet, d. h. also: die Maße und Gewichte seines Leibes – vielleicht ziemlich rein ostisch waren.»[99]
Wie wir sehen, die reinste Seelenwanderung. Welche geheimnisvollen Kräfte da wohl am Werk gewesen sind, um die nordische Rassenseele Beethovens in einen schnöden ostischen Körper fahren zu lassen? Ob wohl nicht gar die Juden oder die Freimaurer dabei ihre Hand im Spiele hatten?
Bleibt immer noch die letzte Frage, ob die Eigenschaften, die sich der Mensch im Laufe seines Lebens allmählich erwirbt oder die ihm durch den Kulturkreis, in dem er lebt, vermittelt werden, in der Tat keinen Einfluß auf seine erbgeborenen Anlagen besitzen. Könnte man dieses beweisen, so müßte man wirklich von einem «Kismet des Blutes» sprechen, dem keiner entgehen kann. Doch wie stehen die Dinge in der Wirklichkeit? Die Macht der erworbenen Eigenschaften macht sich tagtäglich in unserem Leben bemerkbar und überdeckt fortgesetzt die erbgeborenen Anlagen, mit denen wir die Reise ins Leben angetreten haben. Ein Beispiel dafür sind die beiden stärksten Triebe, die sich bei jedem Lebewesen und bei den Menschen aller Rassen und Zonen gleich gebieterisch bemerkbar machen: Hunger und Liebe. Der Mensch hat diese beiden angeborenen Instinkte, in denen sich die ganze Lebenskraft des Einzelwesens und der Rasse erschöpft, mit einem solchen Netzwerk uralter Sitten und Gebräuche umgeben, die sich im Laufe der Zeit zu bestimmten ethischen Grundsätzen verdichtet haben, daß der urgeborene Trieb gegen diese Wirrnis anerzogener und erworbener Begriffe in den meisten Fällen überhaupt nicht mehr aufkommt. Erleben wir nicht jeden Tag, wie in den großen Städten Tausende elender und hungriger Menschen an den reichen Auslagen der Lebensmittelgeschäfte wortlos vorüberhuschen? Sie verschlingen diese Herrlichkeiten mit gierigen Blicken, doch wagt es selten einer, dem angeborenen Triebe Folge zu leisten und sich zu nehmen, was er zur Befriedigung seiner dringendsten Bedürfnisse nötig hat. Die Furcht vor dem Gesetz, die Scheu vor der öffentlichen Meinung, der anerzogene Respekt vor dem Eigentumsrecht der anderen erweisen sich als stärker als der innere Drang des angeborenen Triebes; und doch handelt es sich in diesem Falle um erworbene Eigenschaften, die sich ebensowenig erblich übertragen wie die schwieligen Hände des Schmiedes auf seine Kinder. Das Kind steht diesen Dingen noch ganz verständnislos gegenüber, bis es allmählich lernt, sich mit ihnen abzufinden.
Und die Liebe? Mit wieviel Vorschriften, Pflichten, grotesken Gebräuchen hat der Mensch diesen elementarsten seiner Triebe eingehegt. Sogar bei den primitiven Völkern bestehen eine Unmenge strenger Sitten und Gebräuche, die von der Gewohnheit geheiligt, von der öffentlichen Meinung respektiert werden. Menschliche Phantasie erdachte den Kultus der Astarte in Babylonien und den der Mylitta in Assyrien, die Sexualreligionen Indiens und den Asketismus der christlichen Heiligen. Sie schuf alle Institutionen geschlechtlicher Betätigung: Polygamie, Polyandrie, Monogamie und alle Formen des freien Verkehrs von der «heiligen Prostitution» der semitischen Völker bis zur staatlichen Kasernierung der Straßendirne. Sie brachte die ganze Skala der geschlechtlichen Leidenschaften unter feste Normen und entwickelte bestimmte Anschauungen, die heute tief in der Seele des Menschen wurzeln; und doch sind auch hier nur erworbene Begriffe, Sitten, Einrichtungen im Spiele, die in bestimmten anerzogenen Eigenschaften ihren gefühlsmäßigen Niederschlag gefunden haben; und gerade diese Eigenschaften sind es, die dem Liebesleben der Menschen seine bestimmten Bahnen angewiesen haben und die das Einzelwesen fortgesetzt zu oft recht peinvollen Überwindungen seines angeborenen Triebes, veranlassen. Auch die verschlagenste Sophistik kann gegen diese Tatsachen nicht aufkommen.
Jede Phase der menschlichen Geschichte zeigt uns den mächtigen Einfluß religiöser, politischer und moralischer Ideen auf die gesellschaftliche Entwicklung der Menschen, die starke Wirkung der sozialen Bedingungen, unter welchen sie leben und die ihrerseits wieder zurückwirken auf die Gestaltung ihrer Ideen und Anschauungen. Diese ewige Wechselwirkung bildet den Inhalt der ganzen Geschichte. Hunderttausende von Menschen sind für bestimmte Ideen in den Tod gegangen, sehr häufig unter den furchtbarsten Begleiterscheinungen, und haben durch ihr Verhalten den stärksten angeborenen Trieb, den Trieb der Selbsterhaltung, der jedem Lebewesen innewohnt, bewußt ausgeschaltet; und zwar geschah dies unter dem übermächtigen Einfluß erworbener Vorstellungen. Religionen wie der Islam, das Christentum und andere haben Völker aller Rassen in ihren Bann gezogen. Dasselbe läßt sich von allen großen Volksbewegungen der Geschichte behaupten. Man denke an die christliche Bewegung im niedergehenden Römerreiche, an die großen Bewegungen im Zeitalter der Reformation, an internationale Ideenströmungen wie den Liberalismus, die Demokratie oder den Sozialismus, die es verstanden haben, ihre werbenden Kräfte auf Menschen der verschiedensten Rassen auszudehnen und Männer und Frauen aller Gesellschaftsklassen um ihre Fahne zu scharen. Die Völker der sogenannten nordischen Rasse haben von dieser Regel keine Ausnahme gemacht.
Unsere Rassenalchimisten suchen sich damit zu helfen, daß sie behaupten, daß die Völker der nordischen Rasse sich allzu häufig für Ideen eingesetzt hatten, die ihnen rassenmäßig fernlagen und zu denen sie keine inneren Beziehungen hatten. Man bezeichnet sogar dieses unbegreifliche Eintreten für «fremde Art» und «fremdes Wesen» als eine der beklagenswertesten Seiten des Germanentums und der nordischen Rasse überhaupt. Solche Ausbrüche, die man bei Günther, Hauser, Neuner usw. häufig findet, muten etwas sonderbar an. Was für eine merkwürdige Rasse ist denn das, die sich angeblich stets zu fremden Ideen und fremden Wegen hingezogen fühlt wie das Eisen zum Magnet? Diese unnatürliche Erscheinung könnte einen auf den Gedanken bringen, daß hier eine krankhafte Entartung der nordischen Rassenseele vorliegt, was übrigens aus der ganzen Rassenmakulatur unserer Zeit deutlich genug hervorgeht. Noch sonderbarer ist es, wenn sich die verzückten Anbeter der nordischen Wunderrasse fortgesetzt bemühen, diese moralischen Schönheitsfehler ihres Idols auszumerzen, und im selben Atemzuge verkünden, daß Rasse Schicksal sei. Wenn dem so ist, was nützen da alle Belehrungsversuche? Was nützt es, wenn Günther und sein «nordischer Ring» – eine Art blau-blonder Internationale – alles aufbieten wollen, um Kriege zwischen Völkern der nordischen Rasse in der Zukunft zu unterbinden; oder wenn Otto Hauser der erstaunten Welt verkündet, daß die Hauptstrategen des Weltkrieges auf beiden Seiten blonde Norden gewesen sind, und den französischen General Joffre als «blonden Goten» feiert? Um so schlimmer, wenn es so ist. Beweist es doch nur, daß blonde Norden sich gegenseitig totgeschlagen haben für eine Sache, die ihnen blutgemäß fremd war; vor allem aber beweist es, daß die angeborene Stimme des Blutes gegen die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen, um die es sich in diesem Kriege drehte, nicht aufkommen konnte.
Mochte der französische Rassenideologe Vacher de Lapouge immer verkünden, daß im 20. Jahrhundert «man sich nach Millionen schlachten wird wegen ein oder zwei Graden mehr oder weniger im Schädelindex» und «daß an diesem Zeichen, welches das biblische Schiboleth und die Sprachverwandtschaft ersetzen wird, sich die verwandten Rassen erkennen und die letzten Sentimentalisten gewaltige Ausrottungen von Völkern erleben werden»; auch in diesem Falle war die nüchterne Wirklichkeit weniger phantastisch als die blutrünstige Einbildungskraft des französischen Rassenfetischisten. Man hat sich im Weltkriege die Schädel nicht eingeschlagen, weil sie etwas länger oder kürzer waren, sondern weil die Interessengegensätze innerhalb der heutigen Welt einen Grad erreicht hatten, daß der Krieg den herrschenden Schichten als der einzig gangbare Ausweg erschien, durch den sie der Sackgasse, in der sie sich festgefahren hatten, zu entrinnen hofften. Im vergangenen Weltkriege haben auf jeder Seite die verschiedensten Rassen Schulter an Schulter gekämpft. Sogar Schwarze und Gelbe hat man mit in die Katastrophe hineingezogen, ohne daß die Stimme des Blutes sie verhindert hätte, sich für Belange abschlachten zu lassen, die sicher nicht die ihren gewesen sind.
Völker haben nicht selten eine gründliche Umstellung ihrer alten Sitten und Gebräuche erlebt, ohne daß man diese Erscheinung auf Rassenkreuzung zurückführen könnte. Nach dem einstimmigen Zeugnis aller bekannten Rassentheoretiker sind die Menschen der nordischen Rasse auch heute noch in den skandinavischen Ländern und hauptsächlich in Schweden am zahlreichsten vertreten. Aber gerade Schweden, Norweger und Dänen haben im Laufe ihrer Geschichte eine tiefgehende Änderung ihrer alten Lebensgewohnheiten erfahren. Dieselben Länder, die einst als die Heimat der kriegerischsten Stämme berüchtigt und gefürchtet waren in Europa, beherbergen heute die friedfertigste Bevölkerung des Kontinents. Der berühmte Wikingergeist, der ja ein hervorragendes Merkmal der nordischen Rasse sein soll, ist gerade in den skandinavischen Ländern so gut wie erloschen. Das Wort von dem «geborenen Pazifisten», das von Günther und seinen Anhängern eigens erfunden wurde, um den sogenannten ostischen Menschen moralisch in Verruf zu bringen, paßt auf niemand besser als auf den heutigen Skandinavier. Ähnliche Beispiele kennt die Geschichte hunderte. Sie beweisen nur, daß der neueste Schicksalsglaube der Rasse der seichteste Fatalismus ist, der je erdacht wurde; es ist die erbärmlichste und demütigendste Unterwerfung des Geistes unter die kannibalische Wahnvorstellung von der Stimme des Blutes.
Um dem Untergang der «edlen Rasse» vorzubeugen, ist man in Deutschland auf die famose Idee der «Aufnordung» geraten, die findige Köpfe zu den gewagtesten Vorschlägen verleitet hat. Die sogenannte Aufnordungstheorie hat eine Zeitlang eine ganze Flut literarischer Erzeugnisse ins Leben gerufen, wie man sie grotesker nicht leicht wieder finden wird. Kein anderes Land kann uns das nachmachen. Die meisten der sonderbaren Heiligen, die sich später als Reformer der geschlechtlichen Beziehungen in Deutschland hervortaten, wollten die Begattung unter die ordnende Hand des Staates gestellt wissen. Andere traten offen für die gesetzliche Einführung der Polygamie ein, um der nordischen Wunderrasse rascher auf die etwas schwach gewordenen Beine zu helfen. Und damit auch der Herrenstandpunkt «mitten im Zusammenbruch der feminisierten alten Welt» – wie Alfred Rosenberg, der geistige Berater Hitlers, sich so bildvoll ausdrückte – zu seinem Rechte komme, verteidigt Herr Richard Rudolf in seiner Schrift «Geschlechtsmoral» die Polygamie nicht bloß als Mittel, um die Fruchtbarkeit der nordischen Rasse zu Höchstleistungen zu befähigen, sondern weil ein solcher Zustand «den polygamen Instinkten des Mannes auch besser entspreche».
Begeisterte Anhänger der Aufnordung haben vor einigen Jahren sogar eine Bewegung ins Leben gerufen für die Propagierung der sogenannten Midgardehe, deren Bekenner sich dafür einsetzten, zur Gründung und Finanzierung besonderer Siedlungen zu schreiten, wo für diesen Zweck ausgesuchte nordische Männer und Frauen sich der hehren Aufgabe widmen sollten, dem Untergang der edlen Rasse durch Hebevolles Entgegenwirken zu wehren. Auf jeden Mann sollten zehn Frauen kommen. Die Ehe war als eine Art Schwangerschaftsbund gedacht, dessen Dauer sich nur bis zur Geburt des Kindes erstrecken sollte, vorausgesetzt, daß beide Gatten nicht selbst den Wunsch äußerten, die Verbindung auf längere Zeit auszudehnen. – In seinem Buche Weltanschauung und Menschenzüchtung trat Sanitätsrat F. Dupré für eine sogenannte «Zeitehe» ein, die lediglich Zuchtzwecken dienen sollte. Ein vom Staat eingesetzter Rat der Alten sollte über diese Dinge wachen. «Die Paare müssen zusammengegeben werden lediglich zum Zwecke der Fortpflanzung», heißt es in diesem sonderbaren Elaborat. «Ist diese erreicht, so sind sie zu trennen … Die Kosten der züchterischen Fortpflanzung sind vom Staate zu tragen.» – Ähnlich wie Hentschel, der Erfinder der Midgardehe, so legte sich Herr Walther Darré, der spätere nationalsozialistische Ernährungsminister Deutschlands, in seinem Buche Neuadel aus Blut und Boden für die Züchtung eines neuen Adels auf besonderen «Hegehöfen» ins Zeug. Herr Darré will durch Schaffung von «Zuchtwarten» die Fortpflanzung der Nation einer steten Überwachung unterwerfen. Zu diesem Zwecke sollen sogenannte «Herdenbücher» und «Stammakten» für alle Frauen angelegt werden. Alle Jungfrauen sind in vier Klassen einzuteilen, denen auf Grund besonderer «Zuchtakten» die Fortpflanzung in der Ehe ihren Rassenanlagen und ihrer Gebärtüchtigkeit entsprechend gestattet oder nicht gestattet wird. – Am 12. März brachten die Nationalsozialisten im Reichstag folgenden Zusatzantrag zum Artikel 218 des Strafgesetzbuches ein:
«Wer es unternimmt, die natürliche Fruchtbarkeit des deutschen Volkes zum Schaden der Nation künstlich zu hemmen, oder in Wort, Schrift, Druck, Bild oder in anderer Weise solche Bestrebungen fördert, oder wer durch Vermischung mit Angehörigen der jüdischen Blutsgemeinschaft oder farbigen Rassen zur Verschlechterung und Zersetzung des deutschen Volkes beizutragen droht, wird wegen Rassenverrats mit Zuchthaus bestraft.»
Am 31. Dezember 1931 erließ die Reichsführung der Hitler-SS einen Befehl, der ab 1. Januar 1932 für alle SS-Männer eine Heiratsgenehmigung durch ein sogenanntes «Rassenamt» vorsah. Dieses sonderbare Dokument, das für die «erbgesundheitlich wertvolle Erhaltung deutscher nordisch bestimmter Art» eintrat und in dem von einem «Sippenbuch der SS» die Rede ist, gab uns den ersten Vorgeschmack von der kommenden Herrlichkeit des Dritten Reiches. – Es ist bezeichnend, daß dieselben Leute, die mit ihrem «deutschen Idealismus» in so aufdringlicher Weise hausieren gingen und mit tiefster sittlicher Entrüstung gegen die «materialistische Verköterung» Deutschlands zu Felde zogen, die Beziehungen der Geschlechter lediglich nach den Gesichtspunkten des Züchters einschätzten und das Liebesleben der Menschen auf das Niveau des Sprungstalles und der Brutanstalt herabwürdigten. Nach der Rationalisierung der Wirtschaft die Rationalisierung des sexuellen Verkehrs – welche Zukunft!
Aber das ganze Gerede von der Aufnordung ist keinen Pfifferling wert, weil für einen solchen Vorgang alle Voraussetzungen fehlen. Wäre die Rasse nicht bloß ein Begriff, sondern eine wirkliche Lebenseinheit, deren Merkmale sich als ein Ganzes auf die Nachkommen übertragen, so könnte man sich über derartige Vorschläge noch unterhalten. Ein Landwirt ist wohl imstande, seine Ochsen, Kühe oder Schweine auf die Ergiebigkeit von Fleisch, Milch oder Fett zu züchten, aber Menschen auf bestimmte geistige und seelische Eigenschaften züchten zu wollen, ist doch etwas anderes. Alle Versuche, die bisher an Pflanzen und Tieren vorgenommen wurden, haben bewiesen, daß die Rasse in der Mischung sich nie als Ganzes erhält. Solange Menschen mit gleichen oder ähnlichen Rassenmerkmalen unter sich bleiben und sich nur innerhalb ihres eigenen Kreises fortpflanzen, treten ihre besonderen Merkmale mehr oder weniger vereint und in ähnlicher Zusammenstellung auf. Findet jedoch eine Mischung mit anderen Rassenelementen statt, so vererbt sich die Rasse nie als kompakte Einheit sondern jedes ihrer Merkmale für sich und in besonderen Zusammenstellungen. Deshalb lassen sich bei den Nachkommen nicht nur reine und gemischte Merkmale feststellen; es besteht auch die Möglichkeit für alle nur denkbaren Kombinationen der von den Eltern empfangenen Erbanlagen.
Nun gibt es aber keine reinen Rassen mehr, am allerwenigsten in Europa. Die sogenannten Grundrassen Europas sind heute so gründlich durcheinandergewürfelt, daß reinrassige Völker nirgends zu finden sind. Das gilt besonders für Deutschland, das durch seine geographische Lage im Herzen des Kontinents als Durchgangsgebiet für die verschiedensten Stämme und Völkerschaften wie geschaffen war. Zur Zeit der Völkerwanderung haben nordische Stämme in Scharen die alte Heimat verlassen und sind nach dem Süden gezogen, wo das nordische Blut allmählich mit dem rassenfremden Blute der einheimischen Bevölkerung zusammenfloß. Slawische Stämme, die von Osten her vordrängten, besetzten die halbverlassenen Gebiete und breiteten sich im Norden bis zur Elbe und im Süden bis zur Regnitz aus. Noch bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts wurde der Thüringer Wald der Slawenwald genannt, und man erkennt heute noch in dem Aussehen der Bevölkerung dort das starke Einfließen slawischen Blutes. Die alte Bevölkerung Deutschlands wurde durch diese fortgesetzten Blutmischungen förmlich umgegossen. Die Deutschen entsprechen schon lange nicht mehr der Beschreibung, die Tacitus einst von den Germanen entworfen hatte. Nicht bloß die körperlichen Merkmale haben sich geändert, auch die geistigen und seelischen Anlagen haben einen gründlichen Wandel erfahren. Unter den 60 Millionen, die heute Deutschland bevölkern, gibt es wohl kaum einen Menschen, den man als reinen Norden bezeichnen könnte. Deshalb ist es eine der sonderbarsten Illusionen, die je von Menschen gehegt wurden, aus diesem bunten Gemisch wieder eine der alten Grundrassen herausdestillieren zu können. Man muß in der Tat schon Rassentheoretiker sein, um sich so etwas vorzustellen. Die ganze Aufnordungsutopie ist – wie Brunhold Springer geistreich bemerkte – «keine Aufgabe, sondern ein alldeutsches Gesellschaftsspiel».[100]
Es sind die Extreme, die sich gegenseitig anziehen, besonders in der Liebe der Geschlechter. Der blonde Mensch wird sich von dem brünetten stets mehr angezogen fühlen als von seinesgleichen. Es ist das Fremde, das reizt und lockt und das Blut stärker in Wallung bringt. Schon die Tatsache, daß es keine reinen Rassen gibt und alle Völker nur Mischgebilde sind, beweist, daß die Stimme der Natur stärker ist als die Stimme der Rasse oder des Blutes. Sogar das strengste Kastenwesen Indiens hat die Reinrassigkeit nicht retten können. Der nordische Mensch Günthers und seiner Anhänger ist nur ein Phantasiegebilde. Der Glaube an eine Rasse, die alle Merkmale körperlicher Schönheit mit den vorzüglichsten Eigenschaften des Geistes und der Seele in sich vereint, ist ein Wunderglaube, eine Traumvorstellung, die weder der Vergangenheit noch der Zukunft entspricht.
Wäre die nordische Rasse in der Tat jenes Wundergebilde, aus dem jede menschliche Kultur hervorgegangen ist, wieso kommt es, daß sie in ihrer nordischen Heimat keine Kultur von nennenswerter Bedeutung hervorzubringen vermochte? Weshalb entfalteten sich ihre «angeborenen kulturschöpferischen Fähigkeiten» erst in fernen Zonen und weit von der heimatlichen Erde? Weshalb gab es einen Sophokles, einen Praxiteles, einen Perikles, einen Demosthenes, einen Alexander, einen Augustus und hundert andere, die von den Günther, Woltmann, Hauser als Träger der nordischen Rasse gefeiert werden, nur in Griechenland und Rom? Tatsache ist doch, daß der nordische Mensch seine vielgerühmten kulturschöpferischen Anlagen immer erst in einer anderen Umwelt und in Verbindung mit fremden Völkern zeigen konnte. Denn die «stolzen Wikingerfahrten», von denen in den Rassebüchern so viel gefackelt wird, können doch kaum als Kulturtaten gefeiert werden. Im Gegenteil, sie haben nur allzu häufig die Kultur bedroht und wertvolle Teile davon in Trümmer gelegt, wie die Raubzüge der Goten, Vandalen, Normannen und anderer germanischer Stämme deutlich genug bewiesen haben.
Alle modernen Rassentheoretiker sind sich darüber einig, daß die staatsbildende Befähigung eines der wichtigsten Merkmale des nordischen Menschen sei, die ihn allein dazu berufe, Führer und Lenker von Völkern und Nationen zu sein. Wenn dem so ist, wieso kommt es, daß der nordische Mensch gerade in den nordischen Ländern kein großes Reich geschaffen hat, wie zum Beispiel die Reiche Alexanders, der römischen Cäsaren oder Dschingis Chaghans, und stets in kleinen Völkerschaften zerstückelt blieb? Es mutet in der Tat etwas sonderbar an, wenn dieselben Leute, die von dem staatsbildenden Genie der blonden Norden soviel zu erzählen wissen, im selben Atemzuge die ewige Uneinigkeit der germanischen Stämme als eine der bedauerlichsten Erscheinungen ihres Charakters beklagen und die heutigen Deutschen immer wieder auf die verhängnisvollen Folgen dieser Unsitte ihrer angeblichen Vorfahren hinweisen. Solche Eigenschaften lassen sich doch sicher nicht mit der Befähigung, große Reiche und Nationen zusammenzuschweißen, vereinigen, was – nebenbei gesagt – durchaus kein Unglück wäre. Die geradezu sprichwörtlich gewordene Zersplitterungssucht der germanischen Stämme paßt in der Tat sehr schlecht zu ihrer angeblichen staatlichen Befähigung. Diese ist den blonden Norden erst in der Fremde gekommen, als ihnen der Machtgedanke des Römischen Reiches zur neuen Offenbarung und gleichzeitig zum Verhängnis wurde.
Damit sollen dem nordischen Menschen keineswegs kulturelle Befähigung und andere wertvolle Eigenschaften abgesprochen werden; nichts liegt uns ferner, als in den entgegengesetzten Fehler der Rassenideologen zu verfallen. Aber wir wehren uns mit aller Entschiedenheit gegen die anmaßende Überheblichkeit der Leute, die die Dreistigkeit besitzen, anderen Rassen nicht nur jedes tiefere Kulturgefühl, sondern auch alle Begriffe von Ehre und Treue abzuerkennen. Schließlich ist ja das ganze Gerede von der Rassenseele nicht mehr als ein müßiges Spiel mit eingebildeten Begriffen. Die Methode, ganze Menschengruppen auch seelisch und geistig auf eine bestimmte Norm zu bringen, ist eine Ungeheuerlichkeit, die zu den schlimmsten Fehlschlüssen führen muß. Es soll nicht bestritten werden, daß Menschen, die sich jahrhundertelang auf einem bestimmten Gebiete und unter dem Einfluß derselben natürlichen und sozialen Umwelt fortpflanzen, gewisse äußere und innere Züge miteinander gemein haben. Bei den Gliedern derselben Familie tritt diese Ähnlichkeit noch weit stärker hervor als bei einem Stamme oder einer Völkerschaft; und doch, welche unüberbrückbaren Charaktergegensätze wird man finden, wenn man den geistigen und seelischen Anlagen der einzelnen Familienmitglieder tiefer nachgeht. Überhaupt entspricht der sogenannte Kollektivcharakter eines Volkes, einer Nation oder einer Rasse immer nur der persönlichen Auffassung einzelner, die von den anderen aufgenommen und gedankenlos nachgesprochen wird.
Was soll man zum Beispiel dazu sagen, wenn Günther in seiner Rassenkunde des jüdischen Volkes seinen Lesern über die sogenannte orientalische Rasse folgendes zu berichten weiß: «Diese Rasse ist aus der Wüste hervorgegangen, und ihr seelisches Verhalten neigt dazu, aus früheren Anbauflächen wieder Wüste werden zu lassen.» – Das ist doch nur leeres Geschwätz, das sich durch nichts begründen läßt; denn erstens fehlt uns jede historische Unterlage dafür, daß diese Rasse in der Tat aus der Wüste hervorgegangen ist, und zweitens: wer wollte den Beweis erbringen, daß den Trägern dieser Rasse wirklich der Instinkt innewohnt, bebautes Land wieder «Wüste werden zu lassen»? Aber Günther benötigte diese Konstruktion nur, um seinen Lesern die völlige Wertlosigkeit des Juden verständlich zu machen. Und doch waren die Juden in Palästina ein ackerbautreibendes Volk, und ihre ganze Gesetzgebung war auf diese Tatsache zugeschnitten. Die Araber haben Spanien in einen Garten verwandelt, von dem große Teile nach der Vertreibung der Mauren wieder zu Wüsten geworden sind.
Die Furcht vor dem Juden hat sich bei den Vertretern des Rassengedankens zu einer förmlichen Rassenangst ausgewachsen. Zwar gibt man auch in jenen Kreisen zu, daß so etwas wie eine jüdische Rasse überhaupt nicht vorhanden ist und daß die Juden, wie alle anderen Völker, nur eine Mischung aller möglichen Rassenbestände darstellen. Moderne Rassentheoretiker behaupten sogar, daß neben vorderasiatischem, orientalischem, hamitischem und mongolischem Blute auch ein Tröpflein nordischen Blutes in den Adern des Juden fließt; doch scheint es, daß er von allen Rassen gerade das Schlimmste geerbt hat. Es gibt wohl keine schlechte Eigenschaft, die man dem Juden nicht angedichtet hätte. Er ist der eigentliche «Erfinder des Sozialismus», und in derselben Zeit hat er den Kapitalismus in die Welt gesetzt. Er hat mit seinen liberalen Ideen alle Länder verpestet und alle Bande der Autorität gelockert, doch seine Religion ist «ein Glaube starrester Autorität», ein Kultus des vollendetsten Despotismus.
Er hat den Krieg verursacht und die Revolution hervorgerufen. Er scheint überhaupt nichts anderes im Schilde zu führen, als grundsätzlich Gemeinheiten gegen den edlen nordischen Menschen auszuhecken. Zwar versichert man uns, daß Blutmischung die ursprünglichen Anlagen der Rasse töte und ihre seelischen und geistigen Eigenschaften vom Wege abdränge. Wie kommt es nun, daß eine so vielgemischte Menschengruppe wie die Juden ihre religiöse Weltanschauung über zweitausend Jahre konservieren konnte, trotz der ungeheuerlichen Verfolgungen, die sie dafür erdulden mußte? Sollte man da nicht annehmen, daß es in der Geschichte noch andere Faktoren gibt als die Erbanlagen der Rasse? Und wie kommt es, daß die Juden mit ihrem «modernen Geiste» die ganze Welt vergiften konnten, wenn die Ideen der Menschen nur das Ergebnis ihrer blutbedingten Erbanlagen sind? Muß man daraus nicht schließen, daß der Jude uns entweder blutlich viel näher verwandt ist, als unsere Rassenideologen zugeben wollen, oder daß die blutbedingten Erbanlagen der Rasse zu schwach sind, um fremden Ideen widerstehen zu können?
Doch die Stoßkraft der modernen Rassenlehre ist nicht nur gegen den Juden gerichtet; sie richtet sich in noch weit höherem Maße gegen einen Teil des eigenen Volkes, gegen die Abkömmlinge der sogenannten alpinen Rasse, die Günther in die ostische umgetauft hat. Wenn Günther, Hauser, Clauß und Genossen auf den Ostischen zu sprechen kommen, so werden sie direkt bösartig. Daß sich die ostische Rasse im Herzen Europas niedergelassen hat, ist nach Günther ein großes Unglück, denn sie bedroht mit ihrem «unreinen Blute» fortgesetzt die hehren Norden, denen die Blutmischung mit dieser «talentlosen», «unschöpferischen» Rasse nur zum Verderben gereicht. Der Ostische ist das vollendete Gegenteil des nordischen Menschen. Wenn in diesem der «Herrschergeist» seinen vornehmsten Ausdruck findet, so lebt in jenem nur die «mürrische Seele» des Spießers, der keines großen Zuges fähig ist. Der Ostische ist der «geborene Pazifist», der «Mensch der Masse», daher seine Vorliebe für die Demokratie, die nur dem Bedürfnis entspringt, alles herabzusetzen, was größer ist als er. Er besitzt keinen heldischen Zug und hat überhaupt kein Verständnis für die Größe des Vaterlandes und der Nation. Die Ostischen, das sind «die Menschen Jean Pauls, die in Deutschland schon genug oder zu reichlich vertreten sind». Sie sind gut als Untertanen, aber Führer können sie nicht sein; zum Führer ist nur der nordische Mensch berufen (siehe Hitler und Goebbels). Doch das ist nicht alles.
«Geschlechtliche Gemeinschaft innerhalb der engeren Sippe, also zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und Kindern, sollen, wie mir Landärzte versichern, in ostisch besiedelten Gebieten nicht ganz ungebräuchlich sein. Die ostische Seele kennt vielleicht von Hause den Begriff der Blutschande nicht.»[101]
Am schlechtesten ist Otto Hauser auf den ostischen Menschen zu sprechen, von dem er folgendes anmutige Bild entwirft:
«Um Geld ist ihm alles feil. Er würde ohne weiteres seine Ehre verkaufen, wenn er eine hätte. Er ist der geborene Demokrat und Kapitalist … Der ostische Mensch ist geiler als die reinen Rassen und die übrigen Mischformen. Für ihn müssen nackte Weiber und Männer auf der Bühne tanzen und womöglich sich balgen; er liest am liebsten von Perversitäten und betreibt sie, wenn er das Geld dazu hat. Er versklavt die Frau und wird von ihr versklavt. Er vertritt den Individualismus in dem Sinne, daß jeder alles tun dürfte, was er will, Mädchen und Knaben schänden, im gesellschaftlichen, geistigen und politischen Wettbewerb alle Mittel anwenden. Und während es sonst sportliche Kampfregel ist, den Gegner nicht an die Geschlechtsteile zu fassen, übt er, der sonst für die Freigebung aller Lüste eintritt, diese Praktik am liebsten, wenn er die Genies, die ihm, dem typisch Ungenialen, unangenehm sind, zu sich herabzuziehen und die politischen Gegner, die er im ehrlichen Kampfe nicht besiegen kann, zu Fall zu bringen sucht.»[102]
Und an einer anderen Stelle seiner Werke erzählt Hauser seinen Lesern:
«In seiner Geschlechtlichkeit ist der Ostische gemein. Man kann mit ihm keine halbe Stunde Zusammensein, so erzählt er einem nicht nur unzüchtige Anekdoten, sondern seine eigenen sexuellen Erlebnisse, womöglich auch noch die seiner Frau; und die Frauen bemüßigen den Zuhörer mit ihren Regelbeschwerden. Seine Brut beschmiert die Wände mit Rhomben und Phallen und verabredet in den öffentlichen Abtritten gleichgeschlechtliche Zusammenkünfte.»
Man traut seinen Augen nicht, wenn man so etwas liest. Der erste Eindruck ist, daß man es mit einem Kranken zu tun hat, denn dieses stete lüsterne Herumwühlen in der eingebildeten krankhaften Geschlechtlichkeit anderer entspringt sicherlich einer perversen Neigung und zeugt von einer schwülen Phantasie, die gesunde Sinnlichkeit nicht kennt. Man mache sich einmal das Ungeheuerliche solcher Beschuldigungen klar, die hier vor aller Welt erhoben werden. Dieser Mann bewirft mit seinem Unrat eine ganze Menschengruppe, die im eigenen Lande nach Millionen zählt, und dichtet ihr angebliche Charakterzüge an, die lediglich seiner kranken und unreinen Einbildungskraft entsprungen sind. Diese Art der Beweisführung ist bezeichnend für die Methoden der heutigen Rassenideologen, aber sie ist auch typisch für den geistigen Tiefstand von Männern, die sich nicht scheuen, sogar die Geheimnisse der Bedürfnisanstalt heranzuziehen, um dem Rassenfeinde etwas anzuhängen und dabei ihren trüben Instinkten Befriedigung zu verschaffen. – Und dieses Gift ging seit Jahren in ungezählten Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln ins Land. Man wundere sich nicht, wenn diese Drachensaat eines Tages aufgehen wird. Denn das ist ja das Widersinnige der heutigen nationalistischen Bewegung in Deutschland, daß sie auf der Rassenlehre fußt und daß ihre Vertreter in ihrer Blindheit gar nicht begreifen, daß sie damit das stärkste Bollwerk der Nation, das anerzogene nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, mit eigenen Händen zerstören.
Wenn man sich nicht entblödet, Angehörige der eigenen Nation in so maßloser Weise zu verunglimpfen, so kann man sich vorstellen, wie sich der Rassenfanatismus gegen andere Völker auswirken muß. Aus dem blöden Glauben an die gottgewollte Überlegenheit der edlen Rasse erwächst folgerichtig der Glaube an ihre historische Mission. Rasse wird Schicksalsfrage, Traum von der Welterneuerung durch das bewußte Wollen des Germanentums. Und da man nicht annehmen kann, daß andere Völker die kommende Geschichte unter demselben Gesichtswinkel sehen, so ist der Krieg die einzige Lösung. Die Erfahrung hat uns gezeigt, wohin das führt. Der Glaube, daß «am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen» werde, erweckte gerade in den Schichten, die auf die Geschichte Deutschlands den größten Einfluß hatten, die Überzeugung von der Unvermeidlichkeit des «deutschen Krieges», von dem in den Kreisen um Chamberlain so oft die Rede war. Othmar Spann erklärte in einer weitverbreiteten Schrift, in welcher der Krieg als «Geburtshelfer aller Kultur» gefeiert wurde:
«Wir müssen diesen Krieg herbeiwünschen, schon um zu beweisen, daß auf uns allein seine Last ruhen wird, wir allein ihn ausfechten müssen mit der ganzen Kraft, welche die germanische Herrscherrasse durch die Jahrtausende hindurch bewährt hat.»[103]
Dieser Geist wurde jahrzehntelang künstlich genährt und verdichtete sich allmählich zu jener fatalistischen Wahnvorstellung, die alle und jede Geschichte unter dem Aspekt der Rasse sieht. Spann war nicht der einzige, der mit dem Rassenkrieg der Zukunft spielte. In der Vorstandssitzung des «Alldeutschen Verbandes» vom 30. November 1912 nahm die Frage des kommenden Krieges den wichtigsten Platz ein. Man sprach von dem «Entscheidungskampf des gesamten Slawentums gegen das Germanentum», wie Freiherr von Stössel und andere es taten; und Dr. Reuter, Hamburg, erklärte, daß es «unsere vornehmste Aufgabe sei, das Volk über den wahren Grund des wahrscheinlich kommenden Krieges aufzuklären», der nur als «Kampf des vereinigten Slawentums gegen das Deutschtum» aufzufassen sei. Als die deutsche Regierung im April 1913 die neue Wehrvorlage einbrachte, begründete Bethmann-Hollweg die neue Forderung damit, daß er auf die drohende Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen Slawen und Germanen hinwies. Obwohl die Konstellation der Mächte beim Ausbruch des Krieges jedem Einsichtigen zeigen mußte, daß hier von keinem Kriege der Rassen die Rede sein konnte, fehlte es nicht an Stimmen, die in der furchtbaren Katastrophe nur den unvermeidlichen Zusammenprall der Rassen sehen wollten. Sogar ein so weitbekannter Geschichtsschreiber wie Karl Lamprecht veröffentlichte im Berliner Tageblatt vom 23. August 1914 einen Aufsatz, wo er vom «Kampf des Germanentums und des lateinischen (katholischen) Slawentums gegen die eindringende östliche Barbarei» sprach.
«Dann entdeckte Lamprecht, daß Skandinavien, Holland, die Schweiz und Amerika aus ihrem Rassengefühl heraus für Deutschland Partei ergriffen und verkündete jubelnd: ‹Das Blut schlägt durch!› Die Illusion, Amerika zum Bundesgenossen zu haben, verleitete ihn sogar dazu, ‹die lebendige Zukunft einer teutonisch-germanischen Rasse zu verkünden›, und da schließlich England in dieses Schema nicht hineinpaßte, betonte der große Historiker: Man beachte, von welchem nicht mehr rein germanischen, sondern vielmehr keltischen Geist das zentrale Land des britischen Weltreichs erfaßt ist.»[104]
Wenn die Rassentheorie im Hirne eines Gelehrten von Weltruf eine so heillose Verwirrung anrichten konnte, darf man sich dann wundern über die aberwitzige Überheblichkeit eines Ökonomisten wie Sombart, der in jenen Tagen der Welt verkündete:
«So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier der Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt.»[105]
Wir behaupten nicht, daß nur der Deutsche solcher Wahnvorstellungen fähig ist. Jeder Glaube an eine auserwählte Religion, Nation oder Rasse führt zu ähnlichen Ungeheuerlichkeiten. Aber es soll nicht verkannt werden, daß der Rassengedanke in keinem anderen Lande eine solche Verbreitung gefunden und eine so weitverbreitete Literatur ins Leben gesetzt hat wie gerade bei uns. Es scheint fest, als ob das Deutschland von 1871 hätte nachholen wollen, was seine größten Geister vor der Gründung des Reiches auf Grund ihrer allmenschlichen Einstellung glücklicherweise versäumt hatten.
Die Vertreter der Rassenlehre befinden sich in der beneidenswerten Lage, daß sie mit den verstiegensten Behauptungen hervortreten können, ohne sich um greifbare Beweise bemühen zu müssen. Da sie selber wissen, daß die meisten dieser Behauptungen, auf ihren wissenschaftlichen Wert hin geprüft, nicht bestehen können, so berufen sie sich auf die Untrüglichkeit des Rasseninstinkts, der angeblich klarer sieht, als das mühsame Verfahren der wissenschaftlichen Forschung es gestattet. Wäre dieser famose Instinkt der Rasse tatsächlich vorhanden und vor allem nachweisbar, so könnte er es getrost mit der Wissenschaft aufnehmen, da ja die «innere Stimme» oder die «Rasse im eigenen Busen» dem Menschen in allen schwierigen Dingen Gewißheit verschaffen würde, auch dort, wo die Wissenschaft versagt. In diesem Falle aber müßten sich wenigstens die namhaftesten Vertreter der Rassentheorie in den wesentlichsten Punkten ihrer Lehre einig sein und besonders in ihren Folgerungen eine gewisse Einheitlichkeit der Auffassung bekunden. Aber da liegt eben der Hund begraben. Es gibt kaum eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, über die man sich im Lager der Rassenideologen auch nur halbwegs einig wäre. Sehr häufig gehen die Ansichten so weit auseinander, daß an eine Überbrückung der Gegensätze überhaupt nicht mehr gedacht werden kann. Dafür nur einige Beispiele zwischen tausenden:
In seinem Werke Rasse und Kultur belehrt uns Otto Hauser, daß die Griechen ein «streng umgrenztes Blondvolk gewesen, aus sich selbst heraus zu einer Kultur kamen, deren Höhe stets bewundert werden, die stets als vorbildlich gelten wird, solange in einem Volke, in einem Menschen verwandtes nordisches Blut fließt». – Woltmann, Günther und andere haben uns dasselbe in anderen Worten gesagt, ohne Zweifel auf Grund desselben «nordischen Instinktes», der das verwandte Blut durch die Jahrtausende wittert. Gobineau aber, der eigentliche Begründer der Rassentheorie, hatte für die Griechen kein gutes Wort übrig, die er schon aus eingefleischtem Haß gegen die Demokratie in jeder Weise herabsetzte. In seinem 1.200 Seiten starken Werke Histoire des Perses verherrlicht er die Kultur der Perser geradezu überschwenglich und schildert uns Griechenland als halbbarbarisches Land ohne eine nennenswerte eigene Kultur. Gobineau spricht den Hellenen sogar alle moralischen Qualitäten ab und behauptet, daß sie für das Gefühl der Ehre kein Verständnis hatten. Wie wir sehen, die reinsten Ostischen.
Für Chamberlain ist das Christentum der höchste Ausdruck des arischen Geistes; in dem christlichen Glauben offenbarte sich ihm die germanische Seele in ihrer ganzen Tiefe und scheidet sich am klarsten von jeder semitischen Religionsauffassung. Denn das Judentum ist der vollendetste Gegensatz der christlichen Religion; jede philosophische Synthese zwischen jüdischem und germanischem Geiste ist auch in der Religion undenkbar. – Dagegen sieht Albrecht Wirth im Christentum eine Frucht jüdisch-hellenistischen Geistes, die heranreifte, als die verachteten Juden aus dem Elend der äußeren Welt flüchteten, um sich eine höhere Innenwelt aufzubauen.[106] – Eugen Dühring aber verwirft das Christentum grundsätzlich, weil sich durch seinen Einfluß die Verjudung des arischen Geistes vollzogen habe.[107] Ludwig Neuner beschuldigt die Frankenkönige, unseren Ahnen «den alten, eigenen, aus kindlicher Naturbetrachtung entsprungenen Glauben geraubt und gründlich zerstört» und ihnen dafür «ein starres Religionssystem von ausgesprochen internationalem Charakter» aufgedrängt zu haben (Deutsche Gott-Natur-Kunde). – Erich Mahlmeister aber erklärt uns in seiner Schrift Für deutsche Geistesfreiheit: «Das Christentum ist unmännlichen, knechtigen Wesens, deutschem Wesen direkt entgegengesetzt.» Und über die Person Christi fällt der Verfasser das Urteil: «Der ausgestoßene Landesverräter einer verhaßten Rasse ist der Gott, vor dem der Deutsche das Knie beugen soll.»
Günther, Hauser, Clauß sehen im Protestantismus eine Geistesbewegung der nordischen Rasse, und auch Lapouge erkannte in ihm «den Versuch, das Christentum der Eigenart der arischen Rassen anzupassen». Ebenso ist Chamberlain ein entschiedener Gegner der katholischen Kirche und weist in seinen Grundlagen wiederholt auf den semitischen Ursprung des Papsttums hin. Er sieht in diesem den ausgesprochenen Antipoden des germanischen Geistes, der keine organisierte Priesterkaste anerkenne und dem Gedanken einer Welthierarchie gefühlsmäßig fernstehe. Deshalb ist ihm die Reformation der Aufstand des nordischen Menschen gegen den semitischen Cäsarismus Roms und eine der größten Geistestaten des Germanentums überhaupt. – Dafür aber feiert Woltmann das Papsttum als eine Glanzleistung des Germanentums und gibt sich alle Mühe, die germanische Abstammung der meisten Päpste darzutun. Besonders hat es ihm der «Gotensprößling» Hildebrandt angetan, der als Gregor VII. auf dem päpstlichen Throne saß und der eigentliche Begründer der Weltherrschaft des Papsttums gewesen ist. – Otto Hauser aber erklärt diese offenbare Verwirrung des germanischen Geistes wie folgt: «Es liegt in dem Machthunger des nordischen Menschen, in seinem Streben mit allen seinen Kräften wirken zu können, daß er unbedenklich jedes Mittel wählt. Man weiß, wie ungemein frivol manche Päpste über Papsttum und Christentum urteilten. So wird das Papsttum wohl zeitweilig in fast lückenloser Reihe von Germanen vertreten, aber dennoch als ungermanische, unnordische Idee.»[108]
Wer soll sich da noch auskennen? Was für ein seltsames Ding ist denn das, diese nordische Rassenseele? Sie schillert in allen Farben wie ein Chamäleon. Sie ist päpstlich und antipäpstlich, katholisch und protestantisch. Die Stimme des Blutes in ihr widersetzt sich der Herrschaft einer privilegierten Priesterkaste und weist den Gedanken einer Welthierarchie weit von sich, doch in derselben Zeit setzen ihre Träger alles daran, die Welt unter das Joch des Papsttums zu zwingen, dessen Formen dem «orientalischen Despotismus der Semiten» abgelauscht sind. – Doch die Sache wird noch interessanter, wenn wir erfahren, daß auch Ignatius de Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, ein blondhaariger Germanensprößling gewesen ist, wie Woltmann und Hauser behaupten. Da muß der Natur noch ein schlimmeres Versehen unterlaufen sein als im Falle Beethoven. Man stelle sich vor: Loyola ein blondhaariger, blauäugiger Germane, er, der streitbare Herold und bewußte Verkünder der Gegenreformation, und Martin Luther, die Seele der deutschen Reformation, ein dunkelhaariger Mensch von gedrungener Gestalt mit braunen Augen, der die äußeren Merkmale des Ostischen so deutlich zur Schau trägt, daß sogar die Günther, Hauser, Woltmann sie nicht aus der Welt wegdisputieren können! Daß Gobineau in seinem Rassenwerk und auch anderswo die ordnende Hand der katholischen Kirche rühmend hervorhebt und in seinem Ottar Jarl alle und jede Ketzerei gegen die heilige Mutter Kirche in Grund und Boden verdammt, macht die Sache nicht einfacher. Und als ob das alles nicht genug wäre, versichert uns Hauser, daß die Reformation eine «blutliche Bewegung» gewesen sei, und die «Ablehnung des mischrassigen Geistes durch den nordischen» bedeute Rasse und Kultur. Und das sagt er, nachdem er eine Seite vorher von den Menschen der Reformationszeit folgendes Bild entworfen hatte: «Das übrige Deutschland hat den Tiefpunkt seiner Kultur- und Rassenebbe um 1500. Da sind die Deutschen in der Allgemeinheit so häßlich, daß Dürer, seine Vorgänger und Zeitgenossen in ihren Schilderungen der Wirklichkeit kaum jemals ein schönes reingeschnittenes, edles Gesicht bringen, nur Fratzen von ganz tierischer Scheußlichkeit, und selbst in ihren Darstellungen aus der heiligen Geschichte in den göttlichen Personen und den Heiligen vermögen sie, da eben die Vorbilder fehlen, nur höchst selten halbwegs schöne Menschen zu schaffen.» Aber diese Menschen der «Rassenebbe» haben doch die Reformation gemacht! Wie erklärt es sich, daß diese «blutliche Bewegung», die den «mischrassigen Geist» ablehnte, gerade in einer Zeit zustande kam, als nach Hausers eigener Aussage «Deutschland den Tiefpunkt seiner Kultur- und Rassenebbe» erreicht halte?
Man nehme irgendeine Epoche der menschlichen Geschichte, und man stößt überall auf dieselben Widersprüche. Da ist zum Beispiel die große Französische Revolution. Daß man bei den Vertretern des Rassengedankens keine Spur von Verständnis für die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ursachen jener großen europäischen Umwälzung findet, ist nur selbstverständlich. Wie die Zigeuner das Schicksal eines Menschen aus den Linien der Hand ablesen, so lesen die Tausendkünstler der Rassentheorie aus den Porträts der führenden Geister jener sturmgepeitschten Zeit die ganze Geschichte der Revolution und ihrer blutbedingten Ursachen. – «Wir wissen, daß ein Mensch zwangsläufig seinem Aussehen entsprechend handeln muß und daß dieses Gesetz sich ebenso in primitivster wie in kompliziertester und sinnverwirrendster Fülle des Ausdrucks kundtun kann, daß es aber immer und überall dasselbe zeitlose und unumstößliche Gesetz der Vererbung des Lebens bleiben muß.»[109]
Diese selbstherrliche Erklärung, die über die schwierigsten Fragen, welche die Wissenschaft seit Jahrzehnten beschäftigt, eine Entscheidung fällt als ob es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt handle, ist geradezu verblüffend. «Wir wissen!» Wer weiß? Woher weiß man? Wer hat jenes «Gesetz» festgestellt, von dem der Verfasser spricht? Kein Mensch! Keine Wissenschaft! Es handelt sich lediglich um eine leere Behauptung, die nicht den Wert eines falschen Groschens besitzt. – In der Tat hat der Verfasser versucht, aus den Porträts von Ludwig XVI., Mirabeau, Madame Roland, Robespierre, Danton, Marat usw. das innere Gesetz ihres Handelns zu ergründen und von dem Grad ihrer Rassenmischung abzuleiten. Leider liegt dieser Erkenntnis kein Gesetz, sondern nur eine Einbildung zugrunde, die weder «zeitlos» noch «unumstößlich» ist. Es mag Menschen geben, denen ihr Charakter auf die Stirn geschrieben ist, doch gibt es deren sicher nicht viele, denn die Karl und Franz Moor leben nur in den Werken der Dichtung, im Leben selbst begegnet man ihnen nicht häufig. Niemand ist imstande, aus äußerlichen Zügen die seelischen und geistigen Anlagen eines Menschen zu erkennen; der übergroßen Mehrzahl aller großen Geister der Geschichte könnte auch der erfahrenste Physiognom ihre Bedeutung schwerlich vom Gesicht ablesen. Solche Fähigkeiten stellen sich gewöhnlich erst ein, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, und es würde dem Verfasser der erwähnten Schrift nicht so leicht ankommen, ein Urteil über Personen wie Mirabeau, Robespierre, Marat oder Danton abzugeben, wenn diese ihre historische Rolle noch vor sich hätten.
Gobineau sah in der großen Revolution nur die Empörung des «kelto-romanischen Mestizentums» gegen die germanische Führerschicht des französischen Adels und verdammte die ganze grandiose Bewegung mit dem verbissenen Haß des Royalisten, der jeden Versuch, die gottgewollte Ordnung zu stören, aus Prinzip verurteilt. Die Revolution war für ihn der Sklavenaufstand der Minderwertigen, die er schon deshalb aus tiefster Seele verachtete, weil sie die Träger der modernen revolutionären und demokratischen Ideen in Europa waren, welche der alten Herrenkaste den Todesstoß versetzt hatten. – Chamberlain beurteilte die Revolution von einem ähnlichen Gesichtspunkte, da er, wie Gobineau, in der Demokratie und dem Liberalismus die Todfeinde des germanischen Geistes erblickte. – Dafür aber sah Woltmann in der Revolution eine Kundgebung desselben germanischen Geistes und versuchte, seine Ansicht damit zu begründen, daß er sich bemühte nachzuweisen, daß die Mehrzahl der führenden Köpfe der Revolution germanischen Ursprunges gewesen seien. War für Gobineau die Devise der Revolution «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» nur der Wahrspruch eines in voller Auflösung befindlichen Rassengemischs, so belehrt uns Hauser: «Die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist echt protestantisch, aber sie gilt nur für die Auslese, die der Protestantismus selber schafft, nur für ähnliche Gruppen.» Und an einer anderen Stelle desselben Werkes heißt es: «Die Revolution beginnt als das Werk von Germanen und Germanoiden und auf Grund einer germanischen Idee; sie findet ihren Widerhall bei allen Höherrassigen, aber sie endete in dem Hexensabbat der entfesselten Triebe der minderrassigen Masse, die das germanische ‹Himmelslicht› nur dazu verwendet, um ‹tierischer als jedes Tier zu sein›.» (Die Germanen in Europa, S. 149-150.) Meint das nun, daß die germanische Abstammung des französischen Adels, von der uns Gobineau berichtet, eitles Geflunker war, oder haben wir es hier mit einem Vernichtungskampf von Germanen gegen Germanen, mithin einer Art Rassenselbstmord zu tun?
Da Marx und Lassalle ihrer Abstammung nach Juden waren, so ist das für Männer vom Schlage der Philipp Stauff und Theodor Fritsch und ihresgleichen der beste Beweis, daß die sozialistische Lehre im jüdischen Geiste begründet und dem Rassenempfinden des nordischen Menschen fremd ist. Daß die übergroße Mehrheit der Begründer des Sozialismus Nichtjuden gewesen sind und die sozialistische Bewegung in den sogenannten germanischen Ländern ebensogut Eingang gefunden hat wie in den romanischen und slawischen, hat für diese Herren ebensowenig Bedeutung wie die Tatsache, daß Marx und Lassalle in ihrer geistigen Entwicklung sicherlich nicht von der Ideologie des Judentums, wohl aber von der Philosophie Hegels am tiefsten und nachhaltigsten beeinflußt wurden. Was die Idee des Sozialismus selbst anbetrifft, so erklärte Woltmann, daß sie gerade in den germanischen Schichten der proletarischen Bevölkerung ihre besten und überzeugtesten Anhänger habe, da in dem germanischen Element der Drang nach Freiheit blutgemäß den stärksten Ausdruck finde. Gobineau aber erkannte im Sozialismus ein typisches Merkmal des Mongolentums und die Begehrlichkeit des geborenen Sklaven, dabei seine ausgesprochene Verachtung den Arbeitern gegenüber, denen er jede kulturelle Strebsamkeit absprach. Driesmann bezeichnete die Sozialisten als «Keltomongolen». Chamberlain witterte in der sozialistischen Bewegung überall den Einfluß der jüdischen Ideologie, die mit dieser Bewegung den Zweck verfolge, den germanischen Geist im deutschen Volke vollends zu zersetzen. Dühring aber erklärte kurz und kategorisch: «Die jüdische Sozialdemokratie war im Grunde eine reaktionäre Sippe, deren Staatszwangsvelleitäten nicht auf Freiheit und gute Wirtschaft, sondern auf Verallgemeinerung der Knechtschaft und auf Ausbeutung durch Staatsfrondienst im Interesse von leitenden Juden und Judengenossen hinauslaufen mußte.» (Sache, Leben und Feinde.) Und damit in diesem tollen Potpourri nichts fehle, verkündeten die rauhen Reiter des Rassengedankens in Deutschland den heiligen Krieg gegen den verjudeten Marxismus und erhoben einen sogenannten Nationalsozialismus aufs Schild, der wohl die grausamste Verquickung kapitalistischer Plattheiten mit einem ausgedroschenen sozialistischen Schlagwörtertum darstellt, die je erdacht wurde. Unter diesem Banner und unter der lieblichen Parole «Deutschland erwache! Juda verrecke!» fand man den Weg ins Dritte Reich.
Noch toller aber wird das Bild, wenn die Befürworter des Rassengedankens sich anschicken, die großen Persönlichkeiten der Geschichte der nordischen Blutprobe zu unterziehen. Was dabei herauskommt, geht in der Tat auf keine Kuhhaut, und wäre es selbst die Haut der berühmten Wolkenkuh Audumla in der nordischen Sage. – Da ist vor allem Goethe, dessen Charakterbild in den Rassenbüchern bedenklich schwankt. Das Aussehen des «Deutschesten aller Deutschen» entsprach allerdings sehr wenig den Vorstellungen vom germanischen Menschen. Dazu fehlten ihm vor allem die «blauen, strahlenden Himmelsaugen», das blonde Haar und noch verschiedenes andere, das erst den hundertprozentigen Norden macht. Dessen ungeachtet preist ihn Chamberlain als das vollendetste Genie der germanischen Rasse und erkennt in Goethes Faust die reifste Geistestat des Germanentums. Albrecht Wirth ist der Meinung, daß sich so ziemlich alle Anthropologen darüber einig seien, daß Goethe ein Nichtgermane sei, und die meisten in ihm einen Sprößling der alpinen Rasse erblicken. Lenz erkennt in Goethe einen vorderasiatisch-germanischen Mischling. Dühring bezweifelt die arische Abstammung Goethes und glaubte bei ihm semitische Neigungen zu entdecken. Am weitesten ging Hans Hermann, der in seiner Schrift Das Sanatorium der freien Liebe das folgende Bild von dem größten deutschen Dichter entwirft: «Sieht man nun Goethe an: diese vorquellenden braunen Augen, diese an der Spitze gekrümmte Nase, diesen langen Oberleib mit den kurzen Beinen, denen selbst ein leicht wehmütiger Zug nicht fehlt, dann haben wir das ganze Urbild eines Nachkommen Abrahams vor uns.»
Lessing, dessen schöpferisches Werk für die geistige Entwicklung Deutschlands von so entscheidender und tiefgehender Bedeutung war, wird von Driesmann als die lebendige Verkörperung deutschen Geistes gefeiert. Dagegen hat Dühring den Beweis zu erbringen versucht, daß der Dichter des Nathan jüdisches Blut in seinen Adern hatte. Sogar die Nase Schillers und Richard Wagners hat schon den Verdacht der Rassenschnüffler erweckt, und Schiller hat noch gut abgeschnitten, wenn Adolf Bartels, der Literaturpapst im späteren Hitlerstaate, das «Ungermanische» und «Undeutsche» in Schillers Werken auf keltischen Blutzusatz zurückführte.
Für Chamberlain war Napoleon I. die lebendige Verkörperung alles Nichtgermanentums. Woltmann aber entdeckte in ihm einen blondhaarigen Germanen, und Hauser meint: «Sieht man in ihm einen Korsen, so weist man ihn einer Gruppe zu, worin er eine Ausnahme bildet, im norditalienischen Adel jedoch, dem er angehörte, findet man alle die glänzenden Kondottieri der Renaissance und erkennt sofort, daß er zu diesen zählt.» (Rasse und Kultur) Wozu bloß zu bemerken ist, daß die Behauptung, Napoleon entstamme einem Kondottieri-Geschlecht, nur eine gedankenlose Übernahme einer Behauptung von Taine ist. Tatsache ist, daß dem ganzen Geschlecht der Buonaparte, weder aus der Linie von Trevisio noch aus der von Florenz, kein einziger Kondottiere angehörte, wohl aber der Heilige Bonaventura. Weshalb Mereschkowskij mit Recht bemerkte: «Warum soll das Blut des nie dagewesenen ‹Räubers› (Kondottiere) sich in Napoleons Adern stärker erwiesen haben als das Blut des wirklich vorhandenen Heiligen?»
Doch genug des grausamen Spiels, das man endlos fortsetzen könnte, ohne daß einer klüger daraus würde. Es sind weder Gründe der Wissenschaft noch die Stimme des Blutes, welche den Begründern des Rassengedankens ihre Ideen eingeblasen haben, sondern ihre gewalttätige asoziale Gesinnung, die jedes Gefühl der Menschenwürde mit Füßen tritt. Auf niemand trifft das alte Goethewort so gut zu wie auf sie: «Wie irgend jemand über einen gewissen Fall denkt, wird man erst recht einsehen, wenn man weiß, wie er überhaupt gesinnt ist.» – Es ist nicht die Lehre, die ihre Gesinnung formte, es ist die Gesinnung, die ihrer Lehre Form und Inhalt gab. Diese Gesinnung aber wurzelt im tiefsten Wesensgrunde aller geistigen, politischen und sozialen Reaktion: in der Vorstellungsweise des Herrn dem Sklaven gegenüber. Jede Schicht, die bisher zur Macht gelangte, hatte das Bedürfnis, ihrer Herrschaft den Stempel des Unabänderlichen und Schicksalsbedingten aufzudrücken, bis sie den herrschenden Kasten allmählich selbst zur inneren Gewißheit wurde. Man fühlt sich als Auserwählter und glaubt, auch äußerlich die Merkmale des privilegierten Menschen an sich entdeckt zu haben. So entstand in Spanien der Glaube an das sangre azul, das blaue Blut des Adels, von dem zum ersten Male in den mittelalterlichen Chroniken Kastiliens die Rede ist. Heute beruft man sich auf das Blut der edlen Rasse, die angeblich berufen ist, zu herrschen über alles Gevölk auf dieser Erde. Es ist der alte Machtgedanke, diesmal im Maskengewand der Rasse. So erklärte einer der namhaftesten Vertreter der modernen Rassenidee mit edler Selbstverständlichkeit:
«Alle nordische Kultur ist Machtkultur, alle nordische Begabung ist eine Begabung zu Dingen der Macht, sei es im geistigen Bereiche, im Staat, in der Kunst, in der Forschung.»[110]
Alle Vertreter der Rassenlehre waren und sind stets die Bundesgenossen und Befürworter jeder politischen und sozialen Reaktion, Vertreter des Machtprinzips in seiner brutalsten Form. Gobineau stand mit beiden Füßen im Lager der Gegenrevolution und machte nicht den kleinsten Hehl daraus, daß er mit seiner Lehre die «Demokratie und ihre Waffe, die Revolution», treffen wollte. Und die Sklavenhalter Brasiliens und der nordamerikanischen Südstaaten beriefen sich auf sein Werk, um die schwarze Sklaverei zu rechtfertigen. Chamberlains Grundlagen waren eine offene Kriegserklärung gegen alle Errungenschaften der letzten hundert Jahre in der Richtung der persönlichen Freiheit und zur sozialen Gleichberechtigung der Menschen. Er haßte alles, was aus der Revolution geboren wurde, mit grimmiger Verbissenheit und blieb bis zuletzt der Glockenzieher der politischen und sozialen Reaktion in Deutschland. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Träger der modernen Rassentheorie um kein Haar von ihren Vorgängern, nur daß sie geistloser, plumper und brutaler und aus diesem Grunde gefährlicher sind in einer Zeit, wo das Geistige im Volke gelähmt ist und seine Gefühle infolge des Krieges und seiner ungeheuerlichen Nachwirkungen schwierig und stumpf geworden sind. Leute vom Schlage der Ammon, Günther, Hauser, Rosenberg usw. sind ihren ganzen Bestrebungen nach rücksichtslose und eingefleischte Reaktionäre. Wohin das führte, darüber gibt uns das Dritte Reich der Hitler, Göring und Goebbels eine eindringliche Belehrung. Wenn Günther in seiner Rassenkunde des deutschen Volkes von einer «Rangabstufung der Deutschen nach ihrem Blute» spricht, so deckt sich diese Vorstellung auf das innigste mit dem Begriff eines Sklavenvolkes, das nach einer bestimmten Rangordnung gegliedert ist, die an das Kastenwesen der Inder und Ägypter gemahnt. Man begreift, weshalb diese Lehren gerade in den Reihen der Großindustriellen ein so inniges Verständnis fanden. So schrieb die Deutsche Arbeitgeberzeitung über Günthers Buch:
«Wo bleibt der Traum von der menschlichen Gleichheit, wenn man nur einen Blick in dieses Werk tut? Wir halten das Studium eines solchen Werkes nicht nur für eine Quelle edelster Unterhaltung und Belehrung, sondern wir glauben auch, daß kein Politiker ohne eine gründliche Beschäftigung mit den hier behandelten Problemen zu einem richtigen Urteil gelangen kann.»
Natürlich! Besser läßt sich die industrielle Leibeigenschaft, die unseren Industriegewaltigen als Zukunftsbild vorschwebt, moralisch nicht rechtfertigen.
Die Rassentheorie trat zuerst als Geschichtsauffassung auf, doch bekam sie mit der Zeit eine politische Bedeutung und kristallisierte sich später in Deutschland zu einer neuen Reaktionsideologie, die für die Zukunft unabsehbare Gefahren in sich birgt. Wer in allen politischen und sozialen Gegensätzen nur blutbedingte Erscheinungsformen der Rasse zu sehen glaubt, der leugnet jeden versöhnenden Einfluß der Ideen, jede Gemeinschaft des ethischen Empfindens und muß bei jeder Entscheidung zu der brutalen Gewalt seine Zuflucht nehmen. In der Tat ist die Rassentheorie nur der Kultus der Gewalt. Rasse wird Schicksal, gegen das sich nicht ankämpfen läßt, deshalb ist jede Berufung auf die Grundsätze der Menschlichkeit nur müßiges Gerede, das den Gesetzen der Natur nicht Einhalt gebieten kann. Dieser Wahnglaube ist nicht bloß eine dauernde Gefahr für die friedlichen Beziehungen der Völker untereinander, er ertötet auch jedes Mitgefühl im eigenen Volke und mündet folgerichtig in einen Zustand brutalster Barbarei aus. Wohin dieser Weg führt, das zeigte uns die Schrift Ernst Manns Moral der Kraft, wo man liest:
«Wer sich infolge seiner Tapferkeit im Kampfe um das Allgemeinwohl eine schwere Verletzung oder Krankheit zugezogen hat, auch dieser hat kein Recht, seinen Mitmenschen als Krüppel oder Kranker zur Last zu fallen. War er tapfer genug, sein Leben im Kampfe aufs Spiel zu setzen, so soll er auch die letzte Tapferkeit besitzen, den wertlosen Rest seines Lebens selbst zu enden. Selbstmord ist die einzige Heldentat, die Kränklingen und Schwächlingen übrigbleibt.»
Da wären wir also glücklich auf dem Kulturniveau der Papuas angelangt. Solche Ideengänge führen zu einer völligen Verwilderung und schlagen jedem menschlichen Empfinden größere Wunden, als man ahnt. Der Rassengedanke ist das Leitmotiv eines neuen Barbarentums, das alle geistigen und seelischen Werte der Kultur gefährdet und durch die Stimme des Blutes die Stimme des Geistes zu ersticken droht. So wird der Glaube an die Rasse zum brutalsten Faustrecht an der Person des Menschen, zur schnöden Verleugnung jeder sozialen Gerechtigkeit. Wie jeder andere Fatalismus, so ist auch der Rassenfatalismus die Abdankung des Geistes, die Degradierung des Menschen zum einfachen Blutgefäß der Rasse. Auf den Begriff der Nation angewendet, beweist die Rassenlehre, daß jene keine Abstammungsgemeinschaft ist, wie so oft behauptet wurde; und indem sie die Nation in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, zersetzt sie die Grundlagen ihres Bestehens. Wenn sich ihre Anhänger trotzdem heute so geräuschvoll als die Vertreter der nationalen Belange gerieren, so kann man ihnen nur das Wort Grillparzers entgegenhalten: «Der Weg der neuen Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.»
XIX. Politische Einheit und kulturelle Entwicklung
Über den Begriff der Kultur. Kultur als ethischer Wertmesser bei Kant, Herder und anderen. Kultur und Zivilisation. Kultur als bewußtes Auflehnen gegen das natürliche Geschehen. Naturvölker und Kulturvölker. Die Kultur im Kampfe gegen Herrentum und Machtgelüste. Solidarität als wichtigster Förderer der Kultur. Verhältnis der einzelnen Menschengruppen zum allgemeinen Kulturgeschehen. Kulturelle Befruchtung durch fremde Einflüsse. Nation und Kulturkreis. Der Sieg der höheren Kultur über politische Unterwerfung. Kulturelle Anpassung und Staatsassimilierung.
Bevor wir auf die Beziehungen des nationalen Staates zum allgemeinen Kulturgeschehen näher eingehen, ist es nötig, den Begriff Kultur möglichst scharf zu umreißen, um allen Unklarheiten vorzubeugen. Das Wort Kultur, dessen allgemeiner Gebrauch noch ziemlich jungen Datums ist, verkörpert keineswegs eine klar umrissene Vorstellung, wie man bei der Häufigkeit seiner Anwendung eigentlich annehmen sollte. So spricht man von einer Bodenkultur, von einer physischen, seelischen und geistigen Kultur, von der Kultur einer Rasse oder Nation, von einem Menschen, der Kultur besitzt, und ähnlichen Dingen mehr und versteht dabei in jedem Falle etwas anderes. Es ist noch nicht lange her, daß man dem Begriff Kultur einen fast rein ethischen Sinn unterlegte. Man sprach über die Sittlichkeit der Völker, wie wir heute über ihre Kultur sprechen. In der Tat pflegte man bis zu Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus den Begriff Humanität, der doch ein rein sittlicher Begriff ist, im selben Sinne anzuwenden wie heute das Wort Kultur, ohne daß man behaupten könnte, daß jene Bezeichnung schlechter oder unklarer gewesen wäre.
Montesquieu, Voltaire, Lessing, Herder und viele andere faßten Kultur überhaupt nur als sittlichen Begriff auf. Herder hatte in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit den Grundsatz aufgestellt, daß die Kultur eines Volkes um so höher stehe, als bei ihm der Geist der Humanität zum Ausdruck gelange. Übrigens gilt das ethische Empfinden auch heute noch manchen als der Inbegriff aller Kultur. So erklärte Vera Strasser in einem großangelegten Werke, «daß der Vorgang der Kultur darin bestehe, daß jeder einzelne das Tierische unterdrücke und das Geistige fördere», wobei schon aus dem gewählten Gegensatze klar hervorgeht, daß das Geistige vornehmlich als sittlicher Begriff gedacht ist.[110]
Auch Kant erblickte in der Sittlichkeit das wesentliche Merkmal der Kultur. Von dem Standpunkt ausgehend, daß der Mensch ein Wesen sei, in dem sich der Hang nach Absonderung mit dem Triebe zur Geselligkeit paare, glaubte er, in dem Widerstreit dieser beiden Veranlagungen das «große Instrument der Kultur» und den eigentlichen Ursprung der ethischen Gefühle im Menschen zu erkennen. Dadurch wurde der Mensch erst befähigt, seine natürliche Roheit zu überwinden und die Stufe der Kultur zu erklimmen, die nach Kants eigenem Ausspruch «in dem gesellschaftlichen Werte des Menschen besteht». Die Kultur erschien ihm als der Endzweck der Natur, die im Menschen zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte. Nach der Auffassung Kants birgt die Kultur selbst viele Hemmungen in sich, die das freie Wachstum der Menschheit scheinbar behindern, aber diesem letzten Endes dienlich sind. In diesem Sinne glaubte er, in jeder Ausdrucksform der Kultur einen Fingerzeig zu erkennen, der auf das große Endziel hindeutet, dem die Menschheit zustrebt.
Man hat später versucht, zwischen Kultur und Zivilisation zu unterscheiden, und zwar dergestalt, daß man unter Zivilisation lediglich die Bändigung der äußeren Natur durch den Menschen verstanden wissen wollte, während Kultur als Durchgeistigung und seelische Verfeinerung des physischen Daseins zu bewerten sei. In diesem Sinne hat man bestimmte Einteilungen der gesellschaftlichen Lebenserscheinungen vorgenommen und Kunst, Literatur, Musik, Religion, Philosophie und Wissenschaft als besondere Gebiete der Kultur aufgefaßt, während man die Technik, das Wirtschaftsleben und die politische Gestaltung unter dem Begriff der Zivilisation zusammenfaßte. Andere wollen auch in der Wissenschaft nur eine Erscheinungsform der Zivilisation erkennen, da ihre praktischen Auswirkungen den materiellen Lebensgang des Menschen fortgesetzt beeinflussen und umgestalten. Alle diese Versuche haben ihre bestimmten Vorzüge, aber auch ihre Unzulänglichkeiten, denn es ist nicht so einfach, hier bestimmte Grenzen abzustecken, auch wenn man sich vollständig darüber klar ist, daß es sich dabei lediglich um Einteilungsversuche handelt, die uns das Studium des wirklichen Geschehens erleichtern sollen.
Das lateinische Wort cultura, das fast in Vergessenheit geraten war, wurde ursprünglich nur auf den Landbau, die Tierzucht und ähnliche Dinge angewendet, die ein bewußtes Eingreifen des Menschen in das natürliche Geschehen darstellen, und hatte ungefähr die Bedeutung von Pflege: Ein solches Eingreifen schließt noch keinen Gegensatz in sich; man kann es auch als eine besondere Gestaltung des Geschehens auffassen, die sich der langen Reihe natürlicher Begebenheiten angliedert. Es ist sehr wahrscheinlich, daß erst die christlich-theologische Denkweise die unmittelbare Veranlassung gewesen ist, einen künstlichen Gegensatz zwischen Natur und Kultur schlechthin zu konstruieren, indem sie den Menschen über die Natur stellte und ihm den Glauben beibrachte, daß diese nur seinetwegen geschaffen wurde.
Wenn man sich damit bescheidet, unter Kultur lediglich das bewußte Eingreifen des Menschen in das blinde Walten der Naturkräfte zu verstehen, wobei man sehr wohl zwischen niederen und höheren Formen des Kulturgeschehens unterscheiden kann, so ist damit eine Erklärung geschaffen, die kaum einen Anlaß zu Mißdeutungen geben kann. So verstanden, ist Kultur die bewußte Auflehnung des Menschen gegen das natürliche Geschehen, der er allein die Erhaltung seiner Art zu verdanken hat. Zahllose Gattungen, die einst die Erde bevölkert haben, sind in der frühen Eiszeit zugrunde gegangen, weil ihnen die Natur die gewohnte Nahrung und die alten Lebensbedingungen entzogen hatte. Der Mensch aber kämpfte gegen die veränderten Bedingungen des Daseins an und suchte Mittel und Wege, um sich ihren verderblichen Wirkungen zu entziehen. In diesem Sinne ist seine ganze Entwicklung und seine Verbreitung auf der Erde ein steter Kampf gegen die natürlichen Bedingungen seiner Umwelt, die er in seiner Weise und zu seinem Vorteil umzugestalten versuchte. Er formte sich künstliche Geräte, Waffen, Werkzeuge, machte sich das Feuer nutzbar und paßte sich durch eine entsprechende Kleidung und Wohnung den Verhältnissen an, unter denen er zu leben gezwungen war. Damit schuf er sich sozusagen sein eigenes Klima, das ihn befähigte, den Ort zu wechseln und den natürlichen Lebensbedingungen zu trotzen. So verstanden, ist die Menschwerdung der Anfang aller Kultur und das menschliche Leben ihr Inhalt schlechthin. Eine lichtvolle Darstellung der beiden Wechselbegriffe Natur und Kultur gab Ludwig Stein, wenn er sagte:
«Die ausnahmslose Regelmäßigkeit im Ablaufe aller Geschehnisse, wie sie ohne gewisse Zwecksetzungen, also ohne menschliche Mittätigkeit zustande kommt, heißen wir Natur. Das vom Menschengeschlecht zweckmäßig und planvoll Erarbeitete, Beabsichtigte, Erstrebte, Erreichte und Gestaltete hingegen nennen wir Kultur. Was frei aus dem Boden wächst, ohne Inanspruchnahme menschlicher Arbeitskraft, ist ein Naturprodukt; was aber erst durch das Hinzutreten menschlicher Arbeitskraft Form und Gestalt gewinnt, das ist ein Artefakt oder Kulturprodukt. Die menschliche Arbeitskraft korrigiert durch bewußte Zwecksetzung und durch ein ausgebildetes System von Anpassung der Zwecke an ihre Mittel die unbewußt-zweckmäßige Schöpfertätigkeit der Natur. Vermittels der Werkzeuge, die sich der Mensch als nachahmendes Wesen in allmählicher Nachbildung seiner eigenen Organe schafft, und mit Hilfe der Institutionen und arbeitssparenden Instrumente, die er ersinnt, beschleunigt der Mensch den eintönig trägen Lauf des Naturgeschehens und weiß ihn seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Typus des Naturzustandes ist daher: Beherrschung des Menschen seitens seiner Umgebung; das Wesen des Kulturzustandes dagegen bedingt: Beherrschung der Umgebung durch den Menschen.»[111]
Diese Begriffsbestimmung ist einfach und klar; sie besitzt außerdem den Vorteil, daß sie lediglich das Verhältnis zwischen Natur und Kultur darstellt, ohne einen Gegensatz zwischen beiden zu konstruieren. Das ist wichtig, denn ist man der Ansicht, daß auch der Mensch nur ein Teil der Natur ist, eines ihrer Geschöpfe, das weder über ihr noch außerhalb von ihr steht, dann fällt auch sein Werk nicht aus dem allgemeinen Rahmen der Natur, ob wir es nun Kultur, Zivilisation oder sonstwie benennen. In diesem Sinne ist die Kultur nur eine besondere Erscheinungsform der Natur, deren Anfänge sich an das Auftreten des Menschen auf der Erde knüpfen. Seine Geschichte ist die Geschichte der Kultur in ihren mannigfachen Abstufungen, und doch gehört er, wie alle anderen Wesen, derselben Allgemeinheit an, die wir Natur nennen. Es ist die Kultur, die ihm seinen Platz im großen Reiche der Natur anweist, die auch seine Mutter ist. Natürlich kann man immer nur von einer relativen Beherrschung der Natur durch den Menschen sprechen, denn auch die fortgeschrittenste Kultur war bisher nicht imstande, die Natur völlig zu bezwingen. Eine Sturmflut genügt, um die künstlich angelegten Dämme des Menschen zu zerstören, seine Saaten zu überschwemmen und seine kunstvoll gebauten Schiffe in die Tiefe des Meeres zu versenken. Ein Erdbeben vernichtet in wenigen Minuten die mühevollen Ergebnisse einer hundertjährigen schöpferischen Tätigkeit. Der Werdegang der Kultur ist also lediglich eine graduelle Beherrschung der Natur durch den Menschen, die sich mit der vorschreitenden Entwicklung immer planmäßiger und zielsicherer gestaltet, ohne jemals absolut zu sein.
Damit fallen auch die künstlichen Schranken, die man zwischen sogenannten Naturvölkern und Kulturvölkern gezogen hat. Eine solche Scheidung entspricht durchaus nicht den wirklichen Tatsachen, da es überhaupt keine Stämme und Völker gibt, die gar keine Kultur besitzen. Schon Friedrich Ratzel, der eigentliche Begründer der anthropogeographischen Geschichtsbetrachtung, bemerkte in seiner Völkerkunde, daß zwischen Natur- und Kulturvölkern kein wesentlicher Unterschied vorhanden sei, sondern lediglich ein Unterschied im Grade ihrer Kultur, so daß man in Wirklichkeit nur von kulturärmeren und kulturreicheren Völkern sprechen könne.
Die verschiedenen Formen des kulturellen Lebens haben ganz von selbst zu gewissen Unterscheidungen Anlaß gegeben, und wenn es auch kaum möglich ist, zwischen den einzelnen Betätigungsgebieten der menschlicher Kultur bestimmte Grenzlinien zu ziehen, so können wir uns ohne solche doch nicht behelfen, da unser Hirn nun einmal so beschaffen ist, daß wir uns nur an den Krücken der Begriffe fortbewegen können. So hat die Darstellung der rein politischen Geschichte der einzelnen Staaten, deren Inhalt sich fast ausschließlich auf die Aufzählung der Dynastien, die Aufzeichnung und Beschreibung der Kriege und Eroberungen und auf eine Erklärung der verschiedenen Regierungssysteme beschränkte, ohne Zweifel erst den eigentlichen Anstoß zu tieferen kulturhistorischen Betrachtungen gegeben. Man lernte einsehen, daß diese einseitigen Darstellungen die unbegrenzte Fülle des Kulturgeschehens keineswegs erschöpfen, vielmehr seine unfruchtbarsten Seiten in ungebührlicher Weise breittreten. Denn wie nicht alle Kräfte der Natur dem Menschen zweckdienlich und nutzbar sind, so sind auch nicht alle Ergebnisse der von ihm geschaffenen sozialen Umwelt seiner höheren Entwicklung förderlich; manche davon wirken sich sogar als gefährliche Hindernisse dieser Entwicklung aus.
Auch Sklaverei und Despotismus sind Erscheinungsformen des allgemeinen Kulturgeschehens, denn auch sie stellen ein bewußtes Eingreifen in den natürlichen Lauf der Dinge dar. Aber sie sind letzten Endes nur Gebresten der gesellschaftlichen Kultur, deren verhängnisvolle Schäden dem Menschen im Laufe seiner Geschichte immer klarer zum Bewußtsein kommen. Die lange Reihe gesellschaftlicher Umwälzungen und die ungezählten Empörungen gegen alte und neue Herrschaftssysteme legen Zeugnis dafür ab. Wie der Mensch bestrebt ist, seiner natürlichen Umwelt immer mehr von seinem eigenen Wesen mitzuteilen, so drängt ihn seine eigene Entwicklung in immer steigendem Maße dazu, die Schäden seiner sozialen Umwelt auszumerzen, um die geistige Entfaltung seiner Art zu fördern und einer immer höheren Vollendung entgegenzuführen. Es ist der Wesenskern aller Kultur, daß sich der Mensch der rohen Willkür des Naturgeschehens nicht blindlings unterwirft, sondern dagegen ankämpft, um sein Geschick nach eigenem Ermessen zu gestalten; so wird er auch die Ketten brechen, die er sich selbst geschmiedet hat, als ihm Unwissenheit und Aberglauben den freien Ausblick trübten. Je tiefer sein Geist eindringt in die verschlungenen Wege seiner sozialen Entwicklung, desto weiter werden die Ziele, die er sich steckt, desto bewußter und nachdrücklicher wird er versuchen, auf den Gang dieser Entwicklung einzuwirken und alles gesellschaftliche Geschehen den höheren Zwecken seiner Kultur dienstbar zu machen.
So schreiten wir, von innerer Sehnsucht getrieben und angestachelt durch den Einfluß der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir leben, einer sozialen Kultur entgegen, die keine Formen der Ausbeutung und der Sklaverei mehr kennen wird. Und diese kommende Kultur wird sich um so segensreicher auswirken, je klarer ihre Träger in der persönlichen Freiheit des Einzelwesens und in dem Verbundensein aller durch die solidarischen Bande eines sozialen Gerechtigkeitsempfindens die eigentlichen Triebfedern ihres gesellschaftlichen Tuns erkennen werden. Freiheit, nicht im abstrakten Sinne Hegels, sondern als praktische Möglichkeit gedacht, die jedem Gliede der Gesellschaft die Gewähr bietet, alle ihm von der Natur verliehenen Kräfte, Talente und Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, ohne durch den Zwang autoritärer Bestimmungen und die unvermeidlichen Auswirkungen einer Ideologie der brutalen Gewalt behindert zu werden. Freiheit der Person auf dem Boden wirtschaftlicher und sozialer Gleichberechtigung! Nur auf diesem Wege ist dem Menschen die Möglichkeit geboten, das Bewußtsein seiner persönlichen Verantwortlichkeit, das die eiserne Grundlage aller und jeder Freiheit ist, bis zur höchsten Blüte zu entfalten und das lebendige Gefühl der inneren Zusammengehörigkeit mit seinesgleichen bis zu einem Grade zu entwickeln, wo die Wünsche und Bedürfnisse des Einzelwesens der ganzen Tiefe seines sozialen Empfindens entspringen.
Wie in der Natur der brutale Kampf um die Existenz, der mit Klauen und Zähnen ausgefochten wird, nicht die einzige Form der Lebensbehauptung ist, wie neben dieser rohen Erscheinungsform noch eine andere und weit wirksamere Art im Kampf ums Dasein am Werke ist, die in dem gesellschaftlichen Zusammenschluß der schwächeren Gattungen und in ihrer praktischen Betätigung gegenseitiger Hilfe unter sich ihren Ausdruck findet, so kennt auch die Kultur verschiedene Formen menschlicher Lebensbetätigung, die ihre primitiveren und feineren Seiten zur Geltung bringen. Und wie in der Natur jene zweite Form im Kampf ums Dasein der Erhaltung des Einzelwesens und der Gattung bei weitem förderlicher ist als der brutale Krieg der sogenannten Starken gegen die Schwachen – eine Tatsache, die aus dem auffallenden Rückgang jener Arten, die kein gesellschaftliches Leben kennen und die sich im Kampfe mit der Umwelt lediglich auf ihre rein physische Überlegenheit verlassen müssen, zur Genüge hervorgeht[112] –, so siegt auch im gesellschaftlichen Leben der Menschheit allmählich die höhere Form der geistigen und seelischen Entwicklung über die brutale Gewalt politischer Herrschaftsgebilde, die bisher nur lähmend auf jede höhere Kulturgestaltung gewirkt haben.
Ist aber die Kultur nichts anderes als eine stete Überwindung des primitiven Naturgeschehens und der machtpolitischen Bestrebungen innerhalb der Gesellschaft, die den Lebensgang des Menschen beengen und seine schöpferische Betätigung dem äußeren Zwange starrer Formen unterwerfen, dann ist sie ihrem Wesensinhalt nach überall gleich, trotz der stets wachsenden Zahl und der unendlichen Verschiedenheit ihrer besonderen Ausdrucksformen. Deshalb ist auch die Vorstellung von der angeblichen Existenz rein nationaler Kulturen, von denen jede für sich ein geschlossenes Ganzes bildet, das die Gesetze seines eigenen Ursprunges in sich trägt, nicht mehr als eine Wunschvorstellung, die mit der Wirklichkeit des Lebens nichts gemein hat. Das Gemeinschaftliche, das aller und jeder Kultur zugrunde liegt, ist unendlich größer als die Verschiedenheit ihrer äußeren Formen, die zum größten Teil durch die Umwelt bestimmt werden. Entspringt doch jede Kultur demselben Drange und strebt mit innerer Folgerichtigkeit denselben Zielen zu. Sie beginnt zunächst überall als zivilisatorisches Wirken, das dem Walten der rohen, ungezügelten Natur künstliche Schranken entgegensetzt, die es dem Menschen gestatten, seine notwendigen Bedürfnisse leichter und ungestörter zu befriedigen. Daraus erwächst späterhin ganz von selbst das Bestreben nach einer höheren Ausgestaltung und Durchgeistigung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, das tief im sozialen Empfinden des Menschen wurzelt und als die treibende Kraft jeder höheren Kultur betrachtet werden muß. – Will man sich ein klares Bild formen über das Verhältnis und die inneren Beziehungen der verschiedenen Menschengruppen zu dem, was wir Kultur nennen, so könnte man folgendes Gleichnis anwenden:
Draußen dehnt sich der Ozean in endloser Breite und umklammert mit feuchten Armen die Kontinente. Über der weiten Fläche brütet die Sonne, und verdunstetes Wasser steigt langsam zum Himmel auf im ewigen Drange. Wolken bilden sich am Firmament und ziehen, vom Winde gejagt, dem Lande zu. Bis ihre trächtige Fülle sich entladet und fruchtbringender Regen zur Erde niederfällt. An Millionen Orten sammeln sich die Tropfen im Schoße der großen Mutter alles Lebens und sprudeln geläutert in zahllosen Quellen wieder zur Oberfläche empor. Bäche entstehen, durchschneiden das Land nach allen Richtungen, vereinigen sich und wachsen zum Flusse, zum Strom, und der Strom wälzt seine Fluten wieder demselben Meere zu, dem er letzten Endes sein Dasein verdankt. Seit endlosen Zeiten vollzieht sich dieser Kreislauf mit derselben unwiderstehlichen Gewißheit, unabänderlich wie alles Leben auf der Erde, und er wird sich weiter vollziehen in unbegrenzter Folge, solange die kosmischen Bedingungen unseres Gestirns dieselben bleiben.
Nicht anders ist es mit dem kulturellen Schaffen der Völker, mit jeder schöpferischen Betätigung des Einzelwesens. Was wir im allgemeinen als Kultur bezeichnen, ist im Grunde nur eine große, alles umfassende Einheit des Geschehens, die in rastloser, ununterbrochener Umbildung begriffen ist und sich in ungezählten Formen und Gestaltungen offenbart. Es ist stets und überall derselbe schöpferische Drang, der nach Betätigung lechzt, nur der Ausdruck ist verschieden und der besonderen Umwelt angepaßt. Wie jeder Quell, jeder Bach, jeder Strom im tiefsten dem Meere verbunden ist, mit dessen Fluten er sich immer wieder neu vermählt, so ist auch jeder besondere Kulturkreis nur ein Teil derselben allumfassenden Einheit, aus der er seine tiefsten und ursprünglichsten Kräfte erschöpft und in deren Schoß sich sein eigenes schöpferisches Wirken stets wieder zurückfindet. Den Bächen und Strömen gleich sind all die zahllosen Kulturgebilde, die im Laufe der Jahrtausende einander folgten oder nebeneinander bestanden haben. Sie alle wurzeln im selben Urgründe, dem sie im tiefsten verbunden sind wie alle Gewässer dem Meere.
Kulturelles Neugestalten und gesellschaftliche Befruchtung gehen stets vor sich, wenn verschiedene Völker und Rassen in nähere Verbindung treten. Jede neue Kultur wird durch ein solches Zusammenfließen verschiedener Völkerelemente eingeleitet und erhält von ihm ihre besondere Gestaltung. Das ist ganz natürlich, denn nur durch fremde Einflüsse entstehen neue Bedürfnisse, neue Erkenntnisse, die fortgesetzt auf allen Gebieten kultureller Betätigung nach Form und Ausdruck ringen. Die Reinheit der Kultur eines Volkes durch die planmäßige Ausmerzung fremder Einflüsse erhalten zu wollen – ein Gedanke, der heute von überspannten Nationalisten und Anhängern der Rassenlehre mit großem Eifer vertreten wird – ist ebenso unnatürlich als fruchtlos und zeigt nur, daß diese seltsamen Schwärmer für nordische Kulturautarkie den tiefsten Sinn des Kulturgeschehens überhaupt nicht verstanden haben. Solche verschrobenen Ideen haben ungefähr dieselbe Bedeutung, als einem Manne einzureden, daß er den höchsten Grad seiner Männlichkeit nur erreichen könne, wenn er das Weib aus der Sphäre seines Lebens ausschalte. Das Ergebnis wäre in beiden Fällen das gleiche.
Neues Leben entsteht nur durch die Vereinigung von Mann und Weib. Ebenso wird eine Kultur nur geboren oder neu befruchtet durch das Kreisen frischer Säfte in den Adern ihrer Träger. Wie aus der Begattung das Kind hervorgeht, so entstehen neue Kulturformen nur durch gegenseitige Befruchtung verschiedener Völker und geistiges Einfühlen in fremdes Wirken und Können. Es gehört schon eine ganz besondere Dosis geistiger Engstirnigkeit dazu, heute auch nur davon zu träumen, daß man ein ganzes Land den geistigen Einflüssen des breiteren Kulturkreises, dem es angehört, entziehen könnte, heute, wo die Völker mehr denn je auf eine gegenseitige Ergänzung ihrer kulturellen Bestrebungen angewiesen sind.
Aber wenn sogar die Möglichkeit dafür bestände, so würde bei einem solchen Volke keineswegs eine Steigerung seines kulturellen Lebens eintreten, wie sich die Vertreter der kulturellen Autarkie sonderbarerweise einreden. Alle Erfahrungen sprechen vielmehr dafür, daß eine solche Inzucht zu einer allgemeinen Verkümmerung, zum langsamen Absterben seiner Kultur führen müßte.
Mit Völkern ist es in dieser Beziehung nicht besser bestellt als mit Personen. Wie arm wäre der Mensch, wenn er in seiner kulturellen Entwicklung lediglich auf die Schöpfungen des eigenen Volkes angewiesen wäre! Ganz abgesehen davon, daß von einer solchen Möglichkeit überhaupt keine Rede sein kann, da auch der Weiseste nicht imstande ist festzustellen, was von den Kulturgütern eines Volkes wirklich selbständig erworben oder in irgendeiner Form von anderen übernommen wurde.
Wächst doch die innere Kultur eines Menschen in dem Maße, als er die Fähigkeit erwirbt, sich die Errungenschaften anderer Völker anzueignen und seinen Geist damit zu befruchten. Je leichter er dazu imstande ist, desto besser ist es um seine geistige Kultur bestellt, desto größeres Anrecht hat er auf den Namen Kulturmensch. Er vertieft sich in die milde Lebensweisheit Lao-tses und erfreut sich an der Schönheit vedischer Poesie. Vor seinem Geiste erschließen sich die Wunder von Tausendundeiner Nacht, und mit innerem Entzücken schlürft er die weisen Sprüche des weinfrohen Zechers Omar Chaijim oder die majestätischen Strophen Firdusis. Seine Seele erbaut sich an der Tiefgründigkeit des Buches Hiob und schwingt im Rhythmus der Rias. Er lacht mit Aristophanes, weint mit Sophokles, liest mit Vergnügen die launigen Einfälle im Goldenen Esel des Apulejus und lauscht mit Interesse den Schilderungen des Petronius über die Zustände im niedergehenden Rom. Mit Meister Rabelais betritt er die kunstgeschmückten Hallen der glücklichen Abtei von Thelema und wandert mit François Villon am Rabenstein vorbei. Er sucht die Seele Hamlets zu ergründen und freut sich am Tatendrange Don Quijotes. In alle Schrecken von Dantes Hölle dringt er ein und trauert mit Milton um das verlorene Paradies. – Mit einem Wort, er ist überall zu Hause und weiß daher den Reiz der eigenen Heimat gerechter zu würdigen. Mit unbefangenem Blicke prüft er die Kulturgüter aller Völker und erfaßt dabei immer tiefer die große Einheit alles geistigen Geschehens. Und diese Güter kann ihm niemand rauben; sie stehen über dem Bestimmungsrecht der Regierungen und entziehen sich dem Willen der Mächtigen dieser Erde. Der Gesetzgeber ist wohl imstande, dem Fremden die Tore seines Landes zu verschließen, aber er kann nicht verhindern, daß jener die Schätze des fremden Volkes, seine geistige Kultur, mit derselben Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt wie jeder Eingeborene.
Hier ist der Punkt, wo sich die überragende Bedeutung der Kultur allen politisch-nationalen Abgrenzungen gegenüber am deutlichsten erkennen läßt. Kultur löst eben alle Fesseln, welche der theologische Geist der Politik den Völkern anlegte. In diesem Sinne ist sie im tiefsten Wesensgrunde revolutionär. Wir ergehen uns in tiefsinnigen Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Seins und konstatieren, daß alle großen Reiche, die in der Geschichte eine weltgebietende Rolle spielten, unwiderruflich zum Untergang verurteilt waren, sobald sie den «höchsten Gipfel ihrer Kultur» erklommen hatten. Eine ganze Anzahl namhafter Geschichtsschreiber vertritt sogar den Standpunkt, daß man es hier mit den unvermeidlichen Auswirkungen eines bestimmten Gesetzes zu tun habe, dem alles historische Geschehen unterworfen ist. Doch schon die Tatsache, daß der Untergang oder Verfall eines Reiches keineswegs gleichbedeutend ist mit dem Untergang einer Kultur, sollte uns ein Fingerzeig dafür sein, wo die eigentlichen Ursachen des Verfalls zu suchen sind. Ein politisches Herrschaftsgebilde kann untergehen, ohne auch nur eine Spur seiner gewesenen Existenz zu hinterlassen; mit einer Kultur ist es anders. Sie kann in einem Lande gleichsam versiegen, wenn sie durch irgendwelche Ursachen in ihrem natürlichen Wachstum gestört wird; aber in diesem Falle sucht sie sich außerhalb ihres alten Wirkungskreises neue Entwicklungsmöglichkeiten, erfaßt allmählich andere Gebiete und befruchtet dort Keime, die gewissermaßen der Befruchtung harrten. Dadurch entstehen neue Formen des Kulturgeschehens, die sich zweifellos von den alten unterscheiden, aber nichtsdestoweniger deren schöpferische Kräfte in sich tragen. – Mazedonische und römische Eroberer konnten wohl der politischen Selbständigkeit der kleinen griechischen Stadtrepubliken ein Ende machen, doch konnten sie nicht verhindern, daß die griechische Kultur sich bis tief ins Innere Asiens verpflanzte, in Ägypten zu einer neuen Blüte erwachte und Rom selbst geistig befruchtete.
Das ist auch der Grund, weshalb Völker mit einer minder entwickelten Kultur kulturell höherstehende Völker niemals richtig unterwerfen konnten, auch wenn sie ihnen militärisch weit überlegen waren. Eine vollständige Unterwerfung war nur bei ganz kleinen Völkerschaften möglich, die infolge ihrer numerischen Schwäche leicht aufgerieben werden konnten, aber sie ist undenkbar bei einem größeren Volke, das im Laufe vieler Jahrhunderte durch eine gemeinsame Kultur zusammengeschweißt wurde. – Die Mongolen konnten mit den Chinesen militärisch fertigwerden; sie waren sogar imstande, einen Mann ihres Stammes zum Alleinherrscher des Himmlischen Reiches zu erheben, aber sie hatten nicht den kleinsten Einfluß auf die innere Gestaltung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der chinesischen Völker, dessen Eigenart durch die Invasion kaum berührt wurde. Im Gegenteil: die primitive Kultur der mongolischen Eroberer konnte der viel älteren und feineren Kultur der Chinesen nicht widerstehen und wurde von dieser so vollständig aufgesaugt, daß auch nicht eine Spur davon übrigblieb. Zweihundert Jahre genügten, um die mongolischen Eindringlinge in Chinesen zu verwandeln. Die höhere Kultur der Besiegten erwies sich als stärker und wirksamer als die brutale militärische Gewalt der Sieger.
Und wie oft wurde die Apenninische Halbinsel, das heutige Italien, von fremden Völkerschaften überrannt und überflutet! Von den Zeiten der Völkerwanderung, ja noch lange vorher, bis zu den Einfällen der Franzosen unter Karl VIII. und Franz I. war Italien das stete Angriffsobjekt zahlloser Stämme und Völkerschaften, die alte Sehnsucht und vor allem die Aussicht auf reiche Beute nach dem Süden trieb. Kimbern und Teutonen, Langobarden und Goten, Hunnen und Vandalen und Dutzende anderer Stämme wälzten ihre rohen Scharen durch die fruchtbaren Gaue der Halbinsel, deren Bewohner durch diese fortgesetzten Angriffe schwer zu leiden hatten. Aber der höheren Kultur des Landes konnten sogar die mächtigsten und grausamsten der Eroberer nicht widerstehen, obgleich sie ihr anfangs mit ausgesprochener Feindschaft und verächtlicher Geringschätzung gegenüberstanden.[113] Bis sie allmählich von ihr erfaßt und in andere Lebensformen gezwungen wurden. Ihre urwüchsige Kraft hatte nur dazu beigetragen, jener alten Kultur neue Befruchtungselemente zu liefern und ihr frisches Blut in die Adern zu pumpen.
Ähnliche Beispiele kennt die Geschichte eine Menge. Sie zeigen uns immer wieder die unendliche Überlegenheit des kulturellen Geschehens über die geradezu kläglichen Stümpereien politischer Machtbestrebungen. Alle Versuche siegreicher Staaten, sich die Bevölkerung neu errungener Gebiete durch brutale Gewaltmittel wie Unterdrückung der Muttersprache, gewaltsame Beseitigung überlieferter Einrichtungen usw. anzugleichen, blieben nicht nur erfolglos, sondern bewirkten in den meisten Fällen das Gegenteil von dem, was die Eroberer erstrebten. England konnte sich nie die Zuneigung der Irländer erwerben; seine Gewaltmethoden haben den Abgrund zwischen den beiden Völkern bloß tiefer und klaffender gemacht und den Haß der Iren
gegen die Engländer gesteigert. Die Germanisierungsversuche der preußischen Regierung mit den Polen haben diesen nur das Leben verbittert und schwergemacht, aber sie waren nicht imstande, ihren Sinn zu ändern und deutschfreundlicher zu gestalten. Heute sehen wir die Früchte dieser geistlosen Politik. Die Russifizierungspolitik der zaristischen Regierung in den baltischen Provinzen führte zu einer schamlosen Vergewaltigung aller Menschenwürde, aber sie brachte die Bevölkerung Rußland nicht näher und nützte höchstens den deutschen Baronen dortselbst, deren brutale Ausbeutung der breiten Massen sie gefördert hat. Die Träger der kaiserlichen Politik in Deutschland mochten sich einreden, den Elsässern die Liebe zum Deutschtum mit dem Diktaturparagraphen beibringen zu können, obwohl die Bevölkerung sowohl ihrer Sprache als ihren Sitten nach deutsch ist; sie hatten keinen Erfolg. Ebensowenig werden die heutigen Assimilierungsversuche der Franzosen im Elsaß die Einwohner mit Liebe für Frankreich erfüllen können. Fast jeder größere Staat hat innerhalb seiner Grenzen sogenannte nationale Minderheiten und vergeht sich an ihnen auf dieselbe Art; aber das Ergebnis ist überall das gleiche. Liebe und Anhänglichkeit lassen sich nicht erzwingen, sie müssen erworben werden; aber Gewalt und Unterdrückung sind das allerungeeignetste Mittel dazu. Die nationale Unterdrückungspolitik der großen Staaten vor dem Kriege hat bei den unterdrückten Nationalitäten einen überspannten Nationalismus großgezüchtet, der heute darin seinen Ausdruck findet, daß man die nationalen Minderheiten in den neugeschaffenen Staaten genau so behandelt, wie man früher von den anderen selbst behandelt wurde – eine Erscheinung, die leider nur zu begreiflich ist, da die kleineren Staaten in die Fußstapfen der großen treten und deren Gepflogenheiten nachahmen.
Man kann ein Volk ebensowenig in fremde Sitten, Gewohnheiten und Ideengänge gewaltsam hineinzwingen, wie man einen Menschen in den Rahmen einer fremden Individualität hineinpressen kann. Eine Verschmelzung verschiedener Völkerstämme und Rassenelemente ist nur auf dem Gebiete der Kultur möglich, weil sie hier keinem äußeren Zwange, sondern der inneren Notwendigkeit entspringt, wobei jeder Teil seinen eigenen Eingebungen folgen kann. Kultur stützt sich weder auf brutale Gewalt noch auf blinde Autoritätsgläubigkeit; ihrer Wirksamkeit hegt das freie Einvernehmen aller zugrunde, das den gemeinschaftlichen Bestrebungen nach geistigem und materiellem Wohlsein entspringt. Hier entscheidet nur das natürliche Bedürfnis, nicht der blinde Befehl von oben. Aus diesem Grunde gehen alle großen Kulturepochen mit freiwilligen Bindungen und Verschmelzungen verschiedener Menschengruppen stets Hand in Hand, ja sie bedingen sich gegenseitig. Nur die freiwillige Entschließung, die in den meisten Fällen ganz unbewußt erfolgt, ist imstande, Menschen von verschiedener Abstammung in ihrem kulturellen Wirken zu vereinen und auf diese Art neue Formen der Kultur zu schaffen.
Auch in diesem Falle ist das Verhältnis dasselbe wie bei den Einzelwesen. Wenn ich das Werk eines fremden Verfassers zur Hand nehme, der mir neue Dinge erschließt und meinen Geist anregt, so zwingt mich niemand, das Buch zu lesen oder mir seine Ideen zu eigen zu machen. Es ist lediglich der geistige Einfluß, der auf mich wirkt und der vielleicht später wieder durch Einflüsse anderer Art abgelöst wird. Nichts zwingt mich, eine Entscheidung zu treffen, die meinem innersten Wesen zuwider ist oder meinen Geist vergewaltigt. Ich mache mir das Fremde zu eigen, weil es mir Freude macht und so zu einem Stück meiner geistigen Existenz wird; ich assimiliere mich ihm, bis zuletzt keine Grenze mehr zwischen Fremdem und Eigenem besteht. Auf diese Weise vollzieht sich alles kulturelle und geistige Geschehen.
Und diese natürliche und ungezwungene Assimilierung geht ohne jedes Aufsehen und ohne alle öffentlichen Auseinandersetzungen vor sich, da sie dem persönlichen Verlangen des Einzelwesens entspringt und seinem seelischen und geistigen Empfinden entspricht. Alles kulturelle Geschehen spielt sich um so reibungsloser und friedlicher ab, je weniger dabei machtpolitische Motive in den Vordergrund treten, denn Politik und Kultur sind Gegensätze, die sich im tiefsten nie überbrücken lassen, da sie nach verschiedenen Richtungen streben, die sich stets gleich fern bleiben, da sie an andere Welten gebunden sind.
XX. Politische Denzentralisation in Griechenland
Politisch-nationale Einheit als Hindernis der kulturellen Entwicklung. Die Wiederentdeckung Griechenlands. Stellung der Religion in Griechenland. Über die Abstammung der Hellenen. Griechisches Denken. Begriffe über Mensch und Welt. Wissenschaft und Philosophie. Vielseitigkeit der hellenischen Kultur. Dichtkunst. Drama. Komödie. Das Theater als Gradmesser der persönlichen Freiheit. Körperkultur. Architektur. Griechischer Stil. Bildhauerkunst. Malerei. Kunst als Lebensprinzip. Die national-politische Zerrissenheit Griechenlands. Einfluß der natürlichen Umwelt auf die Vielgestaltigkeit der hellenischen Kultur. Charakter der griechischen Polis. Eigenart der griechischen Kolonisation. Anteilnahme des Einzelwesens am öffentlichen Leben. Der Olymp als Abbild der politischen Zustände. Die Perserkriege. Ursache der hellenischen Siege. Kulturelle Einheit und politische Einheit. Der Peloponnesische Krieg und die Frage der nationalen Einheit. Zeichen des Verfalls. Alexander schafft die national-politische Einheit Griechenlands und zerstört die Quellen der hellenischen Kultur.
Wir haben im ersten Teile dieses Werkes auf den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den machtpolitischen Bestrebungen kleiner Minderheiten in der Geschichte und der kulturschöpferischen Tätigkeit in Gesellschaft verbundener Menschengruppen hingewiesen und versucht, das Ergebnis dieses inneren Zwiespalts dem Leser möglichst klarzumachen. Daraus ergibt sich alles andere von selbst; daraus ergibt sich vor allem, daß in Perioden, wo das machtpolitische Denken und Wirken in der Gesellschaft überhand nimmt, das kulturelle Schaffen und besonders dessen höhere Formen im selben Grade verkümmern und in Verfall geraten. Wäre es anders, so hätte die Kultur in Zeiten höchster nationalpolitischer Machtvollkommenheit in vollster Blüte stehen und in Zeiten politischer und nationaler Zersetzung versiegen müssen. Doch die Geschichte zeigt uns überall das Gegenteil. Rom und Griechenland sind ein klassisches Beispiel dafür, doch nicht das einzige; die Geschichte aller Zeiten und Völker legt beredtes Zeugnis dafür ab. Das hatte auch Nietzsche sehr wohl erkannt, wenn er in seinem bekannten Ausspruch über die Auferstehung des Geistes die Worte prägte:
«Auf dem politischen Krankenbette verjüngt sich ein Volk gewöhnlich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten.»
Über die überragende Bedeutung der alten griechischen Kultur ist man sich Wohl ziemlich einig. Auch wenn man der Meinung ist, daß diese Kultur von den begeisterten Anhängern des klassischen Altertums zu stark idealisiert wurde, kann man ihre monumentale Bedeutung nicht in Abrede stellen. Übrigens läßt sich die maßlose Überschätzung, welche das klassische Altertum später erfahren hat, sehr wohl erklären. Man darf nie vergessen, daß Europa mit der Entwicklung der christlichen Kirche jahrhundertelang fast alle Beziehungen zum griechischen Geistesleben völlig verloren hatte, das dem christlichen Denken abstoßend und wesensfremd erscheinen mußte. Durch die Wiederentdeckung der griechischen Sprache und das allgemeine Erwachen der Geister am Ausgang des Mittelalters wurde der Mensch dem alten Hellas erst wieder geistig verbunden. Auf die Humanisten des 16. Jahrhunderts mußte diese alte Welt, die so plötzlich aus der Vergangenheit wieder auftauchte und, aus der Perspektive gesehen, in tausend Farben schillerte, einen geradezu bezaubernden Eindruck machen, um so mehr, als sie zu unmittelbaren Vergleichen mit der Gegenwart anregte, wo die Kirche sich der Verbreitung der neuen Weltanschauung noch immer mit Folter und Scheiterhaufen widersetzte.
Ohne Zweifel hatte die griechische Kultur neben ihren lichtvollen und verlockenden Seiten auch ihre tiefen sozialen Gebrechen, die man nicht übersehen darf, wenn man sich über ihren Gesamtcharakter ein klares Bild machen will. So darf man vor allem nicht vergessen, daß auch in Griechenland, wie in allen anderen antiken Staatswesen, die Sklaverei bestand, wenn auch – mit der Ausnahme von Sparta – die Behandlung der Sklaven weitaus menschlicher war als zum Beispiel in Rom. In manchen griechischen Gemeinwesen bestand sogar die Sitte, Sklaven freizugeben, die sich hellenische Bildung angeeignet hatten; auch kam es vor, daß bei außergewöhnlichen Ereignissen ein Teil der Sklaven in die Herrenklasse aufgenommen wurde. Das geschah in Sparta zur Zeit des archidamischen Krieges, als die privilegierte Kaste durch große Verluste geschwächt war und mit einem Aufstand der Heloten rechnen mußte. Ähnliches geschah auch wiederholt in Athen. – Auch ist die Geschichte Griechenlands keineswegs gänzlich frei von Ideenverfolgungen. Sokrates mußte den Schierlingsbecher trinken. Protagoras mußte fliehen, und seine Schrift Von den Göttern wurde öffentlich verbrannt. Diogenes von Appolonia und Theodoros, der Atheist, waren Verfolgungen ausgesetzt. Sogar Dichter wie Diagoras von Melos und Aeschylos gerieten in Lebensgefahr, und Euripides wurde seiner gottlosen Ideen wegen von, einer öffentlichen Anklage bedroht. Allerdings kann man diese gelegentlichen Verfolgungen nicht im entferntesten mit den Ketzerverfolgungen des Mittelalters vergleichen. Dafür fehlten in Griechenland alle Voraussetzungen. Weder gab es eine organisierte Priesterkaste noch eine Kirche. Auch fehlte dem Lande jede Grundlage einer politischen Einheit, deren Träger stets geneigt sind, das freiheitliche Empfinden zu unterdrücken und die Verfolgung gewisser Ideen grundsätzlich zu betreiben. Wohl aber bestand im Volke selbst allerhand Aberglauben, und an manchen Orten, besonders in Delphi, hatte sich unter dem Einfluß der Priester eine fanatische Rechtsgläubigkeit entwickelt, die aber nur eine rein örtliche Bedeutung hatte, da ihr jede organisierte Verbindung mit anderen Landesteilen fehlte.
Trotz alledem bleibt die geistige Größe der griechischen Kultur unbestritten. Eine Kultur, welche die Gesamtheit der europäischen Völker auf den verschiedensten Gebieten so lange beeinflussen konnte und deren unwiderstehliche Kraft selbst heute noch nicht erschöpft ist, obgleich ihre Träger schon zwei Jahrtausende aus der Geschichte verschwunden sind, kann wohl leicht überschätzt, aber in ihrer allgemeinen Bedeutung schwerlich verkannt werden.
Kein Mensch mit tieferer Einsicht wird annehmen wollen, daß den Griechen alle Eingebungen auf den verschiedenen Gebieten des kulturellen Lebens von selbst gekommen sind. Das ist ja gerade das Große und Bezeichnende an jeder Kultur, daß sie durch keine politischen oder nationalen Grenzen in ihrer geistigen und gesellschaftlichen Wirksamkeit beeinträchtigt werden kann. Man kann mit dem Schwerte wohl Staaten schaffen, aber keine Kultur; denn sie steht über allen Staatsgebilden und Herrschaftseinrichtungen und ist ihrem innersten Wesen nach anarchisch, wenn auch nie verkannt werden darf, daß politische Gebundenheit bisher das größte Hindernis jeder höheren Kulturentwicklung gewesen ist. Daß Griechenland in seiner Entwicklung von anderen Kulturen beeinflußt wurde, liegt klar zutage, und man muß schon Rassentheoretiker sein, um dieses zu bestreiten. Übrigens berichtet die Mythologie der Griechen selbst von diesen fremden Einflüssen, wie die Sagen von Kadmos, Kekrops, Danaos und anderen beweisen. – Es vergeht heute kaum ein Jahr, wo die wissenschaftliche Forschung nicht immer wieder neues Material zutage fördert, aus welchem der orientalische und ägyptische Einfluß auf die Gestaltung der griechischen Kultur immer klarer hervortritt. So wurden die semitischen Elemente in Homers Dichtung schon des öfteren hervorgehoben. Von ganz besonderer Bedeutung waren die Ausgrabungen Heinrich Schliemanns in Kleinasien, durch welche die Reste einer alten Kultur bloßgelegt wurden, die wir heute als mykenische bezeichnen. Dann erfolgten 1900 die Ausgrabungen des englischen Gelehrten Evans auf der Insel Kreta, welche die Überreste einer noch viel älteren Kultur zutage förderten, die sich mindestens auf 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückführen läßt.
Diese glänzenden Ergebnisse der archäologischen Forschung haben der Geschichtsschreibung zwar ganz neue, bisher unbekannte Gebiete erschlossen, aber sie haben auch eine ganze Reihe neuer Probleme aufgeworfen, um deren Lösung sich die Wissenschaft bisher vergeblich mühte. So ist es bis heute nicht entschieden, ob zwischen der kretischen und der mykenischen Kultur tiefe innere Zusammenhänge bestehen oder ob es sich hier um zwei besondere Gebilde handelt. Ganz ungelöst bleibt die Frage, ob die Schöpfer beider Kulturen überhaupt als Griechen zu betrachten sind. Man hat in Kreta zwar tausende mit seltsamen Inschriften bedeckte Tontafeln gefunden, doch ist es der Wissenschaft bisher nicht gelungen, diese Schrift zu entziffern, die uns so manche Auskunft geben könnte. Daß in Griechenland einmal andere Sprachen gesprochen wurden, ist längst erwiesen. Eine ganze Reihe von Ortsnamen wie Athen, Theben, Korinth, Parnaß usw. sind noch immer in tiefes Dunkel gehüllt und haben zu der griechischen Sprache keinerlei Beziehungen, gehören überhaupt keiner indogermanischen Sprache an. Übrigens berichtet auch Herodot, daß er auf seinen Reisen verschiedene Städte besucht habe, wo die Pelasger eine besondere Sprache redeten, die er als barbarisch bezeichnete. – Nach den scharfsinnigen Ermittlungen Moritz Hörnes ist die kretisch-mykenische Kultur sozusagen die Verbindungsbrücke zwischen den alten Kulturen des Orients und Ägyptens mit der Kultur Griechenlands – eine Auffassung, die sich heute immer mehr Eingang verschafft. Tatsache ist, daß sich das rege geistige Leben Griechenlands zuerst im Osten entwickelte, wo der Verkehr mit Ägypten, Phönizien und Persien am lebhaftesten gepflegt wurde.
Doch es handelt sich für uns nicht um die Frage, bis zu welchem Grade die griechische Kultur durch andere Kulturen in ihrer Entwicklung beeinflußt wurde, sondern lediglich um die Tatsache, daß sie eine der glänzendsten und allumfassendsten Kulturen gewesen ist, welche die Menschheit je hervorbrachte. Sie hat auf die ganze spätere Entwicklung der europäischen Völker tiefer und nachhaltiger gewirkt als jede andere Kultur, und ihre Fernwirkungen machen sich noch immer deutlich bemerkbar. – Da ist vor allem die Art des Denkens, die uns die Griechen näherbringt als alle anderen Völker des Altertums. Ihre besondere Begabung für wissenschaftliche Beobachtungen und deduktive Folgerungen, die sie häufig Dinge erkennen ließ, die erst viele Jahrhunderte später wissenschaftlich festgestellt werden konnten, hat mehr Verwandtschaft mit unserer heutigen Denkweise als die Mysterien der Ägypter und Babylonier. Wenn es auch heute außer Frage ist, daß die Griechen ihre astronomischen und anderen Kenntnisse von den orientalischen Völkern übernommen haben, so haben sie diese Kenntnisse aber in so lichtvoller Klarheit ausgebaut und zu einer Höhe entwickelt, wie kein anderes Volk der Alten Geschichte es vermochte. Ihre hochentwickelte Mathematik legt rühmliches Zeugnis dafür ab. Schon der Umstand, daß bei den Ägyptern, Chaldäern, Persern usw. alle Kenntnisse über die Natur in den Händen der Priester und Magier lagen, während in Griechenland die Wissenschaften und das erkenntnistheoretische Denken von Männern gepflegt wurden, die keinerlei Beziehungen zur Priesterkaste hatten, ist bezeichnend für den allgemeinen Zustand des geistigen Lebens.
Obgleich von den Ideen der griechischen Denker nur Bruchstücke auf uns gekommen sind und uns vieles erst aus zweiter Hand, hauptsächlich durch Aristoteles und Cicero, vermittelt wurde, wobei es ohne Entstellungen des Urtextes nicht abging, so gibt uns das wenige, über das wir heute noch verfügen, eine deutliche, wenn auch unvollkommene Vorstellung ihrer geistigen Fruchtbarkeit. Schon bei den alten jonischen Naturphilosophen findet man jene lichtvolle Schärfe der Beobachtung, gepaart mit der Klarheit des Ausdrucks, die für das Denken der Griechen so bezeichnend sind. Thaies, Anaximander, Pherekydes, Anaximenes und andere oblagen alle dem Studium der Natur, wodurch ihre Lehren von vornherein ihr besonderes Gepräge erhielten. Auf Grund der Vorstellungen des Anaximenes, der bereits die Bewegung der Gestirne um den Polarstern erkannte, und der späteren Auffassungen der Pythagoräer gelangte Aristarch von Samos endlich zu der Erkenntnis, daß sich die Erde einmal in 24 Stunden um ihre eigene Achse und einmal im Jahre mit allen anderen Planeten um die Sonne bewegt, während diese und die Fixsterne unbeweglich im Räume verharren. Gewiß fehlten den griechischen Denkern die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Begründung ihrer Lehren, wie sie uns heute zur Verfügung stehen. Bezeichnend aber ist die Art, wie sie sich selbst ein Weltbild schufen, das alles weit in den Schatten stellt, was anderthalb Jahrtausende von den Menschen einer späteren Periode als unantastbare Wahrheit geglaubt wurde.
Dasselbe Interesse brachten die alten Weisen den Wandlungen der Materie entgegen. Die bekannte Einteilung der Materie in vier Grundelemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer, die man dem Empedokles zuschreibt, beherrschte die Vorstellung der Menschen viele Jahrhunderte lang und wurde erst durch die Ergebnisse der modernen Chemie überwunden. Einen entscheidenden Schritt zur Gestaltung eines Weltbildes auf natürlicher Grundlage taten die Atomistiker indem sie versuchten, das Wesen der Materie festzustellen. Zwar darf man die Lehre eines Demokritos oder Leukippos nicht ohne weiteres mit der heutigen Atomlehre eines Dalton oder Avogadro in eine Linie stellen; dazu fehlten den Alten so gut wie alle Voraussetzungen. Was uns bei ihren Theorien aber heute noch in Erstaunen setzt, ist die Großartigkeit des Versuches, das Allumfassende der Vorstellung zu einer Zeit, wo selbst die primitivsten Vorbedingungen unserer heutigen Kenntnisse in der Physik und Chemie vollständig unbekannt waren. Indem die Atomistiker jede Erscheinung auf natürliche Ursachen zurückführten, verbannten sie den Zufall und die Willkür aus ihrer Weltanschauung und folglich jene Art des Denkens, die in allen Dingen einen besonderen Zweck sucht. Man begreift daher, weshalb Baco von Verulam Demokritos eine solche Bewunderung entgegenbrachte und seine Lehre gegen Aristoteles und seine späteren blinden christlichen Nachläufer ausspielte.
Von dem großen Lehrgedicht des Empedokles über die Natur sind im ganzen kaum 400 Zeilen auf uns gekommen. Man bezeichnet ihn als den frühesten Vorläufer der Lamarck-Darwinschen Abstammungslehre, und mit den nötigen Einschränkungen kann man diese Behauptung gelten lassen. Empedokles sah in Liebe und Abneigung die beiden Urkräfte, die sich durch Anziehung und Abstoßung kundgeben und auf deren Auswirkungen sich das ewige Entstehen und Vergehen aller Dinge zurückführen läßt. Menschen, Tiere und Pflanzen sind aus denselben Stoffen zusammengesetzt, nur die Mischung ist bei jeder Art verschieden. Durch zahllose Verbindungen und Trennungen entstanden im Laufe unübersehbarer Zeiten allmählich die Pflanzen, dann die Tiere, und zwar brachte die Natur zunächst alle Organe gesondert hervor: Arme ohne Schultern, Köpfe ohne Hälse usw., bis sich endlich nur solche Formen durchsetzten, die durch ihre vollkommene Struktur zu einer dauernden Existenz befähigt waren.
Von Xenophanes, dem angeblichen Begründer der Eleatischen Philosophenschule, wird sogar behauptet, daß er die fossilen Abdrücke von Pflanzen und Tieren im Gestein als Reste einst lebender und im Laufe der Zeit ausgestorbener Arten zu erklären versuchte. Xenophanes erkannte auch das Anthropomorphe, das jedem Gottesglauben zugrunde liegt, und behauptete viele Jahrhunderte vor Feuerbach, daß der Mensch in Gott sein eigenes Wesen verehre.
Aber es war nicht nur die Auffassung über Welt und Dinge; auch die Art des Denkens regte schon frühzeitig die Aufmerksamkeit der alten Denker an und führte sie zu der Überzeugung, daß man nur durch Beobachtung und Erfahrung zu bestimmten Regeln und Verallgemeinerungen gelangen könne. Diese Methode erschien ihnen als die erste Vorbedingung alles Wissens überhaupt. Bei einer solchen Denkweise mußten sich auch die praktischen Wissenschaften zur höchsten Blüte entfalten. In der Tat erreichte die Geometrie des Euklid eine solche Vollendung, daß sie über zweitausend Jahre bestehen konnte, ohne daß ihr Inhalt überholt, ihre Formen geändert wurden. Erst der neueren Zeit blieb es vorbehalten, auch auf diesem Gebiete neue Wege zu erschließen. Dasselbe gilt auch für die wissenschaftlichen Versuche des Archimedes, der mit seiner Theorie über die Gesetze des Hebels usw. erst die Grundlagen einer Wissenschaft der Mechanik gelegt hat.
Dieselbe Freiheit der Auffassung machte sich auch auf allen anderen Gebieten bemerkbar. Wir begegnen ihr in den philosophischen Schulen der Sophisten, der Cyniker, der Megariker und später der Stoiker, die sich vornehmlich mit den Beziehungen des Menschen zur Gesellschaft und ihren verschiedenen Einrichtungen befaßten. Durch die rasche Entwicklung des geistigen und sozialen Lebens in den griechischen Städten entstanden allmählich ganz neue Auffassungen über die Ursachen des ethischen Empfindens und die Beziehungen der Menschen zueinander. Der alte Götterglaube, der in den Dichtungen Homers einen ebenso kindlichen wie natürlichen Ausdruck gefunden hatte, war im Schwinden begriffen. Die Philosophie hatte den Menschen ganz neue Perspektiven des Denkens erschlossen und sie angewiesen, Herren ihres eigenen Schicksals zu werden. So entstand eine Umwertung aller überlieferten Moralbegriffe, die besonders von den Cynikern und den Sophisten im weitesten Maße vorgenommen wurde, bis Sokrates im Zusammenleben den wahren Grund aller ethischen Gefühle feststellte. – «Die Tugend», sagte er, «ist keine Eingebung der Götter, sondern das begründete Wissen um das, was wirklich gut ist und den Menschen befähigt zu leben, ohne die anderen zu beengen, sie gerecht zu behandeln und nicht sich allein, sondern der Gemeinschaft zu dienen. Ohne das ist eine Gesellschaft nicht denkbar.» – Auf dieser Basis bauten später die Epikureer und die Stoiker weiter und entwickelten ihre Lehren über das ethische Bewußtsein im Menschen.
Auch die Frage der öffentlichen Wirtschaft und der politischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens beschäftigte eine ganze Reihe griechischer Denker, wobei einzelne unter ihnen zu den weitest gehenden Folgerungen gelangten. Dabei spielten die alten Überlieferungen von einem goldenen Zeitalter, die durch die Dichtkunst im Volke lebendig erhalten wurden, eine nicht zu unterschätzende Rolle und verdichteten sich allmählich in der Lehre vom Naturrecht, die besonders von den Cynikern eifrig vertreten wurde. Durch diese Auffassungen entwickelte sich nach und nach eine ganz andere Stellung den gesellschaftlichen Einrichtungen und fremden Völkern gegenüber, die in der Lehre Zenos, Schüler des Cynikers Krates und des Megarikers Stilpo, ihren reifsten Ausdruck fand und zu einer vollständigen Ablehnung aller Zwangseinrichtungen in der Gesellschaft gipfelte.
Es gibt kaum eine andere Periode in der Geschichte, die ein so hohes und vielseitiges Geistesleben aufzuweisen hätte. Doch unsere Bewunderung steigert sich noch mehr, wenn wir unsere Blicke dem allgemeinen Schrifttum der Hellenen zuwenden. Schon die ältesten Dichtwerke der Griechen, die auf uns gekommen sind, die Ilias und die Odyssee, bekunden eine solche Schönheit und Kraft der poetischen Vollendung, daß man sie mit Recht als den Inbegriff der epischen Dichtung überhaupt bezeichnet hat. Die innige Verwobenheit einer sinnlich-naiven Weltauffassung mit den tiefsten Regungen des Menschenherzens, die überwältigende Farbenpracht der Landschaft und das innere Verwachsensein der menschlichen Seele mit der äußeren Natur, vor allem aber die heitere Ungezwungenheit der Darstellung erreichen hier einen Grad der Vollendung, wie er später nur selten und nur von ganz Großen erklommen wurde. – Dem Epos folgt das didaktische Lehrgedicht, als dessen Begründer die Alten Hesiodos aus Askra feierten. An die Stelle des Wunderbaren und Abenteuerlichen in der älteren epischen Dichtung tritt die Anhänglichkeit an die heimatliche Scholle, der Sinn für die nützliche Betätigung des täglichen Lebens, die planvolle Betrachtung der Dinge.
Der tiefausgeprägte Sinn der Griechen für die romantischste aller Künste, die Musik, der schon in den alten Mythen von Amphion und Orpheus einen so bezaubernden Ausdruck findet, entwickelte frühzeitig die lyrische Dichtung zu einer ungeahnten Höhe. Beschränkte sich das epische Dichtwerk auf die beschreibende Darstellung des Vergangenen, so schöpfte die lyrische Dichtung ihren Stoff aus dem inneren Erleben des Dichters und paarte die Poesie mit den Klängen der Leier und Flöte, die jeder Seelenstimmung Ausdruck gaben. So wurde der Dichter zum unentbehrlichsten Gast aller öffentlichen Feste, und alle Städte wetteiferten miteinander, ihn in ihren Mauern zu empfangen. – Eine ganze Reihe ihrer gefeiertsten Vertreter fand die lyrische Dichtung auf der Insel Lesbos, die man oft als die Heimat der Lyrik im engeren Sinne bezeichnet. Dort wirkte Terpondros, der eigentliche Schöpfer der melischen Poesie, welcher die Musik mit dem Dichtwerk in so kunstvoller Weise zu verschmelzen wußte, daß die Sage von ihm erzählt, er habe die verlorene Leier des Orpheus wiedergefunden. Ihren Höhepunkt erreichte die Lyrik auf Lesbos in dem edlen Dichterpaar Alkäos, dem wilden Tyrannenhasser, und Sappho, der großen Dichterin, deren berauschende Liebespoesie zu dem Schönsten gehört, das je geschaffen wurde. Auch Arion, der Sänger der dionysischen Feste und Schöpfer des Dithyrambos, stammte aus Lesbos. – In Anakreon aus Teos, dem begeisterten Sänger der Liebe und des Weines, fand die Lyrik der Alten ihren graziösesten und lebensfreudigsten Vertreter. Neben ihm wirkten Ibykus aus Rhegium, Simonides aus Keos und vor allem Pindaros aus Theben, den Quintilian als den «Fürsten der Lyriker» gefeiert hat. Pindar war auch als Skoliendichter berühmt in ganz Griechenland. Die Skolien oder Tischgesänge hatten den Zweck, den Freuden der Tafel einen höheren Reiz zu verleihen und waren über ganz Hellas verbreitet.[114] Auch des gewesenen Sklaven Asop, des schalkhaften Dichters der Tierfabel, sei hier gedacht, dessen launige Erzählungen von Mund zu Mund gingen. Jede Stadt hatte ihre Sänger und Dichter, und es gibt wohl kaum eine andere Periode in der Geschichte, wo in einem so kleinen Lande und in einer verhältnismäßig so kurzen Zeit eine so überraschend große Zahl von Dichtern und Denkern in die Erscheinung trat, wie dies in den kleinen Gemeinwesen der Griechen der Fall war.
Den Gipfel ihrer Dichtkunst erreichten die Hellenen im Drama, das sich aus den alten Festspielen zu Ehren des Dionysos oder Bacchus entwickelte. Die dramatische Dichtung hatte eine ganze Reihe mehr oder weniger hervorragender Vorläufer, von denen vor allen Epigenes aus Sikyon, Thespis aus Ikarion und besonders Phrynichos, der Dichter der Tragödie Die Einnahme von Miletos genannt werden. Seine höchste Vollendung aber erreichte das Drama nach den Perserkriegen, in der Blüteperiode Athens, als das Dreigestirn Aischylos, Sophokles und Euripides ganz Hellas mit seinem Glänze erfüllte, umgeben von Dichtern wie Philokles, Euphorion, Xenokles, Nikomachos und vielen anderen. Von den zweiundsiebzig Stücken des Aischylos sind nur sieben auf uns gekommen, darunter seine große Tragödie Der gefesselte Prometheus, in welcher der verwegene Sinn, die gigantische Kraft und die Großartigkeit der Ideen am stärksten hervortreten. – Von Sophokles behauptet man, daß er weit über hundert Dramen geschaffen habe, doch haben sich nur sieben seiner Werke erhalten, die uns von der Größe seines Genies, die besonders in seiner Antigone am vollendetsten zum Ausdruck gelangt, eine Vorstellung geben. Von Euripides, dem Dichter der Aufklärung, wie man ihn genannt hat, und dem Gesinnungsgenossen des Sokrates, hat sich am meisten erhalten. Von den zweiundneunzig Dramen, die man ihm zuschreibt, sind neunzehn auf die Nachwelt gekommen. Seine Kunst war nüchterner als die des Aischylos und Sophokles, und man behauptete schon zu seinen Lebzeiten, daß, während Sophokles die Menschen schildere, wie sie sein sollten, habe Euripides sie dargestellt, wie sie wirklich sind. Daß er die Kraft besaß, durch seine Darstellung mächtig zu erschüttern, beweist seine dämonische Gestaltung der Leidenschaft, in der er von keinem anderen übertroffen wurde.
Die griechische Komödie entwickelte sich aus den gleichen Anfängen wie die tragische Dichtung; auch sie ist aus den alten Festspielen hervorgegangen und knüpfte vornehmlich an die phallischen Gesänge an. Doch erst in Athen gelangte die Komödie zu ihrer höchsten Entfaltung. Dort wirkten Kratinos, von dem man erzählt, daß sein ätzender Spott sogar Perikles, den größten Staatsmann Griechenlands, nicht verschonte, und neben ihm Krates, Eupolis, Pherekrates und andere, die aber alle in den Schatten gestellt werden durch Aristophanes, den ungezogenen Liebling der Grazien. Von den fünfundvierzig Komödien des Aristophanes sind uns nur elf erhalten geblieben, aber sie genügen, um sich über den gefeierten Dichter ein Bild zu machen, der es verstand, in seinem Werke den grimmigsten Hohn mit der graziösesten Geschmeidigkeit zu verbinden. Sein beißender Witz kannte keine Grenzen: er geißelte Menschen und Einrichtungen mit der verwegensten Ungezwungenheit und ohne jede Prüderie. Obzwar in seiner Gesinnung eher konservativ, machte sein zersetzender Spott weder vor den Göttern noch vor den Männern der Regierung halt und schwang lustig die Schellenkappe über allen Heiligtümern.
Es ist kein Zufall, daß die Komödie und das Drama just in der Blütezeit der athenischen Demokratie den Höhepunkt ihrer Vollendung erreichten. Die schrankenlose Ungebundenheit der Darstellung in der Komödie jener Zeit gibt uns eine bessere Vorstellung von der persönlichen Freiheit des Menschen als die schönsten Beschreibungen der republikanischen Verfassung. Wird doch der Geist einer Periode nicht durch den toten Buchstaben der Gesetze, sondern durch das lebendige Tun der Menschen bestimmt, das ihm erst sein Gepräge gibt.
Werfen wir endlich einen kurzen Blick auf das, was die Griechen in der Architektur, Bildhauerkunst und Malerei zustande brachten, so ermessen wir erst die ganze Größe und Tiefe ihrer Kultur. Die Geschichte kennt manche Völker, die auf bestimmten Gebieten ihres kulturellen Schaffens Großes und Größtes geleistet haben, doch sind die Griechen vielleicht das einzige Volk, das auf allen Gebieten der Kultur das Höchste zu leisten vermochte. Das ist es gerade, was ihrem Schaffen jenes innere Gleichgewicht gab, das während der letzten zwei Jahrtausende immer wieder die staunende Bewunderung der größten Geister hervorgerufen hat. Man versteht es, wenn Goethe von der griechischen Kunst behauptete: «Allen anderen Künsten muß man etwas vorgeben, der griechischen allein bleibt man ewig schuldbar.»
Für die Griechen war die Kunst kein Privatbedürfnis einzelner, dem man wie irgendeinem Sporte frönt, sondern eine schöpferische Betätigung, die mit ihrem ganzen gesellschaftlichen Leben innig verwachsen war und ohne die man sich das Dasein überhaupt nicht vorstellen konnte. Die Hellenen waren vielleicht das einzige Volk, das verstanden hatte, aus dem Leben selbst eine Kunst zu machen; wenigstens ist uns kein anderes Volk bekannt, bei dem der innigste Zusammenhang der Kunst mit allen anderen Seiten des persönlichen und sozialen Lebens so eindrucksvoll und ungetrübt zutage tritt. – Ein Gemeinwesen wie Athen, das allein für die Förderung seines Theaters und seiner Schauspielkunst größere Summen verausgabte als für die Kriege mit den Persern, deren Einfälle die gesamte politische Existenz des alten Hellas bedrohten, ist uns heute, in der Zeit moderner Staatsbarbarei, wo Bürokratie und Militarismus den übergroßen Teil des nationalen Einkommens aller sogenannten zivilisierten Völker verschlingen, kaum noch faßbar. Und doch konnte sich nur in einem solchen Gemeinwesen die Kunst bis zu dieser Höhe entfalten.
Das gilt besonders von der Architektur; ist sie doch die sozialste aller Künste, deren Entwicklung völlig von dem Verständnis abhängig ist, das man ihr gesellschaftlich entgegenbringt. Nur in einem Lande, wo der einzelne fortgesetzt den regsten Anteil an den Belangen des öffentlichen Lebens nahm und diese Belange leicht übersehen konnte, war es möglich, daß sich das architektonische Kunstwerk bis zu einer so herrlichen Vollendung entfalten konnte. Bei den Babyloniern, Ägyptern, Persern und anderen Völkern des Altertums begrenzte sich die Architektur als Kunst lediglich auf die Paläste und Grabmäler der Könige und die Tempel der Götter. Bei den Griechen sehen wir zum ersten Male ihre Anwendung für alle Bedürfnisse des öffentlichen Lebens und des persönlichen Gebrauches.
Überdies atmet der griechische Tempel einen ganz anderen Geist als die Tempelbauten der orientalischen Völker, deren ungeschlachte Massigkeit die ganze Schwere und zermalmende Wucht düsterer Religionssysteme und starrer Priesterdogmen zum Ausdruck bringen. Über den religiösen Vorstellungen der Griechen schwebte der poetische Glanz einer heiteren Lebensauffassung, die sich auch die Götter menschlich dachte und mit keinem lebensfeindlichen Dogma belastet war. Eine gesunde Sinnlichkeit beherrschte das Leben der Griechen und gab auch den Vorstellungen von der Gottheit ihr Gepräge. Der Hellene warf sich vor keinem Gotte in den Staub. Der Begriff der Sünde war ihm völlig fremd, nie lästerte er seine Menschlichkeit. So wurde ihm der Kultus zum weltlichen Fest der Lebensfreude. Gesänge, Tänze, Possenspiele, Vorstellungen tragischen Inhalts, Wettkämpfe, verbunden mit fröhlichen Gelagen, bei denen Wein und Liebe keine geringe Rolle spielten, wechselten in bunter Reihenfolge und gaben den religiösen Festen ihre eigene Note. Und das alles ging nicht hinter dicken Tempelmauern vor sich, sondern spielte sich unter blauem Himmel ab, inmitten einer lieblichen Natur, welche diesem lusterfüllten Treiben seinen Rahmen gab. Und dieser Geist der Lebensfreude offenbart sich im Werke des Menschen. Taine hat die Eigenart des architektonischen Kunstwerkes in Hellas mit den Worten umrissen:
«Nichts Umständliches, Absonderliches und Gequält-Künstlerisches ist an diesem Gebäude; es ist ein von einem Säulengange eingefaßtes Rechteck; drei oder vier grundlegende geometrische Formen bestreiten darin alle Kosten, und das Ebenmaß der Anordnung macht sie kenntlich, indem es sie wiederholt und einander gegenüberstellt. Die Krönung des Giebels, die Kannelierung der Säulenschäfte, die Deckplatte der Kapitale, alles Beiwerk und alle Einzelheiten offenbaren gleichfalls aufs deutlichste den eigentlichen Charakter eines jeden Gliedes, und die Verschiedenheit der Mehrfarbigkeit führt die Hervorhebung und Verdeutlichung aller dieser Werte bis zur Vollendung.»[115]
Diese besondere Eigenart des architektonischen Kunstwerkes, seine graziöse, geschmeidige Schönheit, in der sich jede Linie zu einem harmonischen lichtvollen Ganzen vereinigt, findet sich überall in Hellas wieder; im Tempel des Zeus von Olympia, im Apollotempel von Phigalia, im Theseum, im Parthenon, in den Propyläen der Akropolis bis zu den herrlichen Werken von Iktinos, Kalikrates und so vieler anderer Meister.
Keine Kunst war unter den Hellenen so verbreitet wie die Bildhauerei. Sie übertrifft in der Tat alles, was Völker je auf diesem Gebiete geleistet haben, und setzt uns immer wieder durch die fabelhafte Fülle ihres Schaffens in Erstaunen. In der Zeit der römischen Invasion plünderten die römischen Heerführer die Kunstschätze Griechenlands in unerhörter Weise. Erzählen doch die Berichte, daß in Rom und seiner nächsten Umgebung nicht weniger als sechzigtausend griechische Bildwerke aufgestellt waren. Und trotzdem konnte Pausanias, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. in der Zeit der römischen Imperatoren Hadrian, Antonius Pius und Marcus Aurelius lebte, nach seiner großen Reise durch Hellas berichten, daß das ganze Land von Küste zu Küste einem Museum von Kunstwerken gleiche. Nach den Angaben Winckelmanns berichtete Pausanias von 20.000 Statuen, die er selbst gesehen hatte.[116] Man kann sich aus diesen Zahlen ungefähr eine Vorstellung von der verschwenderischen Fülle der griechischen Bildhauerkunst und der Verbreitung ihrer Werke machen. Diese hohe Entwicklung der Bildhauerei findet ohne Zweifel in dem öffentlichen Leben der Griechen ihre Erklärung. Die Pflege des nackten Körpers gestaltete sich in Hellas zu einem förmlichen Kultus. Alle Festlichkeiten waren mit öffentlichen Spielen und Wettkämpfen verbunden und zeigten dem Auge des Künstlers den menschlichen Körper in allen erdenklichen Stellungen, wodurch seine Gestaltungskraft immer wieder neue Anregungen erhielt.
Neben einzelnen Meistern entwickelten sich später in Athen, Korinth, Arges, Sikyon usw. ganze Schulen der Bildhauerkunst. Und welche Zahl großer Künstler tritt uns hier entgegen! Agelades, der in Argos wirkte, wird als der Lehrer der drei großen Meister Phidias, Myron und Polyklet bezeichnet. Phidias ist bekannt als der Schöpfer der vierzig Fuß hohen Statue des Zeus im Tempel von Olympia. Auch das kolossale Erzbild der Athene Promachos auf der Akropolis zu Athen, das den Schiffern vom Meere aus weithin sichtbar war, war sein Werk. Von der riesigen Statue der Athene des Parthenon, die Phidias geschaffen hatte, können wir uns nur eine unvollkommene Vorstellung machen, da sie wie so vieles andere aus jener Zeit verschwunden ist. Später entwickelte sich die neue Attische Schule, welche den Gipfel ihres Könnens in den Werken von Skopas aus Paros und vor allem Praxiteles aus Athen erreichte. Die wiederaufgefundene Statue des Hermes an der Nordseite des Tempels von Olympia gibt uns einen Begriff von der vollendeten Kunst des Praxiteles. Auch die großen Bildhauer Euphranor aus Korinth und Lysippos aus Sikyon dürfen nicht unerwähnt bleiben. Von den Hunderten und aber Hunderten weniger bekannter Meister sind in den meisten Fällen sogar nicht die Namen auf uns gekommen.
Von den Werken der griechischen Malerei ist natürlich noch viel weniger erhalten geblieben. Aus den Berichten der Alten geht hervor, daß eine ganze Reihe berühmter Schulen in allen Teilen des Landes bestanden haben, wie die Jonische Malerschule in Kleinasien, die Schulen von Sikyon, Paestum usw. Als erster Maler von hervorragender Bedeutung wird gewöhnlich Polignot auf der Insel Thasos bezeichnet; vor allem aber scheint Apelles auf dem Gebiete der Malerei das Größte geschaffen zu haben, denn die Alten sind seines Lobes voll.
Die Kunst der Griechen fand ihren Ausdruck in jedem Gegenstande des täglichen Gebrauchs; sie lag wie ein verklärender Hauch über allen Erscheinungen des öffentlichen und privaten Lebens, wie wir dies immer wieder an den zahllosen Vasen mit ihren reizenden Malereien und an den ausgegrabenen Gemmen, Cameen und geschnittenen Steinen der verschiedensten Art bewundern müssen. Man kann ihre überragende Größe und unbegrenzte Vielseitigkeit kaum überschätzen, auch wenn man ihre Schattenseiten nie aus dem Auge verliert und voll mit einschätzt. Kein anderes Volk der Alten Geschichte hat auf die bedeutendsten Geister aller späteren Zeiten auch nur eine ähnliche Anziehungskraft auszuüben vermocht; über jeden besonderen Zweig dieser reichen schöpferischen Tätigkeit wurden unzählige Bücher in allen Sprachen geschrieben, und selbst heute vergeht kaum ein Jahr, das nicht immer wieder neues und wichtiges Material über die Kultur des alten Hellas zutage fördert.
Hält man sich aber vor, wie es um die nationale und politische Einheit der Griechen bestellt war, von der man doch behauptet, daß sie die erste und unumgänglichste Voraussetzung für die Entwicklung aller und jeder Kultur eines Volkes sei, so gelangt man zu Ergebnissen, die für die Vertreter dieser Auffassung geradezu vernichtend sind. Das alte Hellas wußte nie, was nationale Einheit bedeutete, und als ihm am Ausgang seiner Geschichte die national-politische Einheit von außen her gewaltsam aufgezwungen wurde, da war es zu Ende mit der griechischen Kultur, die sich andere Stätten für ihre schöpferische Betätigung suchen mußte. Der griechische Geist konnte das national-politische Experiment einfach nicht vertragen und versiegte allmählich in dem Lande, in dem er jahrhundertelang seine stärksten Kräfte ausgeströmt hatte.
Was die griechischen Stämme und Völkerschaften vereinte, war die gemeinsame Kultur, die sich an jedem Orte in tausend und aber tausend verschiedenen Formen offenbarte, aber sicherlich nicht das künstlich geschürzte Band einer national-politischen Gemeinschaft, für die sich in Griechenland kein Mensch interessierte und deren Wesen den Hellenen stets fremd blieb. Griechenland war politisch das zersplittertste Land der Erde. Jede Stadt wachte mit eifersüchtiger Strenge darüber, daß ihre politische Selbständigkeit nicht angetastet wurde, von der ihre Einwohner nicht gewillt waren, auch nur das kleinste preiszugeben. Jede dieser kleinen Stadtrepubliken hatte ihre eigene Verfassung, ihr eigenes gesellschaftliches Leben mit seinen kulturellen Eigenarten, welche der Gesamtheit des hellenischen Lebens erst diesen bunten Reichtum an wahrhaften Kulturwerten verliehen haben. Sehr richtig bemerkt Albrecht Wirth:
«Die Leistungen der Griechen sind um so erstaunlicher, je zerrissener und zerklüfteter ihr Volkstum war. Niemandem ist es gelungen, die unendlich vielen verschiedenen Stämme sämtlich zu einer Tat, zu einer Gesinnung zusammenzufassen … Alle hielten und halten zwar ihr Volkstum hoch, aber sie besitzen nicht Aufopferungsfähigkeit, nicht politischen Sinn genug, um in ein großes Ganzes sich einzufügen, ihm die eigenen Wünsche unterzuordnen.»[117]
Aber gerade dieser Mangel unpolitischem Sinn war es, welcher das kulturelle Tun der Griechen beflügelte, ja sie für dieses erst geistig empfänglich machte. Als Aristoteles das Material zu seinem Werke über die Verfassungen der Hellenen zuammentrug, sah er sich genötigt, seine Untersuchungen auf hundertachtundfünfzig Gemeinwesen auszudehnen, von denen jedes eine politische Einheit für sich selbst darstellte und auf Grund seiner Autonomie seinen besonderen gesellschaftlichen Charakter hatte. – Schon die Bodenbeschaffenheit der ganzen Halbinsel war einer solchen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens sehr günstig. Das Land ist zum Teil gebirgig und erfreut sich eines herrlichen und milden Klimas, das ohne Zweifel auf Geist und Seele seiner Einwohner einen unverkennbaren Einfluß hatte. Liebliche und fruchtbare Täler durchschneiden die Landschaft nach allen Richtungen; in zahllosen Buchten dringt das Meer tief ins Land und schuf auf drei Seiten eine der wunderbarsten Küsten, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dazu kommen eine Unzahl kleinerer und größerer Inseln, welche die Halbinsel mit Kleinasien wie mit einer Brücke verbinden. Diese ganze reiche Natur war ungemein abwechslungsreich und mußte die Menschen zu Betrachtungen anregen, die ihnen anderswo versagt blieben. Jeder Teil des Landes hatte seine besondere Eigenart, welche dazu beitrug, der Betätigung seiner Einwohner ein bestimmtes Gepräge zu geben. Dadurch wurde die reiche Mannigfaltigkeit des geistigen und gesellschaftlichen Lebens, welche für das alte Hellas so bezeichnend ist, in der wirksamsten Weise geweckt und gefördert.
Was nun die Griechen selbst anbetrifft, so wird es uns heute immer klarer, daß sie weder ein einheitliches Volk noch eine einheitliche Rasse gewesen sind. Alles deutet vielmehr darauf hin, daß wir es hier mit einer überaus glücklichen Mischung verschiedener Völker- und Rassenelemente zu tun haben, welche durch eine gemeinsame Kultur zu einer geistigen Einheit verschweißt wurden. Die Behauptung, daß die Hellenen ein Volk germanischer Rasse gewesen seien, das von Norden her in die Halbinsel eingedrungen sei und sich allmählich die ansässige Bevölkerung unterworfen habe, läßt sich in ihrer Allgemeinheit durch keine greifbaren Beweise erhärten. Je mehr die wissenschaftliche Forschung sich bemüht, das Dunkel zu lüften, von dem die Urgeschichte Griechenlands noch immer umhüllt ist, desto mehr Erscheinungen treten zutage, die gerade für das Gegenteil sprechen. Daß die Halbinsel des öfteren durch Einfälle fremder Stämme heimgesucht wurde, die von Norden her eindrangen, steht außer Zweifel, Aber damit gewinnen wir noch lange kein klares Bild von der Rassenzugehörigkeit jener Stämme, deren Herkunft sich völlig im Nebel vorgeschichtlicher Zeiten verliert. Die meisten dieser Einfälle fanden bereits in einer prähistorischen Epoche statt und hielten große Teile des Landes in steter Gärung, wie aus den eigenen Überlieferungen der Griechen selbst hervorgeht. Ganze Völkerschaften wurden durch diese Wanderungen und fortgesetzten Zusammenstöße aus ihren alten Heimgebieten verdrängt und flüchteten auf die Inseln des Ägäischen Meeres oder nach der Küste Kleinasiens. Die größte dieser Wanderungen war die der Dorier, von der man annimmt, daß sie ungefähr 1100 Jahre vor unserer Zeitrechnung vor sich ging und zu großen Änderungen des gesellschaftlichen Lebens im Lande Anlaß gab.
Aber diese Wanderungen von Norden her waren sicherlich nicht die einzigen, und viele Gründe sprechen dafür, daß bereits lange vor diesen Einfällen asiatische Stämme in die spätere Heimat der Hellenen eingedrungen sind. Zahlreiche Spuren asiatischen Einflusses in die Mythologie der Griechen und ganz besonders die Namen vieler Städte und Ortschaften, deren Bedeutung sich jeder Kenntnis entzieht, legen Zeugnis dafür ab. Wieweit sich der Einfluß der semitischen Phönizier auf das griechische Festland erstreckte, konnte bisher noch nicht einwandfrei festgestellt werden; daß dieser Einfluß aber kein geringer sein konnte, geht schon daraus hervor, daß eine ganze Anzahl der späteren griechischen Inseln wie die Cycladen, die Sporaden, Rhodos, Cypern, Kreta usw. lange vor der Entstehung der griechischen Gesellschaft von den Phöniziern kolonisiert wurden. Auch das kleinasiatische Volk der Karer hat ziemlich deutliche Spuren in Griechenland zurückgelassen. So läßt sich der Name der Burg Karia in Megara und der des sagenhaften Königs Kar dortselbst nur auf sie zurückführen.
Von den Doriern, Äoliern und Joniern, die man in der Regel als die drei Hauptstämme der Griechen bezeichnet, scheint gerade der begabteste und in seiner Kultur am weitesten fortgeschrittene Stamm der Jonier den geringsten hellenischen Einschlag gehabt zu haben. Eine ganze Anzahl namhafter Historiker hat bereits auf die starke Vermischung der Jonier mit semitischen und anderen orientalischen Völkern hingewiesen. Ernst Curtius und andere mit ihm haben sogar die ursprüngliche Heimat der Jonier nach Kleinasien verlegt, wobei sich Curtius hauptsächlich darauf stützt, daß ein Land Jonien nur in Kleinasien historisch nachweisbar sei. Allerdings ist damit noch nicht bewiesen, daß die Jonier wirklich von dort stammen; sie konnten auch in Kleinasien eingewandert sein und dort ein Gemeinwesen gegründet haben.[118] Auch Herodot hat verschiedentlich auf den nichthellenischen Ursprung der Jonier und besonders der Athener hingewiesen und bezeichnete sie als Abkömmlinge der Pelasger, die erst später die griechische Sprache angenommen hätten.
Aus alledem geht nur das eine mit Bestimmtheit hervor, daß die Griechen weder national-politisch noch ihrer Rasse und Abstammung nach eine besondere Einheit darstellen und daß alle gegenteiligen Behauptungen nur auf vagen Vermutungen und unbestimmten Wunschvorstellungen beruhen. Einheitlich, und zwar in dem Sinne unserer früheren Ausführungen, war nur die griechische Kultur, die sich von der Westküste Kleinasiens und den Inseln des Ägäischen Meeres bis nach Sizilien und Süditalien erstreckte. Dazu kamen noch einzelne Niederlassungen in der Krim, an der östlichen Küste des Schwarzen Meeres und an der Mündung der Rhone.
Es müssen also andere Ursachen gewesen sein, durch welche die Entwicklung einer so reichen und glänzenden Kultur wie der hellenischen in so hervorragender Weise gefördert wurde, und wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir in der politischen Zersplitterung und der nationalen Zerrissenheit des Landes die weitaus wichtigste und entscheidendste dieser Ursachen erblicken. Es war diese heilsame politische Dezentralisation, diese innere Zersplitterung Griechenlands in Hunderte kleiner Gemeinwesen, die keine Uniformität aufkommen ließen und den Geist stets zu neuen Dingen anregten. Jedes größere politische Gebilde führt unvermeidlich zu einer Erstarrung des kulturellen Lebens und ertötet jenen fruchtbaren Wettstreit zwischen den einzelnen Gemeinwesen, der für das gesamte Leben der griechischen Städte so charakteristisch ist. Taine schildert diesen politischen Zustand im alten Hellas in sehr anschaulicher Weise:
«Für heutige Augen erscheint ein griechischer Staat wie ein Miniaturbildchen, Argolis hatte eine Länge von acht bis zehn und eine Breite von vier bis fünf Meilen; Lakonien ist ungefähr ebenso groß; Achaja ist ein schmaler Erdstreifen auf den Flanken eines ins Meer abfallenden Gebirges. Ganz Attika kommt nicht der Hälfte eines unserer geringsten Departements gleich; das Gebiet von Korinth, Sikyon und Megara beschränkt sich auf eine Wegstunde; im allgemeinen und vor allem auf den Inseln und in den Niederlassungen ist der Staat nicht mehr als eine Stadt mit einer Küstenanlage und einem Umkreis von Gehöften. Von einer Akropolis aus sieht man die Akropolis oder die Berge des Nachbars. In einer so zusammengezogenen Einfriedung ist alles klar und deutlich für den Verstand, das geistige Vaterland hat nichts Riesenhaftes, Abstraktes und Unbestimmtes wie bei uns; die Sinne können es umarmen, es deckt sich mit dem physischen Vaterlande; alle beide sind mit klaren Umrissen in dem Geist des Bürgers festgelegt. Um sich Athen, Korinth, Argos oder Sparta vorzustellen, denkt er an die Zacken seines Tales oder an die Silhouette seiner Stadt. Er kennt alle Bürger darin, wie er sich alle Umrisse daraus vorstellt, und die Enge seiner politischen Umfriedigung liefert ihm ebenso wie die Gestaltung seiner körperlichen Umfriedigung schon im voraus den mittleren und begrenzten Typus, in welchem sich alle seine geistigen Vorstellungen einschließen werden.»[119]
Diese Worte erschließen uns das ganze Wesen der griechischen Stadt. In einem solchen Miniaturstaate deckt sich die Heimatliebe des Menschen noch völlig mit seiner Liebe zum Gemeinwesen, Heimat und patria sind noch ein und dasselbe und haben mit der abstrakten Idee des modernen Vaterlandes nichts gemein. Deshalb blieb den Griechen auch die sogenannte Nationalidee völlig fremd und konnte bei ihnen sogar in den Zeiten dringendster Gefahr keine Wurzel fassen. Bei Homer findet sich nicht die geringste Spur einer Zusammengehörigkeit, und nichts deutet darauf hin, daß der nationale Gedanke den Griechen in der Blütezeit ihrer Kultur schmackhafter geworden wäre. Es war lediglich das Bewußtsein, einem gemeinsamen Kulturkreise anzugehören, welches die griechischen Städte miteinander verbunden hielt. Das ist auch die Ursache, weshalb die Kolonisierungen der Griechen einen ganz anderen Charakter hatten als bei allen anderen Völkern des Altertums. Für die Phönizier waren die Kolonien in erster Linie als Filialen des Handels gedacht. Bei den Römern spielten sie die Rolle unterworfener Gebiete, die vom Mutterlande wirtschaftlich ausgezogen wurden und völlig vom römischen Staate abhängig waren. Nicht so bei den Griechen. Sie gründeten ihre Kolonien unter denselben Voraussetzungen wie ihre Städte in der engeren Heimat, als selbständige Gebilde, die mit dem Mutterlande zwar durch dieselbe Kultur verbunden waren, im übrigen aber den Pulsschlag ihres eigenen Lebens in sich pochen fühlten. Auch die Kolonie hatte ihre eigene Verfassung, war eine Polis für sich und wetteiferte mit den Städten der Heimat in der selbständigen Entfaltung ihres eigenen kulturellen Lebens.
Da sich der Flächeninhalt des griechischen Gemeinwesens nur auf einige Quadratmeilen erstreckte, so konnte jeder Bürger das gesamte öffentliche Leben leicht überblicken und sich über alle Dinge ein eigenes Urteil bilden; ein Umstand von großer Wichtigkeit, der in unseren heutigen Staatsgebilden mit ihrem weitverzweigten Regierungsmechanismus und ihrem komplizierten Räderwerk bürokratischer Einrichtungen ganz undenkbar ist. Daher die ratlose Hilflosigkeit des modernen Staatsbürgers, seine maßlose Überschätzung der Regierungsorgane und des politischen Führertums, die ihn jeder persönlichen Initiative entfremdet. Da er überhaupt nicht imstande ist, alle Tätigkeitsgebiete des modernen Staates und seiner inneren und äußeren Politik zu übersehen, andererseits aber so fest von der Unabänderlichkeit all dieser Funktionen überzeugt ist, daß er im Bodenlosen zu versinken glaubt, wenn das politische Gleichgewicht gestört wird, so kommt ihm der Gedanke seiner persönlichen Minderwertigkeit und staatsgebundenen Abhängigkeit um so stärker zum Bewußtsein und vertieft seinen Glauben an die Unvermeidlichkeit der politischen Autorität, der heute im Menschen tiefer wurzelt als der Glaube an die Autorität Gottes. So träumt er bestenfalls von einem Wechsel der Personen, die an der Spitze des Staates stehen, und begreift nicht, daß alle Unzulänglichkeiten und Schäden der politischen Maschine, die ihn fortgesetzt bedrücken, im Wesen des Staates selbst begründet sind und daher in verschiedenen Formen immer wiederkehren.
Anders der Grieche. Da er sich in das innere Getriebe der polis leichter Einblick verschaffen konnte, so war er besser imstande, die Handlungen seiner fahrenden Männer zu beurteilen. Er hatte ihre erdgebundene Menschlichkeit stets vor Augen und war daher leichter zum eigenen Handeln geneigt, da seine geistige Regsamkeit noch nicht durch blinde Autoritätsgläubigkeit gelähmt war. In keinem Lande waren die sogenannten großen Männer so sehr dem Urteil der öffentlichen Meinung ausgesetzt als gerade in Griechenland in der Zeit seiner höchsten kulturellen Entwicklung. Sogar die größten und unbestreitbarsten Verdienste gewährten in dieser Hinsicht keinen Schutz. Das mußten Männer von dem Formate eines Miltiades und Themistokles und manche anderen am eigenen Leibe erfahren. Auf diese Weise blieb das öffentliche Leben in den griechischen Städten stets im Flusse und ließ nie für längere Zeit eine feste Ordnung der Dinge aufkommen. Dadurch aber wurden die persönliche Freiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelwesens am besten gewahrt; seine Initiative lief sich noch nicht tot an den starren Formen einer zentralen Staatsgewalt.
Es war dieser Zustand geistiger Ungebundenheit, aus dem die reichen Quellen jener grandiosen Kultur geflossen sind, deren machtvolle Entfaltung sich überhaupt nicht anders erklären läßt. Sir Francis Galton hat mit Recht darauf hingewiesen, daß allein Athen, die bedeutendste der griechischen Stadtrepubliken, in der auch der freieste Geist zu Hause war, im Verlauf eines einzigen Jahrhunderts, von 530 bis 430 v. Chr., nicht weniger als vierzehn der hervorragendsten Männer der Geschichte hervorbrachte, nämlich Miltiades, Themistokles, Aristides, Kimon, Perikles, Thukydides, Sokrates, Xenophon, Plato, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes und Phidias. Und der englische Gelehrte bemerkt dazu, daß nur Florenz, wo sich unter ähnlichen Bedingungen eine ebenso reiche, wenn auch andersgeartete Kultur entwickelte, sich in dieser Hinsicht mit Athen vergleichen könne.[120]
In jeder Stadt erreichte dieser Geist schöpferischer Betätigung seine höchste Vollendung mit der einzigen Ausnahme Spartas, das sich nie von der Herrschaft der Aristokratie befreite, während alle anderen Städte den Weg zur Demokratie gefunden hatten. Deshalb spielte gerade in Sparta der Gedanke der politischen Vorherrschaft die ausschlaggebende Rolle, dem alles andere unterstellt wurde. Zwar ist es unbestreitbar, daß auch in Athen, Theben und Korinth fortgesetzt Kräfte vorhanden waren, die nach der politischen Herrschaft im Lande strebten; aber das beweist nur, daß jedes Machtgebilde der Kultur hindernd im Wege steht, auch wenn seine Macht noch so beschränkt ist. Aber die völlige politische und nationale Zersplitterung Griechenlands nahm diesen Bestrebungen nach einer Ausdehnung der Macht viel von ihrer Schärfe; sogar dort, wo sie vorübergehend einen Erfolg hatten, war es nur ein Augenblickserfolg, der nie das Zustandekommen einer festgefügten politischen Ordnung ermöglichte, wie sie allen großen Staaten eigen ist. Übrigens hat schon Nietzsche den inneren Gegensatz zwischen polis und Kultur erkannt und den angeblich notwendigen Zusammenhang zwischen beiden als ein Trugbild bezeichnet.[121]
Griechenland kannte aber nicht bloß keinen nationalen Einheitsstaat, es hatte auch nie eine Priesterherrschaft kennengelernt wie Babylonien, Ägypten oder Persien, nach deren Vorbild sich später der Papismus gestaltete. Und da es keine Kirche gab, gab es auch keine Theologie und keinen Katechismus. Die Religion der Hellenen war ein luftiges Gebilde, an dessen Werden der Dichter einen größeren Anteil hatte als der Priester. Die religiösen Vorstellungen unterstanden nicht dem Dogmatismus einer theologischen Kaste und waren kaum ein Hindernis für die Freiheit des Denkens. Der Grieche dachte sich seine Götter anders als die meisten orientalischen Völker. Er bekleidete sie mit allen Eigenschaften menschlicher Größe und menschlicher Schwachheit und stand ihnen daher mit jener köstlichen Unbefangenheit gegenüber, die seinen religiösen Vorstellungen eine besondere Note gab, die sich bei keinem Volke des Altertums wiederfindet. Das ist auch der Grund, weshalb den Hellenen der Begriff der Erbsünde ewig fremd blieb. Schiller hatte schon recht, wenn er sagte, daß, weil in Griechenland die Götter menschlicher gedacht waren, der Mensch göttlicher empfinden mußte. Der ganze Olymp war sozusagen ein getreues Abbild des reichen hellenischen Kulturlebens mit seiner inneren politischen Zerrissenheit, seiner bunten Mannigfaltigkeit und Gestaltungskraft, seinem steten Wettstreit und seiner ganzen Menschlichkeit und Allzumenschlichkeit. Auch in Hellas spiegelte sich der Mensch in seinen Göttern wider. Erst wenn man sich klarmacht, welch lähmenden Einfluß die christliche Kirche jahrhundertelang auf das geistige Leben Europas ausübte, wie sie jeden Despotismus gefordert hat und bis heute die unbezwungene Festung jeder geistigen und sozialen Reaktion geblieben ist, begreift man die ungeheure Kluft, die zwischen dem religiösen Empfinden der Griechen und den toten, den Geist in Fesseln schlagenden Dogmen der christlichen Kirche gähnt.
Es gibt wenige Perioden in der Geschichte, wo alle notwendigen Vorbedingungen für die Entfaltung einer großen Kultur in so ausgiebiger Weise gegeben waren wie im alten Hellas. Was dem modernen Staatsmann als der große Mangel der hellenischen Welt erscheinen mag, die bis auf die Spitze getriebene politische Zersplitterung des Landes, war der größte Segen für die reiche und ungehemmte Entwicklung seiner kulturellen Kräfte. – Wie wenig bei den Griechen von einem nationalen Einheitsgefühl vorhanden war, zeigte sich am offenkundigsten in der Zeit der Perserkriege. Wenn es je eine Periode gab, die dazu angetan war, das nationale Bewußtsein unter den griechischen Stämmen zu erwecken, so war es die Zeit, als der persische Despotismus sich anschickte, der Freiheit und Selbständigkeit der griechischen Städte ein Ende zu machen. Die Gefahr, welche die Hellenen damals bedrohte, war für alle gleich groß. Niemand konnte sich in dieser Hinsicht nur der kleinsten Täuschung hingeben; alle wußten, was ein Sieg Persiens für jedes der griechischen Gemeinwesen zu bedeuten hatte. Aber gerade in jener Zeit der höchsten Gefahr machte sich die nationalpolitische Zerrissenheit der Hellenen am deutlichsten bemerkbar.
Schon bei dem siegreichen Vordringen des Harpagon, der im Auftrage des Perserkönigs Kyros die meisten griechischen Städte in Kleinasien der persischen Herrschaft unterworfen hatte (546-545 v. Chr.), und später beim Jonischen Aufstand (499-494 v. Chr.), zwei Ereignisse von weitestgehender Bedeutung, die als Auftakt zu den späteren Perserkriegen zu betrachten sind, zeigte sich der völlige Mangel eines einheitlichen nationalen Strebens bei den Griechen so unverkennbar, daß eine zentralistische Vereinigung gegen die Perser nie zustande kam. Milet, das bei der blutigen Unterdrückung des Jonischen Aufstandes so grausam gezüchtigt wurde, hatte bei dem Kriegszuge des Harpagon die anderen Städte überhaupt im Stich gelassen, um von den Persern einen günstigen Frieden zu erzielen. Nur wenige Städte führten den Kampf bis zum bitteren Ende; die meisten zogen es vor, die alte Scholle zu verlassen und sich in der Ferne eine neue Heimat zu gründen, als sie einsahen, daß jeder weitere Widerstand vergeblich war. Die Spartaner hatten den aufständigen Griechenstädten in Kleinasien überhaupt jede Hilfe versagt, was nicht gerade auf ein stark entwickeltes Nationalgefühl schließen läßt. Die Athener aber unterstützten den Jonischen Aufstand hauptsächlich deshalb, weil der von ihnen vertriebene Tyrann Hyppias am persischen Hofe ein Asyl gefunden hatte und von dort aus gegen seine Vaterstadt fortgesetzt Kabalen anzettelte. Diese kleinen Gewalthaber, die sich vor der Einführung der republikanischen Staatsform fast in allen griechischen Städten festgesetzt hatten, ließen sich erst recht nicht von nationalen Bedenken leiten und waren stets bereit, dem persischen Despotismus Handlangerdienste zu leisten, um mit dessen Hilfe die freiheitlichen Bestrebungen der eigenen Volksgenossen niederzuschlagen. Die Machenschaften der Pisistratiden in Athen, der Aleuten in Thessalien und des spartanischen Königs Demaratos sind Beweise dafür.
Als endlich der Perserkönig Dareios die Hände frei bekam, sandte er ein größeres Heer gegen Eretria und Athen, die er wegen ihrer Unterstützung des Jonischen Aufstandes besonders haßte; doch war es klar, daß sein Anschlag sich gegen ganz Griechenland richtete, denn die persische Macht in Kleinasien war so lange nicht gesichert, als die Hellenen dort nicht der Möglichkeit beraubt waren, von den Städten des Mutterlandes Beistand zu erhalten. Die Gefahr war groß, um so mehr, als sich bei dem persischen Heere auch der Tyrann Hyppias befand, der als Grieche den Persern manche guten Dienste leisten konnte. Trotzdem war von einer Entflammung des Nationalbewußtseins bei den Hellenen nichts zu spüren. Spartas Stellung war zweideutig wie immer, obwohl man dort die persischen Abgesandten, die Erde und Wasser als Zeichen der Unterwerfung gefordert hatten, in einen Brunnen geworfen hatte mit der Aufforderung, sich dort das Gewünschte selber zu holen. Viele Städte auf den Inseln und auf dem Festlande hatten sich fast ohne Widerstand unterworfen, darunter der größte Teil von Böotien. Sogar die nächsten Nachbarn der Athener, die Einwohner der Insel Aigina, wagten keinen Widerstand gegen das mächtige persische Heer und zogen eine zeitweilige Unterwerfung dem wahrscheinlichen Untergange vor.
Als es endlich bei Marathon zwischen der Landmacht der Perser und den Griechen zu einem entscheidenden Treffen kam, wobei die letzteren einer gewaltigen Übermacht gegenüberstanden, waren die Athener fast allein im Felde, denn außer tausend Hopliten, welche die Platäer geschickt hatten, war jede andere Hilfe ausgeblieben. Auch die Spartaner, welche den Kampf mit den Persern aufgenommen hatten, erschienen erst nach der Schlacht auf dem Plane und hatten zu dem großen Siege des Miltiades und seiner Scharen nicht beigetragen. – Durch den Sieg bei Marathon war die Gefahr, die Hellas bedroht hatte, vorläufig abgewendet, und die persischen Heerführer mußten sich mit ihren Truppen nach Asien zurückziehen. Nichtsdestoweniger mußte es allen klar sein, daß die Gefahr zwar eine Zeitlang gebannt, aber nicht beseitigt war; denn es unterlag nicht dem kleinsten Zweifel, daß der persische Despotismus alle Kräfte daransetzen würde, um die erlittene Niederlage wieder wettzumachen. Die ganze Lage war so eindeutig, daß niemand in Hellas sie mißverstehen konnte. Man hätte daher erwarten dürfen, daß die Griechen die kurze Atempause klug verwenden würden, um der heraufziehenden Gefahr besser die Stirne bieten zu können. Wäre in Griechenland auch nur eine Spur von jenem nationalen Geiste vorhanden gewesen, von dem kritiklose Historiker soviel zu erzählen wissen, so hätte er sich in einer so gefährlichen Lage unter allen Umständen offenbaren müssen. Aber nichts geschah, was man als Stärkung des Nationalbewußtseins deuten könnte. Die inneren Zustände in Griechenland blieben dieselben, und besonders Sparta, dessen militärisches und politisches Prestige durch den Sieg der Athener bei Marathon stark beeinträchtigt wurde, stellte seine ganze politische Tätigkeit nunmehr darauf ein, die rasche Entwicklung Athens unter allen Umständen zu verhindern. Diese Frage spielte für die spartanische Aristokratie eine viel wichtigere Rolle als die persische Gefahr.
Als dann 480 v. Chr., zehn Jahre nach der Schlacht bei Marathon, der Perserkönig Xerxes Griechenland mit einem großen Heere auf dem Lande und mit einer mächtigen Flotte an seinen Küsten bedrohte, war der allgemeine Zustand bei den Griechen um kein Haar besser als bei dem ersten Einfall der Perser. Aber auch jetzt war von einer nationalen Einmütigkeit, angesichts der furchtbaren Gefahr, die alle gleicherweise bedrohte, nichts zu verspüren. Zunächst entstand eine allgemeine Panik, doch an die gemeinsame Verteidigung der sogenannten nationalen Belange dachte keiner. Theben, in dessen Mauern die sogenannte Medische Partei einen starken Einfluß gewonnen hatte, die zweifellos von den persischen Despoten gefördert wurde, unterwarf sich dem Feinde ohne Widerstand, mehrere Stämme im mittleren Teile des Landes folgten seinem Beispiel. Böotier, Thessalier und Achäer versuchten durch Unterwerfung die Gefahr zu bannen, die sie bedrohte.
Aber auch die berühmte Zusammenkunft auf dem Isthmos, zu der die wenigen Städte, die zum Widerstand entschlossen waren, Vertreter gesandt hatten, um sich über eine gemeinsame Abwehr einig zu werden, stellte alles andere dar, nur kein Bild nationaler Geschlossenheit. Vor allem konnte man die Spartaner nicht dazu bewegen, ihre ganze militärische Macht in den nördlichen Teil des Landes zu werfen, um den eindringenden feindlichen Heeren einen Damm entgegenzusetzen. Es lag ihnen offenbar blutwenig daran, das mittlere Griechenland vor Verwüstung zu retten, und es besteht wohl kaum ein Zweifel, daß die regierende Kaste in Sparta es gerne gesehen hätte, daß Athen von den Persern zerstört und sie auf diese Art von einem unbequemen Nebenbuhler befreit worden wäre. Die ganze Rolle der Spartaner war ebenso zweideutig wie zehn Jahre vorher im Kriege gegen Dareios. Als sie sich endlich doch dazu entschließen mußten, um ihre geheimen Absichten nicht allzu offenkundig preiszugeben, den Persern bei den Thermopylen Widerstand entgegenzusetzen, schickten sie Leonidas mit nur dreihundert spartanischen Bürgern und etwa tausend Periöken, denen sich noch einige andere Stämme zugesellten. Im ganzen betrug die Zahl der Schwerbewaffneten keine viertausend Mann, eine lächerlich geringe Zahl, verglichen mit dem Riesenheer der Perser. Wenn Grote und andere namhafte Darsteller der griechischen Geschichte in die Aufrichtigkeit der Spartaner starken Zweifel setzten, so ist dies angesichts der historischen Tatsachen nur zu begreiflich.
Aber auch später, als Xerxes nach der katastrophalen Niederlage seiner Flotte bei Salamis sich genötigt sah, mit dem größten Teil seines Heeres den Rückzug über den Hellespont anzutreten, verfolgte Sparta noch immer dieselbe zweideutige Taktik. Xerxes hatte sich zwar nach Asien zurückgezogen, doch hatte er in Thessalien eine starke Armee unter der Führung seines Feldherrn Mardonios zurückgelassen, die dort überwinterte, um den Krieg im Frühjahr von neuem zu beginnen. Aber gerade bei diesem letzten Entscheidungskampfe zeigte der spartanische König Pausanias, der den Oberbefehl über die Streitkräfte der Hellenen führte, eine so auffallende Willensschwäche, die geradezu verdächtig anmutet. Das Ende des Pausanias, der bei einer späteren Gelegenheit des offenen Verrates an der Sache der Griechen überführt wurde, rechtfertigt den Verdacht, daß er schon damals ein geheimes Abkommen mit Mardonios getroffen hatte. Diese Auffassung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man in Betracht zieht, daß Mardonios vor der Eröffnung der Feindseligkeiten den Athenern ein geheimes Angebot gemacht hatte, sich mit ihm zu verbunden, und ihnen dabei das Versprechen gab, daß ihre Unabhängigkeit in keiner Weise beeinträchtigt würde. Die Athener hatten dieses Angebot stolz zurückgewiesen, und der Gedanke liegt nahe, daß Mardonios es nunmehr mit Pausanias versucht und bei ihm mehr Entgegenkommen gefunden hatte. Auf alle Fälle läßt das ganze Verhalten des Pausanias vor der Schlacht von Platäa eine solche Deutung zu.
Wenn die Perser trotz ihrer Überlegenheit und trotz aller geheimen Machenschaften dennoch entscheidend geschlagen wurden, so geschah es deshalb, weil die kampfentschlossenen Scharen der Hellenen, die für ihre Unabhängigkeit und Freiheit kämpften und nicht weniger als alles zu verlieren hatten, von einem ganz anderen Geiste beseelt waren als das durch den Willen eines Despoten zusammengeschweißte Riesenheer der Perser, von dem große Teile fremder Völkerschaften einfach zum Kriege gepreßt wurden. Aus diesem Grunde siegten die Griechen trotz ihrer nationalen Zersplitterung und politischen Zerrissenheit, ohne daß sie diese auch nur als Schwäche empfunden hätten.
Auch der Versuch mancher Historiker, den späteren Peloponnesischen Krieg als ein Ringen um die nationale Einheit Griechenlands zu deuten, entbehrt jeder tieferen Begründung. Sehr treffend hat Mauthner auf das Ungereimte dieser Behauptung hingewiesen:
«Man denke zum Beispiel nur daran, daß während des fast dreißigjährigen Peloponnesischen Krieges die Nationalitätsidee der Hellenen so gut wie gar nicht zum Vorschein kam; zwar ein Mann wie Alkibiades, der in Zorn und Not seine Anschlägigkeit bald den athenischen Volksgenossen, bald den feindlichen Spartanern, bald den Erbfeinden in Persien zur Verfügung stellte, bildete selbst damals eine Ausnahme; aber auch unter den einfachen Griechen waren diejenigen selten, die sich von ihrer Nationalität eine Vorstellung gemacht hätten, die den Krieg als bewußte Panhellenen oder Allgriechen beenden wollten. Die Nationalitätsidee war noch nicht wirksam, trotz der Liebe zur Heimat, zur Stadt.»[122]
In jenem langen und blutigen Kampfe, in dem sich Griechenland zerfleischte und seine innere Lebenskraft verzehrte, ging das Spiel nicht um die nationalpolitische Einheit der griechischen Stämme, sondern um die Frage: Autonomie oder Hegemonie? Wobei zu unterscheiden war, welche der größeren Städte die Vorherrschaft übernehmen sollte: Athen, Sparta, Theben oder Korinth. – Nach den Perserkriegen hatte sich besonders in Athen die Kultur zur höchsten Blüte entfaltet; aber der Sieg über Persien hatte auch stark zur Erweiterung des politischen Machtbewußtseins beigetragen. Athen, das mit seinen Verbündeten den Krieg gegen Persien fortsetzte und auch den griechischen Städten in Kleinasien ihre Befreiung vom persischen Joch sichern wollte, wurde dabei nicht von rein wirtschaftlichen Motiven geleitet. Hauptbeweggrund seines Handelns war zweifellos die Überzeugung, daß ein Bund freier Städte in Kleinasien ein starkes Bollwerk gegen neue Anschläge des persischen Despotismus abgeben müßte. Athen und die übrigen Städte, die mit seinen Bestrebungen einverstanden waren, schlossen sich zum Delisch-Attischen Bund zusammen, der zunächst eine freie Föderation selbständiger Gemeinden war, in deren Rahmen jede Stadt dieselben Rechte genoß. Doch das änderte sich mit der Entwicklung der Hegemonie, die Athen allmählich immer größere Rechte verschaffte, die nur auf Kosten seiner Verbündeten erzielt werden konnten. Dadurch trat das machtpolitische Motiv immer stärker in den Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens.
Das ist ja gerade der Fluch jeder wie immer gearteten Macht, daß sie von ihren Trägern mißbraucht wird. Gegen diese Erscheinung hilft keine Reform, kein noch so vorsichtig angebrachtes Sicherheitsventil in der Verfassung, denn sie entspringt dem innersten Wesen der Macht und ist daher unvermeidlich. Es ist nicht die äußere Form, sondern die Macht als solche, die zum Mißbrauch verleitet; schon das Streben zur Macht öffnet allen trüben und verhängnisvollen Leidenschaften der Menschen Tür und Tor. Wenn Goethe einst davon sprach, daß die Politik den Charakter verderbe, so hatte er wohl jene Machtbesessenheit im Auge, die jeder Politik zugrunde liegt. Alles, was uns im Privatleben als niedrig und verächtlich erscheint, wird – wenn von Staatsmännern geübt – zur patriotischen Tugend, vorausgesetzt, daß der Erfolg sich an ihre Fersen heftet. Und da mit der Ausdehnung der Macht ihren Trägern auch immer reichere wirtschaftliche Mittel in den Schoß fallen, so entwickelt sich ein System der Feilheit und Bestechlichkeit, das allmählich jede gesellschaftliche Moral untergräbt, ohne die ein Gemeinwesen auf die Dauer nicht bestehen kann. So wird die Macht zur furchtbaren Geißel des gesellschaftlichen Lebens und seiner schöpferischen kulturellen Kräfte. Auch die griechische polis machte von dieser Regel keine Ausnahme und verfiel der inneren Zersetzung in demselben Grade, als die machtpolitischen Bestrebungen in ihr die Oberhand gewannen.
Dabei zeigte sich schon damals, was sich seither immer wieder bestätigt hat, daß der Krieg, den hoffnungslose Toren als die Verjüngung des gesellschaftlichen Lebens feiern, sich in den meisten Fällen für die Sieger noch ungünstiger auswirkt als für die Besiegten. Indem er in seinen Folgen gewisse Schichten des Gemeinwesens in übermäßiger Weise bereichert, verschiebt er die früheren Grenzen des Wohlstandes und zerstört damit das gesellschaftliche Gleichgewicht in einem Maße, daß von einer Gemeinschaft der sozialen Belange immer weniger die Rede sein kann und die Klassengegensätze in der Gesellschaft immer stärker und unverhüllter in die Erscheinung treten. So war es auch in Athen. Hand in Hand mit dem Emporblühen der Geldoligarchie ging die Verarmung der unteren Volksschichten und zerstörte die alten Grundlagen der Gesellschaft. Daran und an der Sklavenwirtschaft mußte Griechenland letzten Endes zugrunde gehen.
Der Kampf um die Hegemonie, der im Peloponnesischen Kriege einen so verheerenden Ausdruck fand, leitete gleichzeitig den Niedergang der griechischen Kultur ein und bereitete dem mazedonischen Königtum den Weg zur Unterjochung Griechenlands, denn er führte überall zu denselben unvermeidlichen Ergebnissen – in Athen, in Sparta, in Theben. Die einzige erfreuliche Erscheinung in diesem Ringen um die Vorherrschaft ist die Tatsache, daß keine der größeren Städte imstande war, die Vormacht auf längere Zeit zu behaupten, da der Freiheitssinn der Hellenen die einzelnen Städte immer wieder zur Empörung und zur Abschüttlung des auferlegten Joches antrieb. Allein, der Krieg war von zu langer Dauer und untergrub alle Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens. Nach der Einstellung der Feindseligkeiten waren alle Städte so erschöpft, daß sie der heraufziehenden mazedonischen Gefahr nicht mehr gewachsen waren. Um so weniger, als durch die Zersetzung der Sitten und aller moralischen Grundlagen, die der Krieg und das Streben nach Macht zur Folge hatte, das mazedonische Königtum imstande war, fast in allen Städten Agenten zu halten, die für seine Pläne tätig waren. In der Tat war die moralische Verkommenheit gerade in jener Zeit am stärksten, als Demosthenes sich vergeblich bemühte, Hellas zu einer gemeinsamen Abwehr der mazedonischen Gefahr zu bewegen.
Alexander von Mazedonien schuf endlich die nationalpolitische Einheit Griechenlands mit dem Schwerte, indem er das ganze Land seiner Herrschaft unterwarf. Er war der eigentliche Begründer des sogenannten Hellenismus, den servile Historiker als den Gipfel der griechischen Kultur gefeiert haben. In der Wirklichkeit war er nur ein geistiger Niedergang, der zu keiner Erneuerung des Lebens mehr fähig war. Alexander legte die Grundlagen eines einheitlichen griechischen Reiches und zerstörte die unerschöpfliche Vielseitigkeit jenes reichen kulturellen Lebens, das für die griechischen Gemeinwesen in der Zeit ihrer Blüte so bezeichnend war. Aus den gewesenen Bürgern freier Städte wurden Untertanen des nationalen Einheitsstaates, der seine ganze Kraft darauf einstellte, alle Erscheinungen des sozialen Lebens auf das Durchschnittsniveau seiner politischen Bestrebungen herabzudrücken. Der sogenannte Hellenismus war bloß ein Ersatzprodukt für eine Kultur, die nur in Freiheit gedeihen konnte; es war der Triumph unschöpferischer Nutznießer über den schöpferischen Geist der griechischen Stadt.
Die meisten Geschichtsschreiber feiern Alexander als den großen Verbreiter der hellenischen Kultur über das riesige Gebiet seines Reiches. Sie übersehen nur, daß er, ungeachtet seiner Siege über die persische Heeresmacht, in seinem Denken und Tun immer tiefer in den Bann persischer Herrschaftsbegriffe hineingeraten war und sich anschickte, diese nach Europa zu verpflanzen. Grote ist durchaus im Recht, wenn er in seiner Geschichte Griechenlands den Standpunkt vertritt, daß Alexander Persien nicht griechisch, wohl aber Griechenland persisch gemacht und damit die weitere Entwicklung seiner Kultur für immer unterbunden habe; ja, daß sein eigentliches Streben darauf hinauslief, Hellas in eine Satrapie zu verwandeln, wie es später von den Römern zu einer Provinz ihres Weltreiches umgeformt wurde. Unter seiner Herrschaft und der seiner Nachfolger versiegten die Quellen der alten griechischen Kultur. Man zehrte noch eine Zeitlang von ihrem Überflusse, aber sie entwickelte keine neuen Ansätze mehr. Die national-politische Einheit läutete die Schöpferkraft der hellenischen Kultur zu Tode.
XXI. Der römische Zentralismus und sein Einfluss auf die Gestaltung Europas
Die Vorgeschichte Roms. Die Etrusker. Die Gründung der Stadt Rom. Patrizier und Plebejer. Rom als militärischer und politischer Mittelpunkt. Die Eroberung als Staatsprinzip. Das Wesen des römischen Staates. Diktatur und Cäsarismus. Von der national-politischen Einheit zum Weltreich. Die Religion im Dienste des Staates. Rom und die Kultur. Der Kampf des «echten Römertums» gegen den hellenischen Geist. Cato und Sokrates. Die griechische Kulturinvasion. Ein Volk von Kopisten. Die Kunst in Rom. Verachtung der Arbeit. Literatur als Staatszweck. Das Theater in Rom und Athen. Das «goldene Zeitalter». Die Äneis des Vergil. Klage des Horaz. Philosophie und Wissenschaft in Rom. Eroberung als Geldgeschäft. Rom als Vampir der Welt. Über den Untergang Roms. Wachsender Einfluß der Heerführer. Militärwesen und Bauerntum. Das römische Recht. Das Proletariat. Sklavenaufstände. Charakterlosigkeit und Sklaverei aus Prinzip. Cäsarismus und Prätorianertum. Entartung und Christentum. Das Ende des Reiches.
Wenn von Griechenland die Rede ist, so denken wir an Rom, eine Ideenverbindung, die in unserer Schulweisheit begründet ist. Unser Begriff vom klassischen Altertum umfaßt Griechen und Römer als Völker desselben Kulturkreises; wir sprechen von einer griechisch-römischen Kulturperiode und verbinden mit dieser Vorstellung tiefere innere Zusammenhänge, die nie bestanden haben, nie bestehen konnten. Es ist wahr, daß man uns gewisse Unterscheidungsmerkmale zwischen Griechen und Römern beigebracht hat; gegen die heitere Unbefangenheit der Hellenen führte man das strenge Pflichtgefühl der Römer ins Feld; die in die rauhe Toga eingehüllte römische Tugend galt uns gewissermaßen als Gegenstück zu Hellas nackter Lebensfreudigkeit. Vor allem aber pries man uns den hochentwickelten politischen Sinn der Römer, der sie befähigte, die ganze italienische Halbinsel zu einer festen politischen Einheit zu verschmelzen, was die Griechen in ihrem Lande nie zustande brachten. Das alles wurde uns auf eine Art vermittelt, die uns die Gewißheit beibringen mußte, daß das Römertum nur eine notwendige Ergänzung der griechischen Lebensauffassung gewesen sei und diese gewissermaßen erst zum Abschluß brachte. Ohne Zweifel gibt es gewisse Zusammenhänge zwischen der hellenischen und römischen Kultur, doch sind diese nur äußerer Natur und haben weder mit der besonderen Sinnesart der beiden Völker noch mit der Zielrichtung ihrer geistigen und kulturellen Bestrebungen das geringste gemein. Selbst wenn der Nachweis für die Richtigkeit der Auffassung jener Forscher erbracht werden könnte, derzufolge Griechen und Römer als die Abkömmlinge desselben Volkes zu betrachten seien, das in vorgeschichtlichen Zeiten seinen Wohnsitz im mittleren Donaubecken hatte und von dem angeblich ein Teil in den Balkan einwanderte, während der andere Teil in die Apenninische Halbinsel eindrang, so wäre auch damit noch kein Beweis für die innere Zusammengehörigkeit der griechischen mit der römischen Kultur erbracht. Der klaffende Unterschied in der gesellschaftlichen Entwicklung beider Völker würde in diesem Falle nur zeigen, daß eine andere Umwelt die erbgeborenen Anlagen der Griechen und Römer entscheidend beeinflußt hat und ihre soziale Lebensgestaltung in verschiedene Bahnen drängte.
Über die Urgeschichte der Römer wissen wir nicht mehr als über die Herkunft der griechischen Stämme. Auch bei ihnen verliert sich alles in dem dichten Nebel mythologischer Vorstellungen. Namhafte Historiker der römischen Geschichte, wie zum Beispiel Theodor Mommsen, vertreten sogar den Standpunkt, daß manche dieser Legenden, wie besonders die Mythe von der Gründung der Stadt Rom durch das Brüderpaar Romulus und Remus, erst viel später mit der bewußten politischen Absicht erfunden wurden, den von den Etruskern übernommenen Einrichtungen ein nationalrömisches Gepräge zu geben und dem Volke den Gedanken einer gemeinsamen Abstammung vorzutäuschen. – Daß die Halbinsel bereits in vorgeschichtlichen Zeiten wiederholt von germanischen und keltischen Stämmen überflutet wurde, ist heute kaum noch zu bezweifeln; aber aller Wahrscheinlichkeit nach haben auch von Süden her, auf dem Seewege, Einwanderungen aus Afrika und Vorderasien stattgefunden, und zwar lange vor der Kolonisation Siziliens und Unteritaliens durch die Phönizier und einige Jahrhunderte später durch die Griechen.
Sicher ist, daß die sogenannten Italiker nicht zu den Ureinwohnern der Halbinsel gehörten, wie früher häufig angenommen wurde. Die Italiker waren vielmehr ein Volk indogermanischen Ursprungs, das in vorgeschichtlichen Zeiten die Alpen überschritten und sich in der Po-Ebene niedergelassen hatte. Sie wurden später durch die Etrusker verdrängt und zogen sich nach dem mittleren und südlichen Teile des Landes zurück, wo sie sich wahrscheinlich mit den Japygo-Messapiern vermischten. Sie stießen bei ihrem Erscheinen auf die Ligurer, die wahrscheinlich aus Vorderasien kamen. Die Ligurer sind später vollständig von der Bildfläche verschwunden, doch erstreckte sich ihr Gebiet einst über den ganzen nördlichen Teil der Halbinsel, die Alpen, Südfrankreich bis nach Nordspanien, wo sie sich mit den Iberern mischten.
Von allen Völkerschaften jedoch, die vor der Gründung Roms eine Rolle spielten und die auf die Anfänge der römischen Zivilisation den stärksten Einfluß hatten, nehmen die Etrusker den ersten Platz ein. Über den Ursprung dieses merkwürdigen Volkes sind wir noch völlig im unklaren, da es der wissenschaftlichen Forschung bisher nicht gelungen ist, ihre Schrift zu entziffern. Das Reich der Etrusker dehnte sich in früheren Zeiten von Norden her bis weit über die Ufer des Tiber aus, der von den Alten als etruskischer Strom bezeichnet wird. Ihr Einfluß blieb jahrhundertelang unerschüttert und wurde erst später durch die wachsende Macht der Römer gebrochen. Doch spielten sie noch bei der Gründung Roms eine bedeutende Rolle. Unter den Königen Roms wird Tarquinius Superbus ausdrücklich als Etrusker bezeichnet, während Numa Pompilius und Ancus Marcius von den römischen Geschichtsschreibern als Sabiner genannt werden.
Ohne Zweifel sind die großen Baulichkeiten des alten Rom, die cloaca maxima, der kapitolinische Tempel usw., von etruskischen Baumeistern ausgeführt worden, da keiner der latinischen Stämme kulturell hoch genug entwickelt war, um solche Arbeiten zu vollbringen. Man nimmt heute allgemein an, daß der Name Rom etruskischen Ursprungs ist und wahrscheinlich auf das Geschlecht der Ruma zurückgeht. In den halbgeschichtlichen Überlieferungen der Römer werden die Etrusker übrigens als eines der drei Stammvölker angeführt, denen man die Gründung der Stadt Rom zugeschrieben hat. – Aus dem allem geht hervor, daß die eigentlichen Römer bereits als Mischvolk in die Geschichte eingetreten sind, in dessen Adern das Blut verschiedener Rassen kreiste.
Die näheren Vorgänge, die zur Gründung der Stadt Rom geführt haben, liegen völlig im dunkeln. Manche Historiker sind der Meinung, daß die Gründung der Stadt auf den ver sacrum, den heiligen Frühling, zurückzuführen sei, eine unter den latinischen Stämmen verbreitete Sitte, derzufolge zu gewissen Zeiten die jungen Männer von zwanzig Jahren ihre alten Wohnstätten verließen, um sich anderswo ein eigenes Heim zu gründen. Manche Städte sind durch diesen Brauch entstanden, und es ist nicht ausgeschlossen, daß auch Rom seine Entstehung dem ver sacrum zu verdanken hatte. Aus den Überlieferungen geht übrigens deutlich hervor, daß zunächst nur der Palatinische Hügel besiedelt wurde, während die übrigen sechs Hügel der späteren Stadt erst nachträglich, und zwar von verschiedenen Stämmen besetzt wurden. Der Zusammenschluß dieser Siedlungen zur Stadt Rom erfolgte erst viel später, ohne daß wir in der Lage wären, die unmittelbare Veranlassung dazu historisch feststellen zu können. Wahrscheinlich hat dabei die Gewalt eine gewisse Rolle gespielt, was um so glaubhafter erscheint, als nach den alten Überlieferungen die angeblichen Stammväter der Stadt Rom allerhand lichtscheues Volk um sich geschart hatten, dem die junge Niederlassung eine Freistätte bot. Auch deutet die Sage vom Raub der Sabinerinnen darauf hin, daß die ersten Kolonisten gerade keine angenehmen Nachbarn gewesen sind.
Von der ursprünglichen Geschichte der Römer ist uns wenig bekannt, doch geht aus dem wenigen deutlich hervor, daß sie anfangs ein Volk von Bauern und Viehzüchtern gewesen sind. Ihr gesellschaftliches Leben beruhte auf der sogenannten Gentilverfassung. Die einzelnen Geschlechtsverbände schlössen sich allmählich mit anderen zu Stammesorganisationen zusammen, aus denen mit der Zeit eine Föderation von Stämmen hervorging, die sich zu einem Schutz- und Trutzbündnis zusammengefunden hatten. Die Gemeinschaft, aus der Rom später hervorwuchs, stellte bereits eine politische Einheit dar, in der – ähnlich wie bei den Griechen – neben den politischen Formen noch lange Zeit starke Reste der alten Gentilverfassung weiterlebten. Überhaupt vollzog sich der Übergang vom reinen Gesellschaftsverband zur politischen Organisation erst allmählich, und zwar in dem Maße, als durch den Privatbesitz die natürlichen Bindungen der alten Gentilverfassung lockerer wurden und der Familienverband an Einfluß gewann, der alle Macht in den Händen des Familienoberhauptes vereinte. Dadurch wurde das alte Gewohnheitsrecht immer mehr durch die Satzungen des Staates verdrängt, die sich allmählich zum römischen Recht auswuchsen.
Diese innere Wandlung mußte sich natürlich auch in den Beziehungen zu den benachbarten Gemeinwesen auswirken. Es ist anzunehmen, daß bei dem raschen Wachstum der Stadt der Grundbesitz mit der Zeit nicht mehr ausreichte, ihre Einwohner richtig zu ernähren, wodurch die ersten Feindseligkeiten mit den Nachbarn entstanden sein dürften. So kam es zu den ersten Kämpfen, die von dem Wunsche getragen waren, sich des Bodens der benachbarten Gemeinden zu bemächtigen und diese Rom zu unterwerfen. Aber das eroberte Gebiet mußte erhalten und gegen Empörungen der alten Bevölkerungen geschützt werden, was nur durch eine starke militärische Organisation geschehen konnte, auf deren Entwicklung der römische Staat sich allmählich gänzlich einstellte. Dadurch gestaltete sich ein neues System von ausgesprochen militärischem Charakter. Beruhte das Schwergewicht des öffentlichen Lebens früher in der Volksversammlung, der comitia curiata, die noch auf die alte Gentilverfassung zugeschnitten war, so wirkten sich bereits unter Numa, dem Nachfolger des Romulus, Bestrebungen aus, die zu entscheidenden Änderungen der Verfassung führten und darauf hinausliefen, dieser einen rein politischen Charakter zu geben. Die Vorbedingungen für diese Wandlung sind in der inneren Klassenteilung der römischen Gesellschaft zu suchen, die sich bereits unter dem ältesten Königtum deutlich bemerkbar machte. Es ist völlig widersinnig, in den Patriziern und Plebejern Angehörige zweier verschiedener Rassen sehen zu wollen, die gewissermaßen das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten darstellen, wie dies sooft behauptet wurde. Schon die Tatsache, daß Abkömmlinge derselben Geschlechter zum Teil den Patriziern und zum anderen Teil den Plebejern angehörten, widerlegt diese Behauptung. In der Wirklichkeit handelte es sich um zwei verschiedene Stände, die aus dem System des Privatbesitzes und aus der Ungleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen hervorgegangen sind. In diesem Sinne wären die Patrizier als Vertreter des Großbauerntums zu betrachten, während die Plebejer sich aus der Masse der Kleinbauern zusammensetzten, die infolge der wachsenden Ungleichheit des Besitzes immer mehr unter das Joch ihrer reichen Mitbürger gerieten.
Die Gesellschaft des ältesten Rom war nach Geschlechtern eingeteilt, an deren Spitze ein Häuptling oder König stand, der zugleich die Funktionen des Hohenpriesters und des Feldherrn bekleidete. Dem König zur Seite stand der Rat der Vorsteher der Geschlechter, dem die eigentliche Führung des Gemeinwesens oblag. Durch das enge Verhältnis, das zwischen dem König und dem Rat der Vorsteher bestand, war es ganz natürlich, daß jener seine Beamten aus den Reihen der Vorsteher auswählte. Die wirtschaftliche Überlegenheit der Großbauern brachte es mit sich, daß sie allmählich alle wichtigen Ämter besetzten und sie zur Förderung ihrer eigenen Belange und Vorrechte ausnutzten und weiter ausbauten, so daß die ärmere Bevölkerung immer mehr unter ihre Botmäßigkeit geraten mußte. Aus diesem Verhältnis entwickelten sich die ersten Ansätze einer Adelskaste, die auf die Beseitigung der alten Gentilverfassung hinarbeitete, um die Eroberung fremder Gebiete desto planmäßiger betreiben zu können. Diese Bestrebungen treten bereits unter Numa mit aller Deutlichkeit hervor; aber erst unter Servius Tullius trat der große Umschwung ein, durch welchen die römische Gesellschaft jenes eigenartige politische Gepräge erhielt, das ihren eigentlichen Charakter bestimmte. Die Stadt Rom wurde zum Mittelpunkt aller umliegenden und eroberten Gebiete. An die Stelle der alten Einrichtungen trat eine auf fünf Klassen beruhende politisch-militärische Formation mit ungleich verteilten Rechten. Der Rat der Vorsteher wurde durch den Senat ersetzt, in dem nur die Patrizier Sitz und Stimme hatten und auf diese Art zu einer erblichen Aristokratie erhoben wurden. Die verschiedenen Klassen wurden in militärische Hundertschaften eingeteilt, die stets zum Kriegsdienst bereit waren. An die Stelle der alten comitia curiata trat die comitia centuriata, welche der neuen Einteilung entsprach. Jede Klasse hatte ihre besonderen Hundertschaften; das Abstimmungsverhältnis wurde durch den Besitz entschieden.
Ohne Zweifel wurde das Volk bei dieser Neueinteilung in schnöder Weise hintergangen, aber da man der neuen Ordnung in listigster Weise Reste der alten Verfassung beigemischt hatte, so kam dies den meisten wohl kaum zum Bewußtsein. Auf diese Art kam jenes aristokratisch-demokratische Staatswesen zustande, dessen innere Organisation auf Eroberung und Ausplünderung angelegt war. Das ganze Volk wurde zu einem Heere zusammengeschweißt; die Regierung aber verfolgte mit unbeugsamer Beharrlichkeit das Ziel, die ganze Halbinsel der Herrschaft Roms zu unterwerfen und zu einer großen politischen Einheit zu verschmelzen. Nur von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, läßt sich das Verhältnis zwischen Patriziern und Plebejern richtig beurteilen. Es wäre grundverkehrt, in den Plebejern lediglich eine unterdrückte Klasse sehen zu wollen, deren Bestrebungen auf die Abschaffung der Vorrechte und den Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung gerichtet waren. Daran dachten sie gar nicht; es kam ihnen vielmehr darauf an, derselben Privilegien wie die Patrizier teilhaftig zu werden und von der Kriegsbeute den gleichen Anteil zu erhalten. Grundsätzlich gab es keine Unterschiede zwischen beiden Ständen; beide waren gleichermaßen vom Geiste Roms besessen; beide waren bereit, Sklaven zu machen und andere Völker zu unterdrücken; beide strebten nach denselben Ausbeutungsmöglichkeiten.
Allein der militärische, stets auf Eroberung ausgehende Charakter des römischen Staates bewirkte auch, daß sich die Patrizier allmählich gezwungen sahen, den Forderungen der Plebs stattzugeben. Das geschah nicht freiwillig; sie verteidigten ihre Vorrechte mit zäher Entschlossenheit und verboten sogar die Ehe zwischen Patriziern und Plebejern. Aber infolge der kaltherzigen Eroberungs-Politik des Staates wurden besonders in der Ära der Republik immer größere Ansprüche an die ärmere Bevölkerung gestellt, welche die Gegensätze zwischen den beiden Ständen stets vertieften. Die römische Politik forderte Soldaten; es war diese Notwendigkeit, welche die Patrizier allmählich dazu gezwungen hatte, ihre Vorrechte mit der Plebs zu teilen und mit ihr zusammen einen neuen Adel zu bilden, der zum Träger jener imperialistischen Weltpolitik wurde, die Rom die Macht über alle wichtigen Länder der damals bekannten Erde verschaffte und den römischen Staat zu jener furchtbaren Plünderungs-Maschine ausbaute, die in der Geschichte aller Völker nicht mehr ihresgleichen findet.
Es gibt Historiker, die behaupten, daß Rom erst während des Kaiserreiches zur Räuberhöhle der Welt geworden sei, in deren unersättlichen Schlund Freiheit und Reichtum der Völker verschwanden. Ohne Zweifel wirkte sich das, was man den Geist Roms genannt hat, unter dem Kaiserreich am stärksten aus, doch man müßte blind sein, um zu verkennen, daß die Drachensaat des Cäsarismus bereits in der Ära der Republik ihre giftigen Blüten trieb und gerade damals die unumgänglichen Voraussetzungen für alle weiteren Entwicklungsmöglichkeiten in der Richtung zur unbegrenzten Machtvollkommenheit geschaffen wurden. Unter der Republik entstand die verhängnisvolle Einrichtung der Diktatur, die jeden Mißbrauch der Macht grundsätzlich rechtfertigte und jede Freiheit des Menschen im Keime erstickte. Die Verfassung der Republik stellte zwei Konsuln an die Spitze des Staatswesens, die mit allen Rechten der früheren Könige gewappnet waren. Bei außerordentlichen Gelegenheiten konnte der eine der Konsuln mit der Zustimmung des Senats einen Diktator ernennen, der mit unbeschränkten Machtbefugnissen ausgerüstet war. Der Diktator hatte das Recht, alle bestehenden Gesetze außer Kraft zu setzen; alle Beamten des Staates waren ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet; alle durch die Verfassung gewährleisteten Rechte für die Freiheit und Sicherheit der Bürger konnten durch sein Machtwort aufgehoben werden. Nur ein Staat, der ganz und gar auf den Krieg und die Unterdrückung anderer Völker eingestellt war, konnte eine so furchtbare Institution ins Leben rufen.
Von der Diktatur zum Cäsarismus ist nur ein Schritt. Das Kaisertum war bloß die reife Frucht eines Zustandes, der die Macht zum vornehmsten Grundsatz des Lebens erhoben hatte. Hegel hatte schon recht, wenn er sagte, daß «Rom von Hause aus etwas Gemachtes, Gewaltsames, nichts Ursprüngliches sei» und daß «der römische Staat geographisch wie auch historisch auf dem Momente der Gewaltsamkeit beruhe». – Der Wille zur Macht, in dem sich so recht eigentlich der Geist Roms verkörperte, schuf jene grausame Ideologie, die das Einzelwesen zum seelenlosen Werkzeug des Staates erniedrigt, zum gefühllosen Automaten einer höheren Kraft, die jedes Mittel rechtfertigt, um ihren Absichten Geltung zu verschaffen. Die vielgepriesene Römertugend ist nie etwas anderes gewesen als die zum Prinzip erhobene Staatssklaverei und stumpfsinnige Selbstsucht, die durch keine Herzensregung gemildert wurde. Beide blühten im republikanischen Rom genau so üppig wie im Rom der Cäsaren. Sogar Niebuhr, der im allgemeinen ein hemmungsloser Bewunderer der römischen Staatspolitik gewesen ist, erklärte in seiner Römischen Geschichte, daß in Rom «von den ältesten Zeiten her die furchtbarsten Laster herrschten, unersättliche Herrschsucht, gewissenlose Verachtung des fremden Rechts, gefühllose Gleichgültigkeit gegen fremde Leiden, Geiz, Raubsucht und eine ständige Absonderung, aus der nicht allein gegen den Sklaven oder Fremden, sondern auch gegen den Mitbürger oft unmenschliche Verstockung eintrat». – Die Träger des römischen Staates waren berechnend und methodisch in ihrer Politik; aber sie schreckten auch vor keiner Niedertracht, keiner Infamie, keiner Treulosigkeit, keinem Verbrechen zurück, solange es ihren Plänen Erfolg versprach. Sie waren die eigentlichen Erfinder der Staatsräson, die sich im Laufe der Zeiten zu einem furchtbaren Fluch gegen jeden Grundsatz der Menschlichkeit und Gerechtigkeit ausgewachsen hat. Nicht umsonst war eine Wölfin das Symbol Roms; der römische Staat hatte in der Tat Wolfsblut in den Adern.
War zunächst die Unterwerfung der ganzen Halbinsel das unmittelbare Ziel der römischen Politik, so machte sich nach Erreichung dieses Zieles folgerichtig das Streben nach Weltherrschaft bemerkbar, das für jeden Staat, der über größere Machtmittel gebietet, eine unverkennbare Anziehungskraft besitzt. Die italienische Halbinsel mit langen ungeschützten Küsten war den Angriffen feindlicher Mächte zu stark ausgesetzt, als daß man an größere Pläne herantreten konnte, solange das Land nicht politisch geeint und militärisch gefestigt war. Das ganze Festland bildete seiner Natur nach eine große geographische Einheit, und das vornehmste Ziel der verschlagenen römischen Politik war darauf angelegt, diese geographische in eine politisch-nationale Einheit auslaufen zu lassen. Durch eine Reihe innerer Kriege wurde Volk um Volk dem römischen Staate unterworfen. Im allgemeinen wurden die italischen Stämme von den Siegern milder behandelt, als diese später andere unterworfene Völker zu behandeln pflegten, und zwar geschah dies aus wohlerwogenen politischen Gründen, denn die römischen Staatsmänner durften ihre Herrschaft über das italische Festland nicht durch fortgesetzte Aufstände der besiegten Völkerschaften gefährden, wenn sie ihren hochfliegenden Plänen weiter nachgehen wollten; daher ihre Milde. Die Einfälle der Gallier haben diese kluge Politik noch gefördert, indem die heimgesuchten Gebiete um so dringender auf den Schutz Roms angewiesen waren. So entwickelte sich im Laufe der Zeit das Gefühl einer inneren Zusammengehörigkeit, das sich allmählich zur nationalen Idee verdichtete: man fühlte sich nicht bloß in Rom, sondern auf der ganzen Halbinsel als Römer.
Erst nachdem die politische Einheit auf dem Festlande hergestellt war, konnte sich die römische Politik größere Aufgaben stellen, die ihre Träger mit skrupelloser Gier und zäher Beharrlichkeit verfolgten, ohne sich je durch zeitweilige Mißerfolge abschrecken zu lassen. Mit diesen weiteren Zielen vor Augen wuchs den Römern die innere Selbstgewißheit ihrer Stärke und entwickelte bei ihnen jenen besonderen Grad der Überheblichkeit anderen Völkern gegenüber, der so bezeichnend für alle Welteroberer ist. Rom wurde ihnen zum Mittelpunkt der Welt, und sie glaubten sich von Rechts wegen berufen, ihre Herrschaft allen anderen Völkern aufzuzwingen. Ihre Erfolge verhalfen ihnen zu einer historischen Mission, lange bevor Hegel die Kategorie der historischen Sendungen seiner Geschichtsauffassung zugrunde legte. In der Äneis, dem nationalen Epos der Römer, gab Vergil dieser fixen Idee einen poetischen Ausdruck:
Andere werden die atmenden Erze anmutiger glätten,
Werden, ich weiß, anbilden lebendige Züge dem Marmor,
Werden beredsamer sein vor Gericht und die Bahnen des Himmels
Messen mit kreisendem Stab und der Sterne Aufgang verkünden.
Du sei, Römer, bedacht, weltbeherrschende Macht zu verwalten!
Solcherlei Kunst sei dein; dann friedliche Sitte zu ordnen,
Wer sich ergab, zu verschonen und Trotzige niederzukämpfen!
Nach dem Fall von Karthago und Korinth wurde diese Idee den Römern zur inneren Gewißheit, zu einer Art politischen Religion; so entstand allmählich jener ungeheuerliche, auf Gewalt und Plünderung beruhende Mechanismus des römischen Staates, den Kropotkin mit den treffenden Worten kennzeichnete:
«Das Römische Reich war ein Staat im wahren Sinne des Wortes. Bis auf unsere Tage ist er das Ideal der Gesetzgeber und Rechtsgelehrten geblieben. Seine Organe bedeckten ein gewaltiges Gebiet wie mit einem engmaschigen Netze. Alles strömte in Rom zusammen: das Wirtschaftsleben, das militärische Leben, die juridischen Beziehungen, die Reichtümer, die Erziehung, sogar die Religion. Von Rom kamen die Gesetze, die Richter, die Legionen zur Verteidigung des Landes, die Statthalter, die Götter. Das gesamte Leben des Reiches gipfelte im Senat später im Cäsar, dem Allmächtigen und Allwissenden, dem Gott des Reiches. Jede Provinz, jeder Landesteil hatten ihr Kapitol im kleinen, ihr Stückchen römischer Souverain, der ihr gesamtes Leben lenkte. Ein einziges Gesetz, das von Rom befohlene, herrschte im Reiche. Dieses Reich war keineswegs ein Verband von Bürgern, sondern eine Herde Untertanen.»[123]
In der Tat, Rom war der Staat par excellence, der Staat, der ganz und gar auf eine riesige Zentralisation aller gesellschaftlichen Kräfte eingestellt war. Kein anderes Reich hat seine weltbeherrschende Macht so lange zu behaupten gewußt, kein Reich hat auf die spätere politische Entwicklung Europas und auf die Gestaltung seiner Rechtsverhältnisse einen so überragenden Einfluß gehabt. Und dieser Einfluß ist noch heute nicht geschwunden, er ist in den Jahren nach dem Weltkriege noch gewachsen; die Idee von Rom, wie Schlegel es nannte, liegt noch heute der Politik aller modernen Großstaaten zugrunde, wenn auch die Formen dieser Politik ein anderes Aussehen bekommen haben.
Wenn uns aus der Geschichte Griechenlands immer wieder der Geist der Autonomie und die völlige nationale Zerrissenheit der Hellenen entgegentritt, so verfolgte Rom von Anbeginn die Idee einer alles umfassenden politischen Einheit, die im römischen Staate ihren vollendeten Ausdruck fand. Kein anderes Reich hat den Gedanken der politischen Einheit bis zu diesem Grade entwickelt und in die Wirklichkeit des Lebens umgesetzt. Er zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze römische Geschichte und bildet sozusagen das Leitmotiv ihres gesamten Inhalts.
Allerdings dachte man in Rom nie daran, den unterworfenen Ländern außerhalb der italienischen Halbinsel, die man dem Reiche als Provinzen einverleibte, politische oder nationale Rechte irgendwelcher Art zu gewähren. Der Fremde – auch wenn sein Land den Römern unterworfen war – war in Rom völlig rechtlos. Es ist bezeichnend für die Auffassung der Römer, daß ihre Sprache für den Begriff Fremder und Feind nur das eine Wort hostis kannte. Es ist auch eine ganz falsche Auffassung, daß der römische Staat lediglich auf die wirtschaftliche Ausbeutung der unterworfenen Völker bedacht gewesen sei und sich im übrigen den Besiegten gegenüber von kosmopolitischen Gedankengängen leiten ließ. Hand in Hand mit der militärischen und politischen Unterwerfung ging die Romanisierung der unterworfenen Gebiete, die mit unerbittlicher Konsequenz durchgeführt wurde. Nur den Religionen gegenüber zeigte der römische Staat eine gewisse Weitherzigkeit, solange sie seiner Allmacht nicht gefährlich wurden. Man darf dabei aber nie vergessen, daß in Rom auch die Religion den Zwecken des Staates völlig untergeordnet war. Deshalb gab es dort auch keine Kirche, die als Nebenbuhler des Staates auftreten konnte. Der Kultus stand unter Aufsicht des Staates; der Senat bestimmte über die religiösen Angelegenheiten, wie aus zahllosen Dekreten klar hervorgeht. Die Priester waren nur Untergebene des Staates; außerdem lag die höchste Priesterwürde in den Händen der leitenden Staatsmänner und des Senats.
Einem Weltreiche wie Rom mußte übrigens jeder Kultus gleich angenehm sein, solange er sich dem Staate unterordnete. Hatte doch bereits Alexander von Macedonien in dieser Hinsicht ein lehrreiches Beispiel gegeben, indem er die Duldung fremder Religionssysteme zu einem Mittel seiner Politik machte und dem Apis der Ägypter oder dem Gott der Juden dieselben Ehren erwies wie dem Zeus der Griechen. – «Eine solche Duldsamkeit», bemerkt Mauthner, «die schon Gleichgültigkeit war, wurde erst recht den Römern ein Mittel ihres dauernden Imperialismus, ihrer Welteroberungspolitik.» Wurde aber eine Religion dem Staate hinderlich oder gar gefährlich, dann hatte die Duldsamkeit bald ein Ende, und Verfolgungen setzten ein. Dies war der Fall mit den ersten Christen, deren Lehre sich gegen die Grundlagen des Reiches richtete und die sich weigerten, der Person des Kaisers göttliche Ehren zu erweisen. Religiöse Verfolgungen in Rom entsprangen immer politischen Motiven.
Übrigens hatte die Religion der Römer wenig Ursprüngliches aufzuweisen. Sie haben von allen möglichen Völkern Elemente des religiösen Glaubens entlehnt und diese ihrem eigenen Vorstellungskreise einverleibt. Daß ein großer Teil ihres alten Kultus auf die Etrusker zurückgeht, darüber ist man sich heute so ziemlich einig. Das gilt besonders von ihrem Dämonenglauben und von dem bis in alle Einzelheiten geregelten Zeremoniell ihres Gottesdienstes, das auch in allen Phasen ihres täglichen Lebens wiederkehrt. Sehr treffend bemerkt daher Elisée Reclus:
«Das Zeremoniell der Tribunale, der Regierungspaläste, der Tempel, der Privatbehausungen, welches die Römer Jahrhunderte hindurch fast unverändert befolgten, war gleicherweise den Etruskern entnommen. Von welchem Gesichtspunkt man es immer betrachten mag, kann man sich der Überzeugung nicht verschließen, daß sich das römische Volk von der etruskischen Substanz genährt hat, ähnlich jenen Insekten, die ihre Nahrung schon fix und fertig in der Brutzelle vorfinden, die man ihnen vorbereitet hatte!»[124]
Man darf die Religion der Römer auf keinen Fall mit der der Hellenen identifizieren, wie dies häufig geschieht. Wohl findet sich in ihrem Kultus eine ganze Anzahl Dinge, die den Griechen entlehnt sind; dasselbe trifft auch für eine Zahl ihrer Götter zu. Doch darf man daraus nicht auf die Wesensverwandtschaft beider Religionen schließen. Ein nüchternes, poesieloses Volk wie die Römer hatte für das heitere Getriebe des griechischen Olymps überhaupt kein Verständnis. Das ungezwungene Gebaren der hellenischen Götter ließ sich mit dem römischen Ordnungssinn schwer in Einklang bringen. Religion bedeutete den Römern geistige Gebundenheit, wie dies schon aus der Ableitung des Wortes hervorgeht. Gebundenheit aber lag den Hellenen durchaus nicht; in diesem Sinne waren sie nie religiös. Zeus war ihnen lediglich der Göttervater, der im übrigen mit denselben Vorzügen und Schwachheiten ausgestattet war wie alle anderen Götter. Der würdige Jupiter der Römer aber war in erster Linie der Schutzgott des Kapitols, der Schutzgott des römischen Staates.
Der Polytheismus der Griechen war das Ergebnis einer poetisch verklärten Mystik, in der sich die verschiedenen Naturgewalten in den einzelnen Gottheiten verkörperten. Bei den Römern aber gestaltete sich in der Gottheit häufig nicht mehr als ein abstraktes Prinzip mit einer Nutzanwendung. So gab es bei ihnen Gottheiten der Grenze, der Eintracht, der Wohlfahrt, des Diebstahls, der Pest, des Fiebers, der Ruhe, der Sorge usw., zu denen der Gläubige in jedem besonderen Falle seine Zuflucht nehmen konnte. Der Sitz der Götter war ebenso eingerichtet wie der römische Staat; jede Gottheit hatte ihr besonderes Ressort, für das keine andere zuständig war. Auch in der Religion war bei den Römern alles auf das Praktische und Zweckmäßige zugeschnitten; daher erschöpfte sich ihr ganzer Kultus in einem toten Ritual, das ebenso steif als geistlos war. Selbst die Kulte der Ägypter, Syrier, Perser und anderer, die sich in späteren Zeiten bei den Römern einbürgerten, mußten sich dabei dem besonderen Charakter des römischen Staates anpassen. Der politische Einheitsgedanke stand eben bei den Römern im Vordergrund aller Betrachtungen und wurde ihnen zum starren Glaubenssatze, an dem weder gedreht noch gedeutelt werden durfte.
Wäre die Behauptung richtig, daß die nationale oder politische Einheit die unumgängliche Vorbedingung für die ungehemmte kulturelle Entwicklung eines Volkes sei, so hätten die Römer an schöpferischer Kraft und kulturellem Wirken alle anderen Völker der Geschichte weit in den Schatten stellen müssen, denn bei keinem anderen Volke war diese Voraussetzung in einem so hohen Maße gegeben als gerade bei ihnen. Die Herrschaft Roms erstreckte sich über einen Zeitraum von zwölfhundert Jahren; keiner anderen Weltmacht war eine so lange Dauer beschieden. Man kann daher auch nicht sagen, daß die Römer nicht genügend Zeit besaßen, um ihre kulturellen Fähigkeiten voll entfalten zu können. Trotzdem wird selbst der fanatischste Bewunderer der römischen Staatsidee und der politischen Genialität der Römer nicht zu behaupten wagen, daß sie ein kulturschöpferisches Volk gewesen sind, das man auch nur im Traume mit dem politisch und national völlig zerrissenen Hellenentum vergleichen könnte. Schon der Gedanke eines solchen Vergleiches wäre Hochverrat an der Kultur überhaupt. Alle hervorragenden Geister, denen der Wille zur Macht nicht den geistigen Fernblick getrübt hat, sind sich darüber einig, daß die Römer im großen und ganzen ein phantasieloses, rein politisch eingestelltes Volk gewesen sind, das gerade auf Grund dieser rein politischen Einstellung für die tiefere Bedeutung der Kultur kein Verständnis hatte. Ihre wirklich kulturellen Leistungen waren von geringer Bedeutung; sie haben auf keinem Gebiete der Kultur etwas Hervorragendes zustande gebracht und sind stets ein Volk von Kopisten geblieben. Allerdings haben sie verstanden, sich die schöpferischen Ergebnisse anderer zu eigen zu machen und für ihre besonderen Zwecke auszubeuten, aber sie haben ihnen damit auch gleichzeitig den Todeskern eingeimpft, denn man kann kulturelles Streben nicht ungestraft in politische Formen zwingen.
Jedes Volk besitzt gewisse schöpferische Veranlagungen und Fähigkeiten, und es wäre unbillig, den Römern solche abzusprechen. Aber diese natürlichen Anlagen werden von den äußeren Lebensbedingungen der sozialen Umwelt beeinflußt und in bestimmte Richtungen gedrängt. Oder, um mit Nietzsche zu reden: jedes Volk ebenso wie jeder Mensch verfügt nur über eine gewisse Summe schöpferischer Kräfte und Fähigkeiten, und was von dieser Summe für Weltherrschaft und machtpolitische Bestrebungen verausgabt wird, muß notwendigerweise dem kulturellen Wirken entzogen werden. Es ist dies derselbe Gedanke, den Hegel in die Worte kleidete: «Das römische Prinzip war ganz auf die Herrschaft und Militärgewalt eingestellt. Es hatte keinen geistigen Mittelpunkt in sich zum Zweck, zur Beschäftigung und zum Genießen des Geistes.» – Die straffe Einheit ihres Staatswesens war nicht imstande, die kulturellen Fähigkeiten der Römer zu beflügeln, im Gegenteil: ihre gesamte zwölfhundert Jahre lange Geschichte hat nur den bündigen Beweis erbracht, daß national-politische Einheit ein Ding ist und kulturschöpferisches Wirken ein anderes.
Die Römer haben ihre natürlichen Anlagen im Prokrustesbett der politischen Einheit zu Tode gequält; jeder schöpferische Gedanke stieß sich an dem starren Rahmen ihrer militärischen und bürokratischen Maschine die Flügel lahm. Sie haben den Staat zur irdischen Vorsehung gemacht, die alles lenkt, alles bestimmt, alles entscheidet, und haben damit jeden Drang nach selbständiger Betätigung und eigener Erkenntnis der Dinge im Keime erstickt. Diesem Moloch haben sie die ganze Welt und sich selbst geopfert. Je umfassender und mächtiger der römische Staat sich im Laufe der Jahrhunderte gestaltet hat, desto mehr verlor der Mensch an geistigem Wert und sozialer Bedeutung; desto mehr schrumpfte sein Persönlichkeitsgefühl ein und mit ihm der kulturelle Schöpferdrang, der keinen politischen Zwang verträgt.
Das geht besonders aus der Kunst der Römer hervor, die bei jedem Volke die Krone seines kulturellen Schaffens darstellt. Bis zur vollständigen Unterwerfung aller um das Mittelmeer gelegenen Länder konnte man von einer römischen Kunst überhaupt nicht sprechen. Alles, was bis dahin in Rom auf dem Gebiete der bildenden Künste geleistet wurde, war entweder etruskischen oder griechischen Ursprungs. Während sich der Einfluß der Etrusker bereits im ältesten Rom sehr stark bemerkbar machte, kam später aus den griechischen Niederlassungen im Süden der Halbinsel jene andere Strömung, welche die Italiker mit der Kunst der Hellenen zum ersten Male in nähere Berührung brachte. Durch die Eroberung Griechenlands nach dem zweiten Punischen Kriege und die gewaltsame Einverleibung des Landes in das Römische Reich kam jene unmittelbare Verbindung zustande, die den Hellenen der Spätzeit erst recht zum Verhängnis wurde, in Rom aber die ersten Ansätze einer höheren Kultur erst zur Gestaltung brachte. Die römischen Heerführer beraubten die griechischen Städte ihrer herrlichsten Kostbarkeiten und schleppten alles nach Rom, was nur transportfähig war. Von der fabelhaften Menge der geraubten Kunstschätze können wir uns kaum eine richtige Vorstellung machen, und immer wieder blickt das Auge mit stummer Ehrfurcht auf das kleine Griechenland, dessen schöpferisches Genie all diese Werke hervorgebracht hatte. So berichtet Taine in seiner Philosophie der Kunst:
«Als Rom später die griechische Welt ausgeplündert hatte, besaß die ungeheure Stadt ein fast ihrer Bevölkerung gleichkommendes Volk von Standbildern. Man schätzt heute die Zahl der Bildsäulen, welche nach so vielen Zerstörungen und Jahrhunderten noch in Rom und seiner Umgebung aufgefunden worden sind, auf mehr als sechzigtausend.»
Aber die Römer hatten für diese Kunst keinerlei inneres Verständnis. Sie schmückten ihre Häuser und Städte mit griechischen Bildwerken, wie etwa heute reiche amerikanische Emporkömmlinge Rembrandts und van Dycks kaufen, weil sie glauben, dies ihrem Stande schuldig zu sein. Der tiefere Sinn der griechischen Kunst ist ihnen niemals aufgegangen. Woher sollte ihnen auch ein solches Verständnis gekommen sein?
«Der fröhliche Lebensgenuß der östlichen Arier, die Freude des Hellenen am Nackten, an der Schönheit menschlicher Natur ist den Römern ‹alten Schrot und Kornes› völlig fremd. Er kennt keine glanzvollen Festspiele, er ehrt keine Dichter und Federfuchser, und so weit geht seine Prüderie, daß der Eidam nicht mit dem Schwiegervater baden darf. Was den Römer auszeichnet, ist seine Straffheit, seine Methode. Er will sein Haus und seinen Staat in Ordnung wissen. Sein Familienleben ist streng geregelt und daher äußerst nüchtern; seine Töchter nennt er Fünfte und Sechste, und er richtet seinen Sohn hin, wenn er ungehorsam ist. Entgegen den meisten Ariern hält er außerordentlich viel auf das Äußere, auf den würdigen Schein. Gravität, Dignität, Anstand, das sind seine Lieblingsausdrücke, Worte, die in dem Munde des gravitäts- und würdelosen Cicero doppelt auffallend klingen.»[125]
Bei dieser Lebensauffassung kann es nicht wundernehmen, wenn die sogenannten echten Römer dem Eindringen griechischer Lebensart durchaus abweisend, ja sogar feindlich gegenüberstanden. Bei manchen nahm diese Abneigung ganz absonderliche Formen an. So warnte der ältere Cato seinen Sohn vor den griechischen Ärzten und behauptete, daß die Griechen eine Verschwörung gegen die Römer angezettelt hätten, wobei den Ärzten der Auftrag gegeben wurde, alle römischen Bürger mit ihren Medikamenten zu vergiften.[126] Derselbe Cato erklärte Sokrates für einen großmäuligen und aufrührerischen Patron, der sein Schicksal wohl verdient habe. Auch prophezeite er, daß Rom, sobald es sich mit den Lehren der griechischen Philosophie völlig durchsättigt habe, seine Herrschaft über die Welt verlieren werde. Dieser hartgesottene Sklavenschinder und herzlose Wucherer ahnte instinktiv, daß Kultur und Weltherrschaft unüberbrückbare Gegensätze sind, von denen die eine sich nur auf Kosten der anderen behaupten kann.
Wie völlig stumpfsinnig die Römer bis zum Ende des zweiten Punischen Krieges jedem höheren Kulturempfinden gegenüberstanden, zeigt die grausame und geradezu unmenschliche Zerstörung von Korinth, der herrlichsten Stadt Griechenlands, durch den römischen Heerführer Lucius Mummius. Nicht zufrieden damit, daß man die ganze wehrfähige Bevölkerung erbarmungslos abschlachtete, Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufte und die Stadt der Plünderung einer rohen Soldateska preisgab, steckte man sie auch noch in Brand und ließ keinen Stein auf dem anderen. Kurz vorher hatte man Karthago dasselbe Schicksal bereitet, das siebzehn Tage lang ein Raub der Flammen war und über dessen verwüstetes Gebiet man den Pflug führte, als Zeichen römischer Unerbittlichkeit.
Doch dem Einfluß der hellenischen Kultur konnte sich Rom trotzdem nicht entziehen, und alle Warnungen Catos und seiner Anhänger blieben in den Wind gesprochen. Römische Heere konnten Griechenland militärisch zu Boden ringen und Hellas in eine römische Provinz verwandeln, doch konnten sie dem Eindringen der hellenischen Kultur in Rom selbst keinen Damm entgegensetzen. Der römische Dichter Horaz hat diese Erkenntnis in die Worte gekleidet:
Hellas, bezwungen, bezwang den an Bildung dürftigen Sieger,
Tragend in Latiums; rauhere Flur mildwirkende Kunst.
So schwand roher saturnischer Vers, und feiner Geschmack trieb
Herbes und Widriges aus; doch zeigten sich lange die Spuren
Früherer Derbheit noch und sind nicht völlig verschwunden.
Denn spät lenkte der Römer den Geist auf griechische Schriften,
Und von den Punischen Kriegen ausruhend, begann er zu forschen,
Was sich von Sophokles, Thespis und Aeschylos ließe benützen;
Bald auch sucht’ er in Latiums Sprache sie würdig zu kleiden.
Nein, Rom konnte sich dieser friedlichen Invasion einer höheren Kultur nicht entziehen, die dem römischen Geiste gefährlicher war als Hannibal und die Einfälle der Barbaren. Der in Rom entstehende Panhellenismus verdrängte die kümmerlichen Ansätze primitiver römischer Poesie im Handumdrehen. Ganze Scharen griechischer Baumeister, Maler, Bildhauer, Goldschmiede, Erzgießer, Elfenbeinschnitzer usw. wirkten in den Palästen der römischen Aristokratie, darunter viele Sklaven, die man zwangsweise nach Rom verschleppt hatte. Unter diesen gab es eine große Anzahl, die mit dem ganzen Reichtum hellenischer Bildung ausgerüstet waren und dazu berufen schienen, ihren Herren eine höhere Geisteskultur beizubringen. Trotzdem kamen die Römer in der Ausübung der Kunst nie über die sklavische Nachahmung fremder Vorbilder hinaus, und es ist bezeichnend, daß die ganze römische Geschichte, eine Geschichte von mehr als zwölfhundert Jahren, nicht ein halbes Dutzend wirklich großer, von eigenen Ideen getragener Künstler zu verzeichnen hat, während fast jede griechische Stadt – Sparta ausgenommen – deren eine ganze Anzahl aufweisen kann.
Auch die Kunst des sogenannten Goldenen Zeitalters hat wenig aufzuweisen, das man als wirklich römische Kunst bezeichnen könnte. Joseph Strzygowski hat in überzeugender Weise nachgewiesen, daß die römische Kunst zur Zeit des Kaiserreiches in Wirklichkeit nur die letzte Phase des niedergehenden Hellenismus gewesen ist, dessen damalige Mittelpunkte in Vorderasien, Syrien und Ägypten waren. Zu jener Zeit machten sich im Hellenismus starke östliche Einflüsse bemerkbar, die allmählich zur Gestaltung der sogenannten byzantinischen Kunst führten, die ihrem Wesen nach nicht römisch ist.[127]
Nur in der Architektur brachten es die Römer zu einer neuen Stilart; doch darf man auch hier nicht vergessen, daß die meisten Prachtbauten zur Zeit des Kaiserreiches von fremden Baumeistern ausgeführt wurden. Die Römer entlehnten zunächst den Etruskern ihre Baukunst, was schon aus der charakteristischen Form ihrer älteren Tempel hervorgeht. Später, als sich der Einfluß der späthellenischen Kultur immer stärker bemerkbar machte, kam der griechische Geist auch in der Architektur klarer zur Geltung, obgleich der etruskische Einschlag noch lange Zeit unverkennbar blieb. Von den Etruskern haben die Römer auch die Kunst des Bogen- und Gewölbebaues erlernt, die jene aus dem Osten mitbrachten. Nur durch die praktische Verwendung und Weiterentfaltung dieser Kunst waren sie später imstande, jene mächtigen Nutzbauten auszuführen, die noch heute unser Erstaunen erregen. Die Kunst des Wölbens führte dann in ihrer weiteren Entwicklung zum Kuppelbau, der ein neues Prinzip in der Baukunst darstellt. Die Wirkung dieses Stils kommt im römischen Pantheon am trefflichsten zur Geltung, dessen Errichtung Apollo aus Damaskus zugeschrieben wird.
Daß die Römer in der Malerei nicht über mittelmäßige Leistungen hinausgekommen sind, ist allbekannt. Für die Musik hatten sie nie ein tieferes Verständnis. Noch im Jahre 115 v. Chr. hatten die altrömischen Patrioten im Senat ein Verbot sämtlicher Musikinstrumente durchgesetzt; nur die primitive italische Flöte hatte Gnade vor ihren Augen gefunden. Allerdings ließ sich diese Maßnahme auf die Dauer nicht aufrechthalten. Sie verschwand mit dem Vordringen des Hellenismus; allein die Musik lag auch späterhin ausschließlich in den Händen griechischer Sklaven. – Ganz eigenartig ist es, daß die Römer auf dem Gebiete der Plastik fast vollständig versagten. Obgleich sie ihre Städte mit den geraubten Herrlichkeiten Griechenlands schmückten, überließen sie die Bildhauerei auch weiterhin hellenischen Künstlern, die man als Sklaven nach Rom gebracht hatte. So entwickelte sich in Rom die Neu-attische Schule, die ganz Hervorragendes geleistet hat. Alle weltberühmten Werke jener Periode, die Karyatiden des Pantheon, der Borghesische Fechter, die Mediceische Venus, der Farnesische Herkules usw., wurden von Griechen geschaffen. Zwar kennen wir nicht den Schöpfer des Apoll von Belvedere, aber daß er ein Hellene gewesen ist, steht außer Zweifel; die stümperhaften Versuche der Römer in der Plastik lassen keinen anderen Schluß zu.
Kein Volk ist in seinem künstlerischen Schaffen völlig ursprünglich. Auch die Griechen wurden durch andere Kulturen geistig angeregt und befruchtet, aber sie verarbeiteten das Fremde in ihrer Weise, daß es ein Stück ihres eigenen Denkens und Fühlens wurde. Das ist der Grund, weshalb wir beim Anblick griechischer Kunstwerke, von denen wir wissen, daß sie unter fremdem Einfluß entstanden sind, das Fremde nie herausfühlen oder auch nur eine leichte Störung in der inneren Geschlossenheit des Werkes wahrnehmen können. Nie fühlt man bei den Hellenen die Nachahmung fremder Stoffe; alles ist innerlich miterlebt und mitempfunden. Bei den Römern kann man in den meisten Fällen die Nachahmung mit den Händen greifen. Dieses läßt sich nicht bloß durch den Mangel an technischem Können erklären; es beweist vielmehr, wie völlig verständnislos der römische Künstler dem fremden Vorbild innerlich gegenüberstand. Sogar in der Blütezeit der römischen Kultur ist der gebildete Römer dem Wesen der griechischen Kunst nie nähergekommen, und Friedländer bemerkt in seiner Sittengeschichte Roms mit vollem Recht:
«Daß in der Tat, trotz aller alten und neuen Kunstpracht Roms und des Römischen Reiches, die bildende Kunst einen Einfluß auf die römische Gesamtbevölkerung niemals gewonnen hat, dafür liefert die römische Literatur als Ganzes betrachtet einen vollgültigen und unwiderleglichen Beweis. Von einer so großen Anzahl von Dichtem und Schriftstellern verschiedener Zeitalter, die großenteils auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit standen und uns als vollberechtigte Repräsentanten derselben gelten dürfen, verrät kaum einer Interesse und Verständnis der bildenden Kunst gegenüber. In dieser so vielartigen, über einen Zeitraum von Jahrhunderten sich erstreckenden Literatur, die alle bedeutenden Richtungen und Interessen berührt, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten (d. h. in der Periode des Kaiserreiches vor der Herrschaft des Christentums) ganz besonders der Betrachtung der Gegenwart zugewandt ist und auch deren geistige Zustände vielfach lobend und tadelnd erörtert, findet sich keine Spur von Verständnis für das wahre Wesen der Kunst und keine Äußerung einer wahren Ergriffenheit durch die Herrlichkeit ihrer Werke. Wo immer von ihr gesprochen wird, so geschieht es entweder geradezu mit Unverstand oder doch ohne Anteil und Wärme. Wie vielen einzelnen Römern es auch gelungen sein mag, in das Wesen der griechischen Kunst einzudringen, der römischen Kultur im großen und ganzen ist sie immer fern und fremd geblieben.»
Diese Mißachtung der Kunst, die sich bei Cato und der altrömischen Partei in offenkundige Verachtung umsetzte, findet sich überall. Die Schriften Ciceros sind gespickt mit verächtlichen Bemerkungen über Kunst und Künstler. Die riesenhafte Entwicklung der Sklaverei in Rom führte naturgemäß zur völligen Verachtung der Arbeit, zu welcher der prosaische Römer auch die Kunst zählte. Ein bekanntes Wort des Plutarch ist in dieser Hinsicht überaus bezeichnend – dabei war dieser angebliche Erzieher des Kaisers Hadrian ein geborener Grieche, in dessen Werken jedoch die römische Art des Denkens oft überraschend klar zum Ausdruck gelangte:
«Kein anständiger junger Mensch, der den Zeus in Pisa oder die Hera in Argos sieht, wird sich deshalb wünschen, ein Phidias oder Apelles zu sein, denn wenn uns ein Werk angenehm und gefällig ist, braucht darum doch noch keineswegs sein Schöpfer unsere Nacheiferung zu verdienen.»
Dieselben Erscheinungen machen sich auch in der Literatur der Römer bemerkbar. Trotz ihrer Vielseitigkeit ist sie im ganzen eine Literatur der Nachahmungen geblieben. Man sucht vergebens einen Sophokles, einen Aeschylos, einen Aristophanes; von wenigen Ausnahmen abgesehen, atmet alles den Geist plattester Mittelmäßigkeit. Überhaupt war die Literatur in Rom immer nur ein Luxusartikel für privilegierte Minderheiten, die im Volke selbst nie Wurzel fassen konnte. Auch das sogenannte Goldene Zeitalter (von 80 v. Chr. bis 20 n. Chr.) macht darin keine Ausnahme. In Athen war die Aufführung eines Stückes von Sophokles oder Aristophanes ein Ereignis, das die ganze Bevölkerung in Bewegung setzte, in Rom hatte man für solche Dinge überhaupt kein Empfinden, und Horaz klagte bitter darüber, daß sich das Volk lieber an den Kunststücken der Seiltänzer und Marktschreier ergötze, als sich an der Aufführung eines Dramas zu erbauen. Wie alles in Rom, so diente auch die Literatur in erster Linie den Zwecken des Staates. Der ältere Cato hat dies offen ausgesprochen und sein ganzes Wirken darauf eingestellt. In der Zeit der Republik kam die Literatur noch wenig zur Geltung; unter dem Cäsarismus stand sie im Dienste des Hofes. Keine andere Literatur enthält denn auch eine solche Fülle der widerlichsten Schmeicheleien den Großen der Erde gegenüber wie die römische. In keiner anderen tritt uns der Geist der Knechtseligkeit und des Kriechertums in so unverhüllter und schamloser Weise entgegen. Nie gab es eine Zeit, wo sich Dichter und Künstler so tief im Staube wälzten wie gerade im Goldenen Zeitalter.
Eine eigentliche Literatur wurde in Rom erst durch griechischen Einfluß geschaffen, weshalb man die römische Literatur mit Recht als matten Abglanz des sterbenden Hellenismus bezeichnet hat. Was vorher in Rom als Literatur vorhanden war, verdiente kaum den Namen. Das gilt in erster Linie von den Saturnischen Versen, kunstlosen Festgesängen mit dürftigem Inhalt und von hölzerner Ungelenkigkeit. Ein Epos, wie es die meisten Völker besitzen, kannten die Römer überhaupt nicht. Zwischen der mythischen Geschichte Roms und der römischen Literatur bestehen keinerlei Zusammenhänge. Der Versuch, ein Epos zu schaffen, wurde erst in der Zeit des Kaiserreichs unternommen, um dem Ehrgeiz der Cäsaren zu schmeicheln. – Dann gab es die Fescenninen, mimische Hochzeitsgesänge, die gewöhnlich aus dem Stegreif vorgetragen wurden, und später die Atellanen, nach der oskischen Stadt Atella benannt, in denen sich bereits griechische Einflüsse bemerkbar machten. Allein diese ersten Ansätze einer primitiven Literatur verschwanden vollständig von der Bildfläche, als sich in Rom der Hellenismus Bahn brach und griechische Bildung das Schlagwort der privilegierten Kasten wurde.
Die ersten Dichter, die allgemein als die Begründer der römischen Literatur betrachtet werden, waren Livius Andronicus, Gnaeus Naevius und Quintus Ennius, drei geborene Griechen, der erste von ihnen ein freigelassener Sklave, der den Homer ins Lateinische übersetzte. Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß ein Volk, das in der Geschichte eine so lange und weltbeherrschende Rolle spielte, die Anfänge seiner Literatur Fremden zu verdanken hat. Auch die unmittelbaren Nachfolger jener drei, Plautus und Terentius, waren völlig von hellenischem Geiste durchdrungen und gaben in ihren Werken vornehmlich Bearbeitungen griechischer Vorbilder. Dabei war Terentius aus Karthago und wurde als Sklave nach Rom verschleppt, wo er später von seinem Herrn in Anerkennung seiner Verdienste freigelassen wurde.
Allein die Entwicklungsmöglichkeiten der dramatischen Kunst waren in Rom nicht dieselben wie in Griechenland und besonders in Athen. In Hellas konnte sich das Drama nur deshalb bis zu einer solchen Höhe entfalten, weil seine natürliche Entwicklung durch keine äußeren Hemmungen beeinträchtigt wurde. Jede Kunst bedarf der denkbar größten Freiheit, um sich in ihrer ganzen Größe ausleben zu können, die dramatische mehr als jede andere. Eine solche Freiheit aber hat in Rom nie bestanden. In Athen gab es zwischen dem Theater und dem öffentlichen Leben des Gemeinwesens die innigsten Beziehungen, und sogar ein Perikles mußte sich die Angriffe der Bühne gefallen lassen wie jeder andere. In Rom wäre ein solches Unterfangen als Anschlag gegen die Heiligkeit des Staates aufgefaßt worden. Als einer der ersten Dramatiker in der römischen Literatur, der Grieche Naevius, es wagte, in seinen Komödien einige angesehene Patrizier zu verspotten, wurde er zur öffentlichen Abbitte gezwungen und in die Verbannung geschickt, wo er gestorben ist. Aus diesem Grunde konnte das Drama im Volke niemals Wurzel fassen. Welches Interesse sollte ihm der Durchschnittsrömer abgewinnen? Die Stoffe, die ihm auf der Bühne vorgeführt wurden, waren dem Leben eines fremden Volkes entlehnt, in dessen geistiges und seelisches Empfinden er sich nicht einzuleben vermochte. Was ja imstande gewesen wäre, seine Aufmerksamkeit zu fesseln, die Darstellung der unmittelbaren Ereignisse des öffentlichen Lebens, in dem er selber wurzelte, war von der Bühne verbannt.
Die Dichter im Zeitalter der Republik standen völlig im Banne der hellenischen Literatur, und der weitaus größte Teil ihres Wirkens beschränkte sich auf die mehr oder weniger freie Übertragung griechischer Urtexte. Die einzige Literaturgattung, die schon damals und auch späterhin eine gewisse Selbständigkeit zeigte, war die Satire, besonders nachdem ihr Lucillius die Form des Spottgedichtes gegeben hatte, wobei er natürlich auch von griechischen Vorbildern ausging. Unter dem Kaiserreich aber geriet die Literatur völlig unter die Hörigkeit des Hofes. Sogar ihre bedeutendsten Vertreter, Vergil, Horaz, Ovid, Tibull, Properz, konnten sich von dieser unwürdigen Fessel nicht befreien und waren trotz ihres Könnens gezwungen, die Person des Kaisers und seine Günstlinge zu beweihräuchern und ihnen göttliche Tugenden anzudichten. So wäre die berühmte und über Gebühr gepriesene «Äneis» des Vergil, in welcher er – Homer nachahmend –versuchte, den Römern ein nationales Epos zu schaffen, wahrscheinlich nie geschrieben worden, wenn es dem Dichter nicht darauf angekommen wäre, den Trojaner Aeneas zum Stammvater des julischen Geschlechtes zu erheben, aus dem der Kaiser Augustus hervorging. Aus dem Umstand, daß Vergil in seinem Testamente die Bestimmung getroffen hatte, sein noch nicht veröffentlichtes Heldengedicht dem Feuer zu überliefern, könnte man fast schließen, daß sich der Dichter in einer Anwandlung von Selbstachtung seiner Erniedrigung geschämt habe. – Die Dichter des Goldenen Zeitalters waren samt und sonders von den Reichen und Mächtigen im Staate abhängig, deren Gunst nur durch Selbsterniedrigung und würdelose Schmeichelei erkauft werden konnte. Wie Messala, Maecenas, Augustus ganze Dichterhöfe um sich sammelten, die sich im Gnadenscheine ihrer Gönner sonnten, so wurde es allmählich Mode, daß jeder reiche Emporkömmling sich seine eigenen Dichter hielt, für deren Auskommen er Sorge trug und die ihn dafür verhimmeln mußten, Horaz, der immerhin versuchte, den Lockungen des Augustus zu widerstehen, den er nichtsdestoweniger in unwürdiger Weise vergötterte, hat uns in einer seiner Episteln anvertraut, wie ihm der nüchterne Broterwerb zum Antrieb dichterischen Schaffens wurde. Nachdem der Dichter uns erzählt hat, wie das Geschick ihn von seinem «guten Athen» zurück nach Rom verschlagen hatte, kommt er zu dem Geständnis:
Wie mich von dort alsbald aus dem Dienst heimführte Philippi,
Ganz kleinlaut, mit beschnittenen Flügeln, des heimischen Herdes
Und Grundstücks beraubt, da trieb nichtsscheuende Armut
Verse zu machen mich an. Jetzt, da ich besitze die Notdurft,
Wo gäb’s Schirling genug, um sauber mich machen zu können,
Wenn nicht besser mir schiene der Schlaf, als Verse zu dichten?
Dieses eigenartige Geständnis eines der größten römischen Dichter, das der inneren Tragik nicht entbehrt, ist bezeichnend für die damaligen Zustände. Eine Dichterpfründe zu ergattern, war das höchste Ziel einer Menge von Hunger geplagter Existenzen, die sich eine mehr oder weniger gute griechische Bildung erworben hatten und nun versuchten, diese an den Mann zu bringen, indem sie den Großen gegen Entgelt gereimte Artigkeiten sagten. Im Goldenen Zeitalter war es fast der Beruf des Dichters, sich seiner Menschlichkeit zu begeben und zum bezahlten Schmeichler der Reichen und Mächtigen zu werden. Man lese die widerlichen Lobhudeleien des Martial und des Statius auf ihre Brotgeber, ihr bettelhaftes Gebaren, um von diesen kleine Vorteile herauszuschinden, und man begreift, in welche Lage die Literatur geraten mußte in einer Zeit, wo alles käuflich war. Es ist bezeichnend, daß gerade die abscheulichsten und grausamsten Despoten von ihren Dichtern am meisten verherrlicht wurden. Der Cäsarismus bedrückte wie ein Alpdruck das gesamte öffentliche Leben; er verwandelte die ganze Nation in eine Schar von Lakaien, an deren Spitze die Dichter den ersten Platz einnahmen. Je weiter die innere Zersetzung unter der schamlosen Herrschaft des Cäsarismus um sich griff, desto erbärmlicher und abstoßender gestaltete sich dieses Verhältnis. Persius, Petronius und besonders Junius Juvenalis haben uns die ganze Fäulnis ihrer Zeit geschildert. Besonders Juvenal war ein Sittenschilderer ersten Grades, und manche seiner Satiren – vornehmlich die sechste – besitzen eine geradezu unheimliche Kraft der Darstellung.
Nimmt man die Literatur der Römer als Ganzes, so gelangt man zu der Überzeugung, daß sie an selbständigem Schaffen ärmer ist als jede andere und nicht den kleinsten Vergleich bestehen kann mit der reichen und schöpferischen Literatur der Hellenen. Sie ist gänzlich von dieser abhängig, und ihre Träger – von wenigen Ausnahmen abgesehen – versuchten mit einer geradezu sklavischen Beflissenheit, den Griechen nachzuahmen. Sogar ein so prächtiges Werk wie der Goldene Esel des Apulejus, das zweifellos mit zu den Glanzleistungen des römischen Schrifttums gehört, wäre ohne die geistige Anregung und die gestaltende Kraft des Griechentums nie zustande gekommen. Das beweist besonders der schönste Teil des Werkes, die reizende Episode von Cupido und Psyche, mit voller Deutlichkeit. – Nur in der Geschichtsschreibung, die den praktischen Römern näherlag als alle Blütenpracht der Poesie, macht sich eine gewisse Selbständigkeit der Darstellung bemerkbar, besonders, wo es sich um eigene Erlebnisse des Schriftstellers handelt. Doch darf man auch hier nicht übersehen, daß die Idee von Rom fast allen Beschreibungen römischer Historiker zugrunde liegt.
In der Philosophie waren die Römer noch mehr von den Griechen abhängig als in allem anderen. Sie haben die Welt um keinen einzigen Gedanken bereichert und begnügten sich damit, alten Ideengängen nachzugehen und diese in abgeschwächter Form wiederzugeben. Dabei darf man ja nicht an die Philosophenschulen Athens und anderer griechischer Städte denken. Solche Erscheinungen waren in Rom unbekannt. Hier sprach kein Sokrates in aller Öffentlichkeit zu seinen Mitbürgern; die Philosophie war nur in den Palästen der Reichen zu Hause, denen sie als Modeartikel dienen mußte wie Kunst und Literatur. Von den Patrioten der altrömischen Partei wurde die Philosophie anfangs mit derselben Verbissenheit bekämpft wie die hellenische Kunst. 173 v. Chr. verwies man die Vertreter der Lehre Epikurs aus Rom; zwölf Jahre später verbannte man alle Philosophen und Rhetoren aus der Hauptstadt, da man in ihren Lehren eine Gefahr für den Staat erblickte. Das Vordringen des Hellenismus in Rom verschaffte auch der Philosophie mehr Spielraum, doch blickte man stets mit einem gewissen Mißtrauen auf ihre Träger, und Philosophenverfolgungen, besonders der Stoiker, waren fast unter allen römischen Kaisern im Gange.
Von den philosophischen Systemen der Griechen fanden bei den gebildeten Römern nur der Epikurismus, der Stoizismus und der Skeptizismus weitere Verbreitung. Doch haben die römischen Anhänger dieser Lehren die Ideen der Griechen nicht durch eigene Gedanken befruchtet; wo sie Eigenes zu geben versuchten, verloren sie sich in einem seichten Eklektizismus, dem jede innere Kraft der Überzeugung fehlte. Es gab eine Zeit, da man Cicero als tiefen Denker verehrte, heute aber weiß man längst, daß er nicht einen einzigen eigenen Gedanken hervorgebracht hat und sich lediglich darauf beschränkte, die denkbar oberflächlichsten Zusammenstopplungen aus den Schriften griechischer Denker anzufertigen, durch welche uns viele von ihnen, wenn auch in beträchtlich abgeschwächter Form, erst bekannt wurden. Mit Recht sagt daher Mauthner:
«In einer Geschichte der Philosophie würde Cicero keinen Platz verdienen, höchstens … in einer Geschichte der philosophischen Kunstausdrücke; er, dessen Eitelkeit beinahe noch größer war als sein Nachruhm, hatte ja zugestanden, daß er von den Griechen abgängig war, arm an eigenen Gedanken, reich nur an ungeprägten Worten.»[128]
Das lichtvolle Lehrgedicht des Lucretius Carus De rerum natura (Von der Natur der Dinge) ist ohne Zweifel eine glänzende Darstellung der Lehre Epikurs, aber auch nicht mehr; das gilt auch von den Gedankengängen der Plinius, Lucian und anderer römischer Epikureer. – Ähnliches läßt sich auch von den römischen Stoikern sagen; auch sie haben der Lehre keinen neuen Gedanken zugeführt, und ihre weitaus größte Bedeutung lag auf dem Gebiete des politischen Lebens. Unter den Stoikern befanden sich die meisten Satiriker, und die Satire war in Rom das einzige Mittel, aus gedeckter Stellung nach hohen Fenstern zu zielen. Die Stoiker erstrebten eine Reform der gesellschaftlichen Zustände; aus diesem Grunde zogen sie sich häufig den Zorn der Despoten zu, der sich des öfteren in strengen Verfolgungen auswirkte. Manche von ihnen gingen in ihren Anschauungen ziemlich weit, so zum Beispiel Seneca, der die Sklaverei bekämpfte und in mancher seiner Briefe – besonders im neunzigsten – zu geradezu sozialistischen Folgerungen gelangte. Allerdings darf dabei nicht unerwähnt bleiben, daß das Leben Senecas mit seiner Lehre nicht gut in Einklang zu bringen ist; mußte er sich doch im Senat vorwerfen lassen, daß er sein Vermögen (er hinterließ 300 Millionen Sesterzen, das sind ungefähr 60 Millionen Mark) durch Erbschleicherei und schnöden Wucher ergaunert habe.
Es gibt überhaupt kein Gebiet des geistigen Lebens, auf dem die Römer sich durch Selbständigkeit des Denkens ausgezeichnet hätten; man müßte ihnen denn ihre Fähigkeit, sich die Entdeckungen und Erfindungen anderer anzueignen und für ihre eigenen Zwecke auszubeuten, als besonderes Verdienst anrechnen. Ihre geistige Abhängigkeit von den Griechen tritt auf allen Gebieten ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit klar hervor. In keinem Punkte sind sie über die elementaren Grundsätze der griechischen Wissenschaft hinausgekommen; in vielen Hinsichten blieben sie sogar hinter dieser weit zurück. Das gilt besonders von der Astronomie und ihrer Auffassung des Weltbildes. Sie hatten von Alexandrien das Ptolemäische Weltsystem übernommen, durch welches die geniale Auffassung des Aristarchos von Samos ein ganzes Jahrtausend in den Hintergrund gedrängt wurde, bis Kopernikus den menschlichen Geist wieder auf die rechte Bahn führte. – Natürlich diente auch die Wissenschaft in Rom lediglich den Interessen des Staates. Demgemäß war auch die ganze Erziehung eingestellt, die sich unter dem Kaiserreich zu jener faden, abgegriffenen Blasiertheit entwickelte, die Schlosser mit den treffenden Worten schilderte:
«Die allgemeine Geistesrichtung hatte alle Kraft und Natur aus dem Leben verscheucht; die Wissenschaft war eine Dienerin eitler und gemeiner Zwecke geworden; in den vielen Schulen wurden Lehrer und Schüler in gleich hohem Grade von leerer Einbildung, von übermütigem Stolze, von falschem Geschmack und von Gesinnungslosigkeit beherrscht. Hinter der gepriesenen Eleganz der Unterhaltung und dem geistreichen Spiel mit Begriffen, Ideen und Kenntnissen versteckten sich Roheit des Herzens, Leerheit der Seele, Eigennutz des Sinnes und ein meist oberflächliches Wissen.»
Ein Volk, in dem die machtpolitischen Bestrebungen alle Kundgebungen des Geistes völlig überwucherten, konnte zu keinen anderen Ergebnissen gelangen. Wie den Römern die Religion nie etwas anderes gewesen ist als der Inbegriff geistiger Gebundenheit, die in der völligen Unterwerfung des Menschen unter das Räderwerk der politischen Maschine gipfelte. Daß die Staatsidee, die bei ihnen von Anfang an auf militärischer Basis fußte, sich allmählich zum Cäsarismus auswuchs und ihren Höhepunkt in der Erhebung des Kaisers zum wirklichen Gott erreichte, war nur die Folge jenes starren Autoritätsprinzips, das keine Prüfung duldet und allen menschlichen Erwägungen unzugänglich ist. Rudolf von Ihering, der bekannte Rechtsgelehrte, faßte sein Urteil über die Römer in die Worte:
«Der römische Charakter mit seinen Tugenden und Fehlern läßt sich als das System des disziplinierten Egoismus bezeichnen. Der Hauptgrundsatz dieses Systems ist, daß das Untergeordnete dem Höheren, das Individuum dem Staat, der einzelne Fall der abstrakten Regel, der Moment dem dauernden Zustand geopfert werden müsse. Ein Volk, dem bei der höchsten Freiheitsliebe dennoch die Tugend der Selbstüberwindung zur zweiten Natur geworden ist, ist zur Herrschaft über andere berufen. Aber der Preis der römischen Größe war freilich ein teurer. Der unersättliche Dämon der römischen Selbstsucht opferte alles seinem Zweck: das Glück und Blut der eigenen Bürger wie die Nationalität fremder Völker. Die Welt, die ihm gehört, ist eine entseelte, der schönsten Güter beraubte, eine Welt, nicht von Menschen, sondern von abstrakten Maximen und Regeln regiert – eine großartige Maschinerie, bewunderungswürdig durch ihre Festigkeit, die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, mit der sie arbeitet, durch ihre Kraft, die sie entwickelt, alles zermalmend, was sich ihr widersetzt, aber eben eine Maschine, ihr Herr war zugleich ihr Sklave.»[129]
Ein Staat, dessen ganze Geschichte auf dem Prinzip der Eroberung begründet war und der diesem Prinzip durch alle Phasen seiner langen historischen Entwicklung hindurch mit unbeugsamer Folgerichtigkeit nachging, mußte zu einer völligen Preisgabe jedes Menschentums gelangen. Der Krieg war sein eigentliches Element, brutaler Raub sein Lebenszweck, dem alles andere als Mittel untergeordnet war. So entstand jener schmachvolle Zustand sklavischer Gebundenheit, der so recht eigentlich der tiefste Wesenszug des wahren Römertums gewesen ist. Ein Staat, in dem ursprünglich jeder Bürger Soldat sein mußte und in dem kein Bürger ein öffentliches Amt bekleiden konnte, der nicht mindestens an zehn Schlachten teilgenommen hatte, konnte nur verrohend auf seine Bevölkerung wirken. In der Tat waren die Römer denn auch ein gemütsrohes Volk. Auch die Invasion des Hellenismus konnte wenig daran ändern, da sich sein Einfluß nur auf eine kleine privilegierte Minderheit erstreckte, die breite Massen aber kaum berührte.[130]
Auf zwei Gebieten jedoch haben die Römer eine Ursprünglichkeit des Denkens und der praktischen Nutzanwendung bewiesen, die ihnen billigerweise niemand absprechen kann; allerdings handelt es sich dabei um soziale Einrichtungen, die man kaum als Förderer der Kultur bezeichnen kann. Die Römer waren die eigentlichen Schöpfer des Militarismus und die Erfinder jener brutalen und seelenlosen Auffassung, die wir als römisches Recht bezeichnen und die heute noch die theoretische Grundlage der gesetzlichen Rechtsbestimmungen aller sogenannten zivilisierten Staaten bildet. – Das römische Recht, dem nur die kalte Berechnung der nüchternsten materiellen Belange zugrunde lag und bei dessen Abfassung keinerlei ethische Erwägungen zu Rate gezogen wurden, war nur das natürliche Ergebnis des römischen Staatsbegriffs. Der römische Staat war Kriegsstaat, Gewaltstaat im verwegensten Sinne; er kannte nur ein Recht: das Recht des Stärkeren. Deshalb konnte das römische Recht nie etwas anderes sein als die brutalste Vergewaltigung aller natürlichen Rechtsbegriffe. Es lieferte die Grundlage für die öde Paragraphenweisheit unserer modernen Gesetzbücher, in denen das lebendige Sein durch abstrakte Maximen erdrosselt wird. Daran ändert auch die sogenannte Gleichheit vor dem Gesetz nichts, die praktisch stets eine Lüge war und theoretisch nur die Gleichheit von Sklaven im Auge hatte, die sich alle im Zustand derselben Erniedrigung befinden. Heinrich Heine, dem die brutale Menschenfeindlichkeit der römischen Rechtsbegriffe in der Seele verhaßt war, machte seinem Herzen darüber in folgenden Worten Luft:
«Welch ein fürchterliches Buch ist der Corpus Juris, die Bibel des Egoismus! Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub sicherstellen, und was sie mit dem Schwerte erbeutet, suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat, und es entstand eine Mischung der widerwärtigsten Art. Wahrhaftig, jenen römischen Dieben verdanken wir die Theorie des Eigentums, die vorher nur als Tatsache bestand, und die Ausbildung jener Lehre in ihren schnödesten Konsequenzen ist jenes gepriesene römische Recht, das allen unseren heutigen Legislationen, ja allen modernen Staatsinstituten zugrunde liegt, obgleich es im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft steht.»[131]
Nie vorher hatte eine Gesetzgebung den Begriff des Eigentums in so unmenschliche, grausame und egoistische Formen gekleidet. – Eigentum ist das Recht, seine Sachen zu gebrauchen und zu mißbrauchen, erklärte das römische Gesetz. Diese Auffassung, die bis heute die Rechtsgrundlage jeder Ausbeutung und jeder Monopolwirtschaft geblieben ist, fand nur dort eine Grenze, wo Gründe der Staatsräson eine solche geboten. Alle Versuche späterer Rechtsgelehrter, die zynische Brutalität dieser Bestimmung zu bemänteln oder abzuschwächen, waren nur leere Schaumschlägereien. Das brachte schon Proudhon treffend zum Ausdruck, wenn er sagte:
«Man hat versucht, das Wort mißbrauchen zu rechtfertigen, indem man erklärte, daß damit nicht dem willkürlichen, gegen die Moral verstoßenden Mißbrauch das Wort geredet werden sollte, sondern daß damit nur die unbeschränkte Verfügung des Eigentümers über seine Sache zu verstehen sei. Das ist eine leere, nichtssagende Unterscheidung, die nur dem Zwecke dient, das Eigentum heiligzusprechen, und durch welche die Freuden des Genusses weder gestört noch störend beeinflußt werden. Der Eigentümer kann seine Früchte am Stengel verfaulen lassen, er kann Salz in seine Felder säen, die Milch seiner Kühe in den Sand laufen lassen, einen Weinberg in eine Wüste und einen Park in einen Gemüsegarten verwandeln, ganz nach seinem eigenen Gutdünken. Ist dies alles Mißbrauch oder nicht? Bei dem Eigentum decken sich Gebrauch und Mißbrauch in jeder Hinsicht.»[132]
Wer dem Eigentum eine solche Macht einräumte, mußte notwendigerweise den Wert des Menschen sehr gering einschätzen. Das zeigt sich besonders im römischen Schuldrecht und in der Stellung, die das Gesetz dem Familienoberhaupt einräumte. Nach dem Zwölftafel-Gesetz stand dem Gläubiger das Recht zu, den Schuldner vor Gericht zu schleppen und ihn, falls niemand für ihn gutsagte oder seine Schuld übernahm, als Sklaven zu verkaufen. Hatten mehrere Gläubiger an denselben Schuldner Forderungen zu stellen, so stellte ihnen das Gesetz frei, ihn zu töten und in Stücke zu schneiden. Entscheidend waren lediglich die sachlichen Tatsachen der Schuld, gegen die keine menschlichen Erwägungen aufkamen. Das Besitzrecht des Eigentümers stand höher als Leben und Freiheit des Menschen.
Denselben unbarmherzigen Zug findet man auch im römischen Familienrecht. Dem Hausherrn stand das Recht über Leben und Tod seiner Familienangehörigen zu. Er konnte sein Kind nach der Geburt aussetzen oder später in die Sklaverei verkaufen; auch stand es ihm frei, das Todesurteil über seine Angehörigen zu fallen. Dagegen konnte der Sohn nie gegen den Vater Klage erheben, da er lediglich als dessen Knecht gewertet wurde. Nur die Gründung eines eigenen Haushaltes, die aber nicht gegen die Zustimmung des Vaters erfolgen konnte, machte dieser Hörigkeit ein Ende. Sehr treffend bemerkt Hegel, der selbst ein unbedingter Befürworter des Autoritätsprinzips gewesen ist:
«Für die Härte, welche der Römer im Staate erlitt, war er entschädigt durch die Härte, welche er nach Seiten seiner Familie genoß – Knecht auf der einen Seite, Despot auf der anderen. Dies macht die römische Größe aus, deren Eigentümlichkeit die harte Starrheit in der Einheit der Individuen mit dem Staate, mit dem Staatsgesetz, dem Staatsbefehl war.»[133]
Das ganze Strafrecht der Römer war von ausgesuchter Brutalität und barbarischer Grausamkeit. Man könnte einwenden, daß Grausamkeit in der Strafvollstreckung in jenen Zeiten allgemeiner Brauch war; aber was dem römischen Strafrecht seine besondere Note gibt, ist der Umstand, daß auch hier jede Bestimmung auf die Staatsräson zugeschnitten war und jeder menschlichen Einsicht mit gefühlloser Kälte gegenüberstand. So konnten in einer ganzen Reihe von Fällen die Kinder für die Vergehen des Vaters zur Bestrafung herangezogen werden, wozu der weise Cicero seelenruhig bemerkt:
«Die Härte der Strafe des Kindes wegen der Verbrechen des Vaters tut mir leid, indes ist dies eine weise Bestimmung unserer Gesetze, denn hierdurch wird der Vater vermittelst der festesten aller Bande, vermittelst der Liebe zu seinen Kindern, an das Interesse des Staates gefesselt.»
Diese Bestimmungen und andere wurden in späteren Zeiten gemildert, aber der innere Kern ihres Wesens blieb unverändert. Wie es bei einer solchen Rechtsauffassung um das Los der Sklaven bestellt war, ist leicht zu erraten. Der Sklave war gänzlich rechtlos und wurde wohl kaum als Mensch angesehen, im besten Falle betrachtete man ihn als gewesenen Menschen. Der kleinste Ungehorsam, die geringste Widersetzlichkeit oder auch Dinge, für die er überhaupt nicht verantwortlich war, wurden in einer geradezu bestialischen Weise geahndet. Einem solchen Unglücklichen die Zunge auszureißen, beide Hände abzuhacken, die Augen auszustechen, ihm siedendes Blei in die Kehle zu gießen und ihn nach unsäglichen Martern ans Kreuz zu nageln oder den wilden Tieren zum Fräße vorzuwerfen, war unbedingtes Herrenrecht.
Die Bewunderer der römischen Staatsidee geben sich alle Mühe, den Mangel jedes tieferen Kulturgefühls bei den Römern, den auch sie anerkennen müssen, dadurch zu verdecken, daß sie nicht genug Lobesworte über den Geist der römischen Gesetzgebung finden können, die sie geradezu als Kunstwerk anstaunen. Aber auch dagegen läßt sich vieles einwenden. Es war kein Geringerer als Theodor Mommsen, der in seiner Römischen Geschichte über das römische Recht folgendes Urteil fällte:
«Man pflegt die Römer als das zur Jurisprudenz privilegierte Volk zu preisen und ihr vortreffliches Recht als eine mystische Gabe des Himmels anzustaunen, vermutlich besonders, um sich die Scham zu ersparen über die Niederträchtigkeit des eigenen Rechtszustandes. Ein Blick auf das beispiellos schwankende und unentwickelte römische Kriegsrecht könnte von der Unhaltbarkeit dieser unklaren Vorstellungen auch diejenigen überzeugen, denen der Satz zu einfach erscheinen möchte, daß ein gesundes Volk ein gesundes Recht hat, ein krankes ein krankes.»
Nur ein solcher Staat konnte zu einem so vollständig entwickelten System des Militarismus gelangen. Militarismus und Militärwesen ist noch nicht dasselbe, obgleich die Existenz eines stehenden Heeres als die erste Vorbedingung zum Militarismus zu betrachten ist. Militarismus ist vor allem als psychischer Zustand zu bewerten. Es ist die Ausschaltung des eigenen Denkens und Wollens, die Verwandlung des Menschen zum toten Automaten, der von außen gelenkt und in Bewegung gesetzt wird, um blind jeden Befehl auszuführen, ohne sich der Verantwortlichkeit für sein Tun bewußt zu sein. Mit einem Wort: Militarismus ist die schlimmste und verwerflichste Form des zur nationalen Tugend erhobenen Sklavengeistes, der alle Gesetze der Vernunft verachtet und jeder menschlichen Würde bar ist. Nur ein Staat wie der römische, in dem der Mensch lediglich als mechanischer Bestandteil einer alles gleichmachenden Maschine empfunden und die brutale Gewalt zum höchsten Grundsatz der Politik erhoben wurde, konnte eine so grausame Verrenkung des menschlichen Geistes zustande bringen und damit die Grundlage zu jenem schmachvollen System legen, das noch immer wie ein Alpdruck auf den Völkern lastet und bis heute der Todfeind jeder höheren kulturellen Entwicklung geblieben ist. Militarismus und römisches Recht sind die unvermeidlichen Ergebnisse jener Auffassung, die man die Idee von Rom genannt hat, und die heute wieder die Geister stärker als je in Verwirrung setzt. Keine Revolution war bisher imstande, die Idee von Rom an die Kette zu legen und die Nabelschnur zu zerschneiden, die uns noch immer mit jener längst versunkenen Zeit verbindet. – Dem Griechen blieben die Einrichtungen seines Gemeinwesens immer Mittel zum Zweck. In Rom aber war der Staat Selbstzweck; der Mensch existierte nur seiner Institutionen wegen, deren Sklave und Knecht er war.
Über den Niedergang des Römischen Reiches ist viel geschrieben worden, und man hat alle nur denkbaren Erklärungsversuche für diesen gigantischen Zusammenbruch ins Feld geführt. Die einen sehen in der überfeinerten Kultur, die anderen in der völligen Verwahrlosung der Sitten die Ursachen dieses Niederganges. Neuerdings spricht man sehr viel von einer Zersetzung der Rassenseele – was immer dieses leere Wort bedeuten mag – und ist bemüht, den Untergang Roms als Rassenkatastrophe darzustellen, wobei man geflissentlich übersieht, daß Rom bereits aus einem sogenannten Rassenchaos hervorgegangen ist, was die Römer durchaus nicht verhindert hat, ihre weltgeschichtliche Rolle bis zu Ende zu spielen. Und doch treten beim Untergang des Römischen Reiches die wirklichen Ursachen viel klarer in die Erscheinung als bei den meisten anderen geschichtlichen Ereignissen. Überprüft man alle Einzelheiten dieses riesigen Zusammenbruches, ohne sich dabei von künstlich konstruierten Voraussetzungen leiten zu lassen, so muß man mit dem englischen Historiker Gibbon zu dem Ergebnis gelangen: «Nicht darin liegt das Wunder, daß Rom unterging, sondern darin, daß dieser Untergang so lange auf sich warten ließ.» Aber auch dafür gibt es eine Erklärung: Die römische Staatsmaschine war so fest gefügt und die Menschen von ihrer Unerschütterlichkeit so allgemein überzeugt, daß sie sozusagen von selbst lief und alle Hemmungen noch lange Zeit überwinden konnte, als ihre Fundamente schon längst zermürbt waren.
Rom wurde das Opfer seiner blinden Machtwütigkeit und ihrer unvermeidlichen Begleiterscheinungen. In wahnwitziger Verblendung waren die Träger des römischen Staates unausgesetzt bestrebt, die Grenzen ihres Machtbereiches fortgesetzt zu erweitern, und kein Mittel war ihnen zu brutal und zu verwerflich, das ihren Machtgelüsten als Werkzeug dienen konnte. Sie selbst haben die Katastrophe entfesselt, die sie früher oder später verschlingen mußte. Die märchenhafte Verschwendungssucht der privilegierten Klassen zur Zeit des Niederganges, die skrupellose Ausbeutung aller Völker, die vollständige Demoralisation des öffentlichen und privaten Lebens waren keine Ergebnisse einer physischen Rassenentartung, sondern die unvermeidlichen Folgen jener grausamen Unersättlichkeit, die eine ganze Welt in Ketten geschlagen hatte und notgedrungen zu einer völligen Zersetzung aller gesellschaftlichen Lebensbedingungen führen mußte. Die Macht Roms war der Moloch, der alles zermalmte, was mit ihr in Berührung kam, ohne Unterschied des Volkes oder der Rasse. Denn auch die nordischen Völker zeigten sich in dieser Hinsicht nicht widerstandsfähiger, und das germanische Blut bot ihnen keinerlei Schutz gegen die allgemeine Verderbnis eines bis auf die Spitze getriebenen Unterdrückungssystems. Sie konnten im besten Falle die grausame Maschine zeitweilig in ihre Hände bekommen, aber sie wurden damit in derselben Zeit ihre bedingungslosen Sklaven, die von dem erbarmungslosen Räderwerk ebenso zerbrochen wurden wie alles andere vor ihnen.
Die Zeichen des Verfalls machten sich bereits unter der Republik deutlich bemerkbar. Das Kaiserreich war nur der Erbe der republikanischen Kriegspolitik und brachte sie zur völligen Entfaltung. Solange es sich lediglich um die Unterwerfung der kleinen Völkerschaften auf der italienischen Halbinsel handelte, sprangen für die Sieger keine allzu großen Gewinne heraus, denn Italien war ein verhältnismäßig armes Land. Aber nach dem zweiten Punischen Kriege änderte sich der alte Zustand gründlich. Die ungeheuren Reichtümer, die in Rom zusammenflössen, führten zu der Entwicklung einer riesigen kapitalistischen Räuberwirtschaft, die alle Grundlagen des alten Gesellschaftsgebildes gründlich zersetzte. Salvioli, der allen Verzweigungen dieses Systems bis in die letzten Einzelheiten nachging, schilderte seine Folgen in überzeugender Weise:
«Nach den glänzenden Kriegen, die den Römern Afrika und Asien erschlossen, gelangte der Reichtum zu seiner höchsten Entfaltung. Besonders aus Asien, diesem Märchenlande der Kunst und Industrie, dieser Hohen Schule des Luxus und Geschmacks, dieser unversiegbaren Quelle der Verführung für Staatspächter und Prokonsuln, erpreßte die unbarmherzigste, brutalste Gewalt einen Strom von Gold und Silber. Nicht eher hörte er auf, Italien zu überschwemmen, als bis die Quellen selbst erschöpft waren. Die Schätze, die im Orient, in Gallien, in der ganzen Welt aufgehäuft lagen, und jene, die der Bergbau noch zutage förderte, alle strömten in Rom zusammen, als Kriegsbeute und Tribut, als Frucht von Plünderungen und Abgaben; auch die übrigen Teile Italiens bekamen ihren, wenn auch bescheidenen Anteil an der ganzen Herrlichkeit. Rom wurde und blieb für einige Jahrhunderte der große Markt des metallischen Reichtums. Ein rasender Taumel von Herrschsucht und Habgier hatte das einfache Krieger- und Bauernvolk erfaßt, so daß es den Ruhm seiner Feldherrn nur noch nach der Menge des Goldes und Silbers bemaß, die sie im Triumphzug heimbrachten; diese gewöhnten sich daher daran, die Besiegten bis zum Weißbluten auszusaugen und befreundeten Völkern die Gunst Roms nur um den höchsten Preis zu verkaufen. Nichts mehr war dieser Gier heilig; Recht und Vernunft wurden schamlos in den Kot getreten. Der König Ptolemäus von Cypern war als Besitzer eines wohlgefüllten Staatsschatzes und herrlicher Prunkgefäße bekannt; also wurde ohne Zögern ein Gesetz gemacht, das dem römischen Senat das Recht gab, einen vermögenden Bundesgenossen noch bei seinen Lebzeiten zu beerben. Der Senat betrachtete die Schätze der ganzen Welt einfach als römischen Privatbesitz, den Unterworfenen blieb auch nicht ein Heller zu eigen … Daß dieser kolossale Strom nicht unterbrochen wurde, dafür sorgten schon die siegreichen Feldherren, die Prokonsuln und die Steuerpächter, die nach den Reichtümern der besiegten Könige und Völker lüstern waren. Tausende von Kaufleuten und Glücksrittern folgten den Legionen, machten die Beute zu Geld, die unter die Soldaten verteilt wurde, und nahmen den eroberten Ländern das Letzte, was ihnen die Feldherren noch gelassen hatten.»[134]
So entstand jenes unglückselige Regime von Spekulanten und Schiebern, denen der Gewinn zum einzigen Lebenszweck wurde und die bestrebt waren, aus allen Dingen Profit zu schlagen, ohne sich auch nur im geringsten, um die Folgen zu kümmern. Der schamloseste Wucher entwickelte sich zu einem mörderischen System, das langsam aber sicher die Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens untergraben mußte. Es entstanden Großkapitalisten und kapitalistische Aktiengesellschaften, die vom Staate die Steuereintreibung für ganze Länder und Provinzen pachteten. Dem Staate ersparte dies viel Arbeit und Scherereien, aber den Ländern, die jenen Vampiren in die Klauen fielen, wurde der letzte Tropfen Blut aus den Adern gepumpt, denn sie ließen nichts zurück, das ihre Gier reizte. Ebenso pachteten sie die Staatsdomänen und die Bergwerke von der Regierung; sie belieferten die Legionen mit der nötigen Ausrüstung und häuften immer größere Kapitalien an; sie organisierten den Sklavenhandel nach kaufmännischen Grundsätzen und versorgten die großen Güter mit dem nötigen Menschenmaterial; mit einem Wort, sie waren überall dabei, wo es etwas zu verdienen gab.
Die tugendhaften Männer der Republik beteiligten sich an diesen Raubzügen mit der größten Selbstverständlichkeit und erwarben sich große Vermögen als Wucherer, Sklavenhändler oder Bodenspekulanten. Cato, den man in unseren Schulen noch immer als die personifizierte Tugend des alten Römertums verherrlicht, war in der Wirklichkeit ein abscheulicher Heuchler und kaltherziger Wucherer, dem kein Mittel zu verwerflich war, das seine eigensüchtigen Zwecke fördern konnte. Er gab seiner Zeit sozusagen die richtige Note, als er die Worte prägte: «Es ist die erste und heiligste Pflicht des Menschen, Geld zu verdienen!» Plutarch legte ihm als seine letzte Äußerung die Worte in den Mund: «Das Geschäft der Eroberer befriedigte die Götter; doch das Geschäft der Besiegten befriedigte Cato.» Doch Cato bildete unter den tugendhaften Römern seiner Zeit keine Ausnahme. Auch der berühmte Tyrannenmörder Brutus, den die Legende mit allen Zutaten strengster Redlichkeit bekleidete, war ein ebenso herzloser Wucherer wie Cato und tausend andere, und seine geschäftlichen Gepflogenheiten waren oft so bedenklicher Natur, daß sogar Cicero, dieser unentwegte Anwalt der Wucherer und Spekulanten, es ablehnte, seine Sache gerichtlich zu vertreten.
Die weitaus wichtigste Ursache aber, die den Fall Roms mit besiegeln half, war der Verfall des kleinen Grundbesitzes, der ehedem das festeste Bollwerk römischer Überlegenheit gewesen war. Die fortgesetzten und erfolgreichen Kriege drängten das kleine, nach fremden Reichtümern lüsterne Bauernvolk immer Weiter auf jenem gefährlichen Wege, der bisher noch allen Eroberern zum Verhängnis wurde. Schon die Niederlage der etruskischen Städte im Norden und die Eroberung der griechischen Kolonien im Süden der Halbinsel hatte die Gier der Römer mächtig angeregt. Doch als sie den Krieg erst erfolgreich ins Ausland trugen und anfingen, Weltpolitik zu treiben, ergab sich alles weitere von selbst. Weltpolitik und Bauerntum sind Dinge, die sich auf die Dauer nicht vereinen lassen. Der Bauer, der sein Land bewirtschaftet, ist mit der Erde verwachsen, die er bebaut. Aber die fortgesetzten Kriege, die ununterbrochen Tausende von Menschen der Landwirtschaft entrissen, mußten sich im Laufe der Zeit immer verderblicher auswirken. Ein System, unter dem von je 100 Mann immer 25 vom 17. bis zum 45. Lebensjahre unter Waffen standen, mußte unvermeidlich zum Niedergang der alten Bauernwirtschaft führen. Der Staat hatte das Räuberhandwerk offen zur Politik erhoben, und dieser gewaltsame Erwerb erschien den einzelnen im Laufe der Zeit gewinnbringender als die mühselige Bearbeitung des Bodens. So wurde der Bauer allmählich der Erde entfremdet. In den langen Kriegen blutete sich das römische Bauernvolk langsam zu Tode; behaupten doch zeitgenössische Schriftsteller, daß Rom nach dem zweiten Punischen Kriege die Hälfte seiner alten Bevölkerung verloren hatte. Damit ging aber auch der kleine Grundbesitz immer rascher seinem Ende entgegen, und es entwickelten sich an seiner Stelle die sogenannten Latifundien, von denen Plinius mit Recht behauptete, daß sie Italien und die Provinzen zugrunde gerichtet hätten.
Die Landfrage spielte bereits im ältesten Rom eine bedeutende Rolle, was in den langen Kämpfen zwischen Patriziern und Plebejern deutlich genug zum Ausdruck kam. In diesem harten Streite hatten die Plebejer endlich die Gleichberechtigung mit ihren früheren Gegnern errungen, und die berühmte licinisch-sextische Gesetzgebung, deren eigentlicher Wortlaut allerdings nur in verstümmelter Form auf uns gekommen ist, bestimmte, daß fortan bei der Verteilung der Staatsländereien beide Teile gleichgestellt werden sollten. Auch bestimmte das Gesetz, daß die größeren Grundbesitzer eine festgesetzte Zahl freier Arbeiter im Verhältnis nach der von ihnen beschäftigten Zahl der Ackersklaven anstellen mußten. Nach der Beendigung des zweiten Punischen Krieges wurden diese Bestimmungen jedoch allgemein außer Kurs gesetzt. Hunderte kleine Gehöfte lagen völlig brach, da ihre Besitzer gefallen waren. Dazu waren dem Staate durch die Beschlagnahmung der Güter aller Parteigänger Hannibals in Italien ungeheure Ländereien zugefallen, die aber zum größten Teil in die Hände der Spekulanten gerieten. Die Bodenspekulation nahm ganz ungeheuerliche Formen an. Alle zeitgenössischen Schriftsteller berichten übereinstimmend, in welch schmählicher Weise der kleine Besitzer seines Bodens beraubt wurde.
«Habsucht nimmersatt
Verrückt den Markstein jedes nahen Ackers.
Und du überschreitest überall
Des Bauern Grenzhain. Ausgestoßen wandern
Weib und Mann; im Schoße tragend
Der Väter Hausrat und die armen Kinder.»[135]
Wenn auch in manchen Teilen des Reiches der kleine Grundbesitz nie gänzlich verdrängt werden konnte, so wurden nichtsdestoweniger durch die Plantagenwirtschaft die Latifundien, soweit sie nicht brachlagen oder als Weideland verwendet wurden, von sogenannten Ackersklaven bestellt, die unter allen Sklaven am schlimmsten daran waren. Durch diese Art der Wirtschaft wurde die Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft fortgesetzt vermindert, wie dies bei jeder Sklavenarbeit der Fall ist. Große Massen freier Arbeiter verloren durch die Sklavenarbeit ihre Existenz, während die Einfuhr von Getreide aus Sizilien und Afrika zahllose kleine Bauern vollends vernichtete.
In den Städten zeigte sich das gleiche Bild. Dort schnitt die Sklavenindustrie in den Häusern der Reichen vielen kleinen Handwerkern den Lebensfaden ab und schleuderte sie in denselben Abgrund wie die Kleinbauern und Feldarbeiter. Diese wanderten zu Tausenden in die Städte und vermehrten die Reihen des verderbten Bettelproletariats, das sich jeder produktiven Beschäftigung entwöhnt hatte und dem Staate nur durch Kindererzeugung nützlich war. Diese herumlungernde, träge und gesinnungslose Masse, die sich daran gewöhnt hatte, von den Abfällen der Reichen zu leben, bildete für politische Abenteurer und Emporkömmlinge jeder Art die Claque, deren bezahlte Unterstützung ihren ehrgeizigen Plänen förderlich war. Schon unter der Republik war der Stimmenverkauf für das Proletariat der Städte eine bequeme Erwerbsquelle. Die Reichen kauften die Stimmen der ärmeren Bürger und waren so imstande, die wichtigsten Posten zu besetzen und diese ihren Kindern zu vererben, so daß gewisse Staatsämter fast stets im Besitz derselben Familien blieben. Eine Kandidatur für einen öffentlichen Posten war völlig aussichtslos, wenn der Kandidat nicht imstande war, durch Verteilung von Geschenken und Veranstaltung öffentlicher Spiele – in der Regel Gladiatorenkämpfe – seine Wähler zu beeinflussen.
Bei solchen Zuständen konnte es nicht ausbleiben, daß der Einfluß siegreicher Heerführer auf den politischen Gang der Dinge immer größer wurde, wodurch dem Cäsarismus erst der Weg geebnet wurde. In der Tat vollzog sich der Übergang von der Republik zur Monarchie in Rom ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Männer wie Cäsar, Crassus, Pompejus verschwendeten riesige Summen für die Bearbeitung der öffentlichen Meinung. Die späteren Cäsaren machten sich diese Methode zunutze, indem sie die Parole panem et circenses (Brot und Spiele) zum Eckpfeiler der inneren Politik erhoben. Um die verkommenen Proletariermassen der Städte bei guter Laune zu erhalten, mußten besonders die grausamen Gladiatorenkämpfe als Mittel dienen. Tausende und aber Tausende der kräftigsten Sklaven wurden in besonderen Schulen eigens erzogen, um sich vor den Augen einer vertierten Menge in der Arena gegenseitig abzuschlachten oder ihre Kräfte mit ausgehungerten Bestien zu messen. «Jede Scheusäligkeit», sagt Friedländer, «fand in der Arena ihre Stätte; denn es gab wohl kaum eine aus der Geschichte und Literatur bekannte Folter oder furchtbare Todesart, mit deren Aufführung das Volk im Amphitheater nicht unterhalten worden wäre.» Diese Mordspiele zogen sich oft wochenlang hin; so wird berichtet, daß Trajan einmal 10.000 Fechtersklaven in die Arena treiben ließ, wo die grauenhafte Schaustellung 123 Tage währte. Welche verheerenden Folgen der stete Anblick dieser entsetzlichen Greuel auf den Charakter des Volkes hatte, bedarf wohl keiner näheren Beschreibung.
Die fortgesetzten Kriege hatten notwendigerweise zur Folge, daß Rom mit der Zeit nicht mehr imstande war, seine wehrfähigen Männer aus den Reihen der freien Bevölkerung aufzubringen. Schon Julius Cäsar hatte damit begonnen, seinem Heere gedungene Söldner fremder Völker einzuverleiben. Die späteren Herrscher entwickelten das Söldnerwesen zu einem vollständigen System und schufen damit die eigentliche Militärmonarchie, deren Keime die Republik bereits gepflanzt hatte. Aber den fremden Söldnern, die späterhin hauptsächlich aus Kelten, Germanen und Syriern bestanden, fehlten die ideologischen Voraussetzungen, in denen die alten Römer aufgewachsen und erzogen waren. Ihnen war das Räuberhandwerk des Soldaten lediglich ein Beruf, der sich zahlte; die Idee von Rom aber kümmerte sie blutwenig, da sie ihrem Wesen fremd war. Deshalb mußten die Cäsaren stets darauf bedacht sein, ihre Prätorianerhorden zufriedenzustellen, wenn sie ihre Herrschaft nicht gefährden wollten. Die letzten Worte des Imperators Severus an seine beiden Söhne: «Haltet die Soldaten warm und fragt sonst nach niemand auf der Welt!» waren das Leitmotiv des Cäsarentums überhaupt.
Da aber keiner der Cäsaren mit seiner Herrschaft sicher war und stets vor Nebenbuhlern aus den Reihen seiner Heerführer und Günstlinge auf der Hut sein mußte, so wurde die Armee ein immer kostspieligeres Instrument, dessen Erhaltung immer schwerer wurde. So wurden die Prätorianer allmählich das entscheidende Element im Staate, und der Cäsar war oft nicht mehr als ihr Gefangener. Sie stürzten Herrscher und hoben andere auf den Thron, je nachdem ihnen von der einen oder der anderen Seite größere Beute in Aussicht gestellt wurde. Jede neue Kaiserwahl war mit einer gründlichen Ausplünderung des Staatsschatzes verbunden, der später unter Anwendung aller Gewaltmittel wieder gefüllt werden mußte. Dadurch wurden die Provinzen fortgesetzt und in immer kürzeren Abständen wie ein Schwamm ausgepreßt, was allmählich zu einer vollständigen Erschöpfung aller wirtschaftlichen Kräfte führte. Dazu kam noch, daß der römische Kapitalismus keinerlei produktive Tätigkeit entwickelte, sondern lediglich vom Raube lebte, was die Katastrophe noch beschleunigen mußte.
Je weiter der römische Cäsarismus auf diesem gefährlichen Wege vorwärtsging, desto größer wurde die Zahl der Schmarotzer, die sich am Volkskörper festgefressen hatte und sich von seinen Säften nährte. Es kam so weit, daß Kaiser ihr Privatvermögen dem Fiskus oder Wucherern verpfänden mußten, um Geld für ihre Soldaten aufzutreiben. Marc Aurelius war sogar einmal gezwungen, sein ganzes Mobiliar einschließlich der Kunstschätze seines Palastes und der kostbaren Gewänder der Kaiserin öffentlich zu versteigern, als er sich in Geldnot befand. Andere fanden es vorteilhafter, reiche Zeitgenossen aus dem Wege zu räumen, um ihr Vermögen dem Staatsschatze einzuverleiben. So ließ Nero, als er davon Kunde erhielt, daß die Hälfte des Bodens der Provinz Afrika sich in den Händen von sechs Latifundienbesitzern befinde, diese sechs kurzerhand ermorden, um sie beerben zu können.
Alle Versuche, die früher gemacht wurden, dem Übel Einhalt zu gebieten, blieben erfolglos und wurden von den Besitzenden mit blutiger Grausamkeit niedergeschlagen. So mußten die beiden Gracchen ihre Kühnheit mit dem Leben büßen; nicht besser erging es Catilina und seinen Mitverschworenen, deren eigentliche Absichten allerdings niemals geklärt worden sind. Auch den zahlreichen Sklavenaufständen, die periodisch das Reich erschütterten und von denen besonders die Erhebung des Spartakus Rom in große Gefahr brachte, war kein längerer Erfolg beschieden. Dies konnte schon deshalb nicht der Fall sein, da die Mehrzahl der Sklaven von demselben Geiste beseelt waren wie ihre Herren. Das Wort Emersons, daß der Fluch der Sklaverei darin bestehe, «daß ein Ende der Kette am Fuße des Sklaven, das andere aber am Fuße des Sklavenhalters angeschmiedet sei», fand auch hier seine Bestätigung. Die Sklavenaufstände in Rom waren Empörungen mißhandelter und verzweifelter Menschen, denen aber jedes höhere Ziel fehlte. Dort, wo den aufständischen Sklaven ein kurzer Erfolg beschieden war, wußten sie nichts Besseres zu tun, als die Rolle ihrer gewesenen Herren nachzuahmen. So sehr hatte der Geist, der von Rom ausging, die Menschen verderbt und allen freiheitlichen Regungen entfremdet. Von einem gegenseitigen Verständnis der Unterdrückten konnte schon deshalb keine Rede sein, weil selbst das Bettelproletariat der Städte die Sklaven als minderwertig ansah. So kam es, daß Sklaven den Besitzenden helfen mußten, die Bewegung der Gracchen niederzuschlagen, und Proletarier das Schicksal des Spartakus mit besiegeln halfen.
Was konnte das Ende eines Zustandes sein, wo alle geistigen Kräfte gelähmt, jedes ethische Prinzip in den Kot getreten wurde? In der Tat war die ganze Geschichte des römischen Cäsarismus nur eine lange Kette furchtbarer Greuel. Verrat, Meuchelmord, tierische Grausamkeit, wilder Sinnentaumel und krankhafte Gier beherrschten das untergehende Rom. Die Reichen ergaben sich den ausschweifendsten Genüssen, und die Besitzlosen kannten keinen anderen Wunsch, als an diesen Genüssen, wenn auch nur in bescheidener Art, teilnehmen zu können. Eine kleine Schar von Monopolisten beherrschte das Reich und organisierte die Ausbeutung der Welt nach festgelegten Grundsätzen. Am Hofe der Cäsaren jagte eine Palastrevolution die andere, ein blutiges Verbrechen löste das andere ab. Überall wachte das Auge des Spähers; niemand war seiner intimsten Handlungen mehr sicher. Ein Heer von Spionen bevölkerte das Land und säte Mißtrauen und heimlichen Verdacht in die Seelen aller.
Nie vorher hatte der Geist der Autorität solche Triumphe gefeiert. Rom schuf erst die Vorbedingung für jenen verächtlichen Zustand, den man Sklaverei aus Prinzip nennen könnte. Und während der niedrigste Sklavengeist die Massen des Volkes völlig entmannt hatte, wuchs der Größenwahn der Despoten ins Ungemessene, da sich niemand erkühnte, ihren grausamen Launen entgegenzutreten Die höchsten Würdenträger des römischen Senats warfen sich, in Ehrfurcht ersterbend, vor den Gottherrschern in den Staub und erwiesen ihnen göttliche Ehren. Ein Caligula ließ sein Pferd als Mitglied des Priesterkollegiums einsetzen; ein Heliogabal ernannte das seinige zum römischen Konsul. Die menschliche Feigheit schluckte auch dieses.
Auf diesem Wege gab es kein Halten mehr. Rom hatte in wahnwitziger Verblendung die Schätze der ganzen Welt verpraßt, und als alles erschöpft war, brach seine Macht zusammen wie ein morsches Gebäude, in dessen Gebälk schon lange der Wurm saß. Einem solchen Volke konnte die Befreiung nicht mehr aus sich selbst erstehen, da ihm jedes ernste Wollen, jede selbständige Regung abhanden gekommen war. Unter der langen Herrschaft eines bis auf die Spitze des Wahnsinns getriebenen Gewaltsystems war ihm die Knechtschaft zur Gewohnheit, die Erniedrigung zum Grundsatz geworden. Der Aufstand gegen die Idee von Rom kam in der Gestalt des Christentums. Doch das ersterbende Rom rächte sich noch in seiner Todesstunde, indem es mit seinem giftigen Hauche auch jene Bewegung verseuchte, aus welcher der versklavten Welt eine neue Hoffnung zu erstehen schien, und sie zur Kirche umformte. So entwickelte sich aus der Weltherrschaft des römischen Staates die Weltherrschaft der römischen Kirche; der Cäsarismus feierte im Papsttum seine Wiederauferstehung.
XXII. Die nationale Einheit und der Verfall der Kultur
Rom und Griechenland als Symbole. Westgotischer Feudalismus in Spanien. Die arabische Kultur. Blütezeit der spanischen Städte und Autonomie der Gemeinden. Politische Zersetzung und Höhepunkt der maurischen Kultur. Der Krieg zwischen Kreuz und Halbmond. Die spanischen Fueros und Stadtverfassungen. Die Cortes. Föderalistischer Geist Spaniens. Der Sieg des nationalen Einheitsstaates. Die Inquisition als politisches Machtinstrument. Niederlage der «Comuñeros» und «Germanias». Verfall der Kultur unter dem Despotismus. Die Periode der freien Städte in Italien. Aufschwung des geistigen Lebens. Entfaltung von Kunst und Handwerk. Die Gilden und die Zeit des Föderalismus. Die Männer der nationalen Einheit als Todfeinde der Föderation. Mazzinis Traum und Proudhons Wirklichkeitssinn. Der Absolutismus als Zerstörer der französischen Volkskultur. Literatur und Sprache in der Zwangsjacke des Despotismus. Die Reglementierung der Industrie. Die nationale Einheit und das Ende der geistigen Kultur in Deutschland. Bismarckianismus. Ausblick in die Zukunft.
Griechenland und Rom sind nur Symbole. Ihre ganze Geschichte ist eine einzige Bestätigung der großen Wahrheit, daß, je weniger in einem Volke der machtpolitische Sinn entwickelt ist, desto reicher sich die Formen seines kulturellen Lebens gestalten; und je mehr die machtpolitischen Bestrebungen überhand nehmen, desto tiefer sinkt das allgemeine Niveau der geistigen und gesellschaftlichen Kultur, desto mehr erstirbt der natürliche Schöpferdrang und jedes tiefere seelische Empfinden, mit einem Worte, jede Menschlichkeit. Das Geistige wird von einer toten Technik der Dinge verdrängt, die nur noch Berechnungen kennt und allen ethischen Grundsätzen fernsteht. Die kalte Mechanisierung der Kräfte nimmt den Platz der lebendigen Durchflutung jeder sozialen Betätigung ein. Die Organisation der gesellschaftlichen Kräfte ist nicht mehr länger ein Mittel für die höheren Zwecke der Gemeinschaft, etwas organisch Gewordenes und stets Werdendes – sie wird zum öden Selbstzweck und führt allmählich zur Erstarrung aller höheren und schöpferischen Tätigkeit. Und je mehr der Mensch seiner inneren Unfähigkeit inne wird, die nur die Folge dieser Mechanisierung ist, desto verzweifelter klammert er sich an die tote Form und sucht alles Heil in der Technik, die seine Seele frißt und seinen Geist zur Wüste macht. Rabindranath Tagore, der als Asiate der westlichen Zivilisation noch unbefangener gegenüberstand, hat den tieferen Sinn dieses Geschehens in die inhaltsreichen Worte gekleidet:
«Wenn die Organisationsmaschine anfängt, großen Umfang anzunehmen, und die Maschinenarbeiter zu Teilen der Maschine werden, dann wird der persönliche Mensch zum Phantom verflüchtet, alles, was Mensch war, wird Maschine und dreht das große Rad der Politik ohne das leiseste Gefühl von Mitleid und sittlicher Verantwortung. Es mag wohl vorkommen, daß selbst in diesem seelenlosen Getriebe die sittliche Natur des Menschen noch versucht, sich zu behaupten, aber die Seile und Rollen knarren und kreischen, die Fäden des menschlichen Herzens verstricken sich in dem Räderwerk der menschlichen Maschine, und nur mit Mühe kann der sittliche Wille ein blasses verstümmeltes Abbild dessen bringen, was er erstrebte.»[136]
Deshalb ist die national-politische Einheit, die immer Technik auf die Kosten der Kultur bedeutet, kein Förderungsmittel für die schöpferische Gestaltungskraft eines Volkes, sie wird vielmehr zum größten Hindernis jeder höheren geistigen Kultur, indem sie das Schwergewicht alles gesellschaftlichen Geschehens auf das politische Gebiet verschiebt und jede soziale Betätigung der Aufsicht der nationalen Maschine unterstellt, die jeden inneren Drang nach höheren Zielen im Menschen erstickt und alle Regungen des kulturellen Lebens in bestimmte Formen zwingt, die den Zielen des nationalen Staates angepaßt sind. Die Kunst, Menschen zu regieren, ist nie die Kunst gewesen, Menschen zu erziehen, da ihr nur der geistige Drill zu Gebote steht, der darauf erpicht ist, alles Leben im Staate auf eine bestimmte Norm zu bringen. Erziehung heißt, natürliche Anlagen und Fähigkeiten im Menschen freizulegen und zur selbständigen Entwicklung zu bringen. Die Bildungsdressur des nationalen Staates aber unterbindet diese natürliche Entfaltung des inneren Menschen, indem sie ihm von außen her Dinge zuführt, die ihm ursprünglich fremd sind und doch zum Leitmotiv des Lebens werden sollen. Der nationale Wille, der nur eine vorsichtige Umschreibung des Willens zur Macht ist, wirkte sich noch stets als lähmende Kraft alles kulturellen Geschehens aus; wo er überwiegt, dort verkümmert die Kultur, versanden die Quellen des schöpferischen Dranges, da man ihnen die Nahrung entzieht, um damit die alles verschlingende Maschine des nationalen Staates zu speisen.
Griechenland brachte eine große Kultur hervor und bereicherte die Menschheit für Jahrtausende, nicht obwohl, sondern weil es politisch und national zersplittert war. Weil ihm die politische Einheit fremd blieb, deshalb konnten sich die einzelnen Glieder in voller Freiheit entfalten und ihre besondere Eigenart zum Ausdruck bringen. An der Zersplitterung der politischen Machtbestrebungen ist die griechische Kultur groß geworden. Weil der kulturelle Schöpferdrang, der in den hellenischen Gemeinwesen so mächtig emporblühte, für lange Zeit den Machtwillen kleiner Minderheiten bei weitem überwog und daher der persönlichen Freiheit und dem selbständigen Denken einen viel breiteren Spielraum gestattete, deshalb und nur deshalb fand die reiche Mannigfaltigkeit des kulturellen Wollens ein unbegrenztes Betätigungsfeld, ohne daß ihm an den starren Schranken eines nationalen Einheitsstaates das Rückgrat gebrochen wurde.
Rom kannte diese innere Zerklüftung nicht; der Gedanke der politischen Autonomie blieb seinen führenden Männern völlig fremd, und die Idee der politischen Einheit zieht sich wie ein roter Faden durch alle Epochen seiner langen Geschichte. Rom hat auf dem Gebiete der politischen Zentralisation das Höchste geleistet, was ein Staat immer leisten kann; aber gerade deshalb haben die Römer kulturell nichts Wesentliches zustande gebracht und blieben auf allen Gebieten einer höheren geistigen Kultur ein im höchsten Grade unschöpferisches Volk, dem es sogar versagt war, in den Geist fremder Kulturgebilde tiefer einzudringen. Sie verausgabten alle gesellschaftlichen Kräfte, die ihnen zur Verfügung standen, restlos für politische Machtbestrebungen, die sich mit jedem Erfolge steigerten und zuletzt einen förmlichen Machttaumel auslösten, der nichts Menschliches mehr achtete und ihnen weder Zeit noch Verständnis für andere Bestrebungen ließ. Die natürliche Kulturbegabung der Römer erlitt Schiffbruch am römischen Staate und seiner auf die Erringung und Erhaltung der Weltherrschaft abzielenden Tätigkeit. Die politische Technik verzehrte alle ursprünglichen kulturellen Ansätze und opferte einer gefräßigen Maschine alle sozialen Kräfte, bis zuletzt nichts mehr zu opfern übrigblieb und der seelenlose Mechanismus unter seinem eigenen Gewichte zusammenbrechen mußte. Es ist dies das unvermeidliche Ende jeder Eroberungspolitik, das Jean Paul so treffend zeichnete:
«Der Eroberer. O wie gleichst du so oft deinem Rom! Voll eroberter Weltschätze, voll Götterbilder und Großen, bist du mit Ode und Tod umgeben. Nichts grünt um Rom als der giftige Sumpf, alles ist leer und wild, und kein Dörfchen schaut nach der Peterskirche. Du allein mit deiner Sünde schwillst unter dem Sturm, wie unter Gewittern Leichen sich aufblähen.»
Doch diese Erscheinungen begrenzen sich nicht bloß auf Griechenland und Rom; sie kehren wieder in allen Epochen der menschlichen Geschichte und führten bisher überall zu denselben Ergebnissen. Es ist dies ein Zeichen, daß hier eine gewisse Zwangsläufigkeit des Geschehens vorliegt, die sich aus der Einschätzung, die ein Volk der kulturellen Betätigung oder der Verfolgung machtpolitischer Aufgaben zuspricht, von selbst ergibt.
Werfen wir einen Blick auf die Geschichte Spaniens. Als die Araber von Afrika aus in die Iberische Halbinsel eindrangen, befand sich das Reich der Westgoten bereits in einem Zustande innerer Zersetzung. Die Goten hatten nach der Unterwerfung des Landes den besiegten Einwohnern zwei Drittel ihres Grund und Bodens entrissen und diese als Stiftung zur toten Hand dem Adel und der Kirche vermacht. Dadurch entwickelte sich, besonders im Süden des Landes, eine Herrschaft großer Grundbesitzer und mit dieser ein rohes Feudalsystem, unter dem die Ertragsfähigkeit des Bodens sich immer ungünstiger gestaltete. Das Land, das einst die Kornkammer Roms gewesen war, verödete mehr und mehr und verwandelte sich in wenigen Jahrhunderten in eine Wüste. Durch die grausamen Judenverfolgungen, besonders unter Sisebut, der völlig unter dem Einfluß der Kirche stand, erhielt das Wirtschaftsleben einen schweren Schlag, denn Handel und Industrie lagen zum großen Teil in den Händen der jüdischen Gemeinden. Nachdem Sisebut ein Gesetz erlassen hatte, das den Juden nur die Wahl ließ, zum Christentum überzutreten oder skalpiert und als Sklaven verkauft zu werden, wanderten 100.000 Juden nach Gallien aus und weitere 100.000 nach Afrika, während 90.000 sich taufen ließen. Dazu kamen noch die ewigen Thronstreitigkeiten, bei denen Gift und Dolch, Verrat und Meuchelmord keine geringe Rolle spielten. Nur so läßt es sich erklären, daß die Araber das ganze Land in so kurzer Zeit und ohne nennenswerten Widerstand erobern konnten.
Nachdem der letzte Gotenkönig von dem arabischen Feldherrn Tarik entscheidend geschlagen worden war, strömten die Araber und ihre Bundesgenossen in hellen Scharen ins Land, und es entwickelten sich die ersten Ansätze jener glänzenden Kulturepoche, die Spanien jahrhundertelang zum ersten Kulturland Europas machte. Man bezeichnet diese Periode in der Regel als die Zeit der arabischen Kultur in Spanien, doch ist diese Bezeichnung wohl kaum richtig, denn die eigentlichen Araber bildeten nur einen kleinen Bruchteil der eindringenden Moslems. Viel stärker vertreten waren Berber und Syrier, zu denen noch die zahlreichen Juden kamen, die an dem Aufbau jener großen Kultur einen hervorragenden Anteil nahmen. Es war vornehmlich die arabische Sprache, welche diese verschiedenen Rassen und Völkerelemente vereinte.
Das durch den gotischen Feudalismus völlig verwüstete Land verwandelte sich in kurzer Zeit in einen blühenden Garten. Durch das Anlegen zahlreicher Kanäle und ein System künstlicher Bewässerung entwickelte sich die Bodenkultur bis zu einem Grade, welchen Spanien vorher nie gesehen und später nie wieder erreicht hat. Auf der fruchtbaren Erde gediehen Palmen, Zuckerrohr, Indigo, Reis und viele andere Nutzpflanzen, welche die Araber eingeführt hatten. Zahllose Städte und Dörfer bedeckten das herrliche Land. Nach den Beschreibungen der arabischen Chronisten war Spanien damals das städtereichste Land in Europa, das einzige, wo der Reisende außer zahlreichen Dörfern zwei oder drei Städte an einem Tage auf seinem Wege finden konnte. An beiden Ufern des Guadalquivir zählte man in der Blütezeit der maurischen Kultur sechs Großstädte, dreihundert Städte und zwölfhundert Ortschaften.
In den erzreichen Gebirgen nahm der Bergbau einen Umfang an, wie er selbst heute dort kaum wieder erreicht wurde. In den zahlreichen Städten aber blühten Handwerk und Industrie mächtig empor und verbreiteten Wohlstand und höhere Kulturbedürfnisse im ganzen Lande. Die Webereien und Spinnereien beschäftigten allein über zwei Millionen Menschen. Allein in und um Cordova nährten sich an 130.000 Personen von der Seidenindustrie; dasselbe war in Sevilla der Fall. Die feinsten Tücher, Atlas, Damast und kostbare Teppiche wurden in zahllosen Werkstätten hergestellt und waren besonders im Auslande hochgeschätzt. Arabische Filigran- und Emailarbeiten waren weltberühmt. Spanien lieferte damals die kostbarsten Waffenstücke, die prachtvollsten Lederwaren, die schönsten Töpfereizeugnisse, deren goldfarbige Glasur bis heute nicht wieder hergestellt werden konnte. Durch die Araber wurde das Papier in Europa eingeführt, das in Spanien erzeugt wurde und das kostspielige Pergament verdrängte. Kurz, es gab kaum einen Zweig der Industrie, der handwerklich nicht das Vollkommenste zustande brachte.
Hand in Hand mit dieser glanzvollen Entwicklung des Handwerks und der Industrie entfalteten sich die Kunst und Wissenschaft in einem Maße, das noch heute unsere ungeteilte Bewunderung hervorruft. Während im 10. und 11. Jahrhundert ganz Europa kaum eine öffentliche Bibliothek aufzuweisen hatte und nur über zwei Universitäten verfügte, welche diesen Namen wirklich verdienten, gab es in Spanien um dieselbe Zeit über siebzig öffentliche Büchereien, von denen die zu Cordova allein 600.000 Manuskripte enthielt. Dazu hatte das Land siebzehn berühmte Universitäten, unter denen Cordova, Sevilla, Granada, Malaga, Jaen, Valencia, Almeria und Toledo besonders hervorragten. Viele Studenten kamen aus fernen Ländern, um an den arabischen Hochschulen zu studieren, und trugen die empfangenen Kenntnisse von dort in die Heimat zurück, was nicht wenig zu dem späteren Erwachen der Wissenschaft in Europa beigetragen hat. Astronomie, Physik, Chemie, Mathematik, Geometrie, Sprachwissenschaft, Geographie erreichten in Spanien die höchste Stufe, die man damals überhaupt kannte. Einen besonderen Aufschwung nahm die Medizin, die in den christlichen Ländern schon deshalb nicht hochkommen konnte, da die Kirche das Sezieren der Leichen mit dem Tode bedrohte. – Künstler und Gelehrte taten sich in besonderen Verbänden zusammen, um ihre Studien zu fördern. Es gab regelmäßige Kongresse in allen Zweigen der Wissenschaft, wo die letzten Errungenschaften der Forschung behandelt und begutachtet wurden, was natürlich in sehr hohem Maße zur Verbreitung des wissenschaftlichen Denkens beitragen mußte.
Ganz Großes leisteten die Araber auf den Gebieten der Musik und der Dichtkunst, deren graziöse Formen auch die Poesie des christlichen Spaniens stark beeinflußt haben. Was die Araber in der Baukunst geschaffen haben, grenzt oft ans Märchenhafte. Leider sind die meisten ihrer besten Werke der Barbarei der Christen zum Opfer gefallen; sogar dort, wo der wilde Fanatismus der Kreuzträger nicht alles vom Boden getilgt hat, hat er sich wenigstens durch rohe Verstümmelung der herrlichsten Kunstwerke Genüge getan. Immerhin geben uns Bauwerke wie der Alcazar von Sevilla, die große Moschee von Cordova und vor allem die Alhambra, in welchen der maurische Stil seine höchste Vollendung erreichte, auch heute noch eine Vorstellung jener seltsamen Zeit. Bei der Moschee von Cordova, die man nach der Vertreibung der Mauren in eine christliche Kirche verwandelte, wurde der gewaltige Eindruck des Inneren mit seinen neunzehn bronzenen Toren und 4.700 Lampen durch einen barbarischen Umbau zum großen Teil zerstört, so daß Karl V. der damaligen Kirchenverwaltung den Vorwurf machen durfte: «Ihr habt hier gebaut, was man anderswo ebensogut hätte bauen können; aber ihr habt zerstört, was einzig in der Welt gewesen ist.»
Was dem maurischen Stil seinen eigenartigen Charakter gab, war die Überfülle jener seltsamen Ornamentik der Wände und Innenräume, die in den Arabesken zum Ausdruck kommt. Da der Koran den Bekennern des Islam die Darstellung von Menschen und Tieren im Bilde versagte, so verfiel die Phantasie der Mauren auf jenes geheimnisvolle Spiel der Linien, das in seiner zarten und unerschöpflichen Gestaltungskraft den Geist so tief anregt, so daß man mit Recht von einem Märchen der Linie sprechen durfte. – Der Kunst des Architekten bot sich schon deshalb ein breiterer Spielraum, als die Städte damals viel bevölkerter und räumlich ausgedehnter waren. So zählte Toledo in der Blütezeit der maurischen Kultur 200.000 Einwohner, Sevilla und Granada je 400.000. Von Cordova berichten die arabischen Chronisten, daß es mehr als 200.000 Häuser umfaßte, darunter 600 Moscheen, 900 öffentliche Bäder, eine Universität und zahlreiche öffentliche Bibliotheken.
Auch diese hochentwickelte Kultur entfaltete sich in einer Zeit politischer Dezentralisation, welche durch die monarchistische Staatsform nicht beeinflußt wurde. Sogar als Abderrachman III. sich zum Kalifen aufwarf, war er gezwungen, dem Persönlichkeitsgefühl und dem Unabhängigkeitssinn der Bevölkerung die weitestgehenden Zugeständnisse zu machen, wußte er doch zu gut, daß eine straffe Zentralisation der staatlichen Kräfte sofort einen Konflikt mit den alten Stammesverfassungen der Araber und Berber heraufbeschwören mußte, der das ganze Reich erschüttern konnte. Das Land war in sechs Provinzen eingeteilt, die von Statthaltern verwaltet wurden. Die Großstädte hatten ihre Stadtverwalter, die kleineren Orte ihre Kadis, die Dörfer ihre Unterrichter oder Hakums.
«Diese Beamten waren jedoch», wie Professor Diercks in seiner spanischen Geschichte ausführt, «gewissermaßen nur die Vermittler zwischen der Reichsregierung und den Gemeinden. Die Verwaltung der letzteren war völlig selbständig; besonders da, wo ganze Stämme oder Familiengruppen zusammenwohnten, herrschte unbeschränkte Autonomie. Araber wie Berber lebten nach ihren alten Gesetzen und Verfassungen und duldeten nicht die Einmischung der Behörden in ihre Gemeindeangelegenheiten. Gleiche Freiheit genossen die Christen, welche aus ihrer Mitte ihre Grafen wählten. Letztere regelten mit den Bischöfen die Gemeindeverwaltung und waren der Regierung gegenüber für die Erfüllung der Staatsbürgerpflichten ihrer Glaubensgenossen, für die richtige Erhebung der Steuern verantwortlich. Die Bischöfe wurden von den Gemeinden frei gewählt, bedurften aber der Bestätigung durch den Kalifen, auf den das bezügliche Hoheitsrecht der gotischen Könige übergegangen war. Ähnlich waren die bürgerlichen Verhältnisse der Juden geordnet, deren Oberrabbiner meist als Gemeindeleiter figurierten.»[137]
In der Tat gelang es den Herrschern der Omajaden-Dynastie während ihres dreihundertjährigen Bestehens nie, die Zügel straffer zu fassen und die Regierung des Landes einheitlicher zu gestalten. Jeder Versuch in dieser Richtung führte zu endlosen Empörungen, Steuerverweigerung, zeitweiligem Abfall einzelner Provinzen und sogar zur gewaltsamen Beseitigung des Kalifen. So war das Reich ein ziemlich loses Gebilde, das sich sofort in seine einzelnen Bestandteile auflöste, als Hischam III. 1031 seine Kalifenwürde niederlegte und die Stätte seiner früheren Wirksamkeit mit den resignierten Worten verließ. «Dieses Geschlecht ist weder zum Herrschen noch zum Gehorchen gemacht.» Cordova wurde dann Republik, und das gewesene Reich zerfiel in einige Dutzend Taifas, kleine Staatswesen, die keiner zentralen Regierungsgewalt mehr gehorchten. Gerade damals aber erreichte die maurische Kultur ihre höchste Blüte. Die kleinen Gemeinwesen wetteiferten, sich durch Pflege des Geisteslebens, der Künste und Wissenschaften gegenseitig zu übertreffen, und der Verfall der staatlichen Autorität tat dieser kulturellen Entwicklung nicht den geringsten Abbruch – im Gegenteil, er förderte sie nur, indem er sie vor allen lästigen politischen Schranken bewahrte.
Auch im christlichen Spanien läßt sich sehr deutlich beobachten, wie die Flut der kulturellen Entwicklung steigt und fällt, je nachdem die staatliche Macht an bestimmte Grenzen ihrer Wirksamkeit gebunden ist oder aber einen Umfang annimmt, der sie jeder inneren Hemmung entbindet und ihr alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens ausliefert. – Als die Westgoten von den Arabern geschlagen waren, flüchtete sich ein Teil ihres zerstreuten Heeres in die Berge Asturiens, wo sie ein kleines kümmerliches Staatswesen bildeten und von dort aus fortgesetzte Einfälle in das von den Arabern besetzte Gebiet unternahmen. So entwickelte sich dieser endlose Krieg zwischen Kreuz und Halbmond, der über siebenhundert Jahre währte und aus dem sich jenes enge Zusammenwirken der Kirche mit den nationalen Bestrebungen des Spaniertums herausbildete, das dem späteren spanischen Einheitsstaat sein charakteristisches Gepräge und dem spanischen Katholizismus die eigenartige Gestaltung gab, die er in keinem anderen Lande angenommen hat.
Als dann im Laufe dieser blutigen und erbitterten Kämpfe die Araber mehr und mehr an Boden verloren, entstanden im Anfang des 12. Jahrhunderts im Norden und Westen der Halbinsel noch eine Reihe anderer christlicher Staatswesen, wie Aragonien, Kastilien, Navarra und Portugal, die sich infolge ewiger Thronstreitigkeiten fortgesetzt in den Haaren lagen und aus den inneren Wirren nicht herauskamen, bis zu Ende des 15. Jahrhunderts Ferdinand der Katholische von Aragonien und Isabella von Kastilien über die verschiedenen Staatswesen regierten. In den kleineren Staaten bestand zuerst die Wahlmonarchie, die erst später von der erblichen Thronfolge abgelöst wurde. Aber sogar dann, als durch die Einnahme von Granada das letzte Bollwerk des Islams in Spanien gefallen war und durch die Heirat von Ferdinand und Isabella die erste Grundlage für den nationalen Einheitsstaat gelegt wurde, verging noch eine geraume Zeit, bis die Monarchie alle gesellschaftlichen Einrichtungen des Landes ihrer Herrschaft unterwerfen konnte. «In der Wirtschaft, im Verwaltungswesen und in politischer Hinsicht gab es noch keine Nation», wie Garrido ausführte. «Die Einheit verkörperte sich nur in der Person des Königs, der über mehrere Königreiche regierte, von denen jedes seine eigene Gesetzgebung, Verfassung, Geld, ja sein eigenes System von Maß und Gewicht hatte…» – Bevor der nationale Einheitsstaat seine volle Macht entfalten konnte, mußte er vor allem mit den alten Rechten und Gemeinden aufräumen, deren Freiheiten in den sogenannten Fueros oder Stadtverfassungen verankert waren; das war keine leichte Aufgabe.
Als die Araber ins Land kamen, flüchtete nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, vornehmlich die Adligen, in die rauhe Gebirgswelt des Nordens. Die große Mehrheit der iberischen und romanischen Einwohnerschaft, aber auch ein großer Teil der ärmeren gotischen Bevölkerung blieb ruhig auf ihren alten Wohnsitzen, besonders als sie bemerkten, daß sie von den Siegern mit Nachsicht und Schonung behandelt wurden. Viele gingen sogar zum Islam über. Alle jedoch, Moslime und Christen, erfreuten sich der Vorteile der freien Gemeindeordnung der Araber, Berber und Syrier, die ihrem Unabhängigkeitsgefühl einen weiten Spielraum gewährte. Wenn nun die Spanier im Verlauf dieser endlosen Kämpfe den Arabern die eine oder die andere Stadt oder ein neues Gebiet entrissen hatten, so waren sie gezwungen, die alten Rechte der Gemeinden zu achten und unberührt zu lassen. Dort aber, wo der Eroberung lange Kämpfe mit der Bevölkerung vorausgegangen waren, die es mit sich brachten, daß die Einwohner flüchten mußten oder von den Siegern niedergemacht wurden, sahen diese sich genötigt, den neuen Siedlern ein Fuero auszustellen, der ihnen weitgehende lokale Rechte und Freiheiten einräumte. Es war dies der einzige Weg, das wiedererrungene Gebiet wirksam vor Angriffen zu schützen und den Siegern zu erhalten. Die spanische Literatur kennt eine ganze Anzahl bedeutsamer Werke über die Geschichte dieser städtischen und ländlichen Gemeinwesen und ihre Fueros, aus denen hervorgeht, daß die Stadtverwaltung in der Volksversammlung wurzelte, zu der die Einwohner jeden Sonntag durch Glockenzeichen eingeladen wurden, um über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu beraten und Beschlüsse zu fassen.[138]
Der Geist, der in diesen Gemeinwesen herrschte, war durchaus demokratisch und wachte eifersüchtig über die lokalen Rechte der Gemeinde, bereit, diese jederzeit mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu schirmen und gegen Übergriffe des Adels und der Krone sicherzustellen. In diesen Kämpfen spielten die Korporationen der städtischen Handwerker eine wichtige Rolle; diese waren überhaupt ein sehr nutzbares Element in der reichen und wechselvollen Geschichte der spanischen Gemeinden, in denen sich die Sache des Volkes verkörperte. So bemerkt Zancada:
«Unter den verschiedenen Ursachen der kommunalen Erhebung gibt es ein gemeinsames Element, das die Entwicklung jener Volksgebilde stark begünstigte, Dieses Element, das über große Tatkraft verfügte, war die berufsmäßige Vereinigung der werktätigen Bevölkerung, die als Gegengewicht gegen die Tyrannei der Feudalbarone entstanden war, und unter deren Schutz der Handwerker seinen Rechten Achtung zu verschaffen wußte; diese Vereinigung war überhaupt ein hervorragendes Mittel, die soziale und wirtschaftliche Lage der Berufstätigen besser zu gestalten.»[139]
Wie in anderen Ländern zu jener Zeit, so traten auch in Spanien die Gemeinden zu größeren und kleineren Föderationen zusammen, um ihre alten Rechte mit größerem Nachdruck verteidigen zu können. Aus diesen Bündnissen und den städtischen Fueros entwickelten sich in den einzelnen christlichen Staaten die Cortes, die ersten Ansätze der Volksvertretung, die in Spanien bereits ein volles Jahrhundert früher Gestalt angenommen hatte als in England. In der Tat ist die Erinnerung an die freien Gemeinden, die municipios libres, in Spanien nie völlig erloschen und trat fast in allen Aufständen, die das Land seit Jahrhunderten periodisch erschütterten, immer wieder in den Vordergrund. Auch die sogenannte kantonalistische Revolution von 1873 war von diesem Geiste getragen. Zur Zeit gibt es in ganz Europa kein anderes Land, in welchem der Geist des Föderalismus so tief im Volke lebt wie gerade in Spanien. Das ist auch die Ursache, weshalb die sozialen Bewegungen in diesem Lande bis zum heutigen Tage von einem freiheitlichen Geiste getragen sind, wie man ihn in diesem Maße in keinem anderen Lande mehr findet.
In den christlichen Staaten im Norden der Iberischen Halbinsel dauerte es ziemlich lange, bis sich überhaupt eine gewisse Kultur bemerkbar machte. Vierhundert Jahre lang blieb bei den Resten der westgotischen Bevölkerung das gesellschaftliche Leben in sehr primitiven Formen stecken, so daß bei ihnen von einer höheren selbständigen Kultur keine Rede sein konnte. Wenn Diercks in seiner Geschichte Spaniens bemerkt: «Die Kultur Nordspaniens blieb denn auch völlig verschieden von derjenigen des südlichen Teiles der Halbinsel. Sehen wir hier alle Zweige der materiellen und geistigen Kultur zur Blüte gelangen, das Staatswesen dagegen auf einer verhältnismäßig sehr niedrigen Stufe stehenbleiben und sich wenig verändern, so brachten die Verhältnisse, welche sich im Norden ausbildeten, gerade die Entwicklung des Staates und die sorgfältige Regelung der Rechtsverhältnisse mit sich», so konstatiert er damit eine Tatsache von größter Wichtigkeit, deren Bedeutung ihm aber augenscheinlich gar nicht zum Bewußtsein kam. Gerade weil im arabischen Spanien die staatliche Macht sich nie richtig konzentrieren konnte, hat sich die Kultur dort ungestört entfalten können, während sie im Norden lange Zeit nicht zur Geltung gelangte, weil dort die machtpolitischen Bestrebungen alle anderen Interessen in den Hintergrund gedrängt hatten. Erst nach der Einnahme von Zaragoza und Toledo trat auch dort eine gewisse Änderung ein, bei welcher der maurische Einfluß von entscheidender Bedeutung war.
Nur Katalonien und vor allem Barcelona bilden eine Ausnahme, denn sie erreichten lange vor allen christlichen Staaten in Spanien einen hohen Grad gesellschaftlicher und geistiger Kultur. Schuld daran waren die engen Beziehungen mit Südfrankreich, das vor dem Kreuzzug gegen die ketzerischen Albigenser zu den geistig entwickeltsten und kulturell höchststehenden Teilen Europas gehörte. Auch fühlten die Katalonier sich an das Verbot des Papstes nicht gebunden und führten mit den arabischen Staaten im Süden des Landes einen schwungvollen Handel, der sie natürlich in nähere Berührung mit der maurischen Kultur bringen mußte. So entwickelte sich in Katalonien ein freierer Geist und eine höhere Stufe des kulturellen Lebens als in allen anderen christlichen Staaten der Halbinsel. Dieser Unterschied, den der königliche Despotismus den Kataloniern durch die gewaltsame Unterdrückung ihrer alten Rechte und Freiheiten um so fühlbarer zum Bewußtsein brachte, verwandelte sie in geschworene Feinde Kastiliens und schuf jenen klaffenden Gegensatz zwischen Katalonien und dem übrigen Spanien, der selbst heute noch nicht überwunden ist.
Solange die königliche Macht, die sich nach der Heirat Ferdinands von Aragonien mit Isabella von Kastilien immer fester verdichtete, noch gezwungen war, die alten Rechte der Gemeinden und Provinzen zu respektieren, blühte in den Städten eine reiche Kultur, die den Spaniern zunächst durch die Araber vermittelt wurde und sie allmählich zu selbständigem Schaffen anregte. Im Anfang des 16. Jahrhunderts standen noch alle Industrien in voller Blüte. Die Spanier hatten, wie Garrido ausführt, von den Arabern die Wolle krempeln und färben gelernt, und die Gewebe von Leon, Segovia, Burgos und Estremadura waren die besten der Welt. In den Provinzen Cordova, Granada, Murcia, Sevilla, Toledo und Valencia blühte um dieselbe Zeit die Seidenindustrie und ernährte den größten Teil der dortigen Bevölkerung. Das Leben in den Städten glich der Emsigkeit eines Bienenstockes. Und neben dem Handwerk gelangten die Künste, besonders die Architektur, zur prächtigen Entfaltung; die Kathedralen von Burgos, Leon, Toledo und Barcelona legen rühmliches Zeugnis dafür ab.
Mit der Vereinigung des Reiches waren die inneren Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten, besonders Kastilien und den übrigen Teilen des Landes, natürlich noch nicht überwunden. Deshalb konnte die königliche Macht auch nicht sofort zum Schlage gegen die Gemeinden ausholen und war des öfteren gezwungen, sich den Beschlüssen der Cortes zu unterwerfen, die ihr allein das Geld bewilligen konnten, das sie zu ihren Unternehmungen benötigte. Doch bereitete der mächtige Kardinal Ximenes de Cisneros, der Beichtvater der Königin Isabella, den Feldzug gegen die Sonderrechte der Gemeinden bereits vor. Eines der wichtigsten Werkzeuge in diesem Kampfe für den Triumph des königlichen Absolutismus war die Inquisition, die man häufig nur als Schöpfung und Instrument der Kirche bezeichnet hat. Mit Unrecht; denn die Inquisition war nur eine besondere Abteilung in dem Regierungsapparat des Königtums, welche diesem dazu dienen mußte, die Macht des Absolutismus zu stärken und zur vollen Entfaltung zu bringen. Da in Spanien die Bestrebungen für die Errichtung des nationalen Einheitsstaates mit der Einheit des religiösen Glaubens auf das innigste verwachsen waren, so wirkten Kirche und Monarchie zusammen, doch war die Kirche in viel höherem Maße ein Werkzeug in der Hand des königlichen Despotismus, dessen Pläne sie ausführen half und dem sie durch ihren wilden Glaubenseifer jene besondere Note gab, die der Absolutismus in keinem anderen Lande kannte. Tatsache ist, daß die Inquisition erst durch das spanische Königtum die furchtbare Bedeutung erlangte, die ihren Namen mit dem Fluche aller späteren Geschlechter beladen hat. In seinem Buche über das heutige Spanien bringt Garrido eine Statistik des Abbe Montgaillard, nach welcher von 1481 bis 1781 in Spanien 31.920 Menschen lebendig verbrannt wurden; 16.759 wurden im Bilde verbrannt. Die Summe der Schlachtopfer, deren Güter vom Staate eingezogen wurden, beträgt 341.029. Diese Berechnung ist sehr mäßig, wie Garrido hinzufügt.
Ferdinand der Katholische hatte bereits versucht, Beschränkungen des alten Gemeinderechts in verschiedenen Teilen des Landes zu erzwingen und erzielte dabei auch manche Erfolge, obwohl er noch sehr vorsichtig vorgehen und seine eigentlichen Absichten hinter allerhand Vorwänden verschleiern mußte. Unter Karl I. (dem deutschen Kaiser Karl V.) setzte die Krone mit verdoppeltem Eifer ihre Versuche in dieser Richtung fort, was 1521 zu dem großen Aufstand der kastilianischen Städte führte. Die Rebellen erzielten zunächst auch kleinere Erfolge, doch bald darauf wurde das Heer der Comuñeros bei Villalar vernichtend geschlagen und Juan de Padilla, der Hauptführer des Aufstandes, mit einigen Mitverschworenen hingerichtet. Fast um dieselbe Zeit wurde auch der Aufstand der sogenannten Germanias, der Bruderschaften und Handwerkergilden in der Provinz Valencia, nach blutigem Kampfe niedergeworfen. Durch diese Siege der Krone wurde den alten Munizipalverfassungen, die in den christlichen Staaten Spaniens seit Anfang des 11. Jahrhunderts in Kraft waren, ein blutiges Ende bereitet. Als dann unter Philipp II. auch noch die Erhebung der Aragonesen im Blute der Rebellen von Zaragoza erstickt und der Großrichter Lanuza auf Befehl des verfassungsbrüchigen Despoten enthauptet wurde, saß der Absolutismus fest im Sattel und konnte durch spätere Aufstände in anderen Landesteilen nicht mehr ernsthaft erschüttert werden.
Damit war der nationale Einheitsstaat unter Führung der absoluten Monarchie ins Leben getreten. Spanien wurde die erste Großmacht der Welt, und seine machtpolitischen Bestrebungen beeinflußten die europäische Politik in hohem Maße. Doch mit dem Triumph des spanischen Einheitsstaates und der brutalen Unterdrückung aller lokalen Rechte und Freiheiten versiegten auch die Quellen aller materiellen und geistigen Kultur, und das Land verfiel in einen Zustand trostloser Barbarei. Sogar die unerschöpflichen Gold- und Silberströme, die sich aus den jungen spanischen Kolonien Amerikas in das Mutterland ergossen, konnten den kulturellen Verfall nicht aufhalten; sie beschleunigten ihn nur.
Durch die grausame Vertreibung der Mauren und Juden hatte Spanien seine besten Handwerker und Ackerbauer verloren; die kunstvollen Bewässerungsanlagen gerieten in Verfall, und die fruchtbarsten Gegenden verwandelten sich in Einöden. Spanien, das noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Getreide nach anderen Ländern ausführte, war schon 1610 gezwungen, solches vom Auslande einzuführen, obwohl die Zahl der Bevölkerung in stetem Abnehmen begriffen war. Nach der Einnahme von Granada lebten im Lande fast 12 Millionen Menschen. Unter Philipp II. war die Einwohnerzahl auf ungefähr acht Millionen zurückgegangen. Eine Volkszählung, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorgenommen wurde, ergab nur noch 6.843.672 Einwohner. Konnte Spanien früher nicht nur seine Kolonien mit allen nötigen industriellen Produkten versorgen und daneben noch beträchtliche Mengen von Seide, Tüchern und anderen Erzeugnissen nach dem Auslande ausführen, so kleideten sich zu Ende des 17. Jahrhunderts drei Viertel seiner Bevölkerung in ausländische Stoffe. Die Industrie war völlig in Verfall geraten, und in Kastilien und anderen Gegenden sah sich die Regierung genötigt, das Land an Ausländer zu verpachten. Vor allem aber war dem Menschen unter den fortgesetzten Bedrückungen jede Liebe zur Arbeit geschwunden. Wer irgendwie konnte, wurde Mönch oder Soldat, und die geistige Finsternis wuchs ins Ungemessene. Die Arbeit war so verachtet, daß die Akademie von Madrid noch 1781 eine Preisaufgabe schreiben ließ, die den Beweis erbringen sollte, daß ein nützliches Handwerk den Menschen keineswegs erniedrige und seiner persönlichen Ehre keinen Abbruch tue.
«Das Elend hatte den Stolz vermindert und die Freiheit getötet», wie Garrido sagte. «Der Aberglaube erzeugte die schrecklichste aller Geißeln, daß die Güter zum größten Teil in die tote Hand fielen. Die Sucht, Majorate zu gründen und seine Güter der Kirche zu schenken, war so weit getrieben worden, daß beim Anfang der Revolution dieses Jahrhunderts [des 19.] mehr als drei Viertel des Grund und Bodens Servituten unterworfen waren.»
Man könnte hier einwenden, daß die spanische Literatur und Malerei gerade in der Zeit des Absolutismus ihren Höhepunkt erreichten. Doch man täusche sich nicht: was hier geschaffen wurde, war bloß der geistige Niederschlag einer vergangenen Zeit, der nur wenige hervorragende Geister befruchtete, deren Schaffen bloß noch bei einer verschwindend kleinen Minderheit Eingang fand, im Volke selbst aber keinen Widerhall mehr auslösen konnte. Deshalb bemerkt auch Diercks sehr richtig:
«Wenn neben dem staatlichen Verfall auf mehreren Gebieten der Kultur bedeutende Leistungen erzielt wurden, Poesie und Malerei kräftig erblühten, so darf dieser Umstand uns nicht täuschen über die wahren Ursachen des allgemeinen Verfalls, und vermochte ihn nicht aufzuhalten. Ähnliche Gegensätze bietet das Kulturleben anderer Länder gleichfalls. Die noch vorhandene Lebenskraft des Volkes kam auf den Gebieten zur Geltung, auf welchen unter dem Druck des geistlichen und weltlichen Despotismus allein noch ihre Betätigung möglich war.»[140]
Die hohe Entwicklung der russischen Literatur unter dem Zarismus ist ein vortreffliches Beispiel für die Richtigkeit dieser Auffassung. Übrigens währte dieser glänzende Aufschwung der spanischen Literatur nicht lange, und der rasche Verfall machte sich später um so stärker bemerkbar.
Nie stand die Kultur Italiens auf einer höheren Stufe als in der Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, als die ganze Halbinsel in viele Hunderte kleiner Gemeinwesen zersplittert war und von einer national-politischen Einheit überhaupt keine Rede sein konnte. In jener Epoche waren die freien Städte wirkliche Oasen einer höheren geistigen und gesellschaftlichen Kultur, deren erstaunliche Vielseitigkeit und schöpferische Gestaltungskraft seitdem nie wieder erreicht worden sind. Sieht man von den Stadtrepubliken des alten Hellas ab, so gibt es überhaupt keine andere Periode in der Geschichte der europäischen Völker, die in einer so würzen Zeit eine solche Fülle unsterblicher Kulturwerke hervorgebracht hat. Schon der bekannte englische Gelehrte Francis Galton hat in seinen Werken daraufhingewiesen, daß allein Florenz in jener seltenen Epoche mehr bedeutende Geister auf allen Gebieten des kulturellen Lebens hervorgebracht hat als alle monarchistischen Staaten des damaligen Europa zusammengenommen.
In der Tat glichen die Städte Italiens zu jener Zeit fruchtbaren Keimstätten der geistigen und kulturellen Lebensbetätigung und eröffneten der europäischen Menschheit ganz neue Perspektiven einer gesellschaftlichen Entwicklung, die später durch das Aufkommen des Nationalstaates, den wachsenden Einfluß des Handelskapitals und das Überhandnehmen machtpolitischer Bestrebungen in ganz andere Bahnen gedrängt wurde. In den italienischen Städten wurde der Geist geboren, der sich gegen den versklavenden Einfluß der Kirche empörte. Dort erreichten auch die beiden philosophischen Strömungen des Nominalismus und Realismus ihre letzte Steigerung, nachdem sie von arabischem Geiste befruchtet wurden und auf Grund der empfangenen Anregungen bereits vor der Entstehung des Humanismus nach neuen Wegen der Erkenntnis ausblickten. Denn die eigentliche Bedeutung dieser beiden Richtungen – vornehmlich des Nominalismus in den späteren Phasen seiner Entwicklung – besteht ja gerade darin, daß sie das philosophische Denken, das über ein Jahrtausend der geistigen Vormundschaft der kirchlichen Theologie unterstellt war, wieder auf eigene Füße zu stellen versuchten. Erst wenn man sich die verschrobenen Gedankengänge der christlichen Scholastik ganz klar zum Bewußtsein bringt, wird man diesen unverkennbaren Wandel in der Beurteilung geistiger Dinge voll zu würdigen verstehen. Vier Jahrhunderte lang kreiste das Denken der Scholastiker um die nichtigsten Fragen und verlor sich in einem toten Formelkram, der dem menschlichen Geist keine neuen Ausblicke mehr eröffnen konnte. Stritt man doch viele Jahrzehnte darüber, wieviel Seelen auf einer Nadelspitze Platz finden könnten; wie es um den Stuhlgang der Engel bestellt sei; ob und wie Christus sein Erlöserwerk vollbracht hätte, wenn er als Kürbis, als Tier oder als Frau zur Welt gekommen wäre; ob eine Maus, die von einer Hostie gefressen, den Leib Christi verzehrt habe und welche Folgen dies nach sich ziehen müßte. Diese und hundert ähnliche Fragen beschäftigten jahrhundertelang den Geist der Schriftkundigen, und die spitzfindigsten Erklärungen galten als Zeichen größter Gelehrsamkeit.
In den Städten entwickelten sich die ersten Voraussetzungen für die Wiedergeburt der Wissenschaften, die mit dem Überhandnehmen des kirchlichen Geistes gänzlich in Verfall geraten waren. Verbot doch eine Kirchenversammlung in Paris den Geistlichen noch 1209 das Studium der naturwissenschaftlichen Schriften, die von den Alten auf die christliche Welt gekommen waren. Bereits im 10. Jahrhundert entstand in Salerno eine Hochschule der Wissenschaften, vornehmlich der Medizin, wo hauptsächlich arabische und jüdische Ärzte als Lehrer tätig waren. Diese Schule hat viel dazu beigetragen, arabisches Wissen und arabische Bildung in Italien und dadurch in ganz Europa zu verbreiten, wodurch das Erwachen der Wissenschaft erst wieder angeregt wurde. - Eine ganze Reihe hervorragender Erfindungen fallen in jene glänzende Epoche, von denen manche erst die nötigen Vorbedingungen für die großen Entdeckungsfahrten zu Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen haben. Die magische Persönlichkeit Leonardo da Vincis, der nicht bloß auf den verschiedensten Gebieten der Kunst einer der größten Meister aller Zeiten gewesen ist, sondern der sich auch in allen Zweigen der naturwissenschaftlichen Forschung als Denker ersten Ranges betätigte und besonders in der Mechanik ganz Hervorragendes geleistet hat, ist in ihrer erstaunlichen Vielseitigkeit und ihrer genialen Größe so recht das Symbol jener seltsamen Zeit, in welcher der Schöpferdrang des Menschen so mächtig zum Ausdruck gelangte.
In den Städten blühte das Handwerk zu einer nie gekannten Größe empor. Die menschliche Arbeit kam wieder zu Ehren und galt nicht länger als Schande. In den städtischen Gemeinden Norditaliens wurden die feinsten Stickereien, die prächtigsten Seidenstoffe hergestellt. Jede Stadt wetteiferte mit den anderen Städten in der Herstellung eingelegter Stahlwaren, prächtiger Goldschmiedearbeiten und alltäglicher Gebrauchsgegenstände; Schmiedekunst, Metallgießerei, Mechanik und alle anderen Zweige handwerklicher Betätigung erreichten eine Vollkommenheit, die noch heute durch ihre unerschöpfliche Mannigfaltigkeit Und Feinheit und Gediegenheit der Ausführung unsere Bewunderung hervorruft.
Was aber in jener Blüteperiode der Kultur auf allen Gebieten der Kunst geschaffen wurde, überragt alles, was man seit dem Untergang der hellenischen Welt gesehen hat. Unzählige Baudenkmäler in allen Städten der Halbinsel verkünden noch heute den Geist jener gewaltigen Epoche, in welcher der Pulsschlag der Gemeinschaft so mächtig pochte und Künstler, Handwerker und Gelehrte sich zum gemeinsamen Werke zusammenfanden, um das Höchste zu leisten, zu dem sie fähig waren. In den Domen und Rathäusern der Städte, ihren Glockentürmen und Stadtportalen, bei deren Ausführung die ganze Gemeinde mitwirkte, offenbarte sich das schöpferische Genie der Massen, wie Kropotkin es nannte, in seiner vollen Größe und unendlichen Mannigfaltigkeit; es erfüllte jedes Werk mit seinem Geiste, hauchte dem toten Stein Leben ein, verkörperte alle drängende Sehnsucht, die in den Menschen schlummerte und nach Erfüllung lechzte, und knüpfte das Band, das sie als Gemeinschaft vereinte. Was die Menschen damals zum gemeinsamen Werke zusammenführte, war das lebendige Bewußtsein innerer Verbundenheit, das in der Gemeinschaft wurzelte und jene unsichtbare Einheit schuf, die dem Einzelwesen nicht von außen her aufgezwungen wurde, sondern das natürliche Ergebnis seines sozialen Empfindens war. Weil der Mensch jener Zeit das lebendige Band, das ihn mit allen anderen verknüpfte, stets fühlte, deshalb brauchte ihm die gesellschaftliche Bindung nicht durch äußeren Zwang aufgedrängt zu werden. Nur aus diesem Geiste konnte ein freies Schaffen hervorgehen, das alle schöpferischen Kräfte im Menschen löste und damit das gesellschaftliche Leben der Gemeinde zur vollen Entfaltung brachte. Auf diese Art wurden die sozialen Voraussetzungen für die großen Werke der Architektur jener gewaltigen Zeit erst geschaffen.
Und wie die Architektur, so reiften Bildhauerkunst und Malerei zu einer Größe heran, die bloß noch in den Gemeinwesen der Hellenen ihresgleichen findet. Von der Entstehung der süditalienischen Bildhauerschule in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts und dem Wirken des Niccolò Pisano in Toscana bis zu den Meisterwerken Donatellos, Verrocchios, Sansovinos und Michelangelos brachte fast jede Stadt eine Reihe hervorragender Bildhauer hervor, die sich im Geiste der Gemeinschaft betätigten, der ihrem Können Flügel gab. – Nie gab es eine Zeit, die in einer so kurzen Frist eine so große Anzahl bedeutender Maler hervorbrachte, eine solche Fülle großer und größter Werke ins Leben setzte. Von Cimabue bis Giotto, von den Freskomalern des späteren Trecento bis zu Fra Angelico, Masaccio und Masolino, von Pisanello und Castagno bis Filippo Lippi, von Piero della Francesca und seinem Kreise bis Mantegna und seinen zahlreichen Nachfolgern, von Lorenzo da Credi bis Verrocchio, Ghirlandajo und Bot-ticelli, von Perugino bis Bellini und Leonardo da Vinci, von Correggio, Giorgione, del Sarto bis Tizian, Michelangelo und Raffael entstehen fast in jeder Stadt hervorragende Meister und geben der Malerei einen Aufschwung, den sie bisher nie gekannt hatte. Viele der großen Meister waren von einer überraschenden Vielseitigkeit und betätigten sich in derselben Zeit als Maler, Bildhauer, Erzgießer, Architekten und Handwerker. So nannte Piedemonte Michelangelo den «Mann mit den vier Seelen», weil er das Jüngste Gericht gemalt, den Moses gemeißelt, die Kuppel der Peterskirche gewölbt und Sonette von einer gewaltigen Kraft des Ausdrucks gedichtet hatte. – Auf diese Art gestaltete sich in den italienischen Städten eine Kultur, die in wenigen Jahrhunderten das Bild des Landes von Grund aus veränderte und dem gesellschaftlichen Leben einen Sinn gab, den es früher nie besessen hatte. – Um dieselbe Zeit entwickelte sich die italienische Sprache und mit ihr die Literatur des Landes. War zunächst der Stil der sizilischen Troubadoure der vorherrschende in der Literatur, so trat nun die toskanische Mundart mehr und mehr in den Vordergrund und gewann durch die reiche Kultur der toskanischen Städte immer größere Bedeutung. Dichter wie Guinicelli, Cavalcanti und Davanzati schrieben in ihr; aber erst die gewaltige Dichtung Dantes gab der Sprache die unbezwingbare Kraft des Ausdrucks, die geschmeidige Form und das zarte Kolorit, das den Dichter befähigte, alles darzustellen, was die Menschenseele bewegt. Und neben Dante wirkten Petrarca und Boccaccio und formten das Instrument des Geistes – die Sprache.
Jene glänzende Kultur, die sich von Italien über die meisten Städte Europas verbreitete und auch dort den Anstoß zu einer Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens gab, entfaltete sich in einer Zeit, da das Land politisch völlig zersplittert war und der nationale Einheitsgedanke noch keine Macht über den Geist der Menschen besaß. Das ganze Land war mit einem Netz selbständiger Gemeinwesen bedeckt, die ihre lokale Unabhängigkeit mit demselben Eifer verteidigten wie die Stadtrepubliken des alten Hellas. In den Gemeinden traten Künstler und Handwerker in ihren Bruderschaften und Gilden zum gemeinsamen Werke zusammen. Die Gilden waren nicht bloß die Träger und Verwalter des wirtschaftlichen Lebens, sie bildeten auch die eigentliche Grundlage für den politischen Rahmen des Gemeinwesens. Politische Parteien und Berufspolitiker im heutigen Sinne gab es nicht. Jede Gilde wählte ihre Beauftragten in den Rat der Gemeinde, welche die Aufträge ihrer Organisationen dort vortrugen und durch Besprechungen mit den Delegierten der übrigen Gilden eine Verständigung in allen wichtigen Fragen auf der Basis freier Vereinbarung zu erreichen bestrebt waren. Und da alle Gilden sich mit den allgemeinen Belangen der Stadt auf das engste verbunden fühlten, so entschied bei den Abstimmungen die Zahl der vertretenen Korporationen. Derselbe Modus galt auch für die Föderation der Städte; der kleinste Marktflecken hatte dasselbe Recht wie die reichste Gemeinde, da er sich aus freiem Ermessen dem Bunde angeschlossen hatte und an seiner Wirksamkeit dasselbe Interesse nahm wie alle übrigen Gemeinden. In derselben Zeit blieb jede Gilde in der Stadt und jede Stadt innerhalb der Föderation ein selbständiger Organismus, der über seine eigenen Finanzen, seine eigene Gerichtsbarkeit und seine eigene Verwaltung verfügte und Verträge mit anderen Gruppierungen nach eigener Erwägung abschließen und lösen konnte. Nur das Gemeinschaftliche derselben Aufgaben und derselben Belange führte die einzelnen Gilden und Gemeinden mit ähnlich gearteten Körperschaften zusammen, um durch eine Vereinigung der Kräfte Pläne von größerem Umfang auszuführen.
Der große Vorteil dieses Systems lag darin, daß sowohl die einzelnen Gildenmitglieder als auch ihre Beauftragten in der Gemeinde alle Funktionen leicht übersehen konnten. Jeder handelte und traf Entscheidungen in Dingen, die er genau kannte und über die er als Kenner und Sachverständiger ein Wort mitsprechen durfte. Vergleicht man diese Einrichtung mit den gesetzgebenden und ausführenden Körperschaften des heutigen Staates, so springt ihre moralische Überlegenheit sofort ins Auge. Weder der heutige Wähler noch der Mann, der ihn angeblich vertritt, sind imstande, das ungeheure Räderwerk des politischen Zentralapparates völlig oder auch nur einigermaßen übersehen zu können. Jeder Abgeordnete ist fast täglich gezwungen, über Fragen entscheiden zu müssen, die er aus eigener Anschauung nicht kennt und über deren Beurteilung er sich stets auf andere verlassen muß. Daß ein solches System notgedrungen zu den schlimmsten Mißständen und Ungerechtigkeiten führen muß, ist unbestreitbar. Und da der einzelne Wähler aus demselben Grunde gar nicht mehr in der Lage ist, die Tätigkeit seines sogenannten Vertreters übersehen und kontrollieren zu können, so ist die Kaste der Berufspolitiker, von denen viele nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, um so leichter imstande, im trüben zu fischen, wodurch jeder moralischen Versumpfung Tür und Tor geöffnet wird.
Außer diesen offenkundigen Übeln, die gerade heute in allen parlamentarisch regierten Staaten so eindeutig zutage treten, ist die sogenannte Zentralvertretung auch das ärgste Hindernis für jeden gesellschaftlichen Fortschritt und steht im direkten Widerspruch zu allen Regeln der natürlichen Entwicklung. Die Erfahrung zeigt uns, daß jede gesellschaftliche Neuerung sich zunächst in einem kleineren Teile durchsetzt und erst allmählich Einfluß auf die Gesamtheit gewinnt. Gerade deshalb ist der Föderalismus die beste Sicherheit für eine hemmungslose Entwicklung der Dinge, indem er jeder Gemeinde die Möglichkeit läßt, innerhalb ihres eigenen Kreises alle Maßnahmen zu treffen, die sie für das Wohl ihrer Mitbürger für zweckmäßig erachtet. Sie ist deshalb imstande, sofort zu praktischen Versuchen überzugehen, um neue Ideen an der Hand positiver Erfahrungen zu erproben, und wirkt dadurch belebend und anregend auf alle Nachbargemeinden, welche auf diese Art selbst in der Lage sind, sich von der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit getroffener Neuerungen überzeugen zu können. Bei den zentralen Vertretungskörperschaften unserer Zeit ist ein solcher Anschauungsunterricht völlig ausgeschlossen, denn es liegt in der Natur der Sache, daß in solchen Gebilden gerade die zurückgebliebensten Teile des Landes am stärksten vertreten sind. Anstatt daß die vorgeschrittensten und geistig regsamsten Gemeinden den übrigen mit gutem Beispiel vorangehen, tritt hier gerade das Gegenteil ein: die platteste Mittelmäßigkeit ist stets obenauf und erstickt jeden Drang nach Neuerungen bereits im Keime; die zurückgebliebensten und geistig trägsten Landesteile legen den kulturell entwickeltsten Menschengruppen Zügel an und lähmen ihre Initiative durch ihren Einspruch. An dieser Tatsache kann auch das beste Wahlsystem nichts ändern, es trägt oft nur dazu bei, die Dinge noch hoffnungsloser und schroffer zu gestalten; denn der reaktionäre Kern liegt im System der Zentralvertretung und wird durch die verschiedenen Formen des Wahlrechts überhaupt nicht berührt.
Man vergleiche die überragende Kultur der großen föderalistischen Epoche Italiens mit der Afterkultur des nationalen Einheitsstaates, welcher den italienischen Patrioten so lange als höchstes Ziel ihrer Wünsche vorschwebte, und man begreift ohne weiteres den klaffenden Unterschied zwischen zwei Gebilden, deren kulturelle Auswirkungen ebenso verschieden waren wie die geistigen Voraussetzungen ihrer ganzen gesellschaftlichen Struktur. Die Anhänger der nationalen Einheit, und besonders Mazzini, der sein ganzes Leben an diesen Gedanken gesetzt hatte, waren fest davon überzeugt, daß ein geeintes Italien dazu berufen sei, an der Spitze aller europäischen Völker zu marschieren, um eine neue Periode in der menschlichen Geschichte einzuleiten. Mit der ganzen schwärmerischen Begeisterung seines politischen Mystizismus erklärte Mazzini:
«In mir lebte der Glaube an Rom. In den Mauern Roms hatte sich zweimal das Leben als Einheit der Welt entwickelt. Während andere Völker nach der Beendigung einer kurzen Sendung für immer verschwunden waren, und keines hatte zweimal geführt, war dort das Leben ewig und der Tod unbekannt … Warum sollte nicht aus einem dritten Rom eines italienischen Volkes, von dem mir die Anzeichen vorschwebten, eine dritte größere Einheit erstehen, die Erde und Himmel, Recht und Pflicht in Einklang setzen, die nicht zum Individuum, sondern zu den Völkern ein Wort bildender Vereinigung zu den Freien und Gleichen über ihre Mission im Erdentale sprechen würde?»
Mazzini glaubte an die göttliche Sendung Italiens in der kommenden Geschichte Europas mit der mystischen Verzückung eines Gottbesessenen; sie bildete für ihn die geistige Voraussetzung der Unità Italiana, denn nur aus dieser konnte die historische Sendung Italiens ins Werk gesetzt werden. Für ihn war die nationale Einheit vorerst eine Machtfrage, denn obwohl er das Volk stets im Munde führte, so blieb ihm dieses Volk doch nur eine abstrakte Vorstellung, die er dem Wesen seines nationalen Staates anzupassen versuchte. Nur aus der politischen Einheit konnte Italien die Kraft erstehen, die es zur Erfüllung seiner angeblichen Mission befähigte. Daher der Aufschrei Mazzinis gegen den Föderalismus:
«Das junge Italien ist unitarisch; denn ohne Einheit gibt es keine wirkliche Nation, weil es ohne Einheit keine Macht gibt und Italien, umgeben von unitarischen Nationen, die kräftig und eifersüchtig sind, vor allem mächtig sein muß. Der Föderalismus würde es zur Machtlosigkeit der Schweiz führen, und es müßte notgedrungen dem Einflüsse der einen oder anderen angrenzenden Nation verfallen. Der Föderalismus würde der Rivalität der verschiedenen Orte, die heute erloschen ist, neues Leben geben und so Italien ins Mittelalter zurückführen…
Infolge Zerstörung der Einheit der großen italienischen Familie würde der Föderalismus die Sendung, die Italien berufen ist in der Menschheit zu erfüllen, von Grund aus vereiteln.»[141]
Mazzini und seine Anhänger erhofften von der Errichtung des nationalen Einheitsstaates einen gewaltigen Aufschwung der italienischen Kultur, die, einmal von den Fesseln der Fremdherrschaft befreit, sich zu einer ungeahnten Größe entfalten würde. Vor allem aber sollte die italienische Einheit die Freiheit des Volkes begründen und jeglicher Sklaverei ein Ende machen. Wie oft hatten die italienischen Patrioten den natürlichen Freiheitsdrang der Italiener in überschwenglichen Worten verherrlicht und besonders den Franzosen gegenüber mit innerem Stolze hervorgehoben. Carlo Pisacane, der glühende sozialistische Patriot, der zwar kein Anhänger der politischen Metaphysik Mazzinis war, aber ihn als Mensch hochschätzte, und der 1851 für die Befreiung seines Landes gefallen ist, beurteilte die Franzosen in seinem großen Werke Saggi storico-politici-militari sull’Italia sehr ungünstig. Er nannte sie ein Volk ohne Freiheitssinn, das zwar die Freiheit oft genug im Munde führe, innerlich jedoch völlig versklavt sei und sich aus Ruhmsucht jedem Despoten an den Hals werfe. Demgegenüber hob er die instinktive Freiheitsliebe der Italiener hervor, die ihr Schicksal nie und nimmer in herdenmäßiger Ergebenheit einer Dynastie verschreiben würden; und er betonte immer wieder, daß ein geeintes Italien nie durch die Gewalt einer privilegierten Minderheit, sondern nur aus der Freiheit des Volkes erstehen könne. Mazzini und die meisten seiner Anhänger hatten über Frankreich keine bessere Meinung und machten aus ihrer Gesinnung durchaus kein Hehl.
Diese Männer ahnten so gar nicht, daß ihre Bestrebungen unmittelbar zu dem führen mußten, was sie den Franzosen zum Vorwurf machten. Kein Einheitsstaat hat bisher dem kulturellen Streben weitere Ausblicke geöffnet, sondern führte noch immer zu einer Verkümmerung aller höheren kulturellen Formen. Jede national-politische Einheit hatte stets eine Erweiterung der machtpolitischen Bestrebungen kleiner Minderheiten zur Folge, die mit dem Niedergange der geistigen Kultur erkauft werden mußte. Vor allem aber hat die nationale Einheit noch nie die Freiheit eines Volkes begründet, sondern immer nur die innere Versklavung auf eine bestimmte Norm gebracht, was dann als Freiheit ausgegeben wurde. Mochte Pisacane sich der Illusion hingeben, daß eine wirkliche Nation in ihrem Schöße keine privilegierten Klassen, Stände oder Kasten dulden könne; die Erfahrung hat bisher immer noch gezeigt, daß der nationale Staat stets bestrebt ist, bestimmte Vorrechte zu schaffen und die Bevölkerung in Kasten und Stände zu teilen, weil seine ganze Existenz auf dieser Einteilung begründet ist. Wie klar und eindringlich hatte Proudhon Mazzini und seinen Anhängern vorausgesagt, was die italienische Einheit dem Volke bringen würde:
«Jeder ursprüngliche Charakter in den mannigfachen Gebieten eines Landes geht durch die Zentralisation des öffentlichen Lebens – denn dieses ist der eigentliche Name für die sogenannte Einheit – verloren. Ein zentraler Staat von sechsundzwanzig Millionen Seelen, wie Italien es sein würde, verschlingt alle Freiheit der Provinzen und Gemeinden zugunsten einer höheren Macht: der Regierung. Was ist diese Einheit der Nation in der Wirklichkeit? Es ist das Aufgehen jeder besonderen Völkerschaft, in welcher die Menschen leben und sich voneinander unterscheiden, in den abstrakten Begriff einer Nation, in der keiner atmet und keiner den anderen kennt … Um sechsundzwanzig Millionen Menschen zu regieren, denen man die Verfügung über sich selbst geraubt hat, braucht man eine riesige Maschine; um diese Maschine in Gang zu bringen, eine ungeheure Bürokratie, eine Legion Beamte. Um sie nach innen und außen zu schützen, braucht man ein stehendes Heer, Angestellte, Soldaten, Mietlinge; dieses wird von nun an die Nation vorstellen. Vor fünfzehn Jahren schätzte man in Frankreich die Zahl der Beamten auf 600 000. Diese Zahl hat sich seit dem Staatsstreich nicht verringert. Die Stärke der Armee und der Marine steht zu dieser Zahl in einem entsprechenden Verhältnis. All dies ist für die Einheit unumgänglich: es sind dies die allgemeinen Kosten des Staates, Kosten, die sich auf Grund der Zentralisation stets vergrößern, während sich die Freiheit der Provinzen stets verkleinert. Diese grandiose Einheit braucht Ruhm, Glanz, Luxus, eine imposante Zivilliste, Botschafter, Pensionen, Pfründen usw. In so einem Einheitsstaat streckt jeder die Hand aus. Und wer zahlt die Schmarotzer? Das Volk! Wer einheitliche Nation sagt, meint damit eine Nation, die an ihre Regierung verkauft ist … Und den Profit eines solchen Einheitsregiments? Hat nicht das Volk, sondern die regierenden Klassen und Kasten im Staate.»[142]
Der geniale Franzose hatte den eigentlichen Beweggrund aller nationalen Einheitsbestrebungen klar erkannt. Was er den Italienern voraussagte, ist alles eingetroffen bis auf den letzten Buchstaben. Wenn Pisacane und seine Freunde glaubten, daß nur in Frankreich die Möglichkeit bestehe, daß die ganze Nation sich irgendeinem Abenteurer in die Hände gebe, der ihr große Versprechungen macht und vor allem ihre Ruhmsucht befriedigt, so hat uns das Beispiel Mussolinis seither gezeigt, daß die national-politische Einheit auch Italien für dergleichen Dinge reif machte. Denn auch dieses ist ein Ergebnis der staatlichen Zentralisation: Je gründlicher sie im Menschen die persönliche Initiative und den Drang zur Selbsthilfe erstickt, desto mehr nährt sie in ihm den Glauben an den starken Mann, der aller Not ein Ende machen soll. Auch dieser Glaube ist ja nur ein Stück politischer Religion, welche dem Menschen das Gefühl seiner Abhängigkeit von einer höheren Macht tief in die Seele pflanzt.
Was Proudhon schon damals klar vorausgesehen hatte, weil ihm die geistige Perspektive nicht durch blinde Staatsgläubigkeit getrübt war, das können unsere modernen Staatssozialisten von der Sozialdemokratie bis zu den verschiedenen Filialen des russischen Bolschewismus heute noch nicht sehen, weil ihnen die Eierschalen ihrer jakobinischen Ahnen noch immer anhaften. – Die nationale Einheit brachte Italien nur die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens und die Verkümmerung aller höheren kulturellen Bestrebungen zugunsten der machtpolitischen Pläne seiner Staatsmänner und deren Auftraggeberin: der Bourgeoisie. Denn die Freude des modernen Bourgeois am Einheitsstaate ist nur deshalb so groß, weil dieser seiner Ausbeutungspolitik glänzende Ausblicke eröffnet, wozu eine Föderation kleiner Gemeinwesen nie imstande gewesen wäre. Für die materiellen Belange kleiner Minderheiten im Lande ist der nationale Einheitsstaat stets ein Segen gewesen; für die Freiheit des Volkes und die Gestaltung höherer Formen der sozialen Kultur wirkte er sich stets als Unglück aus.
Wie sich die zentralisierten Bestrebungen des nationalen Einheitsstaates in Frankreich auswirkten, wurde bereits im ersten Teile dieses Werkes dargestellt. Auch dort führte die Anhäufung aller politischen Machtbefugnisse in der Hand des Königs auf Kosten aller lokalen Rechte und Freiheiten der Gemeinden und Provinzen zu jener uferlosen Weltmachtpolitik, deren typischster Vertreter Ludwig XIV. gewesen ist und die Frankreich und das europäische Festland in einen Abgrund des Elends und der geistigen Barbarei stürzte. Man darf sich auch hier nicht durch den prunkvollen Glanz des französischen Hofes blenden lassen, der Dichter und Künstler aus aller Welt heranzog, um sein Prestige zu stärken und die Person des Herrschers zu vergöttern. Dem französischen Selbstherrschertum diente die Kunst zu denselben Zwecken wie einst den römischen Cäsaren.
Der monarchistische Einheitsstaat hat die Entwicklung einer volkstümlichen Literatur und Kunst keineswegs begünstigt, wie sooft gedankenlos behauptet wird; im Gegenteil, er schuf erst die tiefe Kluft zwischen dem Volke und der Literatur, die in keinem anderen Lande so scharf hervortritt als gerade im Frankreich des ancien régime. Das kam daher, weil der französische Despotismus mit seltener Folgerichtigkeit seine Ziele verfolgte und stets darauf erpicht war, seinem Willen alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens zu unterwerfen, um den Geist der Autorität in alle Schichten des Volkes zu verpflanzen. – Vor der inneren Festigung der Monarchie blühte in den Städten Frankreichs eine reiche Kultur, besonders im Süden des Landes, wo das geistige Leben freier und beweglicher war als im Norden, dem wichtigsten Stützpunkte der königlichen Macht und der kirchlichen Scholastik. Die lyrische Poesie des französischen Mittelalters ist von außerordentlicher Reichhaltigkeit und wurde durch die graziöse Geschmeidigkeit der provenzalischen Sprache sehr begünstigt. Vor allem aber schöpfte sie aus den Quellen des Volkstums und fand im Leben selbst ihren tiefsten Grund. Um die provenzalischen Minnesänger und Troubadoure wehte der poetische Geist des Südens und gab ihrer Kunst Form und Bewegtheit. Doch nicht bloß Minnesänger waren die Troubadoure, sondern auch Künder der Volksstimmung, und ihre sirventes oder Kampfgesänge beeinflußten die gesellschaftlichen Begebenheiten in hohem Maße. Sehr stark tritt aus diesen Liedern der brennende Haß gegen Rom und die Herrschaft der Kirche hervor. Nicht umsonst war der Süden das Land der Häretiker und Ketzersekten, das von Papst und König gleichermaßen gefürchtet wurde.
Noch tiefer im Volk wurzelten die sogenannten Fabliaux, eine seltsame Mischung von epischer und didaktischer Dichtung, die von fahrenden Sängern gesungen oder vorgetragen wurden und die sich mit allem beschäftigten, was dem Leben der Menschen Zweck und Inhalt gab. Auch in diesen Gesängen spielte die Satire eine wichtige Rolle und diente nicht selten dazu, die öffentliche Meinung in Wallung zu bringen. Auch die christlichen Mysterienspiele, die häufig einen recht verfänglichen und gotteslästerlichen Inhalt hatten, erreichten im mittelalterlichen Frankreich ihre erste kunstgerechte Form, aus der sich später das Drama entwickelte. – Zu jener Zeit bestand zwischen Volk und Literatur noch eine innere Verbundenheit. Auch bei François Villon, den man den eigentlichen Schöpfer der französischen Dichtkunst genannt hat, tritt diese Verbundenheit noch in jeder Strophe zutage; sein Großes Testament legt rühmliches Zeugnis dafür ab. Ebenso stand Rabelais, der geniale Spötter und ausgesprochene Gegner der Romantik, der seine Zeit tiefer erfaßt hatte als einer, mit beiden Füßen im Volksleben; so sind denn auch seine beiden unsterblichen Werke Gargantua und Pantagruel bis heute echte Volksbücher geblieben.
Mit dem Siege des Absolutismus und des nationalen Einheitsstaates änderte sich dieses Verhältnis gründlich. Das zeigte sich bald, nachdem Ludwig XI., dieser unheimliche Mensch, den man die «Spinne Europas» genannt hat und der mit wahnwitziger Besessenheit seinen Plänen nachging und vor keinem Mittel zurückschreckte, das Erfolg versprach, den Widerstand der großen Vasallen gebrochen und damit die eigentliche Grundlage für den absolutistischen Einheitsstaat gelegt hatte. – Franz I., dem man gewöhnlich nachrühmt, den Franzosen die höhere Geisteskultur der italienischen Renaissance vermittelt zu haben, hatte sich von dieser hauptsächlich Machiavellis Principe zum Vorbild genommen und verfolgte mit seiner Begünstigung der klassischen Studien einen ganz bestimmten politischen Zweck. In den alten Fabliaux, Mysterienspielen und Volksgesängen lebte noch die Erinnerung an eine Vergangenheit, die der königliche Despotismus sich auszutilgen bemühte. Deshalb sollte die Dichtkunst fortan auf klassische Stoffe zurückgreifen und den Geist auf Rom lenken, anstatt an die Gewohnheiten und Einrichtungen einer Epoche anzuknüpfen, welche im Volke die Sehnsucht nach dem Verlorenen erwecken konnte.
Was Franz I. begonnen hatte, setzten seine Nachfolger und ihre pfäffischen Trabanten mit zähem Eifer fort. So wurde die Literatur dem Volke gänzlich entfremdet und zur Hofliteratur. Die Dichter schöpften nicht mehr aus den reichen Quellen des Volkslebens, die unter der Herrschaft des Despotismus mehr und mehr versiegten. Wie einst in Rom, so drehte sich in Versailles und Paris alle Kunst um die Person des Königs und die geheiligten Institutionen der Monarchie. Man gab sich alle erdenkliche Mühe, das poetische Schaffen an bestimmte Regeln zu binden und opferte den lebendigen Geist einer toten Gelehrsamkeit, die alle Beziehungen zum wirklichen Leben verloren hatte. Alles wurde reglementiert und bürokratisch geordnet, sogar die Sprache, und nachdem man schon früher alle Gewaltmittel angewendet hatte, um zusammen mit den Häretikern des Südens auch ihre Sprache, das Provenzalische, auszurotten, gründete Richelieu 1635 die Académie Française, um Sprache und Dichtkunst den autoritären Bestrebungen des Absolutismus zu unterstellen. Nur was von oben her als stilgerecht und einwandfrei befunden wurde, sollte der Unsterblichkeit erhalten bleiben, alles andere hatte kein Recht, zu bestehen. – Boileau hatte mit seiner Art Poétique der gesamten Dichtkunst eine Richtschnur gegeben, die nicht nur in Frankreich, sondern auch im Auslande mit sklavischer Beflissenheit befolgt wurde und so auf lange Zeit hinaus der Entwicklung des literarischen Kunstwerkes jeden neuen Ausblick verstellte. Die ganze französische Klassik krankt an dieser Verrenkung des Geistes und wirkt daher weltfremd und ohne innere Wärme. Als Corneille sich erkühnte, in seinem Cid die vorgeschriebene Regel nicht zu beachten, brachte ihn der eiserne Kardinal rasch zur Vernunft, indem er die Akademie gegen ihn in Bewegung setzte. So war man glücklich dahin gekommen, Sprache, Literatur und Kunst zu bürokratisieren; kann man sich da wundern, wenn sogar ein Voltaire, der in seinen dramatischen Werken dieselben Wege ging, Shakespeare als Wilden empfinden mußte.
Nur wenige Dichter jener versklavten Zeit machen eine rühmliche Ausnahme. Vor allem der einzige Molière, in dem noch der Geist Rabelais’ lebte, und dem sein Genie die Kraft gab, die engen Schranken zu durchbrechen und seiner Zeit die feierliche Maske des hohlen Scheins vom lügnerischen Antlitz zu reißen. Kein Wunder, daß die Akademie seinen Namen nicht der Schar der Unsterblichen einreihte und der Erzbischof von Paris das Lesen des Tartuffe mit Exkommunikation bedrohte. Vielleicht war es ein Glück für den Dichter, daß er jung gestorben ist, denn ein rebellischer Kopf, wie er, war mancherlei Gefahren ausgesetzt in jener Zeit der starren Formen und der majestätischen Verlogenheit. – Auch La Fontaine und Lesage sollen hier genannt werden. Die köstlichen Fabeln des ersteren haben sich deshalb so farbenfrisch erhalten, weil er sich über die starren Regeln hinwegsetzte und wieder auf den unerschöpflichen Ideenreichtum der alten Fabliaux zurückgriff. Lesage aber, der es so meisterhaft verstanden hatte, in seinem Hinkenden Teufel und dem köstlichen Gil Blas den Zeitgenossen so artige Wahrheiten zu sagen, wurde der eigentliche Schöpfer des modernen Romans.
In jener Zeit, wo alle Lebensäußerungen auf den Geist der Autorität und des Absolutismus abgestimmt waren, schrieb auch Bossuet seinen Discours sur l’histoire universelle und wurde damit zum Begründer der theologischen Geschichtsauffassung, deren Zweck es war, das System des königlichen Despotismus als gottgewollte Wirklichkeit zu verkünden, über die der Wille des Menschen nichts vermag, da sie im Plane der Vorsehung selbst begründet ist. Jede Auflehnung gegen das System des Absolutismus und die geheiligte Person des Monarchen wurde zur Auflehnung gegen Gott und zum todwürdigen Verbrechen gegen Kirche und Staat. Der geistlose Theologismus, welcher damals an der Sorbonne gelehrt wurde, ließ keine wissenschaftliche Erklärung der Dinge aufkommen. So leistete die Kirche dem weltlichen Despotismus unschätzbare Dienste, denn sie ließ kein Mittel unversucht, um das Autoritätsprinzip allen Untertanen des Königs recht tief ins Bewußtsein zu pflanzen.
Und nicht nur Sprache, Kunst und Literatur unterstellte man der Autorität einer besonderen Behörde, auch Handwerk und Industrie fielen unter die Reglementierung des Staates und konnten aus sich heraus keine selbständige Entscheidung mehr treffen. Die gesamte Industrie des Landes wurde bestimmten, vom Staate vorgeschriebenen Methoden unterworfen, und ein Heer von Beamten wachte darüber, daß keiner auch nur um Haaresbreite von der festgesetzten Norm abwich, Jean de Chaptal hat die ganze Ungeheuerlichkeit dieses wahnwitzigen Systems in seinem großen Werke De l’industrie française in allen Einzelheiten geschildert und dargelegt, wie jeder schöpferische Instinkt planmäßig erstickt wurde, jeder neue Gedanke verdammt war, zu verkümmern. So war dem Schneider die Zahl der Stiche vorgeschrieben, mit denen ein Ärmel am Rock befestigt werden durfte; dem Faßbinder die Zahl der Reifen, die er an seinen Fässern anbringen mußte. Die staatliche Bürokratie bestimmte nicht nur Länge, Breite und Farbe der Tücher, die gewebt wurden; sogar die Zahl der Fäden in jedem Gewebe war genau vorgeschrieben, und ein ausgedehntes Polizeisystem sorgte dafür, daß jede Vorschrift peinlichst eingehalten wurde. Zuwiderhandlungen wurden streng geahndet und durch Wegnahme oder Vernichtung der Waren bestraft. In ernsteren Fällen konnte sogar auf Zerstörung der Werkzeuge und Werkstätten, Verstümmelung des Missetäters und selbst Todesstrafe erkannt werden. Daß unter solchen Umständen das gesamte industrielle Leben der Nation erlahmen mußte, ist klar. Wie durch die Leibeigenschaft die Ertragfähigkeit der landwirtschaftlichen Produktion immer mehr zurückging, so vernichteten die königlichen Ordonnanzen die Industrie und trieben sie dem Abgrund entgegen. Erst die Revolution machte diesen wahnsinnigen Zuständen ein Ende.
Nur eine Kette konnte auch die Revolution nicht sprengen: die Kette der autoritären Überlieferung, das Grundprinzip des Absolutismus. Sie hat wohl die Formen des Alten geändert, aber seinen tieferen Inhalt unberührt gelassen und nur fortgesetzt, was die Monarchie längst begonnen hatte. Wie heute in Rußland der Bolschewismus den autoritären Staatsbegriff des Zarentums auf die Spitze treibt, indem er jeden freien Ideenaustausch und damit jede schöpferische Anregung im Volke restlos erstickt, so verfolgte das Jakobinertum die politische Zentralisation der Gesellschaft bis zur letzten Konsequenz und wurde dadurch, wie heute sein verspäteter Nachfahre in Rußland, zum eigentlichen Träger der Gegenrevolution. Die Revolution brachte Frankreich die Republik, aber diese hatte nur dann einen Sinn, wenn sie das Gegenteil des Selbstherrschertums darstellte und mit derselben Entschlossenheit das Recht vertrat, wie die Monarchie bisher die Macht vertreten hatte. Die Republik mußte zum Symbol der wahren Volksgemeinschaft werden, in der jede Anregung auch wirklich vom Volke ausgeht und in der Freiheit des Menschen wurzelt. Dem königlichen Wort: Der Staat bin ich! mußte die republikanische Losung entgegenklingen: Die Gemeinschaft sind wir! Der Mensch mußte erfahren, daß er nicht länger an das Walten einer höheren Macht gebunden war, daß sein Schicksal von nun an in seinen eigenen Händen und im solidarischen Zusammenwirken mit seinesgleichen ruhe. Die Republik konnte dem Volke nur dann etwas wirklich Neues bringen, wenn sie das alte Prinzip der Bevormundung durch die schöpferische Initiative der Freiheit, den geistlosen Zwang durch die Erziehung zur geistigen Selbständigkeit, das mechanische Wirken einer ausführenden Gewalt durch die organische Entwicklung der Dinge ersetzte.
Die Revolution befreite das Volk zwar vom Joche der königlichen Gewalt, aber es geriet dafür um so tiefer in die Hörigkeit des nationalen Staates. Und diese Kette erwies sich wirksamer als die Zwangsjacke der absoluten Monarchie, da sie nicht in der Person des Herrschers, sondern in der Vorstellung eines abstrakten Gemeinwillens verankert war, der alle Bestrebungen des Volkes auf eine bestimmte Norm begrenzen wollte. Auf diese Art landete man glücklich wieder beim Absolutismus, den man gestürzt zu haben wähnte. Wie der Galeerensklave mit seiner Kugel am Bein, so schleppte sich der neue Bürger mit dem abstrakten Begriff der Nation durchs Leben, die man zum Gefäß des Gemeinwillens gemacht hatte, und verlernte dadurch die Kunst, auf eigenen Füßen zu stehen, die ihm die Revolution kaum beigebracht hatte. Die Republikaner gaben der Republik als Inhalt den Absolutismus im Gewände der Nation und zerstörten damit die wirkliche Volksgemeinschaft der res publica. Was die Männer des Konvents begonnen hatten, das setzten ihre Nachfahren in allen späteren Volkserhebungen unentwegt weiter fort: sie konservierten den Absolutismus unter dem Namen der Freiheit und folgten sklavisch den Überlieferungen der großen Revolution, deren falscher Glanz bis heute alle Zeichen und Symbole einer wirklichen Befreiung überstrahlte.
Proudhon hatte diese Wahrheit in ihrer ganzen Tiefe erfaßt; deshalb waren ihm alle Versuche der politischen Parteien, die Macht in ihre Hände zu bekommen, nur verschiedene Kundgebungen des Absolutismus unter falscher Flagge. Er hatte einsehen gelernt, daß jeder, der eine soziale Umwälzung durch die Eroberung der politischen Macht erstrebt, zum Lügner an sich selbst und anderen werden muß. Denn jede Macht ist ihrem Wesen nach gegenrevolutionär und wurzelt in der Ideenwelt des Absolutismus, in der auch jedes System der Ausbeutung seine Wurzel findet. Der Absolutismus ist das Prinzip der Autorität, das im Staate und in der Kirche am folgerichtigstenvertreten wird. Solange dieses Prinzip nicht überwunden ist, werden die sogenannten Kulturnationen immer tiefer im Sumpfe der Machtpolitik und einer toten Wirtschaftstechnik versinken, und zwar auf Kosten ihrer Freiheit und ihres Menschentums, aus denen uns allein eine höhere soziale Kultur erwachsen kann. Das empfand auch Ibsen, wenn er sagte:
«Der Staat muß weg! Bei der Revolution tue ich auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiwilligkeit und das geistig Verwandte als das für ein Bündnis einzig Entscheidende auf – das ist der Anfang einer Freiheit, die etwas wert ist! Ein Wechsel der Regierungsform ist weiter nichts als eine Pusselei mit Graden – ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Torheit alles zusammen. Ja, lieber Freund, es gilt bloß, sich von der Ehrwürdigkeit des Besitzes nicht schrecken zu lassen. Der Staat hat seine Wurzeln in der Zeit, er wird seinen Gipfel in der Zeit haben. Es werden größere Dinge fallen als er; alle Religion wird fallen.»[143]
Dieselben Erfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte aller Völker und führten überall zu denselben Ergebnissen: National-politische Einheit hat nie und nirgends die Entwicklung der geistigen Kultur eines Volkes befruchtet; im Gegenteil, sie hat ihr stets eine Schranke gesetzt, indem sie die besten Kräfte des Volkganzen den uferlosen Machtbestrebungen des nationalen Staates opferte und damit die tieferen Quellen alles geistigen Geschehens trockenlegte. Gerade die Epochen sogenannter nationaler Zersplitterung waren bisher noch immer die großen Kulturperioden der Geschichte, während die Epochen der nationalen Einheit stets zum Niedergang und Verfall aller höheren Kulturformen geführt haben.
Im alten Deutschland erreichte die Kultur ihren Höhepunkt in den freien Städten des Mittelalters inmitten einer Welt von Unkultur und Barbarei. Es waren die einzigen Orte, wo die Kunst und das Handwerk sich entfalten konnten, wo ein freieres Denken noch eine Stätte hatte und ein sozialer Geist die Menschen verbunden hielt. Die mächtigen Denkmäler der mittelalterlichen Architektur und Kunst sind noch immer die großen Wahrzeichen einer kulturellen Entwicklung, die zu den glänzendsten gehört, welche die deutsche Geschichte zu verzeichnen hat. Aber auch die Geschichte der neueren Geisteskultur in Deutschland ist nur eine Bestätigung jener alten Wahrheit, die bis heute leider so wenig verstanden wurde. Alle großen geistigen Errungenschaften in diesem Lande gehen auf die Zeit seiner nationalen Zersplitterung zurück. Seine klassische Literatur von Klopstock bis Schiller und Goethe, die Kunst seiner romantischen Schule, seine klassische Philosophie von Kant bis Feuerbach und Nietzsche, seine Tondichtung von Beethoven bis Richard Wagner das alles fällt in die Zeit vor der Gründung des Reiches. Mit dem Siege des deutschen Nationalstaates aber beginnt auch der Niedergang der deutschen Kultur, das Versiegen ihrer schöpferischen Kräfte und zusammen mit diesem Verfall der Triumph des Bismarckianismus, wie Bakunin die geistlose Vereinigung von Militarismus und Bürokratie genannt hatte. Nietzsche hatte schon recht, wenn er sagte:
«Als die Deutschen den anderen Völkern anfingen interessant zu werden, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja, die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei; und doch wußten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen als den politischen und nationalen Wahnsinn.»[144]
Und Constantin Frantz, der süddeutsche Föderalist und Gegenspieler Bismarcks, meinte:
«Man braucht nur das heute in jedem Kunstladen zu findende Bild zu betrachten, welches die Proklamation des neuen Kaisertums in Versailles darstellt, und das Wesen dieser neuen Schöpfung tritt in wünschenswertester Klarheit hervor: Eine Gesellschaft in blitzenden Uniformen sieht man da, vor welcher einige Herren in schwarzem Frack eine gar demütigende Rolle spielen, das Ganze so prosaisch als unvolkstümlich – die Inauguration des Militarismus ließe sich nicht drastischer versinnbildlichen.»[145]
In der Tat, die nationale Einheit verwandelte Deutschland in ein vergrößertes Preußen, das sich berufen fühlte, Weltpolitik zu treiben. Die Kaserne wurde zur Hochschule der neudeutschen Mentalität. Wir wurden groß auf dem Gebiete der Technik und der praktischen Wissenschaften, aber eng im Geiste und arm an Seele; vor allem aber ging uns die große universale Auffassung der Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Heine verloren, die einst der Stolz der Deutschen gewesen ist. Es soll hier weder dem Partikularismus noch dem kleinen Staate das Wort gesprochen werden. Was wir erstreben, ist die völlige Ausschaltung des Machtprinzips aus dem Leben der Gesellschaft und folglich die Überwindung des Staates in jeder Form durch eine höhere soziale Kultur, die auf der Freiheit des Menschen und der solidarischen Verbundenheit mit seinen Mitmenschen begründet ist. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß, je größer ein Staat ist, über je stärkere Machtmittel er gebietet, desto gefährlicher er der menschlichen Freiheit und den Bedürfnissen nach höheren Formen des geistigen und kulturellen Lebens wird. Diese sind in einem zentralen Einheitsstaate am meisten gefährdet. Das hatte auch Carlo Pisacane richtig erkannt, wenn er in seinem Saggio sulla Rivoluzione bemerkt:
«Jede Regierung, auch der Despotismus, ist bisweilen imstande, die Wissenschaft zu fördern und geniale Männer und große Geister an sich heranzuziehen; sei es, um damit dem Zeitgeist ein Zugeständnis zu machen, sei es, weil dies den persönlichen Bestrebungen des Staatsoberhauptes entspricht. Daraus läßt sich die Tatsache ableiten, daß, je mehr Regierungen in einem Lande vorhanden sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß die allgemeine Finsternis wenigstens durch einige Fackeln des Geistes erhellt wird.»
Man könnte vielleicht England als Gegenbeweis anführen, um zu zeigen, daß dort die Kultur trotz des Nationalstaates, besonders im Zeitalter der Königin Elisabeth, einen hohen Aufschwung genommen hatte. Aber man vergesse nicht, daß der eigentliche Absolutismus dort nur unter den Stuarts einen vorübergehenden Erfolg zu verzeichnen hatte und daß es dem englischen Staate niemals gelungen ist, das öffentliche Leben bis zu einem solchen Grade zu zentralisieren, wie dies z. B. in Frankreich der Fall war. Das englische Königtum hatte stets eine stark entwickelte liberale Gegenströmung gegen sich, die tief im Volke wurzelte und welche der ganzen englischen Geschichte ihren eigenartigen Charakter gegeben hat. Tatsache ist, daß sich in keinem anderen Lande so viel von den alten Munizipalverfassungen erhalten hat wie gerade in England und daß die englische Städteordnung, soweit die lokale Selbständigkeit in Betracht kommt, noch heute die freieste in ganz Europa ist. Daß aber auch in England die staatliche Zentralgewalt stets bestrebt war dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben Fesseln anzulegen, die erst durch die Revolution gesprengt werden konnten, wurde bereits im ersten Teile dieses Werkes näher ausgeführt.
In seinem politischen Hauptwerk Du Principe fédératif gab Proudhon dem Gedanken Ausdruck:
«Das zwanzigste Jahrhundert wird die Ära der Föderationen eröffnen, oder die Menschheit wird wiederum in ein tausendjähriges Fegfeuer gestürzt werden. Das wahre Problem, das der Lösung harrt, ist in Wirklichkeit nicht mehr das politische, sondern das wirtschaftliche Problem.»
Proudhon wollte dem monarchistischen Gedanken, wie er es nannte, der durch die große Revolution den ersten schweren Schlag erlitten hatte, auf allen Gebieten der menschlichen Betätigung das Wasser abgraben; deshalb bezeichnete er den Kapitalismus als die Monarchie der Wirtschaft und glaubte, daß der Sozialismus dazu berufen sei, die internationalen Zusammenhänge der europäischen Kultur wiederherzustellen und auf eine höhere Bahn zu lenken, die der nationale Einheitsgedanke zerrissen hatte. Deshalb sah er in einer Föderation der europäischen Völker auf neuen Wirtschaftsgrundlagen das unmittelbare Ziel einer neuen europäischen Entwicklung in der Richtung zum Sozialismus.
Allein das zwanzigste Jahrhundert hat uns dem Föderalismus nicht nähergebracht; im Gegenteil, es hat die politische und soziale Zentralisation bis auf die Spitze getrieben und dem totalitären Staat den Weg bereitet. Und gerade die sozialistischen Parteien, die sich vollständig im Getriebe der nationalen Politik verirrten, haben zu dieser Entwicklung nicht wenig beigetragen. Wohin uns diese Entwicklung führte, dafür legen die beiden Weltkriege und ihre ungeheuerlichen Folgen beredtes Zeugnis ab. Gerade die Sucht, alles zu einen und auf den Gleichklang einer politischen Maschine abzustimmen, brachte uns die vollständige Zerrissenheit aller politischen und wirtschaftlichen Zustände und die Verleugnung jedes internationalen Gedankens. Diese Einsicht bricht sich heute sogar bei manchen Sozialisten Bahn, die früher weder Auge noch Ohr für eine Entwicklung hatten, die folgerichtig zu einer vollständigen Verleugnung aller sozialistischen Grundsätze führen mußte. So brachte die sozialdemokratische Neue Volkszeitung in Neuyork diese Tage (26. Juli 1947) einen Aufsatz, Zur Krise des Sozialismus, von Josef Hofbauer aus Schweden, der sich mit den kritischen Gedankengängen des bekannten schwedischen Dichters und Sozialdemokraten Ture Nerman beschäftigt und daran folgende Betrachtungen knüpft:
«Es ist nur jene Leerheit da, von der Ture Nerman sprach, ein Gefühl, daß irgend etwas fehlt. Sie singen die Internationale und wissen nicht, daß sich die sozialistische Bewegung mit Riesenschritten von der Möglichkeit der Verwirklichung ihres höchsten Zieles entfernt hat – jenes Zieles, das so stolz und siegesgewiß dieses Lied verkündet: Die Internationale wird die Menschheit sein! Denn die Politik vieler sozialistischer Parteien ist so nationalistisch geworden, so imperialistisch, daß im Vergleich mit ihr der Sozialpatriotismus sozialistischer Parteien während des ersten Weltkrieges blaß und harmlos erscheint.
Was ist vom tschechischen Internationalismus in den tschechischen Kommunisten und Sozialdemokraten übriggeblieben, die auf solche Weise den Festtag des internationalen Sozialismus feiern? [Gemeint ist die l. Mai-Feier in Prag, die einen wüsten chauvinistischen Charakter angenommen hatte.]
Was ist das für ein Internationalismus, der annektiert und austreibt? Wann war je die Bourgeoisie chauvinistischer, imperialistischer?
Wo sind die sozialistischen Parteien, die es wagen, Annexionen und Völkeraustreibungen zu verurteilen?»
Gut gesagt, aber dieser neueste sozialistische Imperialismus ist doch nur das logische Ergebnis einer nationalen Politik, die mehr oder weniger von allen sozialistischen Arbeiterparteien seit Jahrzehnten betrieben wurde. Ist sie doch in sich selbst nur ein Produkt der erschreckenden Ungeistigkeit der Zeit und des völligen Mangels an jedem höheren Kulturgefühl. Wir befinden uns schon lange im Fegfeuer, das Proudhon so richtig vorausahnte, und niemand kann voraussagen, wann uns die Stunde der Erlösung schlagen wird. Daß aber die Lösung des Problems, von dem Proudhon gesprochen hatte, nur im Rahmen einer Föderation freier Gemeinden auf der Basis gemeinsamer gesellschaftlicher Belange möglich ist, wird heute mehr und mehr allen zur inneren Gewißheit, welche die Gefahren der nächsten Zukunft erkannt haben und nicht wollen, daß die Menschheit im Staatskapitalismus langsam vertrottle.
XXIII. Die Illusion nationaler Kulturbegriffe
Die Wesenseinheit aller Kultur. Die Gefahr der Kollektivbegriffe, Vergleichende Völkerpsychologie. Der Einfluß des Geselligkeitstriebes. Individual- und Massenpsychologie. Werturteile über fremde Völker. Das Bild der eigenen Nation, eine Wunschvorstellung. Das Symbol der Nation. Die Illusion einer nationalen Kultur. Das Unbegrenzte alles Kulturgeschehens. Der Kapitalismus als Zeitergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Rationalisierung der kapitalistischen Wirtschaft. Die Amerikanisierung Europas. Einfluß der kapitalistischen Wirtschaft auf die moderne Staatspolitik. Die Staatsform kein Ausdruck besonderer nationaler Veranlagungen. Der moderne Verfassungsstaat. Das Wesen der Parteien. Die parlamentarische Maschine. Der wirtschaftliche Individualismus und der kapitalistische Staat. Der Wirtschaftsnationalismus. Politische Neugestaltungen der Gegenwart.
Es gibt keine wie immer geartete Kultur, von der man behaupten könnte, daß sie völlig unabhängig und ohne fremde Einflüsse entstanden wäre. Zwar haben wir uns schon früh daran gewöhnt, die sogenannte Kulturgeschichte nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen, wie etwa ein Apotheker seine Stoffe in Büchschen, Fläschchen und Schächtelchen verteilt, aber man kann nicht behaupten, daß wir dadurch viel gewonnen hätten. Indem wir uns bemühten, die inneren Gegensätze zwischen den verschiedenen Kulturgebilden recht plastisch herauszuarbeiten, verloren wir die Fähigkeit, die gemeinsamen Züge, die aller und jeder Kultur zugrunde liegen, richtig zu werten; wir sahen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Spenglers Untergang des Abendlandes ist nur ein verspätetes, aber folgerichtiges Ergebnis dieser Besessenheit. Erst die überraschenden Resultate der modernen Ethnologie und Soziologie haben unser Verständnis für die auffallende Ähnlichkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsvorgänge bei den verschiedenen Menschengruppen wieder geschärft und eine Revision aller überlieferten Begriffe angebahnt. Überall, wo die wissenschaftliche Forschung bisher an die Erschließung einer vergangenen Kulturepoche herangetreten ist, stieß sie auf Reste älterer Kulturen oder auf Verbindungen und Übergänge, die den befruchtenden Einfluß früherer Gesellschaftsgebilde deutlich erkennen lassen.
«Aus dieser Welt können wir nicht fallen», wie Grabbe sagte. Dieser Ausspruch erinnert uns immer wieder an das Wesentliche und Allgemeine, das alle Menschen miteinander verbindet und das trotz aller Besonderheiten, die aus der Verschiedenheit des Klimas und der äußeren Lebensbedingungen hervorgehen, das innere Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Menschengruppen kaum beeinträchtigt. Wir sind alle Kinder dieser Erde und denselben Gesetzen des Lebens unterworfen, die im Hunger und in der Liebe ihren elementarsten Ausdruck finden. Und weil unsere physiologische Beschaffenheit im großen und ganzen dieselbe ist, weil die natürliche Umwelt, in der wir leben, im selben Maße auf uns einwirkt, wenn auch die äußeren Bedingungen nicht überall die gleichen sind, so ist auch der geistige und seelische Niederschlag, den die äußere Umgebung bei uns bewirkt, viel ähnlicher, als die meisten ahnen. Überall kämpft der Mensch für die Erhaltung seiner Art und innerhalb der Art für seine persönliche Existenz; überall sind die Gründe seines Handelns dieselben. Die natürliche Umgebung und die angebotenen Triebe, die ihm durch die ununterbrochene Kette der Ahnen vermittelt werden und die im Unterbewußtsein unserer Sinne wirken, lassen überall dieselben Urformen des religiösen Empfindens entstehen. Der Kampf um die Existenz führt in allen Zonen zu bestimmten Formen des wirtschaftlichen und politischen Lebens, die häufig eine überraschende Ähnlichkeit aufweisen, sogar wenn es sich um Völker verschiedener Rassen handelt, die durch Länder und Meere voneinander getrennt sind. Das alles zeigt, daß unser Denken und Handeln infolge derselben physiologischen Eigenschaften und der Empfänglichkeit für die Einflüsse der Umwelt denselben Grundgesetzen des Lebens unterworfen ist, denen gegenüber alle Verschiedenheiten des Ausdrucks nur eine untergeordnete Rolle spielen. In den meisten Fällen handelt es sich bloß um Unterschiede des Grades, die sich aus den höheren oder primitiveren Kulturbedürfnissen von selbst ergeben.
Seit Hegel und andere uns das Denken in abstrakten Allgemeinbegriffen beigebracht haben, ist diese Art des Denkens Mode geworden. Man hat sich daran gewöhnt, mit psychologischen Quantitäten zu operieren, und gelangt dabei zu den verwegensten Verallgemeinerungen, ohne daß die meisten auch nur ahnen, daß sie die Opfer willkürlicher Voraussetzungen geworden sind, die zu den abwegigsten Folgerungen führen müssen. Nachdem Lazarus und Steinthal, den Spuren Herbarts folgend, die sogenannte vergleichende Völkerpsychologie mit allem erdenklichen Scharfsinn konstruiert hatten, ging die Reise in dieser Richtung lustig weiter und führt uns mit zwingender Logik zu der abstrakten Vorstellung einer Massen-, Klassen- und Rassenseele und ähnlicher, der Akrobatik des Geistes entsprungener Begriffe, unter denen man sich alles und nichts denken kann. So wurde uns Dostojewski zum Inbegriff der slawischen Seele wie Goethe zum Künder der deutschen. Der Engländer erscheint uns als die lebendige Verkörperung des nüchternen Verstandes, dem jede gemütvolle Betrachtung der Dinge versagt blieb; der Franzose als Träger einer frivolen Ruhmsucht und die Deutschen als Volk der Dichter und Denker. Und wir berauschen uns an diesem Wortgebimmel und freuen uns königlich, wenn die Sprache mit einem neuen Wortfetisch bereichert wird. Sprechen wir doch allen Ernstes von einem Volksindividuum, ja sogar von einem Staatsindividuum, worunter man keineswegs einen Menschen versteht, der einem gewissen Volke angehört oder Bürger eines bestimmten Staates ist; nein, man behandelt in diesem Falle ein ganzes Volk oder einen ganzen Staat, als wenn sie Einzelwesen mit bestimmten Charakteranlagen und besonderen psychischen Eigenschaften oder geistigen Qualitäten wären. Man verstehe wohl, was das heißt: Man stattet ein abstraktes Gebilde wie Staat oder Volk, das uns lediglich einen soziologischen Begriff vermittelt, mit bestimmten Eigenschaften aus, die nur an dem Einzelwesen wahrnehmbar sind, auf eine Allgemeinheit angewendet aber unwiderruflich zu den ungeheuerlichsten Trugschlüssen führen müssen.
Wie solche Konstruktionen zustande kommen, hat uns Lazarus in der Begründung seiner Völkerpsychologie mit aller Deutlichkeit gezeigt. Nachdem er die Eigenschaften des Einzelwesens unbedenklich auf ganze Völker und Nationen übertragen hatte, erklärte er tiefsinnig, daß der einzelne Mensch bloß als Träger des Gesamtgeistes in Frage komme und nur als solcher Vermittler von Ideen sei.[146] Den Gedankengängen Wilhelm von Humboldts folgend, stützten sich Lazarus und Steinthal vornehmlich auf die Verschiedenheit der Sprachen, deren organischen Aufbau sie aus der besonderen Geistesart jedes Volkes abzuleiten versuchten. Auf diese besondere geistige und seelische Einstellung führten sie auch den Unterschied in den religiösen Vorstellungen der Völker, in ihren Regierungsformen, ihren gesellschaftlichen Einrichtungen und ihren ethischen Begriffen zurück und schrieben jeder Nation eine besondere Art des Fühlens und Denkens zu, die sie weder willkürlich annehmen noch ablegen können.
Wir haben seitdem gelernt, daß die Sprache als Ausdruck für den besonderen Geistes- und Seelenzustand eines Volkes überhaupt nicht in Frage kommt, da es kein Volk mehr gibt, das sich bei seiner Ursprache gehalten oder seine Sprache im Laufe seiner Geschichte nicht gewechselt hätte, wie bereits früher ausgeführt wurde. Ebenso verhält es sich mit den verschiedenen Regierungsformen, Gesellschaftseinrichtungen, Moralanschauungen und Religionssystemen. Trotzdem ging man auf dem von Lazarus und Steinthal eingeschlagenen Wege immer weiter voran. Gustav Le Bon wurde zum Begründer der Massenpsychologie, andere entdeckten die Psyche der Klasse, während die Gobineau, Chamberlain, Woltmann, Günther usw. glücklich die Rassenseele gefunden haben. Dabei verfuhren alle nach derselben Methode: sie übertrugen die besonderen Eigenschaften des Einzelwesens auf Nationen, Klassen und Rassen und glaubten, damit ein abstraktes Gebilde in einen lebenswarmen Organismus verwandelt zu haben. Es ist dies dieselbe Methode, nach welcher der Mensch seine Götter schuf, indem er sein eigenes Wesen auf das bleiche Gebilde seiner Einbildungskraft übertrug und dieses zum Herrn seines Lebens machte. Wer wollte bezweifeln, daß die Erfinder der verschiedenen Kollektivpsychologien, die ihre Schemen ganz auf dieselbe Art konstruierten, nicht notwendigerweise zu denselben Ergebnissen gelangen mußten? Jede auf diese Art zustande gekommene Kollektivvorstellung wird zum Saturn, der in diesem Falle allerdings nicht seine eigenen Kinder, wohl aber seine eigenen Väter verschlingt.
Als man anfing, mit dem Begriff der Massenpsychologie zu operieren, wollte man zunächst damit andeuten, daß der Mensch, wenn er mit vielen seinesgleichen zusammen ist und durch irgendeinen Anlaß von derselben Erregung erfaßt wird, einer besonderen Gemütsbewegung unterliegt, die ihn unter Umständen zu Taten verleitet, die er, auf sich allein gestellt, nie begehen würde. So weit, so gut. Ohne Zweifel gibt es solche Stimmungen; doch haben wir es auch hier stets mit einer Stimmung des Einzelwesens zu tun und nicht mit einer Stimmung der Masse als solcher. Gemütsbewegungen dieser Art entspringen zweifellos dem Geselligkeitstriebe des Menschen und bezeugen nur, daß dieser ein wesentlicher Zug seiner menschlichen Existenz ist. Auf diese Art entstehen Stimmungen des allgemeinen Schmerzes oder der allgemeinen Freude und Begeisterung, wie ja überhaupt jedes tiefere seelische Empfinden des Einzelwesens durch den unmittelbaren Einfluß seiner gesellschaftlichen Umgebung zustande kommt. Ein Massenausdruck des menschlichen Fühlens, wie wir ihn bei Kundgebungen größerer Menschenmengen beobachten können, ist nur deshalb so eindrucksvoll, weil hier die Gesamtsumme jedes Einzelempfindens mit elementarer Wucht zur Geltung kommt und infolgedessen den Gemütszustand des einzelnen außerordentlich anregt.
Übrigens lassen sich Ähnlichkeiten des Empfindens bei den Einzelwesen nicht bloß in Verbindung mit großen Massen, sondern auch unter anderen Begleiterscheinungen leicht feststellen, wodurch immer wieder zum Ausdruck kommt, daß bei den Menschen, ungeachtet aller Verschiedenheiten, gewisse gemeinsame Grundinstinkte vorhanden sind. So ruft erzwungene Einsamkeit, aber auch erzwungene Gesellschaft bei vielen Einzelwesen ganz ähnliche Gemütsbewegungen hervor, die sehr häufig sogar dieselben Handlungen zur Folge haben. Dasselbe läßt sich bei gewissen Krankheitserscheinungen, bei sexueller Erregung und hundert anderen Gelegenheiten beobachten. Man kann daher lediglich von einem individuellen Seelen- oder Geisteszustand sprechen, da ja nur bei dem Einzelwesen die physiologischen Voraussetzungen für Gemütsbewegungen irgendwelcher Art und geistige Eindrücke vorhanden sind, nicht aber bei abstrakten Wesenheiten wie Staat, Masse, Nation oder Rasse. Wir können uns die Entstehung eines Gedankens ohne die Funktion des Gehirns oder Gefühlseindrücke ohne die Vermittlung der Nerven ebensowenig vorstellen wie den Verdauungsprozeß ohne die dazugehörigen Organe. Schon aus diesem Grunde fehlt jeder Kollektivpsychologie der feste Boden, auf dem allein nutzbringende Vergleiche angestellt werden können. Allein die Anhänger jener Theorien nehmen an diesen Kleinigkeiten keinen Anstoß und generalisieren lustig darauf los; was dabei herauskommt, ist mitunter sehr geistreich konstruiert, aber das ist auch alles.
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, Nation oder Rasse entscheidet noch lange nicht über das gesamte Denken und Fühlen des Einzelwesens; ebensowenig läßt sich aus der Denkweise und Charakterveranlagung einzelner der Wesensinhalt einer Nation, Rasse oder Klasse herausdestillieren. Jedes kleinere oder größere Gesellschaftsgebilde umfaßt Menschen mit allen nur denkbaren Charaktereigenschaften, Geistesanlagen und praktischen Betätigungsinstinkten, in welchen alle Schattierungen des menschlichen Fühlens und Denkens ihren Ausdruck finden. Zwischen den Menschen, die einer solchen Gruppe angehören, besteht in der Regel ein unbestimmtes Verwandtschaftsgefühl, das dem einzelnen zwar nicht angeboren, sondern anerzogen wird, das aber für die Beurteilung des Ganzen wenig Bedeutung hat. Dasselbe gilt auch von Ähnlichkeiten physischer und geistiger Natur, welche in den Bedingungen der Umwelt ihre Ursache finden. In jedem Falle treten die besonderen Anlagen des Einzelwesens in seiner ganzen Entwicklung viel schärfer hervor als gewisse gemeinsame Züge, die sich bei bestimmten Menschengruppen im Laufe der Zeit herausbilden. Das hatte übrigens schon Schopenhauer ganz richtig erkannt, wenn er sagte:
«Übrigens überwiegt die Individualität bei weitem die Nationalität, und in einem gegebenen Menschen verdient jene tausendmal mehr Berücksichtigung als diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel Gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Vielmehr erscheint nur die menschliche Beschränkung, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in jedem Lande in einer anderen Form, und diese nennt man den Nationalcharakter. Von einem derselben angeekelt, loben wir den anderen, bis es uns mit ihm ebenso ergangen ist. – Jede Nation spottet über die anderen, und alle haben recht.»
Was Schopenhauer hier über die Nationalität und den Nationalcharakter sagt, läßt sich ohne weiteres auf alle ähnlichen Kollektivbegriffe anwenden. Die Eigenschaften, welche die Psychologen der Menge ihren Kollektivgebilden beilegten oder andichteten, entsprechen nur selten der Wirklichkeit; sie sind stets das Ergebnis persönlicher Wunschvorstellungen und daher nur als Phantasiegebilde zu bewerten. Die Rasse oder Nation, deren Charakterqualitäten der Rassen- oder Völkerpsychologe darzustellen sich unternimmt, wird stets dem Bilde entsprechen, das er sich gerade von ihr zurechtgelegt hat. Ja nach der Anhänglichkeit oder der Abneigung, die er in einem gegebenen Moment für sie empfindet, wird diese Rasse oder Nation genial, ritterlich, treu, idealistisch, ehrlich oder geistig minderwertig, berechnend, treulos, materialistisch und verräterisch sein. Man vergleiche die verschiedenen Werturteile, die während des Weltkrieges von Angehörigen aller Nationen über andere Nationen abgegeben wurden, und man wird sich über die wahre Bedeutung solcher Einschätzungen keinen Illusionen mehr hingeben können. Noch niederschmetternder wäre der Eindruck, wenn man dabei auch Werturteile aus früheren Perioden zum Vergleiche mit heranziehen würde, um sie den späteren gegenüberzustellen. Etwa den Hymnus des französischen Romantikers Victor Hugo auf die deutschen Völker oder die Ode des englischen Dichters Thomas Campbell An die Deutschen und als Gegenstücke dazu die nationalen Ergüsse der ehrbaren Zeitgenossen in beiden Ländern auf dieselben Deutschen. Wenn hier von Engländern und Franzosen die Rede ist, so soll den Deutschen damit kein besseres Zeugnis ausgestellt werden. Man lese die hirnverbrannten Urteile deutscher Rassentheoretiker über die angebliche Minderwertigkeit der Briten und die Degeneration der Franzosen, und man begreift ohne weiteres die Maxime Nietzsches: «Mit keinem Menschen umgehen, der an dem verlogenen Rassenschwindel einen Anteil hat.»
Wie sehr veränderte Umstände und Augenblicksstimmungen auf das Urteil über fremde Nationen einwirken, geht aus den Ausführungen zweier französischer Autoren hervor, die Karl Lahn in seinem lesenswerten und freimütigen Schriftchen Franzosen festgehalten hat. So gab Frédéric-Constant de Rougemont über die Deutschen folgendes Urteil zum besten:
«Der Deutsche kam zur Welt zu einem Seelenleben. Es fehlt ihm die laute, leichte Heiterkeit der Franzosen. Seine Seele ist reich, seine Neigung zart und tief. Bei der Arbeit bleibt er unermüdlich, im Unternehmen ausdauernd. Kein Volk kennt eine höhere Moral, bei keinem erreichen die Menschen ein höheres Lebensalter … Während die Bewohner anderer Länder ihren Ruhm darein setzen, Franzosen, Engländer oder Spanier zu sein, schließt der Deutsche in seiner unvoreingenommenen Liebe die ganze Menschheit ein. Schon wegen ihrer Lage inmitten Europas scheint die deutsche Nation zugleich das Herz und die überlegene Vernunft der Menschheit zu sein.»
Man vergleiche diese Ausführungen mit dem Urteil des Dominikanerpaters Didon in seinem Buche Les Allemands über dieselben Deutschen:
«Ich habe niemals bei den heutigen Deutschen, selbst in dem Alter, in welchem man den ritterlichen Gedanken am zugänglichsten ist, eine schwungvolle Regung überraschen können, die über den Gesichtskreis des deutschen Vaterlandes hinausreichen würde. Die Grenze zwängt den Germanen ganz und gar ein. Der Eigennutz ist sein oberstes Gesetz. Seine großen Staatsmänner sind bloß geniale Nützlichkeitsmenschen. Ihre selbstsüchtige Politik, die mehr nach Nutzen als nach Ruhm gierig ist, hat niemals die leiseste Mißbilligung des Landes erfahren, welches widerstandslos und blind deren Orakel annimmt. Die Deutschen schaffen sich Bundesgenossen, aber keine Freunde. Die, welche sie an sich ketten, lassen sich durch das Interesse oder die Furcht packen, da sie an ihre harte Zukunft denken müssen. Wie sollte man keine Furcht haben, wenn man der Gnade einer Macht überliefert ist, die nicht von Gerechtigkeit beseelt wird, und wenn die selbstsüchtige Kraft unbeschränkt herrscht? … Deutschlands Übergewicht in Europa bedeutet den allgemeinen Militarismus, die Herrschaft des Schreckens, der Gewalt, der Selbstsucht. Ich habe unzählige Male versucht, bei ihnen irgendeine Sympathie für andere Nationen zu entdecken, es ist mir nicht geglückt.»
Beide Urteile heben einander völlig auf, obwohl sie ohne Zweifel – jedes in seiner Art – die öffentliche Meinung in Frankreich beeinflußt haben. Immerhin gibt es noch eine gewisse Erklärung für den klaffenden Widerspruch, der uns hier entgegentritt. Beide Urteile kommen von zwei verschiedenen Menschen; das eine wurde vor, das andere nach dem Deutsch-Französischen Kriege von 1870-71 abgegeben. Da war man in der großen Zeit der Lüge, die hirnverbrannte Tröpfe als Stahlbad der Völkerverjüngung bezeichnet haben, mit dem Urteil etwas rascher bei der Hand und hatte außerdem gelernt, ein Urteil den Umständen entsprechend zu modifizieren. So gab der Popolo d’Italia, das Organ des späteren Diktators Mussolini, über die Rumänen, ehe diese in den Krieg eintraten und sich auf die Seite der Alliierten schlugen, folgendes liebenswürdige Urteil ab:
«Man höre doch endlich auf, die Rumänen unsere Schwesternation zu nennen. Sie sind keine Romanen, wenngleich sie sich mit diesem edlen Namen zieren. Es ist ein Gemisch von barbarischen Urvölkern, die von den Römern unterjocht wurden, mit Slawen, Petschenegen, Chazaren, Avaren, Tataren, Mongolen, Hunnen, Türken und Griechen, und da kann man sich leicht denken, was für ein Lumpenpack dabei herauskam. Der Rumäne ist noch heute ein Barbar und minderwertiges Individuum, das nur zum allgemeinen Gespött der Franzosen die Pariser nachäfft und gerne im trüben fischt, wo keine Gefahr ist, der er möglichst aus dem Wege geht. Dies zeigte er schon 1913.»
Kaum aber waren die Rumänen in den Krieg eingetreten, um auf der Seite der Alliierten zu fechten, schrieb dieselbe Zeitung Mussolinis von ihnen:
«Die Rumänen haben jetzt auf das glänzendste bewiesen, daß sie würdige Söhne der alten Römer sind, von denen sie ebenso abstammen wie wir selbst. Es sind also unsere nächsten Brüder, die jetzt mit dem ihnen eigenen Mute und Entschlossenheit sich dem Kampfe der lateinischen und slawischen Rasse gegen die germanische anschließen, mit anderen Worten dem Kampfe für Freiheit, Kultur und Recht gegen preußische Tyrannei, Willkürherrschaft, Barbarei und Selbstsucht. So wie die Rumänen 1877 gezeigt haben, was sie an der Seite unserer tapferen russischen Bundesgenossen gegen türkische Barbarei zu leisten vermochten, so werden sie auch jetzt mit denselben Bundesgenossen gegen österreichisch-ungarisch-deutsche Barbarei und Unkultur ihr scharfes Schwert in die Waagschale werfen und diese zum Sinken bringen. Es war ja gar nicht anders zu erwarten von einem Volke, das die Ehre hat, der lateinischen Rasse anzugehören, die einst die Welt beherrschte!»[147]
Es wäre eine dankbare Aufgabe, ähnliche Werturteile, die während des Weltkrieges über die verschiedenen Nationen gefällt wurden, sorgfältig zu sammeln und einander gegenüberzustellen. Eine solche Sammlung würde besseres Zeugnis für den Ungeist unserer Zeit ablegen als die schönsten Kommentare unserer Historiker.
Ist das Urteil sogenannter Rassen- oder Völkerpsychologen über fremde Nationen in der Regel ungerecht, einseitig und künstlich konstruiert, so wirkt die fortgesetzte Verherrlichung der eigenen Nation auf die Kosten aller anderen geradezu albern und kindisch, vorausgesetzt, daß man überhaupt noch Gefühl für solche Dinge hat. Man stelle sich einen Menschen vor, der keine Gelegenheit verpaßt, sich als Ausbund aller Weisheit, Genialität und Tugend zu brüsten und bei dieser Selbstbeweihräucherung alle anderen herabsetzt und als minderwertig abtut. Man würde ihn sicherlich für einen eitlen Tropf oder für einen Kranken halten und ihn demgemäß behandeln. Allein wenn es sich um die eigene Nation handelt, nimmt man den schlimmsten Wahnwitz mit in Kauf und schämt sich durchaus nicht, in allen Tugenden zu prangen und die anderen als Menschen zweiter Ordnung zu betrachten, als ob es unser Verdienst gewesen wäre, als Deutsche, Franzosen oder Chinesen auf die Welt zu kommen. Sogar bedeutende Geister unterliegen derselben Schwachheit, und der englische Philosoph Hume wußte, was er sagte, wenn er ausführte:
«Wenn unsere Nation mit einer anderen in Krieg gerät, so verabscheuen wir die feindliche Nation von ganzem Herzen und nennen sie grausam, treulos, ungerecht und gewalttätig; uns selbst aber und unsere Verbündeten halten wir für redlich, vernünftig und milde. Unsere Verrätereien bezeichnen wir als Klugheit, unsere Grausamkeiten werden uns zu Notwendigkeiten. Kurz, unsere Fehler erscheinen uns klein und unbedeutend, wir benennen sie nicht selten mit dem Namen der Tugend, die ihnen am nächsten liegt.»
Jede Kollektivpsychologie krankt an diesen Unzulänglichkeiten und ist durch die Logik ihrer eigenen Voraussetzungen gezwungen, leere Wünsche als konkrete Tatsachen auszugeben. Dadurch aber gelangt sie ganz von selbst zu Folgerungen, die jeder Selbsttäuschung den Weg ebnen. Noch unglücklicher aber ist es, von einer nationalen Kultur zu sprechen, in welcher der besondere Geist oder die besondere Seele jedes Volkes angeblich zum Ausdruck gelangt. Der Glaube an die nationale Kulturseele beruht auf derselben Illusion wie die historischen Sendungen der Bossuet, Fichte, Hegel und ihrer zahlreichen Nachfolger.
Kultur als solche ist nie national; schon deshalb nicht, weil sie über den politischen Rahmen staatlicher Gebilde hinauswächst und durch keine nationalen Grenzen gebunden wird. Ein kleiner Ausblick auf die verschiedenen Gebiete des kulturellen Lebens wird dies leicht bestätigen. Wir werden dabei von jeder künstlichen Trennung zwischen Zivilisation und Kultur absehen. Unsere Betrachtungen werden sich vielmehr auf alle Gebiete erstrecken, auf denen das bewußte Eingreifen des Menschen in das rohe Naturgeschehen zum Ausdruck gelangt, von der materiellen Gestaltung des Wirtschaftslebens bis zu den entwickeltsten Formen geistigen Schaffens und künstlerischer Betätigung, denn auch für uns gilt, was Karel Capek so schön in die Worte kleidete:
«Alle menschliche Tätigkeit, die das Ziel hat, unser Leben zu vervollkommnen, zu erleichtern und zu ordnen, ist kulturell. Es gibt keinen gähnenden Riß zwischen Kultur und allem anderen. Ich würde nicht behaupten, daß das Brüllen der Motoren die Musik der Gegenwart ist. Aber das Brüllen der Motoren ist eine der Stimmen der Polyphonie des kulturellen Lebens, so wie der himmlische Klang einer Geige oder die Worte des Redners oder das Geschrei auf dem Sportplatz Stimmen dieser Polyphonie sind. Die Kultur ist kein Abschnitt oder Bruchteil des Lebens, sie ist seine Summe und sein Mittelpunkt.»
Es wäre ein vergebliches Bemühen, das kapitalistische Wirtschaftssystem, unter dem wir leben, auf seinen nationalen Ursprung oder Inhalt zu prüfen. Der moderne Kapitalismus, welcher die Monopolisierung der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Reichtümer im Interesse kleiner Minderheiten in einer fabelhaften Weise entwickelt und damit die breiten Massen der werktätigen Bevölkerung allen grausamen Folgen der Lohnsklaverei ausgeliefert hat, ist weder das Ergebnis irgendwelcher nationalen Bestrebungen, noch hat er ideologisch mit solchen Bestrebungen das geringste zu tun. Es ist wahr, daß die Träger der kapitalistischen Wirtschaft unter gewissen Voraussetzungen nationale Bestrebungen begünstigen, aber dann geschieht es stets aus Berechnung, denn die nationalen Belange, für die sie sich einsetzen, waren immer nur ihre eigenen Belange. Keine Wirtschaftsordnung der Vergangenheit hat so offenkundig und rücksichtslos alle sogenannten nationalen Grundsätze der Raffsucht kleiner Minderheiten in der Gesellschaft geopfert als gerade die kapitalistische.
Die Gestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsweise ging in allen Ländern mit einer so verblüffenden Gleichmäßigkeit vonstatten, daß man verstehen kann, wenn die Ökonomisten und Wirtschaftspolitiker immer wieder das Gesetzmäßige dieser Entwicklung betonen und in jeder Erscheinungsform des kapitalistischen Systems das unvermeidliche Ergebnis eiserner Wirtschaftsgesetze erblicken, deren Auswirkungen stärker sind als der Wille ihrer menschlichen Träger. In der Tat zeitigte der Kapitalismus in allen Ländern, die bisher von ihm erfaßt wurden, dieselben Erscheinungen, dieselben Wirkungen auf das Gesamtleben der Menschen ohne Unterschied von Rasse und Nation. Wo sich hie und da kleine Unterschiede bemerkbar machen, ist dies nicht die Folge besonderer nationaler Veranlagungen, sondern von Verhältnissen, die auf den Grad der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklungen zurückzuführen sind.
Das zeigt sich heute sehr deutlich in der Entwicklung der kapitalistischen Großindustrien in Europa und besonders in Deutschland. Es ist noch nicht lange her, daß man über die fabelhafte Entwicklung der amerikanischen Industrie und ihrer Arbeitsmethoden allerhand tiefgründige Betrachtungen anstellte. Man wollte in diesen Methoden die unvermeidlichen Auswirkungen eines besonderen amerikanischen Geistes erkennen, der sich mit dem Empfinden des Europäers und besonders des Deutschen nie vereinen ließe. Wer hätte angesichts der neuen Ergebnisse unseres gesamten Wirtschaftslebens heute noch den Mut, diese ebenso haltlose als überhebliche Behauptung zu verteidigen? Die berühmte, schon mehr berechtigte Rationalisierung der Wirtschaft mit Hilfe des Taylor Systems und der Fordschen Fließarbeit hat in Deutschland binnen weniger Jahre größere Fortschritte gemacht als in jedem anderen Lande. Wir haben längst begreifen gelernt, daß Taylorismus und Fordismus keineswegs spezifische Ergebnisse des amerikanischen Geistes sind, sondern augenfällige Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als solcher, für deren Vorteile der gemütvolle deutsche Unternehmer mindestens ebenso empfänglich ist wie der gerissenste Yankee, dessen rein materialistische Einstellung man früher nicht abfällig genug beurteilen konnte.
Die Tatsache, daß diese Methoden zuerst in Amerika aufkamen, ist noch kein Beweis, daß sie im amerikanischen Geiste begründet und als besondere nationale Veranlagung zu bewerten sind. Auch Ford und Taylor sind ihre Methoden nicht als Eingebungen des Himmels gekommen; auch sie hatten ihre Vorgänger und Schrittmacher, die aus der kapitalistischen Wirtschaft hervorgegangen sind und die sicherlich nicht durch besondere nationale Anlagen für diese Rolle bestimmt waren. Fließarbeit, Stoppuhr und scientific management, wie man die raffinierte Berechnung jeder Muskelbewegung bei der Arbeit getauft hat, sind aus der kapitalistisch eingestellten Industrie allmählich hervorgegangen und durch sie gefördert worden. Für den allgemeinen Charakter der mechanischen Produktion ist es von geringer Bedeutung, ob die eine oder die andere Maschine zuerst in Deutschland oder in Amerika Verwendung findet; dasselbe gilt auch für die Arbeitsmethoden, die sich aus der Entwicklung der modernen Technik ergeben.
Das Bestreben, die Produktion unter Aufwand der geringsten Kräfte möglichst ergiebig zu gestalten, ist auf das engste verbunden mit der modernen Maschinenproduktion und mit der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt. Die immer rascher vorwärtsschreitende Erschließung der Naturkräfte und ihre technische Verwertung, die stete Verfeinerung des mechanischen Werkzeugapparates, die Industrialisierung der Landwirtschaft und die wachsende Spezialisierung der Arbeit legen Zeugnis dafür ab. Daß gerade in Amerika die neuesten Erscheinungsformen des industriellen Kapitalismus sich früher als anderswo bemerkbar machten, hat mit nationalen Einflüssen nicht das geringste zu tun. In einem Lande, das von der Natur so ungemein begünstigt wurde und in dem die industrielle Entwicklung ein so riesenhaftes Tempo eingeschlagen hat, mußten die Extreme des kapitalistischen Wirtschaftslebens früher ausreifen und in schärferen Formen zutage treten. Fred Taylor, der in diesen phantastischen Entwicklungsvorgängen wurzelte und dessen Geist durch keinerlei alte Überlieferungen gehemmt wurde, erkannte mit sicherem Instinkt die schier unbegrenzten Möglichkeiten dieser Entwicklung. Die fortgesetzte Erhöhung der Leistungsfähigkeit in der Produktion war das Schlagwort der Zeit und führte zu immer weiteren Verbesserungen des mechanischen Apparates. War es unter diesen Umständen eine so unerhörte Erscheinung, daß ein Mensch auf die Idee kam, die Maschinen aus Fleisch und Knochen auf den Rhythmus der Maschine aus Stahl und Eisen einzustellen? Vom Taylorsystem bis zum fließenden Band war nur ein Schritt. Ford war der Nutznießer Taylors, und seine Genialität bestand lediglich darin, daß er dessen Methode für seine besonderen Zwecke weiterentwickelte und sie den neuen Bedingungen der Massenproduktion anpaßte.
Von Amerika verbreitete sich dieselbe Methode allmählich über ganz Europa. In Deutschland hat die Rationalisierung in wenigen Jahren eine vollständige Umwälzung in der gesamten Industrie hervorgerufen. Heute steht die französische Industrie in ihrem Zeichen. Die übrigen Länder folgten in gewissen Abständen nach, müssen folgen, wenn ihre Wirtschaft nicht ins Hintertreffen geraten soll. Sogar im bolschewistischen Rußland folgt man denselben Spuren und spricht von einer Sozialisierung des Taylorsystems, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß damit auch das Schicksal des Sozialismus besiegelt ist, den die russische Revolution verwirklichen wollte.
Was für diese neueste Phase der kapitalistischen Entwicklung gilt, das gilt für die Entwicklung des Kapitalismus überhaupt. Er hat sich überall unter denselben charakteristischen Begleiterscheinungen Bahn gebrochen. Weder die nationalen Grenzen der verschiedenen Staaten noch nationale und religiöse Überlieferungen konnten sein Vordringen verhindern. In Indien, China, Japan usw. lassen sich heute dieselben Erscheinungen beobachten, die uns der Frühkapitalismus in Europa beschert hat, nur daß sich die Entwicklungsvorgänge heute überall schneller abspielen. In allen modernen Industrieländern führt der Kampf um die Rohstoff- und Absatzgebiete, der für das Wesen der kapitalistischen Wirtschaft so bezeichnend ist, zu denselben Ergebnissen und gibt der äußeren Politik der kapitalistischen Staaten ihr eigenes Gepräge. Diese Erscheinungen vollziehen sich überall mit einer seltenen Gleichmäßigkeit und fast in denselben Formen. Nichts, aber auch nichts deutet darauf hin, daß hier Kräfte am Werk sind, die auf die besondere nationale Veranlagung des einen oder des anderen Volkes zurückzuführen wären.
Auch der Übergang vom Privat- zum Monopolkapitalismus, den wir heute in allen Industrieländern beobachten können, geht überall mit derselben Gleichmäßigkeit vor sich. Überall zeigt es sich, daß die kapitalistische Welt in eine neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten ist, die ihren wahren Charakter noch offenkundiger zum Ausdruck bringt. Der Kapitalismus durchbricht heute alle Grenzen der sogenannten nationalen Wirtschaftsgebiete und strebt immer eindeutiger nach einem Zustand organisierter Weltwirtschaft. Das Kapital, das sich früher noch an gewisse nationale Wirtschaftsinteressen gebunden fühlte, wächst sich zum Weltkapital aus und ist bestrebt, die Ausbeutung der gesamten Menschheit nach einheitlichen Grundsätzen auszubauen. Schon heute sehen wir, wie sich an Stelle der früheren nationalen Wirtschaftsgruppen immer deutlicher drei große Wirtschaftseinheiten herauskristallisieren: Amerika, Europa und Asien, und es gibt keinen Grund, weshalb die Entwicklung in dieser Richtung nicht weiter vorangehen sollte, solange das kapitalistische System überhaupt noch widerstandsfähig ist.
War früher die freie Konkurrenz das große Schlagwort der kapitalistischen Wirtschaftspolitiker, die in dem freien Spiel der Kräfte die notwendige Auswirkung eines eisernen Wirtschaftsgesetzes erblickten, so muß diese bereits veraltete Form heute mehr und mehr der Wirtschaftsstrategie kollektiver kapitalistischer Gebilde das Feld räumen, die bestrebt sind, durch nationale und internationale Vertrustung jede Konkurrenz auszuschalten, um einheitliche Preisdiktate zu erzielen. Sorgte früher der gegenseitige Wettbewerb der Privatbesitzer in Industrie und Handel dafür, daß der Unternehmer und der Kaufherr in normalen Zeiten ihre Preise nicht allzu hoch schrauben konnten, so sind die Träger der großen Wirtschaftskartelle heute leicht imstande, jeden privaten Wettbewerb zu unterbinden und den Verbrauchern die Preise aus eigener Machtvollkommenheit vorzuschreiben. Körperschaften wie die Internationale Rohstahlgemeinschaft und hundert andere zeigen deutlich den Weg dieser Entwicklung. Zusammen mit dem alten Privatkapitalismus verschwindet auch seine Parole des laissez faire, um der Wirtschaftsdiktatur des modernen Kollektivkapitalismus Platz zu machen.
Nein, unser heutiges Wirtschaftssystem hat auch nicht eine nationale Ader in sich, ebensowenig die Wirtschaftssysteme der Vergangenheit, wie die Wirtschaft überhaupt. Was hier von dem modernen Industriekapitalismus gesagt wurde, das gilt auch für die Operationen des Handels- und Bankkapitals. Seine Vertreter und Nutznießer fühlen sich in allen Sätteln gerecht: sie zetteln je nach Bedarf Kriege an und organisieren «Revolutionen»; sie liefern der modernen Politik die nötigen Schlagworte, welche die grausame und unersättliche Gier kleiner Minderheiten hinter dem trügenden Schleier irreführender Ideen verbergen müssen. Durch eine feile und verlogene Presse korrigieren und formen sie die sogenannte öffentliche Meinung und setzen sich mit kühlem Zynismus über alle Gebote der Menschlichkeit und der gesellschaftlichen Moral hinweg; mit einem Wort, sie machen den persönlichen Gewinn zum Ausgangspunkt aller Erwägungen und sind stets bereit, diesem Moloch das Wohl und Wehe der eigenen Nation und der ganzen Menschheit zu opfern.
«Wo unschuldige Gemüter tiefe politische Ursachen oder Nationalhaß wittern, liegt gar nichts anderes vor als die von den Flibustiern der Finanz angezettelten Verschwörungen. Sie beuten alles aus; politische und wirtschaftliche Rivalitäten, nationale Feindseligkeiten, diplomatische Überlieferungen und Religionsstreitigkeiten. In allen Kriegen des letzten Vierteljahrhunderts findet man die Hand der Großfinanz. Die Eroberung Ägyptens und des Transvaal, die Annexion von Tripolis, die Okkupation Marokkos, die Teilung Persiens, die Gemetzel in der Mandschurei und das internationale Blutbad in China bei Gelegenheit des Boxeraufstandes, die Kriege Japans – überall stößt man auf die Großbanken… Die hunderttausende Menschen, die der Krieg kosten wird – was geht das die Finanz an? Der Kopf des Finanzmanns hat mit Zahlenreihen zu tun, die sich gegenseitig aufwiegen. Das Übrige ist nicht seine Sache; er besitzt nicht einmal die nötige Phantasie, um die Menschenleben in seine Berechnung aufzunehmen.»[148]
Der Kapitalismus ist sich in seinen Bestrebungen überall gleich, ebenso in der Wahl seiner Mittel. Auch seine verheerenden Wirkungen auf das Geistes- und Gefühlsleben der Menschen sind überall dieselben. Seine praktische Betätigung führt in allen Teilen der Erde zu denselben Ergebnissen und gibt den Menschen eine besondere Prägung, die man früher nicht kannte. Verfolgt man diese Erscheinung mit wachen Augen, so kann man sich unmöglich der Überzeugung verschließen, daß unser modernes Wirtschaftssystem das geschichtliche Erzeugnis einer bestimmten Epoche ist und keineswegs das Ergebnis besonderer nationaler Bestrebungen. An dem Zustandekommen dieses Zustandes sind Kräfte aller Nationen beteiligt gewesen. Will man sein inneres Wesen wirklich erfassen, so muß man sich in die geistigen und materiellen Voraussetzungen der kapitalistischen Epoche versenken; allein es wäre vergebliche Mühe, die wirtschaftlichen Grundlagen dieser und aller vergangenen Gesellschaftsperioden nach sogenannten nationalen Gesichtspunkten beurteilen zu wollen.
Das ist ja die Ursache, weshalb der sogenannte Wirtschaftsnationalismus, der heute so viel von sich reden macht und sogar ausgesprochene Sozialisten in seinen Bann gezogen hat, so hoffnungslos verstiegen ist. Aus der Tatsache, daß die alten nationalen Wirtschaftseinheiten heute immer mehr von der Weltwirtschaft der internationalen Trusts und Kartelle verdrängt werden, hat man den etwas voreiligen Schluß gezogen, daß die gesamte Wirtschaft umzugestalten und neu zu gliedern sei, und zwar auf Grund der jedem Volke innewohnenden besonderen Anlagen und Fähigkeiten, die in seiner nationalen Eigenart begründet sind. So betrachtet man die Betätigung in der Kohlenindustrie und ihren verschiedenen Zweigen und die Bearbeitung der Faserstoffe als Beschäftigungen, welche dem nationalen Wirtschaftsinstinkt der Engländer am besten angepaßt sind, während man von den Deutschen behauptet, daß sie für die Kaliwirtschaft, den Kunstdruck, die chemischen Gewerbe und die Optik am besten geeignet seien. So glaubt man, jedem Volke eine besondere industrielle Tätigkeit anweisen zu können, die seinem nationalen Wesen am besten entspricht, um auf diesem Wege zu einer Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens zu gelangen.
In der Wirklichkeit sind diese Ideen nur eine Neuauflage ähnlicher Gedankengänge, die in den Werken der alten englischen Ökonomisten einst eine bedeutende Rolle spielten. Auch damals glaubte man feststellen zu müssen, daß die Natur selbst gewisse Völker für die Industrie und andere für die Bodenwirtschaft bestimmt habe. Diese Illusion ist längst in die Brüche gegangen, und ihrer neuesten ideologischen Ausmünzung wird kein besseres Ende beschieden sein. Man kann die Menschen als Einzelwesen zwar einer wirtschaftlichen Spezialisierung unterwerfen, nie aber ganze Völker und Nationen. Diese und ähnliche Gedankengänge kranken an derselben Unzulänglichkeit, die jeder Kollektivvorstellung zugrunde liegt. Sie versteifen sich darauf, bestimmte Eigenschaften, die man bei dem Einzelwesen mehr oder weniger deutlich beobachten kann, auf eine Gesamtheit zu Übertragen, die aus den ungleichartigsten Elementen zusammengesetzt ist. Ein Mensch mag sich auf Grund gewisser angeborener Anlagen und Fähigkeiten sehr wohl zum Chemiker, Bauer, Maler oder Philosophen eignen, aber ein Volk als Ganzes läßt sich nie einer so abstrakten Voraussetzung unterwerfen, da jedes seiner Glieder besondere Neigungen und Bedürfnisse aufweist, die sich in der reichen Mannigfaltigkeit ihrer verschiedenen Bestrebungen offenbaren. Gerade diese Allseitigkeit, in der sich die natürlichen Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen gegenseitig ergänzen, bildet ja das eigentliche Wesen jeder Gemeinschaft. Wer dieses übersieht, hat für das organische Gebilde der Gesellschaft überhaupt kein Verständnis.
Was hier über die wirtschaftliche Seite der gesellschaftlichen Kultur gesagt wurde, trifft auch für die politischen Formen des Gesellschaftslebens zu. Auch sie lassen sich nur als Ergebnisse bestimmter Epochen, aber nie als typische Erscheinungsformen einer wie immer gearteten nationalen Ideologie beurteilen und würdigen. Es wäre ein fruchtloses Unternehmen, alle vergangenen Staatsformen auf ihren nationalen Charakter und Inhalt zu prüfen. Auch auf diesem Gebiete haben wir es mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun, die sich in allen Teilen des europäischen Kulturkreises allmählich durchsetzte und die schon aus diesem Grunde an keine bestimmte nationale Norm gebunden war. Sogar die entschiedensten Vertreter des nationalen Gedankens können nicht bestreiten, daß der Übergang vom sogenannten Untertanenstaat zum nationalen Verfassungsstaat sich in ganz Europa unter denselben gesellschaftlichen Voraussetzungen und vielfach in ganz ähnlichen Formen vollzogen hat.
Das absolute Königtum, das fast überall in Europa dem heutigen Verfassungsstaat vorangegangen ist, war ursprünglich mit der alten Feudalwirtschaft ebenso innig verwachsen und in gegenseitiger Wechselwirkung verbunden wie später das Vertretungssystem mit der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung; und wie diese an keine nationale Grenze gebunden ist, so diente auch die parlamentarische Regierungsform nicht bloß einer bestimmten Nation, sondern allen sogenannten Kulturnationen als politischer Rahmen für ihre gesellschaftliche Betätigung. Sogar die Verfallserscheinungen des parlamentarischen Systems, die man heute überall beobachten kann, machen sich in allen Ländern in ähnlichen Formen bemerkbar. Mochte Mussolini immer behaupten, daß der moderne Faschismus ein rein italienisches Erzeugnis sei, das von keiner anderen Nation nachgeahmt werden könne, so hat uns die letzte Geschichte seither bewiesen, wie selbstüberheblich und grundlos diese Behauptung gewesen ist. Auch der Faschismus – ungeachtet seiner bis auf die Spitze getriebenen nationalistischen Ideologie – ist nur ein geistiges Erzeugnis unserer Zeit, das aus einer bestimmten Situation geboren wurde und in dieser seine Nahrung findet. Die allgemeine wirtschaftliche, politische und soziale Lage, die sich aus den Folgen des Weltkrieges ergeben hat, führte in allen Ländern zu ähnlichen Bestrebungen, die nur Zeugnis dafür ablegen, daß sogar der extremste Nationalismus letzten Endes als Zeitströmung zu bewerten ist, die sich unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickelt und in der sich keineswegs der besondere nationale Geist eines bestimmten Volkes verkörpert.
Der moderne Politiker ist in jedem parlamentarisch regierten Lande auf dieselbe Norm eingestellt und verfolgt überall dieselben Ziele. Er ist ein Typus für sich, der sich in jedem modernen Staate wiederfindet und durch die Eigenart seines Berufes geformt wird. Auf seine Partei gestellt, deren Willen er Ausdruck gibt, ist er stets bestrebt, ihre Meinung zur herrschenden zu machen und ihre Sonderinteressen als die Belange der Allgemeinheit zu verteidigen. Ragt er etwas über den geistigen Durchschnittsgrad des gewöhnlichen Parteiführers hinaus, so weiß er ganz genau, daß der angebliche Wille seiner Partei nur der Wille einer kleinen Minderheit ist, welche der Partei ihre Richtung gibt und ihre praktische Tätigkeit bestimmt. Die Partei stets in der Hand zu behalten und ihre Anhänger so zu lenken, daß jeder glaubt, seinem eigenen Willen zu folgen, ist eine der charakteristischsten Erscheinungen des modernen Parteiwesens.
Das Wesen der politischen Parteien, auf denen jede parlamentarische Regierung fußt, ist in jedem Lande das gleiche. Überall unterscheidet sich die Partei von anderen menschlichen Organisationsgebilden darin, daß sie bestrebt ist, zur Macht zu gelangen, und die Eroberung des Staates auf ihre Fahne geschrieben hat. Ihr ganzer organisatorischer Aufbau ist dem Staate nachgebildet, und wie die Regierung sich stets durch Gründe der Staatsräson leiten läßt, so folgt die Partei stets den Erwägungen einer besonderen Parteiräson. Eine Handlung oder auch nur eine Idee ist für ihre Anhänger nicht gut oder schlecht, recht oder unrecht, weil dieses dem persönlichen Urteil und der Überzeugung des einzelnen entspricht, sondern weil es für die Bestrebungen der Partei nützlich oder schädlich ist, ihre Ziele fördert oder ihnen Hindernisse in den Weg stellt. Dabei erweist sich die freiwillige Disziplin, welche die Partei ihren Anhängern auferlegt, in der Regel als bedeutend wirksamer als die Bedrohung durch das Gesetz, da ja die Knechtschaft aus Prinzip stets tiefer wurzelt als die, welche den Menschen durch äußeren Zwang auferlegt wird.
Solange eine Partei nicht den öffentlichen Einfluß erlangt, den sie erstrebt, steht sie der jeweiligen Regierung oppositionell gegenüber. Die Opposition aber ist für das parlamentarische Regierungssystem eine so notwendige Einrichtung, daß, bestände sie nicht, man sie erfinden müßte, wie Napoleon III. einmal zynisch bemerkte. Wird die Partei stärker, so daß die Lenker des Staates mit ihrem Einfluß rechnen müssen, so macht man ihr allerhand Zugeständnisse und beruft ihre Vertreter unter Umständen in die Regierung. Aber gerade die Existenz der politischen Parteien und ihr Einfluß auf das öffentliche Leben widerlegt am treffendsten die Illusion von einem angeblichen Nationalbewußtsein, denn sie zeigt nur zu deutlich, wie hoffnungslos gespalten und zersplittert das künstliche Gebilde der Nation ist.
Was nun die parlamentarische Regierung als solche betrifft, so gibt es in den einzelnen Ländern zwar gewisse Unterschiede, die aber lediglich als formale Abweichungen, doch keineswegs als Wesensverschiedenheiten zu bewerten sind. Überall arbeitet die parlamentarische Maschine nach denselben Methoden und mit derselben Routine. Die Verhandlungen in den gesetzgebenden Körperschaften dienen gewissermaßen nur als schauspielerische Darstellungen für die Außenwelt und verfolgen keinesfalls den Zweck, den Gegner zu überzeugen oder in seinen Ansichten wankend zu machen. Die Stellung der sogenannten Volksvertreter bei den Abstimmungen über die verschiedenen Fragen, die zur Debatte stehen, wird in den einzelnen Parteifraktionen im voraus festgelegt, und selbst die Rednergabe eines Demosthenes wäre nicht imstande, sie anders zu gestalten. Würde sich das Parlament lediglich auf die Abstimmung beschränken und von jeder öffentlichen Besprechung der einzelnen Vorlagen absehen, so würde das Ergebnis um kein Haar anders ausfallen. Die rednerischen Schaustellungen sind im großen und ganzen nur ein notwendiges Zubehör, um den Schein zu wahren. Das ist in Frankreich genau so wie in England oder in Amerika, und es wäre Zeitvergeudung, in den praktischen Vorgängen der einzelnen Parlamente besondere nationale Züge feststellen zu wollen.
Die ganze Entwicklung bis zum modernen Verfassungsstaat in Europa hat sich überall auf Grund derselben Ursachen in mehr oder weniger ähnlichen Formen abgespielt, da ihr Verhältnisse zugrunde lagen, die nicht bloß Geltungsrecht für eine bestimmte Nation hatten, sondern sich in allen Völkern des Kontinents mit derselben unwiderstehlichen Logik aufdrängten, wie sehr auch die Träger des alten Regimes sich dagegen sträuben mochten. Wohl lassen sich zeitliche Unterschiede feststellen, denn die große Umgestaltung ging nicht in allen Ländern gleichzeitig vor sich, aber ihre Erscheinungsformen blieben sich überall gleich und wurden durch dieselben Ursachen gefördert. Das beweist übrigens auch die Entstehung und Verbreitung der sogenannten merkantilistischen Lehren, die auf die innere und äußere Politik der absolutistischen Staaten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts einen so entscheidenden Einfluß hatten. Diese Lehren wurden in allen Ländern Europas durch namhafte Männer vertreten: in Frankreich durch Bodin, Montcrétien, de Wattville, Sully, Melon Farbonnais und andere, in England durch Raleigh, Mun, Child, Temple usw.; in Italien durch Galiani, Genovesi und ihre Nachfolger; in Spanien durch Ustariz und Ulloa, in Holland durch Hugo Grotius und Pieter de Groot, in Österreich und Deutschland durch Becker, Hrnek, Seckendorff, Justi, Süßmilch, Sonnenfels und manche andere. Auch hier handelte es sich um eine allgemeine geistige Strömung, die aus der gesellschaftlichen Lage Europas hervorgegangen ist.
Je mehr sich der absolutistische Staat in den einzelnen Ländern als unüberbrückbares Hindernis jeder weiteren gesellschaftlichen Entwicklung auswirkte, je klarer sich das Verderbliche seiner wirtschaftspolitischen Tendenzen herausstellte, desto unzweideutiger machten sich im Laufe der Zeit Bestrebungen nach einer politischen Umgestaltung und neuen wirtschaftstheoretischen Erkenntnissen bemerkbar. Die wahnsinnige Verschwendungssucht der Höfe inmitten hungernder Völker, die schamlose Wirtschaft der Günstlinge und Maitressen, der Verfall der Landwirtschaft infolge der feudalen Vorrechte und eines ungeheuerlichen Besteuerungssystems, der drohende Staatsbankerott, die Unruhen der Bauern, die von den privilegierten Ständen kaum noch als Menschen betrachtet wurden, die Zerstörung jeder moralischen Bande und jenes Gefühl einer herzlosen Gleichgültigkeit, das in den zu so trauriger Berühmtheit gelangten Worten der Pompadour Après nous le délugel einen so bezeichnenden Ausdruck fand – das alles mußte den Sturz des alten Regimes in die Wege leiten und zu neuen Lebensanschauungen führen. Ob dies von innen heraus geschah wie in Holland, England und Frankreich oder von außen her bewerkstelligt wurde wie in Deutschland, Österreich und Polen, ist dabei von kleinerer Wichtigkeit.
So erwuchsen dem Absolutismus Kritiker und Gesellschaftsreformer wie Montesquieu, Rousseau, Voltaire, Diderot und manche andere, denen in Holland und England bereits Denker mit ähnlichen Ideen vorausgegangen waren. Auch die Richtung der Physiokraten, die gegen den Merkantilismus Sturm lief, die Landwirtschaft als die eigentliche Quelle des Volksreichtums betrachtete und die Befreiung der gesamten Wirtschaft von allen staatlichen Verordnungen und Reglementierungen anstrebte, ist aus denselben Ursachen entstanden. Das berühmte Wort Gournays laissez faire, laissez aller!, das später dem Manchestertum als Leitsatz dienen mußte, hatte ursprünglich eine ganz andere Bedeutung. Es war der Aufschrei des menschlichen Geistes gegen den eisernen Zwang der staatlichen Bevormundung, der alle Kundgebungen des gesellschaftlichen Lebens zu ersticken drohte. Es wurde immer unmöglicher, frei zu atmen, und die Menschen fingen an, nach Luft und Sonne zu begehren. Die Ideen der Quesnay, Mirabeau, Beaudeau, de la Rivière, Turgot und anderer fanden überraschend schnell streitbare Bundesgenossen in Deutschland, Österreich, Polen, Schweden, Spanien und Amerika. Unter ihrem Einfluß und dem von David Hume entwickelte Adam Smith seine neue Lehre und wurde zum Begründer der Klassischen Nationalökonomie, die sich bald über alle Länder verbreitete, ebenso wie die Kritik des Sozialismus, die ihr auf dem Fuße folgte.
Auch hier handelte es sich um Erscheinungen der Zeit, die aus den allgemeinen gesellschaftlichen Zuständen einer bestimmten Periode geboren wurden und die allmählich zu einer Neugestaltung des Staates und zu einer Erneuerung des Wirtschaftslebens führten. Aber bereits Saint-Simon erkannte, daß auch diese Form des politischen Lebens nicht die letzte ist, wenn er sagte: «Das parlamentarische und konstitutionelle System, das so vielen als das letzte Wunder des menschlichen Geistes erscheint, ist nur eine Übergangsherrschaft zwischen dem Feudalismus, auf dessen Trümmern wir leben und dessen Fesseln wir noch nicht völlig abgestreift haben, und einer höheren Ordnung der Dinge.» – Je tiefer man der mählichen Gestaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens auf den Grund geht, desto klarer erkennt man, daß ihre Formen den allgemeinen Vorgängen der gesellschaftlichen Entwicklung entsprungen sind und aus diesem Grunde nicht nach nationalen Grundsätzen bemessen werden können.
XXIV. Der Nationalismus und die Entwicklung des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens
Genie und Nation. Goethe über die Ursprünglichkeit unseres Denkens. Vorgänger und Mitgestalter. Das kopernikanische Weltbild und die Entwicklungslehre als Beispiele. Das heliozentrische Weltsystem bei den Alten. Das Weltbild des Ptolemäus. Die Lehre des Kopernikus. Johannes Kepler und Galilei. Newtons Gravitationsgesetz. Die Vorläufer Newtons. Laplace und Kant. Die Entwicklung der Astrophysik. Die Vorbedingungen für die Relativitätstheorie. Der Entwicklungsgedanke im Altertum. Die Gestaltung der Entwicklungsidee bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Lamarck und Goethe. Die Vorläufer Darwins. Die Lehre von Darwin und Wallace. Der soziale Darwinismus. Kropotkins Lehre von der «gegenseitigen Hilfe». Der gegenwärtige Stand der Entwicklungslehre. Der Einfluß des Entwicklungsgedankens auf alle Zweige des menschlichen Denkens.
Wie die Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Gesellschaftsformen nicht an bestimmte Völker, Rassen oder Nationen gebunden ist, so vollzieht sich auch das Denken und Fühlen des Einzelwesens nicht nach bestimmten nationalen Richtlinien, sondern wird stets beeinflußt von den Ideen der Zeit und dem Kulturkreise, dem es angehört. Große bahnbrechende Gedanken auf den Gebieten der Wissenschaft und des philosophischen Denkens, neue Formen des künstlerischen Gestaltens entspringen nie einem ganzen Volke oder einer ganzen Nation, sondern immer nur der Schöpferkraft erleuchteter Geister, in denen sich das Genie offenbart. Wie ein Genie entsteht, das hat noch keiner ergründet; ein Genie kann aus jedem Volke hervorgehen, aber welches besondere Verdienst ein Volk oder eine Nation dabei hat, das weiß keiner. Ein Volk, eine Nation oder eine Rasse von Genies gibt es nicht, hat es nie gegeben; deshalb sind ja die Bemühungen unserer modernen Rassenfatalisten so hoffnungslos verbohrt und sinnlos. Aber auch das Genie verdankt nicht alles seiner eigenen Kraft; auch der größte Geist steht nicht außerhalb von Raum und Zeit und ist wie alle anderen an Vergangenheit und Gegenwart gebunden. Das ist ja gerade das Bezeichnende des Genies, daß es dem, was in vielen schlummert, Sprache und Gestalt verleiht und die Einzelergebnisse der geistigen Entwicklung einer bestimmten Periode einheitlich zusammenfaßt. Der geniale Geist ist in der Regel ein universeller Geist, der aus allem, was ihm vorausgegangen, ein neues Weltbild schafft und der Menschheit dadurch neue Ausblicke des Lebens erschließt. Je tiefer er in seiner sozialen Umwelt wurzelt, desto köstlicher sind die Früchte, die er zur Reife bringt. Das hat niemand tiefer empfunden als Goethe, wenn er sagte:
«Im Grunde aber sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie Weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Inneren verdanken wollte. Das begreifen aber sehr viele gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ein halbes Leben im dunkeln. Ich habe Künstler gekannt, die sich rühmten, keinem Meister gefolgt zu sein, vielmehr alles ihrem eigenen Genie zu danken haben. Die Narren! Als ob das überall anginge! Und als ob sich die Welt ihnen nicht bei jedem Schritte aufdrängte und aus ihnen, trotz ihrer eigenen Dummheit, etwas machte! … Ich darf wohl von mir selber reden und bescheiden sagen, wie ich fühle. Es ist wahr, ich habe in meinem langen Leben mancherlei getan und zustande gebracht, dessen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich sein wollen, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen und das Geschehene und Gehörte mit eigenem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinn sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun, als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten. – Es ist im Grunde auch alles Torheit, ob einer etwas aus sich habe, oder ob er es von anderen habe; ob einer durch sich wirke, oder ob er durch andere wirke: die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig.»[149]
Wir fußen eben stets auf Vorgängern; gerade deshalb ist der Begriff von einer nationalen Kultur so irreführend und widerspruchsvoll, da wir ja nie imstande sind, eine Grenze zu ziehen zwischen dem, was wir uns aus eigener Kraft erworben oder von anderen übernommen haben. Jede Idee, ob sie nun religiöser, ethischer, philosophischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur sei, hatte ihre Vorgänger und Wegbereiter, ohne die sie undenkbar wäre, und es ist in den meisten Fällen ganz unmöglich, ihren ersten Anfängen nachzugehen; zu ihrer Entwicklung aber haben fast immer Denker aller Länder und Völker beigetragen.
Nehmen wir als Beispiel zwei so tiefgreifende, alle bisherigen Auffassungen in ihren Grundfesten erschütternden Lehren wie das kopernikanische Weltsystem und die Darwinsche Entwicklungslehre. Beide Lehren haben nicht nur die Anschauungen der Menschen über die Gestaltung der Welt und über die Entwicklung des Lebens auf der Erde von Grund aus umgeformt; sie haben dadurch auch auf allen anderen Gebieten des menschlichen Denkens wahrhaft revolutionierend gewirkt und eine vollständige Umwälzung aller bis dahin bekannten Wissenschaft herbeigeführt. Aber auch hier brach sich die neue Erkenntnis nur allmählich Bahn, bis sich das Tatsachenmaterial im Laufe der Zeit so verdichtete, daß ein genial veranlagter Kopf daraus die nötigen Schlüsse ziehen und den neuen Anschauungen eine klare Begründung geben konnte.
Bis zu welchen Anfängen der Gedanke, daß die Erde sich um ihre eigene Achse drehe und sich zusammen mit den anderen Planeten um die Sonne bewege, in der Geschichte zurückgeht, wird wohl nie zu ergründen sein, und Albert Einstein, der gefeierte Begründer der Relativitätstheorie, bemerkte mit Recht, daß, besonders wo es sich um die Grundprinzipien der Physik handle, man stets auf einen Früheren stoße, so daß es fast unmöglich sei, die Entdeckungslinie bis zum ersten Anfang zurückzuverfolgen. Wenn wir uns sogar darüber einig seien, in Aristarch aus Samos den ersten großen Vorläufer des kopernikanischen Weltsystems zu feiern, so läge immerhin die Vermutung nahe, daß auch er wiederum aus ägyptischen Quellen geschöpft habe.[150] – Gegen diese Auffassung läßt sich schon, deshalb nichts einwenden, weil sie bisher durch die Geschichte jeder neuen Erfindung und Entdeckung immer neu bestätigt wurde. Auch dem genialsten Gehirn entspringt keine neue Idee fix und fertig wie Minerva dem Haupte des Jupiter. Es ist daher unbestreitbar, daß der Gedanke eines heliozentrischen Weltsystems lange vor Kopernikus von kühnen Denkern ahnend erfaßt wurde und bei einzelnen eine mehr oder minder überzeugende Begründung gefunden hatte. Der italienische Gelehrte Schiaparelli hat dies in einer besonderen Denkschrift, I Precursori del Copernico, sehr anschaulich dargestellt.
Daß die Griechen in ihren astronomischen und physikalischen Kenntnissen von den Babyloniern und Ägyptern stark befruchtet wurden, steht heute außer allem Zweifel, wobei es an sich belanglos ist, ob der jonische Naturphilosoph Thales aus Milet in der Tat ein Schüler des babylonischen Denkers Berossus gewesen ist oder nicht. Sicherlich bestanden zwischen Griechenland und den Ländern des Orients enge Beziehungen, die sich auch geistig auswirken mußten. So wird von Pythagoras erzählt, daß er den Osten und Ägypten bereiste und sich dort einen großen Teil seiner astronomischen und mathematischen Kenntnisse erworben habe. In der Tat zeichnete sich die Schule der Pythagoreer durch ihre kühne Auffassung des Weltbildes aus. Von dem Pythagoreer Philaos berichtet Plutarch, daß nach seiner Lehre die Erde und der Mond sich in einem schiefen Kreise um das Weltfeuer bewege.
Von Aristarch aus Samos aber ist genau bekannt, daß er die Lehre eines heliozentrischen Weltsystems entwickelt hatte. Zwar ist uns seine Schrift darüber verlorengegangen, doch finden sich bei Plutarch und in der Sandrechnung des Archimedes kurze Aufzeichnungen über die Lehre des Aristarch, aus denen hervorgeht, daß er den Standpunkt vertrat, daß die Erde sich um ihre eigene Achse drehe und sich außerdem um die Sonne, ihren Mittelpunkt, bewege, während die Sterne und die Sonne unbeweglich im Weltraum verharren. – Wir wissen nicht, wie weit solche Lehren verbreitet gewesen sind, doch ist es leicht begreiflich, daß die Anhänger des geozentrischen Systems, das die Erde in den Mittelpunkt der Welt setzte, in der Mehrheit blieben, da der bloße Augenschein für sie zu sprechen schien. Doch auch das berühmte System des Alexandriners Ptolemäus, wie es dieser in seinem Almagest entwickelt hatte, und das anderthalbtausend Jahre die Geister gefangenhielt, hatte seine Vorgänger und war nur der Abschluß des großen Werkes, das Hipparchos von Nicäa dreihundert Jahre früher begonnen hatte; Hipparchos aber hatte vieles von seiner Lehre den chaldäischen Astrologen zu verdanken.
Daß das ptolemäische Weltsystem so lange bestehen konnte, ohne Widerspruch zu finden, war hauptsächlich dem Einfluß der Kirche zu danken. Die Religion hatte die Erde zum Mittelpunkt der gesamten Schöpfung erhoben und den Menschen zur Krone der Schöpfung, zum Ebenbild Gottes. Es war daher nicht angebracht für die Kirche, daß die Erde ihre Vorzugsstellung als Zentrum des Weltalls verlieren und wie alle anderen Planeten um die Sonne kreisen sollte. Eine solche Auffassung war für das religiöse Gemüt unfaßbar und konnte zu bedenklichen Folgerungen Anlaß geben. Dieses war der Grund, weshalb die Kirche die Lehre des Kopernikus so lange und so erbittert bekämpfte. Konnte doch in Rom selbst bis zu dem Beschluß der Kardinäle der Inquisition, den Pius VII. im September 1832 sanktionierte, kein Buch gedruckt oder öffentlich verbreitet werden, in dem die Lehre des heliozentrischen Weltsystems vertreten wurde. Wieviel heimliche Gegner das ptolemäische System während der langen Zeit seiner unbeschränkten Herrschaft gefunden hatte, läßt sich natürlich nicht feststellen. Erst unter dem Einfluß der wiederentdeckten Schriften der Alten, welche den europäischen Völkern vielfach erst durch die Araber vermittelt wurden, entwickelte sich besonders in den Städten Italiens ein neuer Geist, der sich gegen die Autorität des Aristoteles und des Ptolemäus auflehnte. Kühne Denker wie Domenico Maria Novara (1454-1504) verkündeten ihren Schülern die pythagoreischen Lehren und entwickelten die Ideen eines neuen Weltbildes. Kopernikus, der gerade in jenen Jahren seine Studienzeit in Bologna und Padua durchmachte, geriet völlig in den Bann dieser neuen Geistesströmung, die ihm zweifellos den ersten Anstoß zur Entwicklung seiner Lehre gegeben hatte. Tatsächlich legte er die Grundlagen seiner Lehre bereits in den Jahren 1506-1512 nieder, die er später in seinem 1543 erschienenen Hauptwerke Über die Umwälzung der Himmelskörper ergänzte. Diesem Werke war aber bereits eine lang verschollene Schrift mit dem Namen Kurzer Abriß über die vermutlichen Himmelsbewegungen vorausgegangen, die von dem Kopernikusforscher Curtze neu entdeckt und in den 70er Jahren veröffentlicht wurde. War also Kopernikus die Idee des heliozentrischen Systems nicht ganz aus sich selbst gekommen, so bleibt ihm aber das unbestreitbare Verdienst, die neue Auffassung nach wissenschaftlichen Prinzipien entwickelt und begründet zu haben.
In seinen berühmten sieben Thesen verteidigte Kopernikus die Auffassung, daß es nur einen Mittelpunkt für die Gestirne und ihre Bahnen gebe; daß der Erdmittelpunkt nicht Mittelpunkt der Welt, sondern nur Mittelpunkt für die Mondbahn und für die eigene Schwere ist; daß alle Planeten sich um die Sonne drehen, die im Mittelpunkt ihrer Bahnen steht; daß der Abstand Erde-Sonne im Verhältnis zur Weite des Firmaments kleiner ist als der Erdhalbmesser im Verhältnis zum Abstand Erde-Sonne und daher gegenüber der Größe des Firmaments verschwindet; daß das, was uns als Bewegung am Himmel erscheint, sich nicht von diesem, sondern von einer Bewegung der Erde herleitet, indem die Erde samt ihrer nächsten Umgebung sich täglich einmal um sich selbst drehe, wobei ihre beiden Pole dauernd dieselbe Richtung beibehalten, der Himmel aber bis zu seiner äußersten Grenze hin unbeweglich bleibt; daß das, was uns als Bewegung der Sonne erscheint, sich auch nicht von diesem Gestirn, sondern von der Erde und ihrer Bahn herleitet, in der wir uns um die Sonne bewegen wie alle anderen Planeten, die Erde also eine mehrfache Bewegung besitzt; daß das Vorschreiten und Zurückbleiben der Planeten nicht eine Folge ihrer Bewegung, sondern die Erdbewegung ist – die Mannigfaltigkeit der Himmelserscheinungen also ihre ausreichende Erklärung lediglich durch die Bewegung der Erde findet.
Kopernikus hatte mit seiner neuen Lehre eine Geistestat vollbracht, wie die Geschichte nicht viele zu verzeichnen hat; doch war damit der stolze Bau des heliozentrischen Weltsystems noch nicht vollendet. So fand denn auch die kopernikanische Lehre von Anfang an eine Schar begeisterter Anhänger, aber noch mehr Gegner, so daß sie sich erst allmählich durchsetzen konnte. Die beste Aufnahme fand die neue Theorie zunächst in Deutschland, wo die Macht der Kirche durch die Reformation stark erschüttert war. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, daß der Protestantismus ihr geneigter gewesen wäre. Das war ganz und gar nicht der Fall. Luther und Melanchthon standen der neuen Lehre ebenso verständnislos und feindselig gegenüber wie der Papst; aber die neue Kirche hatte noch nicht Zeit genug gehabt, ihre Kraft zusammenzufassen; aus diesem Grunde konnte sie den kühnen Neuerem nicht so gefährlich werden wie die katholische Kirche in den lateinischen Ländern. – In Italien aber mußte Giordano Bruno, dem das kopernikanische Weltsystem als Grundlage für seine Naturphilosophie gute Dienste leistete, seine Kühnheit auf dem Scheiterhaufen büßen (1600), während Galilei, der genialste Verkünder der neuen Weltauffassung, demselben Schicksal vielleicht nur dadurch entging, daß er sich dazu bewegen ließ, seine angebliche Irrlehre vor dem Inquisitionstribunal abzuschwören.
Eine mächtige Förderung erfuhr die Lehre des Kopernikus durch den deutschen Astronomen Johannes Kepler, den bedeutendsten Schüler Tycho Brahes, dem er zweifellos viel zu verdanken hatte. Kepler entwickelte in seiner Neuen Astronomie und in einem späteren Werke seine berühmten drei Gesetze, durch welche er mit erstaunlichem Scharfsinn und nach langen vergeblichen Versuchen den mathematischen Beweis für die Richtigkeit des kopernikanischen Systems erbrachte. Der geniale Denker, den seine geistige Größe nicht vor dem bittersten Elend schützen konnte, zeigte den Zeitgenossen, daß die Bahnen der Planeten keine wirklichen Kreise, sondern Ellipsen darstellen, die sich jedoch von eigentlichen Kreisen wenig unterscheiden; vor allem aber bewies er, wie man aus der Umlaufszeit der Planeten um die Sonne ihre Entfernung berechnen kann und in welcher Beziehung die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen an den verschiedenen Punkten ihrer Bahn mit ihrer Entfernung von der Sonne steht. Kepler hatte bereits die große Einheit der kosmischen Gesetze, die Newton später in so genialer Weise entwickelte, ahnend erfaßt.
Fast um dieselbe Zeit, aber ganz unabhängig von Kepler, gelang es Galileo Galilei aus Pisa, einen tieferen Einblick in die Wirksamkeit der mechanischen Kräfte zu gewinnen und die Gesetze des Falls, der Pendelbewegung und des Wurfs zu ergründen, wodurch er in den Stand gesetzt wurde, alle physikalischen Einwände gegen das heliozentrische System zu widerlegen. Doch auch auf diesem Gebiete gab es bereits einige Vorläufer. So hatte der Genfer Michel Varo schon 1585 den inneren Zusammenhang der mechanischen Gesetze klar erkannt, und Simon Stevin aus Brügge (1548-1620) versuchte, unabhängig von ihm, das Prinzip dieser Gesetze praktisch zu begründen. Außer diesen beiden gab es noch andere vereinzelte Denker, die sich mit mehr oder weniger Erfolg auf demselben Gebiete betätigten. Seit man damit begonnen hatte, die Tagebücher des Leonardo da Vinci zu enträtseln, wurde es immer klarer, daß dieser wahrhaft universelle Geist Galilei und manchen anderen vieles vorweggenommen hatte, wie zum Beispiel die Erklärung des Fallgesetzes, der Wellentheorie und einiges mehr.
Mit Hilfe des von ihm konstruierten Fernrohrs war es Galilei gelungen, eine ganze Anzahl wichtiger Entdeckungen im Weltraum zu machen. So hatte er vor allem durch die Entdeckung der Jupitermonde den anschaulichen Beweis erbracht, daß tatsächlich Weltkörper vorhanden waren, die nicht um die Erde kreisten. Überhaupt führte die Erfindung des Fernrohrs zu einer ganzen Reihe ähnlicher Entdeckungen, die in den verschiedenen Ländern und ganz unabhängig voneinander gemacht wurden. Es sei hier nur erinnert an die Beobachtungen des Jesuitenpaters Christopher Scheiner in Ingolstadt, des Johannes Fabricius in Osteel, Friesland, und des Thomas Harriot in Isleworth, England.[151]
Nachdem es Kepler gelungen war, durch seine drei Grundgesetze die Bewegungen im Räume mathematisch festzustellen und Galilei die allgemeinen Prinzipien der Schwerkraft, wie sich diese auf der Erde kundgeben, formuliert hatte, lag der Gedanke nahe, daß dieselben Gesetze sich nicht nur auf unserem Planeten, sondern im ganzen Weltall auswirken und die Bewegungen der Weltkörper bestimmen. Schon Francis Bacon (1561-1621), den man den Vater der induktiven Methode genannt hat, träumte von einer Zeit, wo es dem menschlichen Geiste gelingen werde, alles Geschehen im Weltraum auf dieselben einheitlichen Gesetze zurückzuführen.
Es war Isaak Newton (1642-1727), der geniale englische Mathematiker und Naturphilosoph, der durch die Formulierung des sogenannten Gravitationsgesetzes den Lehren von Kopernikus und Kepler zum endgültigen Siege verhalf. Newton stellte fest, daß die Kraft, die einen Apfel, der sich vom Baume löst, zur Erde fallen läßt, dieselbe ist, welche die Gestirne im Weltraum in ihre Bahnen zwingt. Er erkannte, daß die Kraft der Anziehung, die jedem Körper innewohnt, mit seiner Masse zunimmt, und zwar in dem Grade, daß ein doppelt so schwerer Körper einen anderen auch doppelt so stark anzieht. Daneben aber entdeckte er, daß die Anziehungskraft eines Körpers mit seiner größeren oder kleineren Entfernung von einem anderen Körper ab- oder zunimmt und daß dieses proportionell dem Quadrat der Entfernung geschieht; daß also ein Körper von der Größe der Erde, der aber doppelt so weit wie diese von der Sonne entfernt ist, von der Sonne nur den vierten Teil so stark angezogen wird.
Newton brachte dieses Verhältnis auf eine bestimmte Formel. Mit Hilfe der Infinitesimalrechnung, einer mathematischen Methode, die das Rechnen mit unendlich geringen Größen ermöglicht und welche der englische Denker fast gleichzeitig mit dem deutschen Philosophen Leibniz erdacht hatte, gelang es ihm, in seinem berühmten Werke Die mathematischen Grundlagen der Naturerkenntnis den Beweis für die Richtigkeit seiner Entdeckung zu erbringen, wodurch auch das heliozentrische System des Kopernikus und die drei Grundgesetze Keplers ihre beste Bestätigung fanden. Seitdem wurde das nach Newton benannte Gesetz allen astronomischen Berechnungen zugrunde gelegt.
Doch wie Newtons geniale Entdeckung bekannte Vorgänger hatte wie Edmund Halley, Robert Hooke, Christopher Wren und andere, die sich alle mit dem Problem der Schwerkraft beschäftigten, so bildete sie auch keineswegs einen Abschluß, sondern gab – wie jede große Entdeckung – wiederum den Anstoß zu neuen Forschungen und Beobachtungen. Auf den Ergebnissen der Newtonschen Theorie fußten die glänzenden Leistungen des berühmten Mathematikers Leonhard Euler aus Basel und der beiden Franzosen Alexis Clairvault und Jean le Rond d’Alembert. Auch der dänische Astronom Olaf Römer sei hier erwähnt, der bereits 1675, also noch vor dem Erscheinen von Newtons Hauptwerk, auf Grund des kopernikanischen Systems, anläßlich einer Verfinsterung der Jupitermonde, eine Messung des Lichts vorgenommen hatte.
Newtons Geistestat gab den Anstoß zu zahlreichen neuen Entdeckungen, und diese ebneten wiederum jener großen Erkenntnis die Bahn, welcher der französische Astronom Pierre Laplace (1749-1827) in seinen beiden Werken Exposition du Système du monde und Traité de la mécanique céleste Ausdruck gab, indem er eine Erklärung über die Entstehung unseres Planetensystems entwickelte und alles Geschehen im Raume auf das Wirken rein physikalischer Kräfte zurückführte, wie es bereits Kant getan hatte. Aber auch seine Theorie bildete keinen Schlußstein in dem Gebäude der neuen Weltauffassung; sie wurde wesentlich berichtigt, erweitert und ergänzt durch Männer wie Friedrich Gauß, J. L. Lagrange, P. A. Hansen, A. L. Cauchy, J. C. Adams, S. Newcomb, H. Dylden, F. Tisserant und zahlreiche Denker aller Völker und Nationen.
Auch die Astrophysik, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts einen so glänzenden Aufschwung nahm, entwickelte sich auf dieselbe Weise. Bevor es dem Genius von Gustav Kirchhoff gelungen war, durch die Entdeckung der Spektralanalyse die chemische Beschaffenheit des Sonnenkörpers festzustellen, war ihm eine ganze Anzahl Denker und Forscher in den verschiedenen Ländern vorausgegangen, die sich mit demselben Problem beschäftigten: Männer wie W. H. Wollaston, Joseph Fraunhofer, W. A. Miller, L. Foucault, A. J. Angström, Balfour Stewart, G. Stokes und manche andere, auf deren Erfahrungen Kirchhoff fußte, die er in genialer Weise erweiterte und synthetisch zusammenfaßte. Von der anderen Seite aber bahnte die Entdeckung der Spektralanalyse zahllosen neuen Erfindungen und Entdeckungen den Weg, die ihrer Fülle halber hier überhaupt nicht angeführt werden können.
Es ist also unbestreitbar, daß bei der Entstehung und Entwicklung unseres modernen Weltbildes geniale Geister aller Länder mitgewirkt haben, von denen hier nur die bekanntesten Namen kurz erwähnt werden konnten. Auch die Relativitätstheorie Albert Einsteins, mit deren Hilfe es ihm gelungen ist, das Geheimnis der Merkurbahn in ebenso überraschender wie genialer Weise zu lösen, wäre ohne diese unzähligen Vorarbeiten nicht möglich gewesen. Mögen unverbesserliche Rassenfanatiker sich das Vergnügen leisten, aus überlieferten Bildnissen von Kopernikus, Galilei oder Laplace die Zugehörigkeit dieser Männer zur nordischen Rasse nachzuweisen; niemand wird sie ob dieses kindischen Spieles beneiden. Wo aber der Geist spricht, verschwinden Nationalität und Rasse wie Spreu im Winde, und es wäre ein sinnloses Unterfangen, eine soziale Idee, eine Religion oder eine wissenschaftliche Erkenntnis auf ihren nationalen Gehalt prüfen oder nach Rassenmerkmalen ihrer Träger beurteilen zu wollen.
Wir haben gesehen, wie Polen, Deutsche, Italiener, Franzosen, Engländer, Dänen, Schweden, Holländer, Belgier, Schweizer usw. sich um den Sieg des heliozentrischen Systems bemüht haben. Aus ihrer gemeinsamen Arbeit wurde jenes geistige Gebilde geboren, zu dessen Entwicklung eine ganze Welt beigetragen hat und dessen Charakter weder durch irgendein politisches Glaubensbekenntnis noch durch besondere nationale Eigenarten bestimmt werden kann. Wo es sich um geistige Erscheinungen handelt, tritt das Universale des menschlichen Denkens am deutlichsten hervor und läßt sich durch keine nationalen Schranken eindämmen; oder wie Goethe es so trefflich zu fassen wußte:
«Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören wie alles Hohe, Gute der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.»
Was hier in kurzen Worten über die Entwicklungsgeschichte der kopernikanischen Lehre gesagt wurde, gilt in noch höherem Maße für die moderne Entwicklungstheorie, die in so überraschend kurzer Zeit eine völlige Umgestaltung aller überlieferten Begriffe und Vorstellungen herbeiführte. Abgesehen von dem heliozentrischen Weltsystem, gibt es wohl kaum eine Lehre, die einen so tiefen und nachhaltigen Einfluß auf das gesamte menschliche Denken zur Folge hatte wie der Gedanke einer allmählichen Entwicklung aller natürlichen Formen und Lebenserscheinungen unter dem Einfluß der Umwelt und der äußeren Lebensbedingungen. Die neue Lehre führte nicht bloß zu einer vollständigen Umwälzung auf allen Gebieten der Naturwissenschaften, sie entwickelte auch ganz neue Gesichtspunkte in der Soziologie, der Geschichtsbetrachtung und der Philosophie. Sogar die Träger der Religion, welche die Entwicklungsidee zunächst auf das schärfste bekämpften, sahen sich bald gezwungen, ihr weitgehende Zugeständnisse zu machen und sich auf ihre Art mit ihr abzufinden. Mit einem Wort, der Entwicklungsgedanke hat so vollständig Besitz von uns ergriffen und unser gesamtes Denken bis zu einem Grade beeinflußt, daß wir uns heute kaum vorstellen können, wie eine andere Auffassung möglich war.
Aber auch dieser Gedanke, der uns heute so selbstverständlich erscheint, wurde nicht plötzlich in die Welt gesetzt, sondern reifte, wie alle großen geistigen Errungenschaften, erst allmählich heran, bis er sich allgemein durchsetzen konnte. Wie weit sich die ersten Anfänge der Entwicklungslehre geschichtlich zurückführen lassen, wird wohl nie zu ergründen sein. Sicher ist, daß die Auffassung von einem natürlichen Werden aller Dinge bereits bei den ältesten griechischen Denkern ziemlich verbreitet war und sehr wahrscheinlich das gesamte Geistesleben der europäischen Völker schon frühzeitig in andere Bahnen gelenkt hätte, wären die Schriften der alten Weisen unter der Herrschaft der Kirche nicht so lange verschollen gewesen, bis sie den Menschen einer späteren Epoche, die von ganz anderen Ideen beherrscht wurde, in abgeschwächter Form und nur in Bruchstücken wieder vermittelt werden konnten.
Schon bei den jonischen Naturphilosophen und besonders bei Anaximenes findet sich der Gedanke von einem Urstoffe, dem eine zeugende und umgestaltende Kraft innewohne, die sich in der Entstehung und Veränderung der verschiedenen Lebewesen auf der Erde offenbare. Empedokles scheint diesen Gedanken am tiefsten erfaßt zu haben, indem er der Meinung Ausdruck gab, daß die verschiedenen Lebensformen den besonderen Mischungen des Urstoffes ihre Entstehung zu verdanken haben. Dieser kühne und eigenartige Denker erklärte bereits die Entwicklung der organischen Wesen durch Anpassung an ihre Umwelt, wobei seiner Ansicht nach die zweckmäßig ausgestatteten Gebilde sich behaupten konnten, während die anderen wieder verschwinden mußten. – Auch bei Heraklit und den griechischen Atomisten, aber auch bei den Epikureern und anderen finden sich Hinweise auf eine allmähliche Entwicklung und Umgestaltung aller Lebenserscheinungen, die Lukretius später in seinem berühmten Lehrgedicht zusammenfaßte und die uns so erhalten blieben. Aus dem Werke des Lukretius geht übrigens klar hervor, daß es sich bei den alten Denkern keineswegs um einige unbestimmte Ideen handelte, denen spätere Geschlechter einen Sinn unterlegten, der ihrer eigenen Denkart entsprach, sondern um eine klare Auffassung, die zwar des öfteren mit unzulänglichen Mitteln begründet wird, aber nichtsdestoweniger in ihrem Kerne unverkennbar ist.
Erst durch das Aufkommen der christlichen Dogmatik, die sich auf die biblische Schöpfungslegende festgelegt hafte und keine andere Auffassung duldete, wurden diese genialen Anfänge der Entwicklungslehre fünfzehn Jahrhunderte hindurch in den Hintergrund gedrängt, obgleich der Gedanke selbst nie gänzlich verschwunden ist. Er kehrt im Mittelalter bei den arabischen Philosophen Farabi und Avicenna wieder, wenn auch in einer sehr eigenartigen und stark vom Neoplatonismus beeinflußten Form. Ebenso fand er einen Ausdruck in dem merkwürdigen Buche des jüdischen Kabbalisten Avicebron, Mekor Chaim, das auch ins Lateinische übersetzt wurde und in mancher Hinsicht an den deutschen Mystiker Jakob Böhme erinnert, der bekanntlich dem Gedanken einer ewigen Entwicklung aller Dinge ahnend sehr nahe kam.[152] Auch der schottische Scholastiker Duns Scotus kam der Idee einer Entwicklung des Weltalls auf Grund bestimmter physischer Gesetze ziemlich nahe.
Unter dem Einfluß der großen Entdeckungen von Kopernikus, Galilei und anderen erleuchteten Geistern jener Periode fand der Entwicklungsgedanke neue Nahrung. Bernardino Telesio, der große italienische Gelehrte und Philosoph, einer der ersten, welche den Ideen des Aristoteles, die das ganze Mittelalter beherrschten, entgegentraten, hatte in seinem Werke De Rerum Natura den Versuch unternommen, alle Naturgeschehen auf die Wirkung mechanischer Gesetze zurückzuführen, wobei er alle Erscheinungen des Alls durch die Bewegungen ihrer Elemente zu erklären versuchte und so dem Gedanken einer allgemeinen Entwicklung in der Natur mindestens sehr nahe kam. Vor allem aber muß hier Giordano Bruno genannt werden, in dessen pantheistischen Ideengängen der Entwicklungsgedanke sich deutlich abspiegelt. Bruno, der bei der Gestaltung seiner Lehre auf die Ideen Demokrits und der alten Atomisten zurückgriff, vereinte deren Anschauungen mit der Weltauffassung des Kopernikus und gelangte dabei – den Spuren der Epikureer folgend – zu der Überzeugung, daß das Weltall unbegrenzt sei, ein Gedanke, den Kopernikus bekanntlich nicht kannte, da er sich die Welt durch den Fixsternhimmel begrenzt vorstellte. Die Mannigfaltigkeit der Formen, unter welchen die Materie in die Erscheinung tritt, bringt sie nach der Ansicht des großen italienischen Naturphilosophen ohne fremden Anstoß aus sich selbst hervor. – «Die Materie ist nicht formlos», wie Bruno ausführte, «sie enthält vielmehr alle Formen im Keime, und indem sie entfaltet, was sie eingehüllt in sich trägt, ist sie in Wahrheit alle Natur und die Mutter alles Lebendigen.»
Auch der französische Physiker und Empiriker Gassendi machte sich die Lehre Epikurs und der griechischen Atomiker zu eigen und führte das Bestehen der Welt auf das Spiel der Atome zurück, die er sich mit der Kraft der Eigenbewegung begabt vorstellte. Er sah in den Atomen die Ur-Teilchen aller Dinge, aus denen alles entsteht und seiner Vollendung entgegengeht. – Es ist interessant zu beobachten, wie sehr die Ideen der alten griechischen Naturphilosophen, die plötzlich wieder zu neuem Leben erwachten, schon geraume Zeit vor der Entdeckung des Kopernikus bis zu der Periode der französischen Enzyklopädisten das Denken der besten Geister beeinflußt haben. So war das Werk des Lukretius in der Zeit Voltaires und Diderots in den Händen aller Gebildeten. Es war vornehmlich die Lehre der alten Atomisten, die nachweisbar bei Denkern wie Descartes, Gassendi und anderen die Idee eines allmählichen Werdens, das allem Naturgeschehen zugrunde liegt, auslöste. – Auch der geniale jüdische Denker Baruch Spinoza darf hier nicht übergangen werden, der alle Erscheinungen des Weltgeschehens aus inneren Notwendigkeiten erklärte und den Entwicklungsgedanken nicht bloß im allgemeinen erfaßt hatte, sondern auch manche seiner fundamentalen Voraussetzungen, wie zum Beispiel den Trieb der Selbsterhaltung, vorausahnte.
Am Vorabend der großen Revolution war Frankreich der Mittelpunkt einer neuen Entwicklung des menschlichen Denkens geworden, die man mit Recht als die geistige Einleitung der späteren gesellschaftlichen Umwälzung bezeichnet hat. Die alten Auffassungen über Welt und Mensch, Staat und Gesellschaft, Religion und Moral erfuhren eine gründliche Umgestaltung. Die Herausgabe der berühmten Enzyklopädie war der grandiose Versuch, das gesamte menschliche Wissen einer strengen Prüfung zu unterziehen und auf neuen Grundlagen wiederaufzubauen. Eine solche Zeit mußte der Förderung der Entwicklungslehre überaus günstig sein. In der Tat fanden sich bei einer ganzen Reihe Denker jener gärenden Epoche mehr oder weniger deutliche Ansätze der Entwicklungsidee, durch welche die späteren Forschungen befruchtet wurden. Maupertius machte den Versuch, die Entstehung des organischen Lebens durch empfindungsbegabte Atome zu erklären. Diderot, der universalste Geist jener Epoche, unternahm es, die Entstehung und Weitergestaltung der Religionen, Moralbegriffe und der gesellschaftlichen Einrichtungen als eine gradweise Entwicklung darzustellen, nachdem ihm auf diesem Gebiete bereits Denker wie Bodin, Bacon, Pascal und Vico vorausgegangen waren. Condorcet, Lessing und Herder schlugen ähnliche Bahnen ein und erblickten in der gesamten menschlichen Geschichte einen steten Umgestaltungsprozeß von niederen zu komplizierteren und höheren Formen der Kultur.
La Mettrie erkannte, daß wir über die Natur der Bewegung und der Materie zwar nichts Näheres wissen, daß aber der Mensch nichtsdestoweniger imstande sei, durch Beobachtungen festzustellen, daß der einzige Unterschied zwischen der anorganischen und der organischen Materie nur darin bestehe, daß letztere sich selbst reguliere, aber gerade aus diesem Grunde ihre lebendigen Kräfte verbrauche und sich nach dem Tode des Lebewesens wieder in ihre anorganischen Bestandteile auflöse. Wie aus dem Anorganischen das Organische hervorgehen, so entwickele sich aus diesem das Geistige. Nach der Lehre La Mettries sind alle höheren Formen des Bewußtseins denselben Gesetzen unterworfen wie die gesamte organische und anorganische Natur. Deshalb machte er auch keine künstliche Grenze zwischen Mensch und Tier und sah in beiden nur verschiedene Ergebnisse desselben Naturgeschehens. – Robinet gelangte zu ähnlichen Folgerungen und vertrat den Standpunkt, daß alle Funktionen des Geistes von denen des Körpers abhängig seien. Holbach aber faßte in seinem Système de la Nature diese verschiedenen Anschauungen zusammen und entwickelte, von rein materialistischen Gedankengängen ausgehend, die Idee einer allmählichen Entstehung der verschiedenen Lebensformen auf Grund derselben einheitlichen Naturgesetze.
In Deutschland versuchte Leibniz, dem Materialismus der französischen Denker entgegenzuwirken, und setzte sich wiederholt den Angriffen La Mettries und seiner Gesinnungsgenossen aus; aber seine Monadentheorie, die unverkennbare Berührungspunkte mit den Anschauungen der modernen Biologie hat, führte auch ihn zu der Idee von einer allmählichen Gestaltung der Welt, wie dies von modernen Vertretern der Entwicklungslehre des öfteren betont wurde. Klarer als Leibniz hatte Kant die Entwicklungsidee erfaßt, wenn er in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels die Auffassung vertrat, daß sich das gesamte Weltsystem aus rotierenden Urnebeln entwickelt habe, wobei die chaotischen Bewegungen des Urstoffes allmählich feste und dauernde Bahnen annehmen. Kant erblickte im Weltall das Ergebnis physisch und mechanisch wirkender Kräfte und war der Überzeugung, daß sich der Kosmos allmählich aus dem Chaos gestaltet habe, um im Laufe ungeheurer Zeiträume wieder in diesem zu versinken und den Prozeß wieder von neuem zu beginnen, so daß die Welt sich dem Menschen als stetes Spiel von Werden und Vergehen offenbare. – Auch Hegel sah in dem Walten der Natur einen ununterbrochenen Entwicklungsvorgang und übertrug diesen Gedanken in der ihm eigentümlichen metaphysischen Art auf die menschliche Geschichte; es war dieser Umstand, dem er hauptsächlich seinen großen Einfluß auf die Zeitgenossen zu verdanken hatte. Die Entwicklungslehre lag schon völlig in der Luft. Es würde zu weit führen, hier des näheren zu erörtern, aufweiche Art Denker wie Malpighi, Malebranche, Bonnet und andere – jeder auf seine Weise – diesen Gedanken gefördert haben. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Wort Evolution von Männern der Wissenschaft häufig gebraucht, ein Beweis dafür, daß die Entwicklungsidee sich mehr und mehr im Denken der Menschen einbürgerte.
Von den Vorläufern der modernen Entwicklungstheorie, wie sie bei Darwin und seinen zahlreichen Nachfolgern ihren Ausdruck fand, verdient der französische Naturphilosoph Buffon besondere Beachtung, da seine Anschauungen weniger als Resultate philosophischer Betrachtungen denn als Ergebnisse praktischer Versuche und ernster Forscherarbeit zu bewerten sind. Buffon war einer der geistvollsten Männer seiner Zeit, und manche seiner Anregungen sind erst viel später in ihrer vollen Bedeutung richtig erkannt worden. Seine Naturgeschichte war nicht nur ein großangelegter Versuch für eine vernunftgemäße Erklärung des Weltgeschehens; sie entwickelte auch auf vielen anderen Gebieten eine Menge fruchtbarer Gedanken. So wies er an Hand praktischer Beispiele nach, daß auf Grund mannigfacher Ursachen eine Veränderung bei Tier- und Pflanzenarten eintreten kann, und erklärte dies im selben Sinne wie später Darwin. Buffon erkannte auch, daß der Vorgang der Entwicklung nie einen bestimmten Abschluß findet, und folgerte daraus, daß die Wissenschaft wohl in der Lage sei, durch Prüfungen und Beobachtungen gewisse Erscheinungen in der Natur einwandfrei festzustellen. Man kann daher wohl verstehen, daß ein Mann mit so glänzenden Anlagen auf Denker wie Goethe, Lamarck und Saint-Hilaire einen so großen Einfluß haben konnte.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich der Entwicklungsgedanke bei allen vorurteilsfreien Geistern überall Bahn gebrochen. Sein hervorragendster Vertreter um jene Zeit war Goethe, in dessen genialer Persönlichkeit sich der Seherblick des Dichters mit der scharfen und nüchternen Beobachtungsgabe des Forschers in glücklichster Weise vereinten. Goethe war in seinen naturwissenschaftlichen Studien durch Buffon mächtig angeregt worden und entwickelte bereits in seiner 1790 erschienenen Schrift Über die Metamorphose der Pflanzen Ideen, die sich vollständig in den Gedankengängen der Deszendenztheorie bewegten. So wenn er die Entstehung aller Organe einer Pflanze auf die Metamorphose, das heißt auf die Abänderung eines einzigen Organs, des Blattes, zurückführte – ein Gedanke, der später bei Lamarck wiederkehrte. Goethe wandte denselben Gedanken auch auf die Tierwelt an und gab uns in seiner Wirbeltheorie ein glänzendes Beispiel seiner scharfsinnigen Beobachtungsgabe. Auch seine Auffassung über die geologischen Veränderungen der Erdoberfläche enthält manche Idee, die erst später durch Lyell und Hoff näher ausgeführt und begründet wurde.
Ein eigenartiger Vorgänger der Entwicklungstheorie war Erasmus Darwin, der Großvater Charles Darwins, der – zweifellos von Lukretius beeinflußt – in seinem umfangreichen Lehrgedicht Zoonomia die Entstehung der Welt und alles Lebens auf der Erde entwicklungsgeschichtlich zu erklären versuchte und manchen Gedanken aussprach, der unserer modernen Auffassung erstaunlich nahekommt.
Der deutsche Naturphilosoph Treviranus vertrat in seinem Werke Biologie: oder die Philosophie der lebenden Natur, das in den Jahren 1802-1805 erschienen ist, den Gedanken, daß alle höheren Lebewesen sich aus einer kleinen Anzahl primitiver Urformen entwickelt haben und daß jede Lebensform das Ergebnis physischer Einflüsse sei, die sich nur in dem Grade und in der Richtung ihrer Wirksamkeit voneinander unterscheiden. – Lorenz Oken, der gleichzeitig mit Goethe, aber ganz unabhängig von diesem, die Auffassung entwickelte, daß die Schädelkapsel aus Wirbeln zusammengesetzt und nur eine Fortsetzung der Wirbelsäule sei, führte aus, daß jedes Lebewesen aus Zellen bestehe und daß alles organische Leben auf der Erde durch einen Urschleim hervorgebracht wurde. Oken machte auch bereits den Versuch die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ihrer Abstammung nach neu einzuteilen.
Diese lange Reihe kühner Denker aller Nationen, die mit Recht als Vorläufer der modernen Entwicklungslehre bezeichnet werden, fand mit dem französischen Zoologen Lamarck einen vorläufigen, aber höchst wirksamen Abschluß. In seiner 1809 erschienenen Philosophie zoologique faßte er die mehr oder weniger entwickelten Ideen seiner Vorgänger mit seinen eigenen Gedanken zusammen und gab ihnen eine bestimmte wissenschaftliche Basis. Er bekämpfte die Lehre von der Unveränderlichkeit der Arten und führte aus, daß uns diese nur deshalb unveränderlich erscheinen, weil sich der Vorgang der Umbildung auf zu lange Perioden erstrecke, die in der kurzen Spanne eines Menschenlebens nicht festgehalten werden können. Trotzdem seien solche Umbildungen unbestreitbar und durch Veränderungen des Klimas, der Ernährungsweise und andere Erscheinungen der Umwelt bedingt.
«Nicht die Organe, das heißt die Natur und Gestalt der Körperteile eines Tieres», führte Lamarck aus, «haben seine Gewohnheiten und besonderen Fähigkeiten hervorgerufen, sondern im Gegenteil, seine Gewohnheiten, seine Lebensweise und die Verhältnisse, unter welchen die Individuen, von denen es abstammt, zu leben gezwungen waren, haben mit der Zeit seine Körpergestalt, die Zahl und den Zustand seiner Organe und Fähigkeiten bestimmt.»
Die große Reaktion, die sich nach den Napoleonischen Kriegen überall in Europa bemerkbar machte und in der Zeit der Heiligen, Allianz unseligen Angedenkens nicht nur einen lähmenden Einfluß auf das gesamte politische und soziale Leben ausübte, sondern auch das Denken der Menschen in Bande schlug, setzte der weiteren Entfaltung der Entwicklungslehre einen Damm entgegen, der erst wieder durchbrochen werden mußte, bevor an ein weiteres Vorschreiten in dieser Richtung gedacht werden konnte. Kunst, Wissenschaft und Philosophie gerieten in den Bann der reaktionären Ideengänge, und es mußte erst wieder ein neuer Geist in Europa geboren werden, der auch dem Entwicklungsgedanken neue Nahrung zuführte. – Es gab wenig Lichtblicke in jener langen Periode geistiger Stagnation, und auch diese wurden kaum beachtet. So entwickelte der englische Gelehrte W. C. Wells bereits 1813 ziemlich deutlich den Gedanken der natürlichen Zuchtwahl, indem er ausführte, daß die dunkle Hautfarbe den Menschen gegen die Gefahren des tropischen Klimas widerstandsfähiger mache, woraus er folgerte, daß sich ursprünglich nur solche Individuen in tropischen Gegenden behaupten konnten, die von der Natur aus irgendwelchen Ursachen mit einer dunklen Hautfarbe begünstigt wurden. Allerdings beschränkte sich Wells in seinen Untersuchungen lediglich auf bestimmte Typen und machte keinen Versuch, diesen Gedanken auf seine allgemeine Gültigkeit zu prüfen.
Die bedeutsamste Erscheinung in jener finsteren Periode war das Werk von Charles Lyell, Principles of Geology, das 1830 in die Welt ging und für die weitere Gestaltung der Entwicklungslehre von grundlegender Bedeutung werden sollte. Der englische Geologe bekämpfte dort die Kataklysmentheorie Cuviers, dessen Autorität in den Naturwissenschaften bis dahin unbestritten war, und erklärte, daß alle Veränderungen der Erdoberfläche nicht durch plötzliche Katastrophen herbeigeführt wurden, sondern durch das unablässige Wirken derselben Kräfte, die auch heute noch ununterbrochen am Werke sind. Diese Auffassung, die Goethe bereits vorausahnte, war die notwendige Voraussetzung des gesamten entwicklungsgeschichtlichen Denkens, denn nur so wurde die Idee einer allmählichen Umgestaltung der Arten, die sich den langsamen Veränderungen der Erdrinde anpaßten, erst richtig begreiflich und wissenschaftlich denkbar.
Im selben Jahre, da Lyells Werk der Öffentlichkeit übergeben wurde, fand in der Pariser Akademie jene denkwürdige Auseinandersetzung zwischen Cuvier und Saint-Hilaire statt, die Goethe trotz seines hohen Greisenalters mit lebhaftem Interesse verfolgte. Cuvier vertrat die Lehre von der bleibenden Gestalt der Arten, während Saint-Hilaire ihre Veränderlichkeit durch Anpassung an die Bedingungen der Umwelt zu beweisen versuchte. Allein der Geist der Zeit war gegen ihn, und Cuvier ging aus dem gelehrten Streite, dem es nicht an Plattheiten fehlte, für die wissenschaftliche Welt als Sieger hervor. Die gesamte Fachwissenschaft stand auf seiner Seite und hatte für seinen Gegner nur Hohn und Spott übrig. Es hatte den Anschein, daß die Entwicklungslehre ein für allemal abgetan sei, denn Cuviers Lehre wurde während der nächsten drei Jahrzehnte kaum mehr angefochten. Sogar nach dem Erscheinen von Darwins epochemachendem Werk weigerten sich die Fachautoritäten in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern, die dort entwickelten Gedanken auch nur in Erwägung zu ziehen, und es verging eine geraume Zeit, bis man sich zu einer ernsten Prüfung der neuen Lehre entschließen konnte. – Auch der Gedanke einer natürlichen Auslese unter den organischen Wesen, den der englische Forscher Patrick Matthew im Anhang eines Buches über Schiffbau und bodenständige Kultur zum Ausdruck brachte, fand keine Beachtung. Der Entwicklungsgedanke schien in der Tat gestorben zu sein. Erst mit dem Niedergang der politischen und sozialen Reaktion in Europa und dem Zusammenbruch der Lehre Hegels trat auch das Bedürfnis für wissenschaftliches Denken wieder in seine Rechte. Damit erwachte auch die Entwicklungslehre wieder zu neuem Leben und fand noch vor dem Erscheinen von Darwins Werk in Männern wie Spencer, Huxley, Vogt, Büchner und anderen mutvolle Vertreter.
Doch erst mit Darwins großem Werk über die Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung im Jahre 1859 erkämpfte sich die Entwicklungslehre ihren endgültigen Sieg, wobei zu beachten ist, daß Darwin kein Fachgelehrter im üblichen Sinne war, sondern die Naturwissenschaft sozusagen aus Liebhaberei betrieb. Wir stehen auch hier vor derselben Erscheinung, die man bei großen Entdeckungen und umwälzenden geistigen Errungenschaften so oft beobachten kann und die nur ein Beweis dafür ist, daß die Autorität auf jedem Gebiete zur Verknöcherung und Unfruchtbarkeit führt, während die freie Entfaltung des Denkens stets Schöpferkräfte in sich trägt.
Gleichzeitig mit Darwin gelangte der englische Zoologe Alfred Russell Wallace, der in Borneo seinen Forschungen nachging, zu denselben Ergebnissen und hatte besonders die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl in ihren Hauptzügen auf dieselbe Art wie Darwin begründet. Aber dieser hatte in seiner langen Forschertätigkeit eine solche Fülle von Material gesammelt und es in so genialer Weise gesichtet und verarbeitet, daß Wallace bescheiden zurücktrat und seinem Freunde neidlos den Vorrang überließ.
Darwin ging mit den Ergebnissen seiner reichen Erfahrung, die er sich vornehmlich auf jener denkwürdigen Weltreise an Bord der Beagle (1831-1836) erworben hatte, sehr vorsichtig zu Werke und hütete sich vor allen Verallgemeinerungen, die sich nicht einwandfrei begründen ließen. So verging nahezu ein Vierteljahrhundert, bevor er mit seiner Arbeit an die Öffentlichkeit trat. Er hatte in der Zwischenzeit keine Mühe gescheut, war mit Tierzüchtern und Landwirten in Verbindung getreten, um deren Erfahrungen kennenzulernen. Gerade die Versuche, die an Haustieren und Kulturpflanzen durch künstliche Züchtung vorgenommen wurden, bestärkten ihn immer mehr in der gewonnenen Erkenntnis, daß in der Natur ähnliche Vorgänge stattfinden, die zu der Entstehung neuer Arten führen. So konnte er mit voller Sicherheit die Welt mit den Ergebnissen seiner langen Studien bekannt machen und seine Folgerungen durch ein unerschöpfliches Tatsachenmaterial belegen.
Darwin gelangte zu der Überzeugung, daß die Veränderung der Arten in der Natur keine Ausnahme, sondern die Regel ist. Seine Beobachtungen hatten ihm gezeigt, daß alle verwandten Arten von einer gemeinsamen Urform abstammen und daß die Unterschiede zwischen ihnen sich erst im Laufe der Zeit durch veränderte Lebensbedingungen, wie Wechsel des Wohngebietes, der Ernährungsweise und des Klimas, herausgebildet hatten. Er belegte diese Auffassung hauptsächlich durch embryologische Untersuchungen, indem er zeigte, daß die Unterschiede zwischen den Embryonen der verschiedenen Tiergattungen viel geringer sind als zwischen den entwickelten Individuen. Von ganz besonderer Wichtigkeit war dabei die Entdeckung, daß die dem gleichen Zwecke dienenden Organe, auch wenn sich diese bei den einzelnen Arten späterhin ganz anders gestalten, im Embryo ganz ähnliche Formen haben, was sich nur dadurch erklären läßt, daß die verschiedenen Arten einer gemeinsamen Urform entsprungen sind. Die Veränderungen sind erst später eingetreten und übertragen sich allmählich auf die Nachkommenschaft, und zwar so, daß sich im Embryo die ganze Reihenfolge der allmählich erworbenen Eigenschaften wiederfindet.
Darwin erkannte, daß die Anpassung der verschiedenen Lebewesen an ihre Umgebung eines der wichtigsten Gesetze ist und daß sich die Arten und Individuen im sogenannten «Kampf ums Dasein» um so leichter behaupten, als sie die Fähigkeit besitzen, sich den Bedingungen der Umwelt anzupassen. So wurden die Deszendenztheorie und die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl die Ecksteine der modernen Entwicklungsidee und eröffneten ihr die weitesten Ausblicke auf allen Gebieten des menschlichen Forschens. Ohne sie wären die glänzenden Ergebnisse der modernen Anthropologie, der Physiologie, der Psychologie, der Soziologie usw. überhaupt nicht möglich gewesen. Der Eindruck von Darwins Werk war überwältigend. Der Entwicklungsgedanke war den Menschen in den langen Jahren der politischen und geistigen Reaktion so fremd geworden, daß er die meisten Gelehrten wie ein Märchen anmutete. Man kann die gewaltige Wirkung der Darwinschen Lehre auf die damalige Zeit nur verstehen, wenn man sich vor Augen hält, was namhafte Forscher, die jene Periode miterlebt haben, darüber zu berichten hatten. So erklärte Weismann in seinen Vorträgen über die Deszendenztheorie:
«Man kann die Wirkung des Buches von Charles Darwin über die Entstehung der Arten nicht verstehen, wenn man nicht weiß, wie völlig die Biologen jener Zeit sich von den allgemeinen Problemen abgewandt hatten. Ich kann Ihnen nur sagen, da wir damals Jüngeren, die wir in den fünfziger Jahren studierten, keine Ahnung davon hatten, daß je eine Entwicklungslehre aufgestellt worden war, denn niemand sprach uns davon, und in keiner Vorlesung wurde sie auch nur erwähnt. Es war, als ob alle Lehrer unserer Universitäten aus dem Lethe getrunken und es vollständig vergessen hätten, daß jemals so etwas diskutiert worden war, oder auch als ob sie sich dieser philosophischen Ausschreitungen der Naturwissenschaft schämten und die Jugend vor ähnlichen Dingen bewahren wollten.»
Darwin hatte in seinem ersten Werke die Frage über die Abstammung des Menschen mit Absicht unberührt gelassen; doch lag es im Wesen seiner Lehre, daß der Mensch keine Ausnahmestellung in der Natur einnehmen konnte. Es war daher nur folgerichtig, wenn namhafte Forscher wie Huxley und Ernst Haeckel aus der neugewonnenen Erkenntnis die unvermeidlichen Konsequenzen zogen und den Menschen als Glied in die lange Kette der organischen Lebewesen mit einreihten. Die Gegner der Darwinismus wurden dadurch freilich noch mehr gegen die neue Lehre aufgebracht, besonders nachdem Huxley sein Buch Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur veröffentlicht hatte; allein kein Hindernis konnte dem siegreich vordringenden Gedanken den Weg versperren. Darwin selbst hatte erst 1871 in seinem großen Werk Der Ursprung des Menschen und die sexuelle Zuchtwahl Stellung zu dem viel umstrittenen Problem genommen und es im Sinne seines ersten Werkes beantwortet.
Die Lehre des großen Denkers hatte damit jedoch keineswegs einen Abschluß gefunden; ebensowenig wie seinerzeit die Lehre des Kopernikus. Sie gab vielmehr Anlaß zu zahllosen neuen Anregungen und Betrachtungen, durch welche manche Gedankengänge Darwins teils berichtigt, teils weiter ausgeführt wurden. Darwin war sich übrigens völlig darüber klar, daß seine Lehre noch mancher Ausbildung bedurfte, wußte er doch zu gut, daß auch Ideen an bestimmte Entwicklungsvorgänge gebunden sind. So hat namentlich der Gedanke der natürlichen Zuchtwahl, wie er von Darwin und Wallace entwickelt wurde, im Laufe der Zeit manche Änderung erfahren, wodurch seine Bedeutung im Vergleich mit anderen Faktoren, die an der Veränderung der Arten mitwirkten, erst ins richtige Verhältnis gesetzt und auf das gebührende Maß zurückgeführt wurde. – Auf Grund der Darwinschen Abstammungslehre war Spencer imstande, den Nachweis zu erbringen, daß die zahllosen Tier- und Pflanzengattungen auf der Erde sich aus wenigen einfachen Organismen entwickelt haben. Haeckel konnte sogar dazu übergehen, einen Stammbaum für das gesamte Tierreich einschließlich des Menschen aufzustellen. In seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte legte der deutsche Gelehrte dem biogenetischen Grundgesetz besondere Bedeutung bei, demzufolge die individuelle Entwicklung eines Lebewesens in sehr hohem Maße eine kurze und sich rasch vollziehende Wiederholung aller Formenveränderungen ist, welche die ganze Ahnenreihe der Gattung in ihrer natürlichen Entwicklung durchlaufen hat und die in den physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und der Anpassung (Ernährung) bedingt sind. Diese neuen Einblicke in die Vorgänge der Entwicklung führten wiederum zu einer ganzen Reihe neuer Erkenntnisse auf den verschiedensten Gebieten der wissenschaftlichen Beobachtung, durch welche die Grenzen unseres Wissens beträchtlich erweitert wurden.
Darwin und Wallace glaubten, in der mechanischen Auslese der Besten eine genügende Erklärung für die Abänderungen der Lebensformen gefunden zu haben, und waren der Überzeugung, daß diese Auslese auf Grund eines steten Kampfes zwischen den verschiedenen Arten und auch innerhalb derselben Gattung vor sich gehe, in dessen Verlauf die schwachen Arten und Individuen auf der Strecke bleiben und nur die starken sich behaupten können. Wir wissen, daß Darwin bei der Entwicklung dieser Auffassung stark durch die Lektüre von Malthus’ Buch über das Bevölkerungsproblem beeinflußt wurde. Er hat später diese Meinung stark revidiert und ist besonders in seinem Werke über die Entstehung des Menschen zu wesentlich anderer Ergebnissen gelangt. Aber die Theorie vom Kampf ums Dasein in ihrer ersten einseitigen Darstellung übte auf eine ganze Anzahl hervorragender Forscher, besonders auf die Begründer des sogenannten sozialen Darwinismus, einen mächtigen Einfluß aus. Man gewöhnte sich daran, die Natur als ein ungeheures Schlachtfeld aufzufassen, auf dem die Schwachen von den Starken erbarmungslos niedergetreten werden, und glaubte in der Tat, daß innerhalb jeder Gattung eine Art dauernder Bürgerkrieg stattfindet, welcher durch naturgesetzliche Notwendigkeiten bedingt sei. Eine ganze Anzahl von Gelehrten, darunter auch Huxley und Spencer, sahen zunächst auch die menschliche Gesellschaft in diesem Lichte und waren der festen Überzeugung, einem Naturgesetz von allgemeiner Gültigkeit auf die Spur gekommen zu sein. So wurde Hobbes’ Krieg aller gegen alle wieder zum unabänderlichen Naturgeschehen, das durch keine ethischen Erwägungen geändert werden konnte, und die Anhänger des sozialen Darwinismus wurden nicht müde, die düsteren Worte von Malthus im Munde zu führen, daß der Tisch des Lebens nicht für alle gedeckt sei.
Zweifellos entsprang diese Auffassung zum großen Teil der bürgerlichen Einstellung der Gelehrten, ohne daß ihnen dieses selbst zum Bewußtsein gekommen wäre. Die kapitalistische Gesellschaft hatte das Prinzip des freien Wettbewerbes zum Angelpunkt der Wirtschaft gemacht; was lag also näher, als darin eine Übertragung desselben Kampfes zu erblicken, der sich nach der Ansicht vieler hervorragender Darwinianer überall in der Natur kundgab und dem auch der Mensch nicht entrinnen konnte. Auf diese Weise gelangte man zur Rechtfertigung jeder menschlichen Ausbeutung und Unterdrückung, indem man sie auf das Walten eines unerbittlichen Naturgesetzes zurückführte. Huxley hatte in seiner bekannten Schrift Struggle for Existence and its Bearing upon Man mit der ihm eigenen Konsequenz diesen Standpunkt rücksichtslos vertreten und damit gegen seinen Willen der sozialen Reaktion eine Waffe geschmiedet, die ihr selbst heute noch gelegentlich als geistiges Verteidigungsmittel dienen muß. Man nahm diese Dinge um so ernster, als die meisten von jenem unerbittlichen Kampfe in der Natur so felsenfest überzeugt waren, daß man diesen bedingungslos voraussetzte, ohne sich die Mühe zu geben, diese Voraussetzung ernstlich zu prüfen.
Es gab damals nur wenige Vertreter der Darwinschen Lehre, die an der Richtigkeit dieser Auffassung zweifelten. Zu diesen wenigen gehörte vornehmlich der russische Zoologe Keßler, der bereits 1880 auf einem naturwissenschaftlichen Kongreß in St. Petersburg die Meinung vertrat, daß neben dem brutalen Kampf mit Klauen und Zähnen in der Natur noch ein anderes Gesetz vorherrsche, das in der gegenseitigen Unterstützung innerhalb der in Gesellschaft lebenden Arten zum Ausdruck gelange und zur Erhaltung der Gattung wesentlich beitrage. Dieser Gedanke, den Keßler nur flüchtig andeutete, fand in dem bekannten Werke Peter Kropotkins, Mutual Aid – a Factor of Evolution, eine weitgehende Ausgestaltung. Kropotkin zeigte an Hand eines reichen Tatsachenmaterials, daß die Vorstellung von der Natur als einem unbegrenzten Schlachtfeld nur ein grausames Zerrbild des Lebens sei, das den wirklichen Tatsachen Gewalt antue.[153] Wie Keßler, so betonte auch er die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der daraus hervorgehenden Instinkte der gegenseitigen Hilfe und Solidarität für die Erhaltung der Art. Diese zweite Form im Kampfe ums Dasein erscheint ihm sowohl für die Erhaltung des Einzelwesens als auch für die Behauptung der Gattung von ungleich größerer Bedeutung als der brutale Krieg der Starken gegen die Schwachen, was schon durch den auffallenden Rückgang jener Arten bestätigt wird, die kein gesellschaftliches Leben führen und sich nur durch ihre rein physische Überlegenheit zu behaupten suchen. War Keßler der Ansicht, daß der Instinkt des Mitfühlens ein Ergebnis des Elterngefühls und der Sorge für die Nachkommen sei, so vertritt Kropotkin den Standpunkt, daß es sich hier um ein Ergebnis des gesellschaftlichen Zusammenlebens schlechthin handle, das dem Menschen bereits von seinen tierischen Ahnen, die ebenso wie er in Gesellschaft lebten, vererbt wurde. So betrachtet, war der Mensch nicht der Schöpfer der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft die Schöpferin des Menschen. Diese Auffassung, die seither von zahlreichen Forschern aufgenommen wurde, ist besonders für die Soziologie von großer Tragweite, da sie auf die ganze Entwicklungsgeschichte des Menschen ein neues Licht wirft und zu den fruchtbarsten Betrachtungen anregt.
Es würde zu weit führen, den zahlreichen Entwicklungsgängen der Darwinschen Lehre im einzelnen nachzugehen. Die Selektionstheorie und besonders das Problem der Vererbung haben zu einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen Anlaß gegeben, welche die Entwicklungslehre im allgemeinen gefördert haben, auch wenn sie nicht immer erfolgreich in ihren Ergebnissen gewesen sind. Manche Theorien, die hier aufgestellt wurden, erscheinen vielleicht allzu gewagt und zu wenig begründet, doch darf man nicht vergessen, daß es nicht allein die positiven Ergebnisse sind, die eine Idee fördern. Auch Hypothesen können zu neuen Betrachtungen anregen und die Forschung mächtig beflügeln. Das gilt besonders für die Weismannschen Theorien über die Vererbung und von allen Erklärungsversuchen, die auf diesem Gebiete von verdienstvollen Forschern wie Mendel, Naegli, de Vries, Roux und ihren zahlreichen Anhängern, wie auch von den Vertretern des Neo-Lamarckismus und den Befürwortern und Gegnern der sogenannten Mutationstheorie gegeben wurden. Die meisten dieser Erklärungsversuche haben zweifelsohne zur weiteren Ausgestaltung der Entwicklungslehre beigetragen, doch sind sie im einzelnen viel zu kompliziert, als daß man ihre wirkliche Bedeutung schon als abgeschlossen betrachten könnte.
Es wäre verlorene Liebesmühe, wollte man bei einer geistigen Erscheinung von so ungeheurer Tragweite wie die moderne Entwicklungslehre nach nationalen Ursachen Ausschau halten. Ein ganzes Heer von Denkern und Forschern aller Völker und Nationen, von denen hier nur die bekanntesten Namen angeführt werden konnten, hat zu der allseitigen Ausgestaltung dieser Lehre beigetragen und sie geistig befruchtet. Keine Nation konnte sich ihrem Einfluß entziehen. Sie hat das gesamte Denken der Menschen unseres Kulturkreises in bestimmte Bahnen gelenkt, alle bisherigen Vorstellungen über Welt und Mensch umgewertet und eine ganz neue Auffassung über alle Probleme des Lebens hervorgerufen. Welche Bedeutung haben die kleinen Eigentümlichkeiten, die man im besten Falle zwischen Angehörigen verschiedener Menschengruppen festzustellen vermag und die letzten Endes nur Ergebnisse anerzogener Begriffe, Vorstellungen und Gewohnheiten sind, im Vergleich mit der überwältigenden Wirkung einer Idee oder Weltanschauung, die sich allen Menschen mit gleicher Macht aufdrängt und sich über alle künstlich gezogenen nationalen Grenzen hinwegsetzt? Nein, der menschliche Geist läßt sich nicht an die Kette künstlich geschaffener Vorurteile legen und erträgt nicht den Zwang nationaler Beschränktheit. Der einzelne Mensch mag vorübergehend oder dauernd in den Bann einer nationalen Ideologie geraten, wie etwa der Mann der Wissenschaft von den anerzogenen Vorurteilen seiner Klasse oder seines Standes beeinflußt werden kann; aber keine Macht ist imstande, der Wissenschaft als solcher ein nationales Gepräge zu geben oder das Denken eines Volkes auf die künstlichen Normen einer sogenannten nationalen Idee einzustellen. Wohin solche Versuche führen, zeigten uns die Zustände in Deutschland und Italien mit voller Deutlichkeit. Die Tatsache allein, daß die Nationalgesinnten in jedem Lande sich einreden, ihre besonderen Ideengänge allen anderen, wenn nötig, auch gegen ihren Willen, aufzwingen zu müssen, ist die geistige Bankerotterklärung jedes wie immer gearteten Nationalismus. Wäre das nationale Empfinden in der Tat eine deutlich wahrnehmbare Erscheinung, die sich im Menschen zu einer Art Instinkt verdichtete, so würde dieses Gefühl in jedem von uns lebendig sein und sich mit triebhafter Notwendigkeit durchsetzen, ohne daß man gezwungen wäre, es künstlich zu züchten und den Menschen zum Bewußtsein zu bringen.
Wir haben für unsere Betrachtungen das kopernikanische Weltsystem und die Entwicklungslehre mit Absicht herangezogen, weil sich hier der universale Charakter des menschlichen Denkens am deutlichsten offenbart. Aber es hätte auch genügt, irgendeinen besonderen Zweig der Wissenschaft, eine philosophische Lehre, eine soziale Volksbewegung oder eine große Erfindung anzuführen, um zu demselben Ergebnis zu gelangen. Jede wissenschaftliche Erkenntnis, jede philosophische Betrachtung über Welt und Mensch, jede soziale Bewegung, die aus den Verhältnissen der Zeit geboren wird, jede praktische Verwertung erworbener Kenntnisse in Technik und Industrie wird von Angehörigen aller Nationen gefördert und ausgestattet. Man kann daher ebensowenig von einer nationalen Wissenschaft sprechen wie von einem nationalen Weltsystem oder einer nationalen Erdbebentheorie. Die Wissenschaft als solche hat mit nationalen Bestrebungen nichts gemein, sie steht zu dieser vielmehr in einem unverkennbaren Gegensatz, denn während sie ohne Zweifel einer der wichtigsten Faktoren ist, welcher die Menschen vereint und miteinander verbindet, ist jeder Nationalismus ein Element, das sie einander entfremdet und stets bestrebt ist, ihre natürlichen Beziehungen zu erschweren und feindlich zu gestalten. Es ist nicht die Nation, die unsere Art des Denkens gestaltet und zu neuen Versuchen befähigt und anregt, es ist der Kulturkreis, dem wir angehören, der alles Geistige in uns zur Reife bringt und fortgesetzt befruchtet. Keine nationale Abgeschlossenheit kann uns diesem Einfluß entziehen; sie kann nur dazu beitragen, uns kulturell ärmer zu machen und unsere geistigen Anlagen und Fähigkeiten zu verstümmeln, wie wir das jüngstens gerade in Deutschland mit erschreckender Folgerichtigkeit beobachten konnten.
XXV. Architektur und Nationalität
Kunst und Nationalität. Kunstwerk und Weltanschauung. Die Persönlichkeit des Künstlers. Stilarten und Gesellschaftsformen. Die Willkür der Stilbezeichnungen. Architektur und Gemeinschaft. Notdurft und Ästhetik. Einfluß des Materials auf den Stil. Die Brücke zwischen Ägypten und Babylon. Vom griechischen Tempel bis zum hellenistischen Kunststil. Verbindung etruskischer und griechischer Formen. Der Gewölbebau. Übergang zum christlichen Kirchenstil. Zentralbau und Cäsarismus. Der byzantinische Stil. Völkerwanderung und romanischer Baustil. Übergang zur Gotik. Die Gotik als Gesellschaftsgebilde. Die Renaissance. Ausbildung der Raumtypen. Michelangelo und der Übergang zum Barock. Der Jesuitenstil. Niedergang des alten Regimes und die Kunst des Rokoko. Die kapitalistische Welt und das Stilchaos. Fabrik. Warenhaus.
Aber die Kunst? wird man einwenden. Spricht nicht in ihr die besondere Seele jedes Volkes? Sind die Unterschiede, die sich in der Kunst verschiedener Völker offenbaren, nicht Ergebnisse ihrer nationalen Eigenart und durch diese bedingt? Lebt nicht in jedem Kunstwerk ein gewisses Etwas, das sich nur national empfinden läßt und das der Abkömmling eines anderen Volkes oder einer fremden Rasse nie eigentlich erfassen wird, weil ihm dazu das besondere Organ zum inneren Verständnis fehlt? Das sind Fragen, denen man häufig begegnet, wenn vom Wesen der nationalen Kunst die Rede ist.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst erst einmal, wie ein Kunstwerk zustande kommt, und zwar überall, ohne Unterschied von Rasse und Nation. Wenn wir zum Beispiel den Blick in eine Landschaft versenken, so kann das Erschaute verschiedene Wirkungen in uns auslösen. Es kann uns anregen, die Dinge, welche dem Auge sichtbar werden, im einzelnen zu erfassen, sie voneinander zu scheiden, um ihre besonderen Eigenschaften festzuhalten und ihre Beziehungen zur Umwelt zu ergründen. Mit dieser rein verstandesmäßigen Einstellung wird etwa ein Naturforscher zunächst an die Dinge herantreten und dabei zu rein wissenschaftlichen Betrachtungen gelangen, die er im Geiste festhält und verarbeitet. Aber wir können auch dieselbe Landschaft rein gefühlsmäßig in uns aufnehmen, die Pracht ihrer Farben, ihre Schwingungen und Töne auf uns wirken lassen, ohne daß wir uns dabei über die besondere Art ihrer materiellen Beschaffenheit Rechnung ablegen. In diesem Falle empfinden wir das Erschaute rein ästhetisch, und wenn uns die Natur mit der nötigen Fähigkeit begabt hat, das Gesehene wiederzugeben, so entsteht ein Kunstwerk. Gewiß lassen sich die Eindrücke, die wir beim Sehen empfangen, nicht immer so säuberlich trennen, aber je tiefer das rein Gefühlsmäßige, die sogenannte Stimmung im Kunstwerk sich durchsetzt, desto mehr verdient es diesen Namen. Gerade deshalb ist ja die Kunst kein bloßes Nachahmen der Natur. Der Künstler gibt das Erschaute nicht bloß wieder, er beseelt es auch, haucht ihm jenes geheime Leben ein, das allein imstande ist, jene seltsame Stimmung zu erwecken, die dem künstlerischen Empfinden eigen ist; mit einem Wort: der Künstler wirkt Seele ins All, wie Dehmel es so trefflich faßte.
Daß ein Künstler seine Kunst in den Dienst einer bestimmten Weltanschauung stellen und in ihrem Sinne wirken kann, ist eine Binsenwahrheit, die keines Beweises bedarf. Dabei kommt es zunächst wenig darauf an, ob diese Anschauung religiöser, rein ästhetischer oder allgemein sozialer Natur ist. Mithin kann auch die nationale Idee – was immer man darunter verstehen mag – den Künstler anregen und sein Schaffen beeinflussen. Nie aber ist ein Kunstwerk das Ergebnis eines angeborenen nationalen Fühlens, das für seine ästhetischen Qualitäten von maßgebender Bedeutung ist. Anschauungen werden den Menschen anerzogen und von außen zugeführt. Wie er darauf reagiert, ist eine Frage seiner Persönlichkeit, ein Ergebnis seiner individuellen Veranlagung, aber keineswegs die Auswirkung einer besonderen nationalen Eigenart. Die persönliche Eigenart des Künstlers bekundet sich in seinem Stil, der jedem seiner Werke eine besondere Note gibt, die sich in allem offenbart, was er schafft.
Doch auch der Künstler steht nicht außerhalb von Raum und Zeit; auch er ist nur Mensch wie der geringste seiner Zeitgenossen. Sein Ich ist kein abstraktes Gebilde, sondern eine lebendige Wesenheit, in der sich jede Seite seines gesellschaftlichen Lebens abspiegelt und Wirkung und Gegenwirkung auslöst. Auch er ist mit tausend Banden den Menschen seiner Zeit verbunden, an deren Leiden und Freuden er persönlich Anteil nimmt und deren Bestrebungen, Wünsche und Hoffnungen auch in seinem Herzen ein Echo finden. Als soziales Wesen ist er mit demselben Geselligkeitsinstinkt begabt; in seiner Person strahlt die ganze Umwelt wider, in der er lebt und wirkt, und die notwendigerweise auch in seinem Werke einen Ausdruck findet. Wie dieser Ausdruck sich kundgibt, auf welche besondere Art die Seele des Künstlers die Eindrücke, die er von seiner Umgebung empfängt, zurückwirft, darüber entscheidet letzten Endes sein eigenes Empfinden, seine besonderen Charakteranlagen, mit einem Wort: seine Persönlichkeit.
Wie sehr die Kunst nur die höchste Erscheinungsform einer bestehenden Kulturgemeinschaft ist; wie wenig sie als Ergebnis angeblicher Rasseneigenschaften oder nationaler Empfindungskomplexe bewertet werden kann, das zeigt uns besonders die Architektur, deren verschiedene Stilformen stets an besondere Zeitabschnitte, aber nie an eine bestimmte Nation oder Rasse gebunden sind. Jedesmal, wenn im Leben der europäischen Völker eine Umschichtung der gesellschaftlichen Formen und ihrer geistigen und materiellen Voraussetzungen eintrat, machten sich in der Kunst im allgemeinen und in der Architektur im besonderen neue Stilformen bemerkbar, welche den neuen Bestrebungen Ausdruck gaben. Diese Wandlungen des künstlerischen Gestaltungsdranges beschränkten sich nie auf ein Land oder auf eine Nation, ebensowenig wie die sozialen Veränderungen, aus denen sie hervorgegangen sind. Sie verbreiteten sich vielmehr über den ganzen europäischen Kulturkreis, dem wir angehören und aus dessen Schöße sie geboren wurden. Antike, Gotik, Renaissance – um hier nur die bekanntesten Stilarten anzuführen – verkörpern nicht bloß besondere Richtungen in der Kunst; sie sind auch als Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Gestaltung und der geistigen Erkenntnisse bestimmter Epochen zu bewerten.
Je klarer der denkende Mensch die Kluft erkannte, die sich zwischen der Antike mit ihren klassischen Kunstformen und der später entstandenen christlichen Welt und dem ihr eigenen Gestaltungsdrange auftat, desto mehr reizte es ihn, den ästhetischen Ursachen dieses Gegensatzes nachzugehen. Das geschah zunächst, indem man Vergleiche zwischen den Kunstgebilden beider Epochen anstellte; regte doch die Wiederentdeckung der Antike unmittelbar zu Vergleichen an. Dabei gab man sich über die tieferen Entwicklungsvorgänge, die beiden Gesellschaftsgebilden und ihren geistigen Auswirkungen zugrunde lagen, kaum Rechenschaft. Solche Vergleiche führen immer zu bestimmten Werturteilen und schaffen gewisse Grenzen, die dem abstrakten Denken als konkrete Merkmale dienen müssen. Ein Werturteil setzt aber stets einen Zweckbegriff voraus. Indem man Vergleiche zwischen verschiedenen Stilarten anstellt, beurteilt man sie nach dem Grade, in dem eine besondere Stilart gewissen Voraussetzungen entspricht oder nicht. Auf diese Weise gelangten Lessing, Goethe, Schiller, Winckelmann und ihre zahlreichen Nachfolger zu ihren kunsttheoretischen Folgerungen. Man sah in der Kunst lediglich den Zweck, das Schöne darzustellen, und da das Schönheitsideal der Griechen unseren Klassikern als das vollkommenste erschien, so bekam es für sie eine absolute Bedeutung; es wurde ihnen das Schöne schlechthin, an dem gemessen jede andere Stilart roh und unvollkommen erscheinen mußte. So gelangte man auf den Spuren der Antike zu mancher wertvollen Entdeckung, doch der Kern der Frage blieb unberührt.
Der Begriff des Schönen ist ein viel umstrittener Begriff, der nicht bloß für Völker verschiedener Zonen und Kulturkreise eine besondere Bedeutung hat, auch das Schönheitsideal desselben Volkes oder derselben Kulturgemeinschaft – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann ist fortgesetzt großen Schwankungen unterworfen. Was dem einzelnen heute als häßliche Manier erscheint, erringt sich morgen als neuer Schönheitsbegriff Geltungsrecht. Wir sind daher der Meinung, daß es in der Kunst überhaupt kein bestimmtes Ziel gibt, sondern nur Wege, auf welchen der Gestaltungsdrang des Menschen Ausdruck findet. In welchen Formen dieser Drang sich offenbart, das zu verfolgen ist zwar eine reizvolle Aufgabe, aber nicht mehr. Für den angeblichen Zweck der Kunst gibt sie uns keine Anhaltspunkte, denn auch auf diesem Gebiete hat der Zweck immer nur eine relative, nie eine absolute Bedeutung. Diesen Gedanken hat Scheffler sehr schön mit den Worten umrissen:
«Wie kein einzelner Sterblicher die ganze Wahrheit hat, wie die Wahrheit vielmehr unter alle ausgeteilt ist, so ist auch die Kunst als Ganzes nie im Besitz eines Volkes oder einer bestimmten Zeit. Alle Stile zusammen sind erst Kunst.»[154]
Wie in der Naturwissenschaft die sogenannte Katastrophentheorie längst überwunden ist, so auch in der Kunstgeschichte. Keine Stilart ist plötzlich aus sich selbst entstanden und ohne Berührungspunkte mit früheren Stilarten. Jeder Kunsthistoriker ist heute leicht in der Lage, anschaulich darzustellen, wie sich ein Stilgebilde aus anderen allmählich entwickelt hat, und zwar auf dieselbe Art wie die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens. Das verhindert allerdings nicht, daß der Meinungsstreit über den Wert der verschiedenen Stilgattungen häufig sehr scharfe Formen annimmt. So hat man sich neuerdings wieder daran gewöhnt, die Gotik als Trägerin des germanischen Geistes zu feiern und ihre besondere Schönheit gegen die Kunst der Antike und der Renaissance auszuspielen. In der Tat, vergleicht man einen griechischen Tempel mit einem gotischen Dome, so ergibt sich ein geradezu überwältigender Unterschied zwischen beiden. Aber daraus zu schließen, daß dieser Gegensatz in der Stilform durch die Rasse oder Nationalität bedingt sei, ist eine Ungeheuerlichkeit. Wäre die Gotik wirklich das Ergebnis, bestimmter Rassenanlagen oder eines besonderen nationalen Gestaltungsdranges, dann ist es schwer zu begreifen, daß Männer wie Lessing, Goethe, Schiller, Winckelmann usw., die man doch als die hervorragendsten Vertreter deutscher Art feiert, der klassischen Kunst der Antike bedingungslos das Wort geredet haben. Goethe, der in seinen jungen Jahren von der Gotik immerhin stark angezogen wurde, wie dies in seinen Betrachtungen über das Münster zu Straßburg zum Ausdruck kommt, wandte sich später immer entschiedener dem Schönheitsideal der Antike zu und machte aus seiner Geringschätzung alles Gotischen durchaus kein Hehl. Sollte uns das nicht als Beweis dafür dienen, daß alle Theorien, welche das Kunstempfinden im allgemeinen und die schöpferische Wirksamkeit des Künstlers im besonderen lediglich als Kundgebungen der Rasse oder des nationalen Genius bewertet wissen wollen, auf leeren Einbildungen beruhen, die mit der Wirklichkeit des Lebens nichts gemein haben?
Mit Kunst- und Stiltheorien ist es überhaupt eine eigene Sache. Sie haben den Vorteil, daß sie uns bestimmte Unterschiede des künstlerischen Schaffens klarer zum Bewußtsein bringen; aber ihre schwache Seite liegt darin, daß sie alle von Voraussetzungen ausgehen, die der willkürlichen Auffassung ihrer Begründer entsprechen. Indem man die Vorliebe für eine bestimmte Stilart an den anderen zu steigern versucht, entstehen nicht selten Gegensätze rein abstrakter Natur, die für das Hervorheben bestimmter Einzelheiten ihren Zweck erfüllen mögen, für die Klärung des eigentlichen Problems aber wenig in Betracht kommen. Schon die Bezeichnungen, mit denen man die verschiedenen Stilarten belegt hat, sind in den meisten Fällen ganz willkürlich gewählt und entsprechen nur selten einer klar umrissenen Vorstellung. So deckt das Wort Renaissance keineswegs den Begriff, den wir heute damit verbinden, denn die Kultur jener Epoche stellt viel mehr dar als eine Wiedergeburt der Antike. Es war eine vollständige Umwälzung aller überlieferten Begriffe und gesellschaftlichen Vorstellungen, die sich natürlich auch in der Kunst auswirkte. An die Stelle der mittelalterlichen Gesellschaft mit ihren zahllosen religiösen und sozialen Bindungen, ihrer Mystik und ihrem Jenseitsdrange trat eine neue Ordnung der Dinge, welche durch die großen Entdeckungen der Zeit und die rasche Umgestaltung der gesamten Wirtschaftsverhältnisse stark gefördert wurde. Die Renaissance war also keineswegs eine Wiederholung antiker Lebensformen, sondern eine mächtige Entfesselung junger Triebe auf allen Gebieten des Lebens. Sie konnte schon deshalb keine Wiedergeburt der Antike sein, da sie die anderthalb Jahrtausend alten Überlieferungen des Christentums nicht willkürlich ausschalten konnte und in ihrer Entwicklung an diese gebunden war.
Noch willkürlicher ist die Bezeichnung Gotik für die Kunst des christlichen Mittelalters, ein Name, der bekanntlich mit dem Volk der Goten nicht das geringste gemein hat. Vasari, von dem wir diese Bezeichnung übernommen haben, wollte damit lediglich den Gegensatz zur Kunst der Renaissance darstellen, und seine heftigen Ausfälle gegen die Grundsätze der Gotik zeigen klar, daß er mit diesem Ausdruck den Begriff des Rohen, Ungeschlachten und Barbarischen verbunden wissen wollte. – Nicht besser steht es mit Ausdrücken wie Barock und Rokoko, über deren ursprüngliche Bedeutung man sich heute noch nicht ganz klar ist. Diese Wörter erhielten alle erst später einen mehr oder weniger bestimmten Sinn, der von ihrer ursprünglichen Bedeutung, fast immer wesentlich abwich. Immerhin ist die große Mehrheit der neueren Stilpsychologen längst zu der Überzeugung gelangt, daß eine bestimmte Stilart nicht an ein Volk oder an eine Nation gebunden ist. So ist Scheffler, der den Grundsatz vertritt, daß «der gotische Geist auf allen Stufen die Formen der Unruhe und des Leidens schaffe, der griechische dagegen die Formen der Ruhe und des Glücks», der Ansicht, daß beide Stilarten, die griechische und die gotische, bei allen Völkern und in den verschiedensten Zeiten auftreten. In diesem Sinne hat er dem Begriff der Gotik Prähistorisches und Ägyptisches, Indisches und Barockes, Antikes und Modernes, Fernes und Nahes eingeordnet. Wir können uns den allgemeinen Ausführungen Schefflers nicht anschließen, da sie an denselben Unzulänglichkeiten kranken wie alle anderen Stiltheorien; an der Willkür unbewiesener und unbeweisbarer Voraussetzungen. Seine Behauptung, daß der griechische Stil als das weibliche, der gotische aber als das männliche Element in der Kunst aufzufassen sei, ist im besten Falle eine geistreiche Ideenkonstruktion. In einem Punkte aber hat Scheffler unbedingt recht: Die Vorstellung, die wir gewöhnlich mit dem Begriff der Gotik verbinden, ist nicht bloß auf das christliche Mittelalter begrenzt, obwohl sie damals vielleicht ihren vollendetsten Ausdruck gefunden hat. Ohne Zweifel lebt in der Kunst der alten Ägypter und Assyrer viel Gotisches. Auch manche indische Tempelbauten vermitteln uns den Eindruck des dämonischen Sentiments, der unbegrenzten Formenträchtigkeit und des gewaltsamen Emporstrebens, die der Gotik eigen sind. Ebenso läßt sich in manchen modernen Fabrikbauten und Warenhäusern ein ähnlicher Zug erkennen, so daß man fast versucht wäre, von einer Gotik der Industrie zu sprechen.
Übrigens hat Nietzsche einen ähnlichen Gedanken entwickelt, indem er versuchte, in der griechischen Kunst selbst zwei verschiedene Strömungen festzuhalten, die sich in der einen oder der anderen Form in allen Perioden wiederfinden. Die eine – Nietzsche nennt sie apollinisch – erscheint ihm als der Ausdruck rein bildnerischer Kräfte, die von der «Weihe des schönen Scheins» umstrahlt sind und durch ihre maßvolle Begrenzung und weisheitsvolle Ruhe wie ein Traum auf uns wirken. Die andere Strömung, die er als dionysisch bezeichnet, ist umwittert von tausend Mysterien und dunklem Ahnen, das einem Rausche gleicht, bei dessen Steigerung «das Subjektive zur völligen Selbstvergessenheit hinschwindet». Nietzsche bemerkt diesen Zug nicht bloß in der griechischen Kultur. – «Auch im deutschen Mittelalter wälzen sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Scharen, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sankt-Johannes- und Sankt-Veits-Tänzen erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen.» – Nietzsche faßte diesen Gegensatz in die prächtigen Worte:
«Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellektuellen Höhe der künstlerischen Bildung des einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht.»[155]
Ob wir uns nun mit den alten Begriffen des Klassischen und Romantischen weiter behelfen wollen, ob wir statt ihrer jene von allen empfundene Polarität der Stile als realistisch und idealistisch oder als impressionistisch und expressionistisch zu bezeichnen belieben, ob wir der Ausdrucksweise Worringers den Vorzug geben, der von der Abstraktionskunst des Nordens und ihrem Gegensatze, der Einfühlungskunst der Griechen spricht, oder mit Nietzsche von einem apollinischen und dionysischen Gefühlsausdruck in der Kunst sprechen wollen, verschlägt im Grunde genommen sehr wenig. Was aber Nietzsche sehr wohl erkannt hatte, ist die Tatsache, daß jener vielumstrittene Gegensatz, den er in die Begriffe des Apollinischen und Dionysischen zu bannen suchte, keineswegs als ein Problem zwischen Nord und Süd oder als ein Gegensatz zwischen Rassen und Nationen aufgefaßt werden darf, sondern vielmehr als innerer Dualismus der Menschennatur überhaupt zu werten ist, der sich bei allen Völkern und Menschengruppen wiederfindet.
Vor allem muß man sich davor hüten, Einzelerscheinungen in der Geschichte eines Volkes oder eines Zeitalters zu verallgemeinern, um daraus einen Gesamtcharakter zu konstruieren. Die Griechen waren sicherlich ein lebensfreudiges Volk, doch wäre es sinnlos anzunehmen, daß ihnen die innere Tragik des Lebens verborgen geblieben wäre und der griechische Mensch von seelischen Nöten und qualvollen Gemütserschütterungen nichts gewußt hätte. Ebenso abwegig ist es, wenn gewisse Kulturpsychologen und Stiltheoretiker uns das Mittelalter als eine Zeit seelischen Schmerzes und dämonischer Urtriebe darstellten, wo der Mensch zu sehr mit den Schrecken des Todes und dem düsteren Problem einer kommenden Vergeltung beschäftigt war, als daß er die heiteren und friedvollen Seiten des Lebens hätte schätzen können. Auch das Mittelalter kannte die Lebensfreude, hatte seine heiteren Feste, seine erdgebundene Sinnlichkeit, die auch in seiner Kunst häufig genug hervortritt. Man denke an die ultra-realistischen Bildwerke zahlloser kirchlichen und weltlichen Bauten jener Zeit, die beredtes Zeugnis dafür ablegen. Jede Zeit hatte ihren Wahn, ihre geistigen Epidemien, ihre Sankt-Johannes- und Sankt-Veits-Tänze; das christliche Mittelalter macht von dieser Regel keine Ausnahme. Wir sind jedoch häufig so sehr mit den Wahnvorstellungen der anderen beschäftigt, daß uns die eigenen nur selten oder gar nicht zum Bewußtsein kommen. Und gibt uns nicht gerade unsere Zeit einen Anschauungsunterricht, der nicht leicht mißverstanden werden kann?
Schmerz und Freude sind Höhepunkte des menschlichen Empfindens, die sich in allen Zeiten, unter jedem Himmel, wiederfinden; es sind die beiden Pole, um die unser Seelenleben kreist und die unserem physischen Sein abwechselnd ihren Stempel aufdrücken. Wie der einzelne Mensch nie dauernd im Zustand tiefsten Seelenschmerzes oder ekstatischen Glücksempfindens verharren könnte, so noch weniger ein ganzes Volk, eine ganze Zeit. Der größte Teil eines Menschenlebens bewegt sich zwischen Leid und Freude. Schmerz und Seligkeit sind einem Zwillingspaar vergleichbar, das trotz aller Gegensätze aneinandergekettet ist, so daß wir uns das eine ohne das andere nicht vorstellen können. Das gilt auch für den schöpferischen Ausdruck beider Affekte in der Kunst. Wie jeder Mensch für die Empfindung der Freude und des Schmerzes empfänglich ist, so finden wir auch in der Kunst jedes Volkes eine Betätigung beider Gefühlskomplexe, die sich wechselseitig ablösen und ergänzen. Beide zusammen mit ihren Tausenden und aber Tausenden von Abtönungen, Schattierungen und Wandlungen vermitteln uns erst den Begriff der Kunst als Ganzes. Das erkannte auch Scheffler sehr klar, wenn er ausführte:
«Für die Kunstwissenschaft besteht das Ideal darin, jenem imaginären Punkt außerhalb des irdischen Getriebes nahezukommen, von dem Archimedes träumte. Es darf für sie keine Rücksichten, keine Grenzen geben, das Leben, die Kunst muß ihr zu einem ungeheuren Ganzen werden, und jedes Stück Kunstgeschichte muß sein wie ein Ausschnitt einer Universalgeschichte der Kunst. Auch der patriotische Standpunkt hat keine Geltung. Das Wunder, wie alle Rassen, Völker und Individuen an dem ewigen Leben der Kunstform beteiligt sind, ist zu groß, als daß es nationalistisch eingeengt werden dürfte. Muß aber so der nationale Standpunkt aufgegeben werden, das heißt, darf der wissenschaftlich Erkennende an dem Triebartigen seiner Nation nicht einmal teilnehmen, um wieviel weniger darf er da seinem kleinen persönlichen Willen, dem Trieb seiner Natur folgen und in scheinbar sachlichen Argumenten ummünzen.»
Solange sich unsere Kenntnis bloß auf die Stilarten der europäischen Völker und ihrer nächsten Anverwandten begrenzte, war es verhältnismäßig leicht, die schönen Künste und besonders die Architektur als ein Ganzes zu übersehen und bestimmte Einteilungen zu treffen. Doch mit der Erweiterung unserer Kenntnisse hat sich auch vieles geändert. Es ist vorläufig noch nicht möglich, die inneren Beziehungen der verschiedenen Stilformen in der Architektur der alten Völker, besonders, wenn diese nicht dem europäischen Kulturkreise angehörten, einwandfrei festzustellen, obwohl schon manches wichtige Ergebnis in dieser Richtung erzielt wurde. Zahllose Zwischenglieder des tektonischen Schaffens, die sicher einmal vorhanden waren, sind im Laufe der Jahrtausende spurlos verschwunden, weil das Material der Zeit nicht standgehalten hat oder weil Einflüsse anderer Art den Zerstörungsprozeß begünstigt haben. Immerhin hat man sich in der Wissenschaft allmählich daran gewöhnt, nicht länger von einer ägyptischen, assyrischen oder persischen Kunst schlechthin zu sprechen, wenn dies auch im alltäglichen Leben und im Schulunterricht noch oft genug geschehen mag. Beim tieferen Eindringen in die Geschichte Griechenlands dämmerte uns zuerst die Erkenntnis, daß auch die Antike ihr Altertum, ihr Mittelalter, ihre neuere und neueste Zeit hatte, was uns besonders durch die Entwicklung der Architektur von der vorhomerischen Zeit bis zur Entstehung und zum Niedergang des sogenannten Hellenismus anschaulich nahegebracht wurde. Es ist der Stil, in dem sich der Kulturinhalt einer Epoche am besten kundgibt, da er gewissermaßen eine Zusammenfassung aller gesellschaftlichen Bestrebungen einer Zeit widerstrahlt. Vor allem aber zeigt sich auch hier der befruchtende Einfluß, der von außen kommt und häufig Anlaß zu neuen Stilgebilden gibt. Diese gegenseitige Befruchtung geht wie ein roter Faden durch die Geschichte aller Völker und bildet eines der fundamentalen Gesetze der kulturellen Entwicklung überhaupt.
In der Architektur läßt sich dies besser als auf jedem anderen Gebiete der Kunst beobachten, ist sie doch die sozialste aller Künste, in der sich stets der Wille einer Gemeinschaft kundgibt. In der Architektur findet sich das Zweckmäßige mit dem Ästhetischen am innigsten verschmolzen. Es war nicht die Laune des Künstlers, die eine Pyramide, einen griechischen Tempel, einen gotischen Dom geschaffen hat, es war ein allgemein empfundener Glaube, eine gemeinsame Idee, welche jene Werke durch die Hand des Künstlers erstehen ließ. Es war der Totenkult der Ägypter, der zur Ausführung der sogenannten Mastabas und der Pyramiden drängte. Ist doch die Pyramide nichts anderes als ein gigantisches Grabmal, dessen äußere Form gleichzeitig den gesellschaftlichen Charakter einer bestimmten Epoche wiedergibt, wie der luftige Tempel der Griechen nur bei einem Volke entstehen konnte, das sich stets unter freiem Himmel tummelte und sich in keine geschlossenen Räume bannen ließ. Der christliche Dom aber mußte eine ganze Gemeinschaft fassen, dieser Zweck lag seiner ganzen Bauart zugrunde und blieb trotz aller Wandlung der äußeren Form stets der gleiche.
Man hat die Architektur eine Kunst der Stimmungen genannt. Das ist sie, und zwar in viel höherem Maße als jede andere Kunst; aber sie ist es nur deshalb, weil sie den Geist der Gemeinschaft in so überwältigender Weise zum Ausdruck bringt und eine Gesamtstimmung erzeugt, in der jede persönliche Regung versinkt. Scheffler hat diese Wirkung des architektonischen Kunstwerks in geistvoller Weise geschildert, indem er zeigte, wie sich hier die Wucht einer allgemeinen Idee bei dem Beschauer offenbart. Dieser Eindruck ist deshalb so mächtig, weil er dem Menschen keine Stimmung vermittelt, die auf die inneren Beziehungen zwischen dem Werk und seinem Schöpfer hindeutet, sogar wenn dieser bekannt ist. Beim Betrachten eines Bildes entsteht bei dem Beschauer ganz von selbst ein innerer Kontakt zwischen dem Kunstwerk und dem Meister, der ihm Leben gab. Er fühlt aus dem Bilde gewissermaßen die Persönlichkeit des Künstlers heraus, empfindet das Schwingen seiner Seele. Beim architektonischen Kunstwerk aber bleibt ihm der Schöpfer nur ein Name, denn es ist kein Einzelwille, der hier zu ihm spricht; hier türmt sich der Wille einer Gemeinschaft, der stets wie eine anonyme Urkraft anmutet. Scheffler folgerte daraus, daß «der Architekt nur ein Zögling der vom Zeitwillen gefundenen Erkenntnisse ist, nur das denkende Organ fruchtbarer technischer Ideen. Er wird mehr geführt, als daß er Führer wäre.»[156]
Doch die innere Sehnsucht und der Wille einer Gemeinschaft, die sich in ihren religiösen Vorstellungen, ihren Gewohnheiten und ihren allgemeinen sozialen Anschauungen kundgeben, ändern sich nicht plötzlich, sondern nur allmählich, auch wenn die Änderung durch katastrophale Erscheinungen verursacht wird. Auch Revolutionen können aus sich selbst nichts Neues schaffen, sie setzen nur die verborgenen Kräfte frei, die sich im Schoße des alten Organismus langsam heranbildeten, bis sie den äußeren Druck nicht länger ertragen und sich gewaltsam Bahn brechen. Dieselbe Erscheinung läßt sich auch bei der Entwicklung der verschiedenen Stilarten in der Kunst im allgemeinen und in der Architektur im besonderen beobachten. Auch hier geht es nicht ohne revolutionäre Wandlungen ab, ohne ein scheinbar plötzliches Aufkommen neuer Stilformen. Geht man aber den Dingen tiefer nach, so erkennt man deutlich, daß den Umwälzungen Perioden einer langsamen Entwicklung vorausgegangen sind, ohne die sich etwas Neues nie hätte gestalten können. Jede neue Form entwickelt sich organisch aus bereits Vorhandenem und trägt in der Regel noch längere Zeit die Eierschalen des Gewesenen an sich.
Stellt man zwei durchaus verschiedene Stilarten unmittelbar nebeneinander, wie zum Beispiel das Griechische neben das Gotische, so liegt allerdings eine Welt zwischen beiden, die keine Berührungspunkte erkennen läßt. Geht man aber dem langsamen Werden der verschiedenen Stilformen nach unter Berücksichtigung aller Zwischenglieder und Übergangsstile, so erkennt man auch hier ein langsames Heranreifen der verschiedenen Formen und Gestaltungen. Diese Entwicklung ist wie alles andere nicht frei von Perioden des Stillstandes und des gewaltsamen Vorwärtsdrängens, die aber nie das innere Gleichmaß des Gesamtvorganges auf längere Zeit hinaus unterbinden können. Das ist übrigens ganz natürlich, denn auch die Kunst ist nur eine der vielen Äußerungen der kulturellen Gestaltung, der sie in ihrer Weise Ausdruck gibt. Deshalb sind auch hier die einzelnen Etappen der Stilentwicklung von kürzerer oder längerer Dauer, je nachdem der Strom des gesellschaftlichen Geschehens träge dahingleitet oder plötzlich anschwillt und über seine Ufer tritt. Die Reihenfolge der Entwicklung aber läßt sich nie verkennen; aus jeder Form ergibt sich eine andere; nichts entsteht aus sich selbst, alles fließt, alles bewegt sich.
Die Frage des Stils entspringt, nicht lediglich der Auffassung des Künstlers; sie ist zum großen Teile von dem Material abhängig, das ihm zur Verfügung steht. Jedes Material, ob Holz, Lehm oder Stein, erfordert eine besondere Bearbeitung, löst seine besonderen Wirkungen aus, die der Künstler wohl kennt und bei seiner Arbeit sehr in Betracht zieht. Man hat daher nicht mit Unrecht von der Seele oder dem Geist des Materials gesprochen. Es gibt Kunsthistoriker, denen der überragende Einfluß des Materials auf die Stilbildung so gewichtig erscheint, daß Naumann die Behauptung aufstellen konnte, daß der gotische Stil seine Entstehung in erster Linie dem weichen, schmiegsamen Sandstein der Île de France zu verdanken habe, wo die Gotik zuerst sichtbare Formen angenommen hat. Diese Behauptung mag in ihrer Ausschließlichkeit übertrieben sein, doch läßt sich nicht verkennen, daß ihr ein gut Teil Wahrheit zugrunde liegt. Man denke an die Baukunst der alten Ägypter, an die Entstehung der Pyramiden. Zwei Voraussetzungen waren dazu unumgänglich: das Steinmaterial und die weite Ebene, in welcher der Bau allein zur Geltung gelangen konnte. Oder man nehme die Bauwerke der Babylonier und Assyrer, die aus Mangel an Holz und Stein fast ausschließlich auf die Verarbeitung getrockneter oder gebrannter Lehmziegel angewiesen waren. Der Ziegelbau aber führte zu ganz besonderen Stilarten; nur aus ihm konnte zunächst der Rundbogen und allmählich die sogenannte Kuppelwölbung entstehen.
Natürlich sind die gewaltigen Bauwerke der Alten nicht mit einemmal entstanden, sondern im Laufe einer langen kulturellen Entwicklung, an der sowohl in Ägypten als auch in Babylonien Völker der verschiedensten Abstammung teilgenommen haben. In einem sehr anregenden und lehrreichen Werke des Ägyptologen Heinrich Schäfer wird das allmähliche Werden der Baukunst bei den Völkern des Niltales sehr anschaulich dargestellt.[157] Wie aus dem Lehm-, Ziegel-, Holz- und Rohrhüttenbau sich allmählich der Steinbau entwickelt hat und wie dessen Erfinder zunächst bestrebt waren, die alten Stilformen in Stein nachzubilden. Aus den älteren Grabstätten, die ihrer kastenähnlichen Form wegen später von den Arabern Mastabas, d. h. Ruhebänke, genannt wurden, entstanden allmählich die Pyramiden, indem man dazu überging, jene Steinkästen aufeinanderzutürmen. Die berühmte Stufenpyramide von Sakkarah und die sogenannte Knickpyramide von Dashoor zeigen uns heute noch die einzelnen Übergänge, die endlich unter der vierten Dynastie zu den Wunderbauten von Gizeh führten.
Schäfer zeigt uns auch, in welchem Maße die grandiose Baukunst der Völker des Niltales alle Nachbarvölker befruchtet und ihnen die Kunst des Quaderbaus, ja des Steinbaus überhaupt vermittelt hat. Daß schon in sehr frühen Zeiten kulturelle Beziehungen zwischen Ägypten und der vorgeschichtlichen Bevölkerung des späteren Griechenlands bestanden haben, wird heute von keinem namhaften Forscher mehr bestritten; auch die Ergebnisse der Ausgrabungen auf Kreta durch Evans und andere lassen Zusammenhänge mit Asien und Ägypten deutlich erkennen. Ebenso wird es immer wahrscheinlicher, daß die eigenartige ägyptische Säulenbildung der Bauwerke von Deir-el-Bahri und Beni Hassan auf das Schaffen der Griechen nicht ohne Einfluß gewesen ist. – Aber auch die Beziehungen zwischen Ägypten und den zahlreichen Völkerschaften Vorderasiens und besonders mit dem uralten Kulturgebiet, das vom Euphrat und Tigris durchflössen wird, treten durch die neueren Forschungen immer deutlicher zutage.
Zwar sind wir vorläufig noch nicht in der Lage, die mannigfachen Wirkungen und Gegenwirkungen jener Beziehungen im einzelnen feststellen zu können, doch geht man nicht fehl, wenn man annimmt, daß hier eine wechselseitige Befruchtung stattgefunden hat, die von Völkern verschiedener Rassen ausgegangen ist und auf die Entwicklung der einzelnen Stilformen nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Es wäre ganz undenkbar, daß zwei so mächtige Kulturgebilde wie Ägypten und Babylonien, die sich um dieselbe Zeit und in nächster Nachbarschaft entwickelt haben, keine Beziehungen zueinander gehabt haben sollten. Diese gegenseitigen Einflüsse haben wahrscheinlich schon bestanden, als an die Herrschaft der Pharaonen am Nil und an das Reich der babylonischen und assyrischen Könige am Euphrat und Tigris noch nicht zu denken war. Man kann sogar mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die große Rassen- und Völkervermischung, die sich von alters her in jenen Gebieten in so hohem Maße auswirkte, mit eine der wichtigsten Ursachen für die Entwicklung beider Kulturgebiete gewesen ist.
Wie in der ägyptischen, so läßt sich auch in der Baukunst der Babylonier und Assyrer eine allmähliche Entwicklung der Stilformen beobachten, die wohl zum großen Teile durch das Eindringen neuer Völkerschaften verursacht und gefördert wurde. Solange es sich dabei um einfache Nomadenstämme handelte, die über keine nennenswerte Kultur verfügten, wurden diese von der alten Kultur sehr rasch aufgesogen. Anders war es, wenn das Reich von höher entwickelten Völkern heimgesucht wurde. In diesem Falle machte sich nach der Beendigung der militärischen Konflikte das Eindringen neuer Kunstformen bemerkbar, die sich mit den vorhandenen allmählich verschmolzen und zu neuen Stilarten führten. Leider war das Baumaterial, das den Völkern am Euphrat und Tigris zur Verfügung stand, nicht der Art, daß es den Jahrtausenden einen ähnlichen Widerstand entgegensetzen konnte wie die Steinbauten Ägyptens. Es ist daher nicht leicht, aus den Trümmerstätten einer längst vergangenen Kultur ein Gesamtbild zu gewinnen. Doch läßt sich die starke Wirkung der persischen Invasion auf die Entwicklung des alten Baustils deutlich erkennen. Vergleicht man die Ruinen der alten Königspaläste von Chorsabad mit denen von Persepolis, so springt der Unterschied sofort ins Auge. Die Meder und die Perser, die bekanntlich keine semitischen Völker wie die Babylonier und Assyrer waren, brachten aus ihrer Heimat den Holzstil mit, der sich nun unter anderen Bedingungen und unter dem sichtlichen Einfluß der assyrischen Stilformen neue Ausdrucksmittel suchte. Die schlanken Säulen im Xerxespalast von Persepolis mit ihren phantastischen Kapitalen legen Zeugnis für diese neuere Entwicklung ab. Diese Bauwerke haben allerdings nicht die gewaltigen Ausmaße der riesenhaften Paläste von Chorsabad, aber sie zeichnen sich durch eine feinere Gestaltung und besonders durch eine größere Harmonie in den Anlagen der äußeren und inneren Bauformen aus. Bei den alten Bauwerken von Susa, die den Palästen von Persepolis verwandt sind, macht sich bereits griechischer Einfluß bemerkbar.
Sind uns die inneren Zusammenhänge in der Baukunst der ägyptischen und vorderasiatischen Völker in ihren Einzelheiten vielfach noch ganz unbekannt, so gibt uns die allmähliche Entwicklung der verschiedenen Baustile in Europa ein desto klareres Bild. Zwar sind auch hier die ersten Anfänge noch völlig in Dunkel gehüllt, denn die ältesten griechischen Tempel, die wir kennen, stehen bereits auf einer sehr hohen Stufe der Vollendung. Doch haben die Ausgrabungen von Tiryns und Mykenä in Kleinasien und die von Knossos und Phaistos auf Kreta klar erwiesen, daß auch dort die Anregungen von Vorderasien und Ägypten ausgingen. Das zeigen besonders zahlreiche Ornamente auf Kreta, wie zum Beispiel die Symbole der Fruchtbarkeit, die auf den Lebensbaum der Assyrer hinweisen. Auch in Mykenä lassen sich ähnliche Zusammenhänge feststellen.
Im griechischen Tempel sehen wir zum erstenmal ein Kunstwerk, das eine streng geschlossene Einheit darstellt. Inneres und Äußeres bilden eine ungetrübte Harmonie. Der ganze Bau folgt einem natürlichen Gesetz, aus dem sich alle Formen aus sich selbst ergeben. Auf einem dreistufigen Sockel steigen die Säulen und Wände der Cella empor, die das Allerheiligste umgibt. Sie tragen das Gebälk das dem sattelförmigen Dach als Stütze dienen muß. Die bedeutendste Errungenschaft der griechischen Baukunst ist die harmonische Gestaltung des Säulengerüstes und seine Verbindung mit der horizontalen Decke der äußeren Halle und dem Giebeldach. Die äußere und innere Ornamentik ist gewissermaßen mit dem ganzen Bau verwachsen. Die Werke der Bildhauerkunst und Malerei nehmen just den Platz ein, der ihnen durch das Ganze zugedacht scheint, und kommen durch das Raumverhältnis erst richtig zur Geltung. Der ganze Bau mutet an wie eine glückliche Kombination von mathematischen Formen und musikalischem Empfinden. So ungemein typisch der griechische Tempel ist, läßt seine Bauart die mannigfachsten Variationen zu, so daß die schöpferische Betätigung des Künstlers in keiner Weise beeinträchtigt wird und er sich nie zu wiederholen braucht. Schon die große Verschiedenheit in der Säulenbildung und besonders in der reichen Auswahl der Kapitale, wie sie im dorischen, jonischen und korinthischen Stil zum Ausdruck kommen, schafft stets andere Eindrücke. Die innere Geschlossenheit des griechischen Bauwerks wirkt in der Tat so überwältigend, daß man versteht, weshalb die späteren Verteidiger der klassischen Kunst kein anderes Schönheitsideal gelten lassen wollten.
Die letzte Stilform, die Griechenland hervorbrachte, der sogenannte hellenische Kunststil, der sich vornehmlich in Kleinasien und Ägypten entwickelte, ist das Bindeglied zum römischen Stil. Der römische Tempel ist eine Verschmelzung griechischer und etruskischer Formen. Hier verbindet sich der Säulenbau mit den Formen des Gewölbe- und Mauerbaus, den die Etrusker aus Asien mitbrachten. Diese neue Stilart führte zu einer ganzen Reihe anderer Schöpfungen, aus denen sich wieder eine ganze Anzahl späterer Stilformen ergab. So entwickelte sich aus dem sogenannten Tonnengewölbe, das einem der Länge nach durchschnittenen Zylinder gleicht, das spätere Kreuzgewölbe, welches dadurch entsteht, daß zwei solcher Halbzylinder sich rechtwinkelig durchschneiden und miteinander verschmelzen. Das so entstandene Raumgebilde spielte dann später bei der Entwicklung des christlichen Kirchenbaus eine wichtige Rolle.
Die praktischen Römer begnügten sich nicht damit, die von den Etruskern und Griechen überlieferten Stilformen nur auf ihre Tempelbauten zu beschränken; sie verwendeten sie auch für zahlreiche Bauwerke, die rein weltlichen Zwecken dienten. Auf diese Art entstand eines der wichtigsten Raumgebilde in der Architektur, die Basilika. Die Basilika war zunächst ein großer, rechteckiger überdachter Raum im Herzen der Stadt, der den Kaufleuten und den städtischen Angestellten als Beratungsstätte diente, aber auch schon frühzeitig bei der Schlichtung von Rechtsstreitigkeiten Verwendung fand. Der Mittelraum war der Länge nach auf beiden Seiten durch eine Säulenreihe abgegrenzt, die rechts und links zwei schmale Seitenschiffe entstehen ließ, über denen sich häufig eine Galerie erhob. Es ist ganz unverkennbar, daß die späteren christlichen Baumeister die wichtigsten Formen ihrer inneren Raumgestaltung der alten Basilika entlehnt haben.
Die Entwicklung der tonnengewölbten Räume führte folgerichtig vom Kreuzgewölbe über verschiedene Zwischenglieder zur Kuppelschöpfung, die im Pantheon von Rom eine so vollendete Gestaltung fand. Das Pantheon ist der vollkommenste Zentralbau. Seine Bestimmung als Denkmal des julischen Kaiserhauses macht uns sofort klar, daß der Bau nicht als Versammlungsstätte einer Gemeinde gedacht war, sondern lediglich dem Standbilde des Cäsar als Raumumgebung diente. Die Wirkung des Innenraums ist denn auch in der Tat faszinierend. Die Kuppel, die dem Räume von oben her ein gleichmäßiges Licht gibt, bietet dem Auge nirgends einen Halt und erfüllt den Beschauer mit dem Gefühl eines leisen Schwebens, das ihn zur Höhe zwingt. Der orientalische Einfluß macht sich im Pantheon noch stärker bemerkbar als bei allen anderen Schöpfungen des römischen Gewölbebaus.
War man früher der Ansicht, daß die Gewölbebauten der Arsakiden und der späteren Sassaniden in Persien auf römischen Einfluß zurückzuführen seien, so gelangt man heute mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß sich der Einfluß in der entgegengesetzten Richtung vollzogen hat. In seiner Architektonischen Raumlehre vertritt Ebe den Standpunkt, daß jene Bauwerke weit eher als eine Fortsetzung mesopotamischer Anfänge zu betrachten sind, die später sowohl der christlich-byzantinischen wie auch der islamitischen Baukunst als Ausgangspunkte dienten. Im allgemeinen ist man sich heute ziemlich klar darüber, daß bei der Entwicklung des byzantinischen Stils, der mit der Verbreitung des Christentums in die Erscheinung tritt, persische, syrische und auch ägyptische Einflüsse stark mitgewirkt haben. Zwar sind uns die Anfänge der byzantinischen Architektur nicht erhalten geblieben; doch ist in den Bauwerken der späteren Periode der orientalische Einfluß so unverkennbar, daß eine Reihe namhafter Stilhistoriker der Meinung Ausdruck gaben, daß die Anfänge der byzantinischen Kunst an der jonischen Küste Vorderasiens entstanden seien, weil dort die Einflüsse der verschiedenen Stilarten wie Strahlen in einem Brennglase zusammenliefen und dem Künstler stets neue Anregungen boten. In der Tat hat gerade jener Teil des Orients eine ganze Reihe bedeutender Meister der byzantinischen Baukunst hervorgebracht; unter anderen auch Anthemius aus Tralles und Isidoros aus Milet, die beiden Erbauer der berühmten Sophienkirche in Konstantinopel, die als die vollendetste Schöpfung der byzantinischen Baukunst gilt.
Der byzantinische Kirchenbau stellt im wesentlichen die Verschmelzung zweier Raumtypen dar, die sich – rein ästhetisch betrachtet – zu fliehen scheinen, doch allmählich zu einer Einheit zusammenwachsen: das Langhaus der christlichen Basilika mit dem zentralen Kuppelbau. Eine solche Verbindung gab dem Gestaltungsdrange des Architekten einen weiten Spielraum und führte zu den mannigfachsten Stilergebnissen. In der Tat hatte die byzantinische Kunst einen starken Einfluß auf ganz Europa und die Länder des Morgenlandes und beherrschte jahrhundertelang das künstlerische Schaffen. Die zahlreichen Bauwerke aus der Zeit des frühen Mittelalters in Konstantinopel, Italien, Griechenland, Palästina, Syrien, Armenien usw. legen Zeugnis dafür ab. Vom 10. bis 12. Jahrhundert erlebte der byzantinische Stil noch eine Nachblüte und hat sich in den Ländern der griechisch-katholischen Kirche bis heute erhalten. – Auch die Baukunst der mohammedanischen Völker geht auf den byzantinischen Stil zurück, wie denn auch ihre ersten Werke, die Moscheen von Jerusalem und Damaskus, rein byzantinisch sind und von byzantinischen Meistern ausgeführt wurden. Ob man die weitere Entwicklung der mohammedanischen Architektur als islamitischen Stil bezeichnen darf, wie das oft geschieht, ist sehr fraglich, da eine Einheitlichkeit nur insofern besteht, als die mohammedanische Religion die innere Gliederung der Moschee mitbestimmt hat wie die christliche die Raumgestaltung des Kirchenbaus. Sonst aber machen sich in der islamitischen Baukunst eine Unmenge verschiedener Formen bemerkbar. Der Islam, der auf seinem Siegeszuge im Osten bis zu den Ufern des Ganges und im Westen bis zum Ebrostrande vordrang, lernte dabei die Stilarten aller möglichen Völker und Rassen kennen und verwertete alle in seiner Art. So finden sich in der islamitischen Baukunst persische, semitische, ägyptische, indische, byzantinische und antike Elemente, die in mannigfacher Weise zur Geltung gelangten und später auf die Baukunst des christlichen Abendlandes zurückwirkten.
Aus dem Langbau der christlichen Basilika entwickelte sich allmählich eine neue Stilform, welche der europäischen Architektur vom 10. bis zum 13. Jahrhundert ihr Gepräge gab. Wir sprechen hier von dem romanischen Baustil, der in seinen Anfängen auf den spät-römischen Stil zurückgeht, aber in den nordischen Ländern seine höchste Ausbildung erfahren hat. Das Wort romanisch ist als Bezeichnung für eine gewisse Stilerscheinung womöglich noch belangloser als die Wortprägung Gotik oder Renaissance. Französische Archäologen haben das Wort zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Umlauf gesetzt, um damit auf die innere Einheit einer Stilform hinzuweisen, die bis dahin in den verschiedenen Ländern bald lombardisch, bald rheinisch, normannisch oder anders genannt wurde. Allerdings ließ die angebliche Einheitlichkeit viel zu wünschen übrig, und die Erfinder des neuen Wortbildes hatten zunächst nur gewisse Einzelerscheinungen aus der römischen Antike, wie den Rundbogen mit den Säulen, im Auge, die für das Gesamtgebilde wenig Bedeutung hatten. Auch in der sogenannten romanischen Baukunst machen sich eine ganze Reihe verschiedener Stileinflüsse bemerkbar, die ihr in manchen Gegenden ein ganz eigenartiges Gepräge geben. Man denke an die romanischen Bauwerke Siziliens aus der Zeit der Normannenherrschaft, die von sarazenischen Baumeistern ausgeführt wurden und unverkennbare Züge der islamitischen Baukunst aufweisen. Ebenso tritt in den romanischen Kirchenbauten Norditaliens der byzantinische Einfluß so stark hervor, daß man mit gutem Recht von einem byzantinisch-romanischen Stil spricht.
Bei den Völkern der nordischen Länder erreichte der romanische Stil eine besondere Vollendung. Jene Völkerschaften waren durch die langen Stürme der Völkerwanderung hindurchgegangen und durch die römische Welt befruchtet und zu höherem Schaffen angeregt worden. Für sie hatte das Christentum, das bei den Römern bereits in Fäulnis übergegangen war, eine ganz besondere Bedeutung, indem es dazu beitrug, ihren Gemeinsinn neu zu festigen, der durch den Sturm und Drang der großen Wanderungen und der endlosen Kämpfe manchen Stoß erlitten hatte. Sie entwickelten die aus dem Süden übernommenen Grundsätze der christlichen Baukunst in ihrem eigenen Sinne weiter, und obwohl ihren Werken zunächst noch manches Rohe und Ungelenke anhaftet, verraten sie eine gesunde Ursprünglichkeit, die manches Große in ihrem Schöße trug.
Der wesentliche Zug der romanischen Baukunst besteht in der Überwindung der flachgedeckten Säulenbasilika durch den gewölbten Langbau, in dem der Pfeiler mehr und mehr die Säule verdrängt, die zuletzt nur noch als Schmuckstück Verwendung findet. Durch die kreuzgewölbte Basilika entwickelt sich allmählich ein neues Raumbild, das einen ausgesprochenen Bewegungsdrang nach oben offenbart. Je weiter die Entwicklung vor sich geht, desto stärker tritt dieser Zug hervor. Immer steiler richten sich die Bögen, immer schlanker gestaltet sich das Gerippe. Der Turm wird ein wesentlicher Bestandteil des Baus, mit dem er immer mehr verwächst und dem er nach außen hin einen besonderen Charakter gibt, bis diese Entwicklung zuletzt in der Gotik ausmündet und zugleich ihren Abschluß findet. Weiter konnte man in dieser Richtung nicht mehr gehen. Die Gotik war in der Tat die letzte Konsequenz, die vollständige Erschöpfung jenes Prinzips des vertikalen Baus, der sich in dieser letzten Phase seiner Entwicklung fast gewaltsam der Erde entreißt und im ungestümen Drange emporstrebt. Es ist die Stein gewordene Ekstase, die alle Himmel offen sieht und jeder irdischen Gebundenheit zu entfliehen trachtet.
Und doch wäre es verfehlt, in der Gotik lediglich den Ausdruck eines rein religiösen Empfindens sehen zu wollen; denn sie war in derselben Zeit das Ergebnis einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Lebens, deren Symbol sie in hohem Grade gewesen ist. Die Gotik war der künstlerische Niederschlag einer Kultur, die gewissermaßen eine Art Synthese von persönlichem Antrieb und gegenseitigem Zusammenwirken darstellte. In einem Anhang zu Whewells Geschichte der induktiven Wissenschaften bemerkt der englische Gelehrte Willis über jene Form des christlichen Baustils:
«Eine neue dekorative Konstruktion war heraufgekommen, die die mechanische Konstruktion nicht bestritt und störte, sondern ihr half und sie harmonisch machte. Jedes Glied, jeder Tragstein wird ein Träger der Last; und durch die Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten, und die daraus folgende Verteilung des Gewichts war das Auge befriedigt von der Festigkeit der Struktur, trotz des sonderbar mageren Aussehens der einzelnen Teile.»
Gustav Landauer, der in seinem trefflichen Essay Die Revolution das obige Zitat aus Kropotkins prächtigem Buche Gegenseitige Hilfe übernommen hat, knüpft daran die feine Bemerkung:
«Der Mann der Wissenschaft hat hier einfach das Wesen des christlichen Baustils schildern wollen; aber da er das Richtige, den wahren Gehalt des Stils getroffen hat und da der Bau dieser hohen Zeit eine Zusammenfassung und ein Symbol der Gesellschaft ist, hat er in seinen Worten ohne Absicht ein Bild dieser Gesellschaft gegeben: Freiheit und Gebundenheit; Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten.»
Das ist unbedingt richtig, so richtig, daß man überhaupt kein klares Bild von der Baukunst der Gotik erhält, ohne den eigenartigen Gebilden der mittelalterlichen Gesellschaft tiefer nachzugehen, deren reiche Mannigfaltigkeit im gotischen Bauwerk ihren Ausdruck findet. Wie jene Gesellschaft mit ihren ungezählten Bünden, Schwurbrüderschaften, Gilden, Gemeinden das Prinzip des Zentralismus nicht kannte und ihrem Charakter nach föderalistisch war, so ist auch der gotische Dom kein Zentralbau, sondern ein Gliederbau, in dem jeder Teil sein eigenes Leben atmet und dem Ganzen trotzdem organisch verbunden ist. So wird das gotische Bauwerk zum steinernen Symbol eines föderativ gegliederten Gesellschaftsbildes, in dem auch der kleinste Teil zur Geltung gelangt und zur Erhaltung des Ganzen beiträgt. Es konnte nur hervorgehen aus einem so reichen und vielgestaltigen Gesellschaftsleben, in dem jeder Teil bewußt oder unbewußt einem gemeinsamen Ziele zustrebte. War doch der Dom selbst eine Kollektivschöpfung, an deren Zustandekommen jede Schicht, jedes Glied der Gemeinschaft tatfreudigen Anteil nahm. Nur durch das einträchtige, vom Geiste der Solidarität getragene Zusammenwirken aller Kräfte des Gemeinwesens konnte das gotische Bauwerk entstehen und sich zur grandiosen Verkörperung jener Gemeinschaft gestalten, die ihm Seele verlieh. Hier trat ein Geist zutage, der sich von innen heraus sein eigenes Haus baute und der seinem ungezähmten Schöpferdrange leichter folgte als den Gesetzen der Ästhetik, bis er sich mählich eine Schönheit eigener Art und jene Harmonie aller Teile schuf, die seinem innersten Wesen am besten entsprach.
Man hat die Gotik häufig als die tiefste Offenbarung deutscher Art und deutschen Wesens gefeiert; in Wahrheit verkörperte sie nur die Art und das Wesen einer besonderen Kulturepoche, deren Wurzeln bis ins 10. Jahrhundert zurückgehen und die sich vom 11. bis 15. Jahrhundert über ganz Europa verbreitet hat. Jene Epoche, deren innere Geschlossenheit noch heute die Bewunderung des Forschers erregt, entsprang durchaus nicht den Sonderbestrebungen eines bestimmten Volkes, sie war vielmehr das Ergebnis eines kollektiven Schaffens, der lebendige Ausdruck aller geistigen und sozialen Strömungen, welche die europäische Menschheit damals beseelten und zur schöpferischen Betätigung anregten. Leider ist gerade diese Periode von der Mehrheit der unter dem Einfluß der modernen Staatsideen stehenden Geschichtsschreiber am schmählichsten verkannt worden. Nur wenige Historiker in jedem Lande bilden eine rühmliche Ausnahme, und diesen haben wir es hauptsächlich zu verdanken, wenn das Verständnis für jene viel verkannte Epoche wenigstens bei einer Minderheit wieder neu angeregt wurde. – Daß die Gotik nicht die Frucht eines besonderen Volkes oder einer bestimmten Rasse gewesen ist, hat übrigens auch Georg Dehio in seinem groß angelegten Werke über die deutsche Kunst ausgeführt, worin er sagt:
«Ganz sicher waren die Franzosen die ersten, die die gotischen Konstruktionselemente zu einem logischen System zusammengefaßt, die ersten auch, die ihren Ausdruckswert für die gotische Stimmung, das gotische Weltgefühl oder wie man es sonst nennen mag, erkannt haben. Damit ist ihnen eine Leistung von größter historischer Tragweite gesichert. Falsch jedoch ist es, noch weiterzugehen und auch jene Stimmung, jenes Weltgefühl im ausschließlichen Sinne als ein Eigentum des französischen Geistes zu deklarieren, aus erblichen Sondereigenschaften der Rasse es abzuleiten. An und für sich schon ist die Rasse bei gleichzeitig begrenzten Erscheinungen ein recht fragwürdiges Erklärungsprinzip. Wie aber erst, wenn man es mit einem Mischvolk zu tun hat? Ist es das Gallische oder das Lateinische oder das Germanische in dem Franzosen, das in der Gotik seinen Ausdruck gefunden hat? Es genügt, die Frage zu stellen, um zu erkennen, daß sie gar nicht gestellt werden darf. Die Gotik ist nicht aus der Tradition des Blutes zu erklären, sie ist die künstlerische Synthese der von den nordischen Menschen gemeinsam geschaffenen und erlebten Kultur in einer zeitlich begrenzten Entwicklungsphase. Sie ist ein Zeitprodukt des aus der Idee der romanisch-germanischen Völkerfamilie hervorgegangenen Weltbürgertums des hohen Mittelalters; dieses ist der wahre Erzeuger des gotischen Stils.»[158]
Bei den fränkischen Stämmen der Île de France und in der Picardie kam der gotische Stil zunächst am reinsten zum Ausdruck, nachdem er alle Übergänge erfolgreich überwunden hatte. Von dort aus verbreitete sich die Gotik allmählich über ganz Europa und nahm in jeder Region ihre eigene Gestaltung an. Häufig tritt die Verschiedenheit sogar in demselben Lande, ja nicht selten sogar am selben Ort zutage und enthüllt uns die mannigfachen Einflüsse der Zeit. Wenn die Gotik in Italien sich nicht bis zu jener äußersten Vollendung steigerte wie in manchen Gegenden Deutschlands, so läßt sich dies keineswegs auf den Unterschied der Rasse oder der Nationalität zurückführen. Hier spielen besonders die Einflüsse der Vergangenheit eine entscheidende Rolle, die sich in Italien ganz anders auswirken mußten als in Deutschland. In Italien waren die Überlieferungen der Antike nie ganz verdrängt worden; auch die erbitterte Gegnerschaft der Kirche gegen die heidnische Tradition konnte an dieser Tatsache nichts ändern. Anklänge an die Antike machten sich dort stets bemerkbar, und die Entwicklung des gotischen Baustils konnte sich diesen Einflüssen nicht entziehen. Dieselbe Erscheinung läßt sich auch in vielen Teilen Frankreichs beobachten, wo das Grundprinzip der romanischen Bauart sogar im gotischen Bauwerk nie ganz überwunden wurde. In England steigerte sich das Prinzip des vertikalen Baus bis zum sogenannten perpendikularen Stil, der eine besondere Form der Gotik darstellt. Ähnliche Erscheinungen, die wir übrigens in den verschiedenen Entwicklungsphasen jeder großen Stilperiode wahrnehmen können, gibt es noch viele.
Mit der Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft und der alten Städtekultur wurde auch die gotische Kunst langsam zu Grabe getragen. Die beginnende Renaissance war der Auftakt eines neuen Abschnitts in der Geschichte der europäischen Völker und führte notwendigerweise auch zu einer neuen Stilentwicklung in der Kunst. Auch die Renaissance darf nicht als reine Kunstangelegenheit betrachtet werden. Jede große Periode der Stilwandlungen ist nur der Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen und wird uns erst durch diese recht verständlich. Die Renaissance war ein Kulturereignis von europäischer Bedeutung, dessen Wirkung sich kein Volk entziehen konnte. Will man ihren Einfluß auf die Kulturgestaltung Europas richtig bemessen, so muß man sie als Ganzes auf sich wirken lassen. Denn was man gewöhnlich als französische, italienische oder deutsche Renaissance zu bezeichnen pflegt oder was in den Werken der Geschichtsschreiber als Humanismus, Reformation oder Rationalismus in die Erscheinung tritt, sind nur Teile eines Ganzen, das uns in seiner Gesamtheit nur durch die inneren Zusammenhänge aller Einzelergebnisse verständlich wird. So betrachtet, war die Renaissance der Beginn einer gewaltigen Umwälzung auf allen Gebieten des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens, die zu einer Neugestaltung aller europäischen Kulturformen führte. Alle früheren Normen und Begriffe hatten ihren Halt verloren; die festgefügtesten Theorien und Vorstellungen waren ins Wanken geraten, im bunten Chaos wirbelte Altes und Neues durcheinander, bis sich allmählich aus diesem Drunter und Drüber neue Elemente des gesellschaftlichen Daseins herausformten.
Daß ein geschichtliches Ereignis von solcher Tragweite auch in der Kunst eine gründliche Umwälzung aller überlieferten Stilformen bewirken mußte, war unvermeidlich und bedarf keiner näheren Erklärung. In der Tat führte die Renaissance zu einer Erneuerung der alten Auffassungen und Stilbegriffe, was besonders in der Architektur am deutlichsten hervortritt. Und doch kann man auch hier von keinem glatten Bruch mit dem Vergangenen sprechen. Zwar ist die Renaissance der Ausgangspunkt einer neuen Auffassung des Lebens und der künstlerischen Gestaltung, aber die Zusammenhänge mit dem Gewesenen sind trotzdem deutlich sichtbar. Auch hier greifen die einzelnen Formen ineinander, und das Neue gliedert sich dem Alten organisch an.
«Die große Epoche der Renaissancekunst», bemerkt Gustav Ebe, «welche, in Italien anhebend, sich zunächst über die westeuropäischen Länder ausbreitet und endlich den Umfang eines Weltstils annimmt, wird gemeinhin als eine Wiederaufnahme der antik-römischen Kunstüberlieferungen aufgefaßt; und diese Erscheinung trifft auch so weit zu, als die Renaissance, mindestens in ihrer reinsten italienischen Form, ihren gesamten stilistischen Apparat aus römischer Quelle schöpft. Indes macht sich unabhängig von der formal-stilistischen Behandlung, welche sich in einem schroffen Gegensatz zur Gotik äußert, ein stetiger Fortschritt in der Ausbildung der Raumtypen geltend, und dieser erwächst durchaus auf dem Grunde der mittelalterlichen Errungenschaften. Auf dem letztbezeichneten Gebiete erscheint kein scharfer Bruch mit dem Nächstvorhergehenden, sondern eine folgerichtige Weiterentwicklung der alten Typen, entsprechend den Ideen und Bedürfnissen der damaligen Zeit, in einer Umbildung, die auch wohl ohne die Zuhilfenahme der antikisierenden Formensprache denkbar gewesen wäre.»[159]
Die Richtigkeit dieser Bemerkung ist augenscheinlich. In der künstlerischen Raumbildung bedeutet die Architektur der Renaissance trotz aller stilistischen Gegensätze, die sie von den Stilformen des Mittelalters trennt, nur ein neues Glied. Die äußeren Formen ändern sich und passen sich den neuen Bedürfnissen und Geistesströmungen an. Der Mensch, der seine suchenden Blicke vom Himmel abwendet und die Erde wieder vor sich sieht, klammert sich an das Irdische fest. Das Bauwerk verliert den vertikalen Charakter, der in der Gotik seine höchste Vollendung gefunden hatte und nicht mehr überboten werden konnte. An die Stelle des Höherstrebens tritt wieder das breit auf der Erde Lagernde; der horizontale Zug wird zum entscheidenden Merkmal des neuen Bauwerks. Der Bau wächst nicht länger von innen heraus zum Himmel empor; er gestaltet sich plastisch von außen her nach bestimmten Prinzipien und neuen künstlerischen Voraussetzungen. Die Proportion wird wieder zum Maß aller Dinge und weist jedem Teil seinen festen unverrückbaren Platz an. Die Raumbildung ist klar durchdacht und stützt sich auf bestimmte organische Leitsätze. Das Bauwerk schließt häufig mit einem wuchtigen Kranzgesimse ab; aber auch die einzelnen Stockwerke sind durch Gesimse scharf voneinander getrennt, wodurch der horizontale Charakter des Ganzen noch schärfer betont wird. In den Palastbauten der italienischen Renaissance tritt dieser Zug besonders deutlich hervor; auch die Säule kommt wieder zur Geltung, was besonders bei den von Loggien und Bogenhallen umrahmten Höfen der Renaissancebauten in Italien in reizvoller Weise zutage tritt.
Bei den kirchlichen Bauten tritt das zentrale Prinzip, das von der Gotik völlig verdrängt wurde, wieder beherrschend hervor. Meistens wird der Zentralbau von einer Kuppel überwölbt, wodurch der geschlossene Charakter des Bauwerks um so machtvoller erscheint. Ist auch die Anknüpfung an byzantinische und antike Vorbilder unverkennbar, so gelingt es Meistern wie Brunelleschi, Bramante und besonders Michelangelo nichtsdestoweniger, ganz neue Wirkungen von unvergleichlicher Wucht und konzentrierter Stärke hervorzurufen. Zwar mußte der Zentralbau mit dem Langbau manche Verbindungen eingehen, die dem praktischen Bedürfnis entsprachen, aber gerade diese Versuche waren es, die besonders in der Spätrenaissance zu einer Fülle der eigenartigsten Stilformen anregte. Michelangelos Entwurf der Peterskirche in Rom ist der gewaltigste Ausdruck dieses neuen Stils, sozusagen sein letztes Wort. Bramante, dem die Ausführung des Domes übertragen wurde, hatte in seinem Entwurf die Hauptkuppel mit vier kleinen Kuppelbauten umgeben, die aber nichtsdestoweniger ihr eigenes Leben haben und jede für sich ein geschlossenes Ganzes darstellen. Michelangelo aber, der nach Bramantes Tod das Werk weiterführte, nahm den vier kleinen Kuppelbauten jedes eigene Dasein und zwang sie fast mit Gewalt unter das Allbeherrschende der Hauptkuppel. So wurde jeder Teil seiner Selbständigkeit beraubt und einer zentralen Einheit eingegliedert, die jedes Eigenleben fast zermalmte. Michelangelo hat diesen Zug bis ins Äußerste entwickelt, aber er hat auch der Baukunst ganz neue Perspektiven eröffnet und sie bis zu einem Grade vergeistigt, der seine Schöpfung unvergänglich machte.
Die Renaissance, die alle überlieferten Normen in Nichts aufgelöst hatte, näherte sich besonders in den letzten Phasen ihrer Entwicklung einem bedenklichen Skeptizismus, wäre ihr nicht ein tieferes Sehnen eingeflossen, das nach neuen Gestaden Ausschau hielt. Keiner hat das tiefer empfunden als der große Florentiner, dessen qualvolle Gestalten den inneren Kampf der eigenen Seele wiedergeben. Einer Faust-Natur wie Michelangelo konnte auch die prunkvollste Äußerlichkeit nicht mehr genügen, denn er strebte nach einer Verinnerlichung der Kunst und klopfte an manche dunkle Pforte, die sich noch keinem geöffnet hatte. Dieser Zug macht sich auch in seinem tektonischen Schaffen entscheidend bemerkbar. Sein Werk wird zu einer lebendigen Wesenheit und atmet alle Leidenschaft der Menschenseele, alles dunkle Suchen, allen rebellischen Trotz und vor allem jenen titanischen Zug ins Übermenschliche, der für das gesamte Schaffen des Meisters so bezeichnend ist und ihn bereits über die Horizonte der Renaissance hinausgehen läßt.
Die gesellschaftliche Kultur der Renaissance ging zwar vornehmlich von Italien aus, aber da sie überall in Europa die geistigen und sozialen Vorbedingungen fand, so erweckte sie einen lebendigen Widerhall in allen Ländern und entwickelte sich zum Weltstil, in dem sich die gesellschaftliche Kultur einer gewissen Epoche widerspiegelte. Ihre Ausmaße sind viel zu groß, als daß man sie in den engen Rahmen nationaler Begriffe zwingen könnte. Wie die Gotik, so erzeugte auch die Kunst der Renaissance verschiedene Stilformen, die aus der besonderen Umwelt hervorgingen. Erreichte die Gotik in Italien nie die Gestaltung, die sie in Deutschland angenommen hatte, weil die Überlieferungen der Antike sie dort in besondere Wege drängten, so konnte die Kunst der Renaissance in Deutschland die lebendige Tradition der Gotik nie ganz überwinden. Ähnliches läßt sich auch von der Renaissance in England, Frankreich oder Spanien feststellen. Überall wirkten die besondere Umgebung und die Überlieferungen der Vergangenheit auf die Entwicklung der Stilgestaltung ein. Doch diese Besonderheiten und Abweichungen tun dem Gesamtbild keinen Abbruch; im Gegenteil, sie schaffen erst ein Gesamtbild und kennzeichnen die Verwandtschaft der Bestrebungen, die überall aus denselben Quellen gespeist werden. Es ist weder die Eigenart der Rasse noch die Besonderheit des nationalen Empfindens, welche die Kunst der Renaissance ins Leben riefen; es war die große gesellschaftliche Umwälzung, die ganz Europa durchzitterte und die überall die Anregung zur Entwicklung neuer Stilarten und auch einer neuen Auffassung der Kunst im allgemeinen gab.
Aus der Kunst der Renaissance entwickelte sich folgerichtig das Barock, das den Kunststil des 17. Jahrhunderts bestimmte; in manchen Ländern, besonders in Deutschland, herrscht der Barockstil bis tief ins 18. Jahrhundert vor. Auch hier stehen wir keineswegs vor einem scharfen Bruch mit der Vergangenheit, an deren Stelle urplötzlich etwas Neues trat, sondern vor einem allmählichen Werden, das sich langsam aus den Stilformen der Renaissance herauskristallisierte und, wie jeder andere Stil, durch die gesellschaftlichen Umgestaltungen im Leben der europäischen Völkergruppen beeinflußt wurde. – Aus dem verwirrenden Chaos der Renaissanceperiode gestaltete sich allmählich der europäische Großstaat im Gewände der absoluten Monarchie. Mächtige Dynastien entwickeln oder befestigen sich in den wichtigsten Ländern, nachdem der Widerstand der Städte und der adligen Vasallen und Kleinherrscher siegreich überwunden war. Eine neue Macht war entstanden, die sogar die Kirche in ihren Bann zwang und ihren Zwecken dienstbar machte. Mit der Hilfe ihrer Armeen und ihres bürokratischen Verwaltungsapparates gelang es der Monarchie, alle feindlichen Kräfte aus dem Felde zu schlagen und die alten Rechte und Freiheiten der Gemeinden gewaltsam zu unterdrücken. Die Person des Königs wird zur lebendigen Verkörperung absoluter Machtvollkommenheit, der Hof zum Mittelpunkt des gesamten öffentlichen Lebens. Der Staat nimmt alle Funktionen der Gesellschaft in seine Hände oder unter seine Aufsicht und drückt allem sozialen Geschehen seinen Stempel auf. Gesetzgebung, Rechtsprechung, die gesamte öffentliche Verwaltung werden Monopole des Königtums; die Gesellschaft geht fast völlig im Staate auf. Diese Umgestaltung des ganzen sozialen Lebens drängt das Denken und Fühlen der Untertanen in bestimmte, vom Staate vorgeschriebene Bahnen. Alles scheint nur zu bestehen, um die Zwecke der Dynastie zu fördern. Es ist die Zeit des sogenannten Sonnenkönigtums, dessen gesalbter Vertreter die Worte aussprechen durfte: L’état c’est moi!
In einem Gesellschaftszustand, wo jede öffentliche Betätigung ihre besondere Norm hatte und alles bis ins kleinste geregelt und von oben verordnet wurde, war der Kunst die Möglichkeit des freien Schaffens kaum geboten. Ihre Träger standen im Dienste der Selbstherrscher und hatten fast nur noch die Aufgabe, den Ruhm des Gottesgnadentums zu künden. Wie der Glanz der Dome und der religiösen Feste die Kirche wie mit einer leuchtenden Gloriole umstrahlten, so bildete nunmehr der Prunk der Paläste und der königlichen Höfe den Strahlenkranz der Monarchie und gaben ihrer Macht einen mystischen Schein. Auf diese Weise entstanden die großen Bauwerke des Absolutismus: der Louvre in Paris, das Schloß und der Park von Versailles, der Escorial bei Madrid, der Zwinger in Dresden usw., und da jeder Winkeldespot sein Versailles haben mußte, so verbreitete sich die neue Stilart über alle Länder. Nur im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Umgestaltung in Europa läßt sich die Kunst des Barock erst richtig erfassen. Die Bezeichnung selbst, welche dem portugiesischen Worte baroque entstammt, das soviel wie ein Aneinanderreihen unregelmäßiger, schräg abgeplatteter Perlen bedeutet, ist an sich völlig belanglos und wurde zunächst nur als Spottwort empfunden.
In der Wirklichkeit bedeutet das Barock eine neue Stilform, die zwar der Kunst der Renaissance entsprungen ist, jedoch in einer neuen Auffassung der Kunst wurzelt. Im schärfsten Gegensatz zur Gotik hatte die Renaissance, den Spuren der Antike folgend, die Harmonie als tiefsten, ja als einzigen Ausdruck der Schönheit verkündet. Das Barock schuf ein neues ästhetisches Werturteil, indem es an die Stelle der Harmonie die Macht setzte. In dieser Auffassung offenbart sich deutlich der Einfluß der gesellschaftlichen Umgestaltung in Europa. Der Machtbegriff der absoluten Monarchie erfüllte den Geist der Zeit. Macht wurde Schönheit, Ausdruck eines neuen Kunstempfindens, das allmählich ganz in den Dienst des Königtums gepreßt wurde. Die Majestät des Monarchen überstrahlte mit ihrem Glanze alles und machte sich jede Regung des gesellschaftlichen Lebens Untertan. Und dieser Glorienschein der absoluten unbeschränkten Macht, mit dem sich das Königtum in der Blütezeit seiner Entwicklung zu umgeben wußte, offenbarte sich auch in der Architektur jener Epoche und verkündete seine Allmacht in rauschenden Akkorden. Die überragende Größe des absolutistischen Staates, der nichts Ebenbürtiges neben der Person des Herrschers duldete und allen Dingen den Stempel seines Willens aufdrückte, gab der gesamten Kunst des Barock jenen ausgeprägten höfisch-repräsentativen Charakter, der für das ganze 17. Jahrhundert so bezeichnend ist. Wie der Jesuitismus es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Macht der Kirche wieder zu verinnerlichen, so waren die Träger des Absolutismus nunmehr bestrebt, den gewaltsamen Charakter der Monarchie zu vergeistigen und ihren Ursprung vergessen zu machen. So bekam das Königtum jenen Gnadenschein des Übermenschlichen, das auch in seinen Bauwerken einen Ausdruck findet. In der Tat ergreift das barocke Bauwerk den Beschauer nicht selten mit der inneren Gewalt einer mystischen Offenbarung und erfüllt die Seele mit Ehrfurcht.
Auch der Kirchenbau folgt denselben Bahnen und bringt die Allgewalt eines absoluten Machtprinzips zur höchsten Geltung. Unter dem Einfluß des Jesuitentums, das geschichtlich die organisierte Gegenreformation verkörperte, entwickelte sich der sogenannte Jesuitenstil. Neue Raumprobleme drängen sich in den Vordergrund, die in ihrer Vielseitigkeit auf den Geist der Gläubigen eine überwältigende Wirkung ausüben und die Gemüter mit unwiderstehlicher Gewalt in das Joch ihres allbeherrschenden Einflusses zwingen. Das Gotteshaus verwandelt sich in einen Prunksaal, der mit prächtigen Ornamenten geschmückt ist und häufig den Eindruck einer leidenschaftlichen Bewegtheit erweckt, wie nur die Ekstase sie hervorzubringen vermag. Sowohl der äußere Bau wie die innere Ausstattung sind darauf angelegt, dem Menschen die Allmacht eines höheren Willens einzuflüstern, der triumphierend über alle Erdgebundenheit hinwegschreitet.
Der Barockstil mündet schließlich im Rokoko aus. Die frostige Majestät und die steife Feierlichkeit des höfischen Zeremoniells werden auf die Dauer lästig und erwecken das Bedürfnis nach wärmeren und intimeren Formen. Der sogenannte Régence-Stil, der unter der Regierung Philipps von Orleans entsteht, trägt diesem Bedürfnis Rechnung und ist der Anfang eines neuen Stilausdrucks, aus dem allmählich das Rokoko hervorgeht, das unter Ludwig XV. seinen Höhepunkt erreicht. An die Stelle des Unnahbaren und Majestätischen, das jede Vertraulichkeit mit steifer Würde abwehrt, tritt die Freude am Graziösen und Anmutigen, die luftigen Phantasiegebilden und verliebten Intrigen nachjagt und von keiner repräsentativen Bürde mehr beschwert ist. So entsteht eine neue Stilart, die sich hauptsächlich in der Ausstattung der Innenräume kundgibt. Die Wand verliert ihren massiven Charakter und verwandelt sich in ein schmiegsames Rahmenwerk, dessen Füllungen mit verschnörkelten Linien, Blumenmotiven und anderen Ergebnissen einer heiteren Ornamentik bedeckt sind. Die Wände fließen mit der Decke zusammen, die mit reizvollen Strukturen verziert ist. Die Farben verlieren ihre Härte und verflüchtigen sich in zarten Tönen. Die großen Spiegel der Gemächer helfen mit, das natürliche Raumbild zu verschieben und über seine Körperlichkeit hinwegzutäuschen.
Besonders reizvoll ist das zarte Porzellan, dessen Zierlichkeit auf die gesamte Entwicklung des Rokoko nicht ohne Einfluß war. Auch die Möbel verlieren ihre schweren ungelenken Formen und passen sich der inneren Raumgestaltung an. Eine prickelnde Unruhe, die einer verfeinerten Sinnlichkeit entspringt, beherrscht Menschen und Dinge und wirkt wie ein geheimes Fluidum auf die überfeinen Nerven der oberen Gesellschaftsschichten. Der neue Stil entspricht völlig dem geistigen Zustand der privilegierten Kasten. Eine tiefgehende Veränderung der intimeren Lebensgewohnheiten macht sich in jenen Kreisen bemerkbar und findet in der Kunst des Rokoko ihren gefühlsmäßigen Niederschlag.
Das Prinzip der Macht, dem die absolute Monarchie in der Zeit ihrer aufsteigenden Entwicklung eine metaphysische Bedeutung zu geben verstand, verlor immer mehr diesen Charakter und wurde in den Kreisen der Günstlinge und Nutznießer nur noch nach seinen praktischen Ergebnissen bewertet. Man fing an, sich lustig zu machen über die ruhmlüsterne Gespreiztheit und den steifen Pomp einer Zeit, deren angebliche Größe keinem mehr imponierte. Alles, was früher den Eindruck des Majestätischen und der stolzesten Unnahbarkeit hervorzurufen imstande war, wirkte bloß noch wie eine fade Parodie und gab der Spottsucht der Intellektuellen unfreiwillig Gelegenheit, die Schärfe ihres Witzes zu erproben. Das Königtum war bereits ein übertünchter Kadaver, der nur noch auf seine Bestattung wartete. Als Ludwig XIV. seine Person mit dem Staate identifizierte, gab er damit dem innersten Wesen der absoluten Monarchie den stolzesten Ausdruck: der König alles, das Volk nichts! Als aber später Madame Dubarry ihren königlichen Galan mit plumper Vertraulichkeit La France titulierte, war dies die grimmigste Verspottung alles Gottesgnadentums. Die Monarchie war zum Abbruch reif, der nicht mehr lange auf sich warten ließ. In den Stürmen der Revolution ging die zerbrechliche Kultur des Rokoko in Trümmer, zusammen mit der alten Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte. Unter qualvollen Zuckungen und heftigen Erschütterungen gestaltete sich eine andere Welt, entstand ein neues Geschlecht, das nach neuen Horizonten ausschaute.
Was jenes Geschlecht erhofft und ersehnt hatte, ist nie Wirklichkeit geworden, und die Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit blieben nur das Echo eines Traumes. Die bürgerliche Gesellschaft, welche das Erbe des alten Regimes angetreten hatte, konnte zwar das abstrakte Gebilde der modernen Nation ins Leben zaubern, aber es blieb ihr versagt, eine wirkliche Gemeinschaft zu formen, die im Bedürfnis aller wurzelte und auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit fußte. Ihre neue Wirtschaftsordnung, die den Kampf aller gegen alle zum Prinzip erhob, konnte nur jenen herzlosen Egoismus erzeugen, der über Leichen geht und der für die kapitalistische Welt so bezeichnend ist. Diese Gesellschaft war nicht imstande, soziale Bindungen zwischen Menschen und Völkern zu schaffen; sie machte die Gegensätze nur klaffender und unüberbrückbarer und führte folgerichtig zum Weltkriege und zum Riesenchaos unserer Zeit.
Deshalb konnte sie auch der Architektur keine neuen geistigen Ausblicke schaffen. Auch hier förderte sie nur das Spiel der Gegensätze und führte zu jener absonderlichen Stillosigkeit, die man charakteristisch als Stilchaos bezeichnet hat. Man denke an die Anlage und das Aussehen unserer modernen Industriestädte, an die trostlose Häßlichkeit der Mietskasernen, an die tolle Fassadenbildung mit ihrer protzigen Gespreiztheit, die das Straßenbild zur wüsten Grimasse machen, und man hat den Eindruck, als hätten sich alle Geschmacksverirrungen der Zeit ein Stelldichein gegeben. Nicht umsonst hat unsere Epoche das Wort Kitsch geprägt. Eine Gesellschaft, die jedes natürliche Gefühl für die innere Bindung von Mensch zu Mensch verloren hat und das Einzelwesen im Chaos der Masse versinken läßt, konnte nicht zu anderen Ergebnissen gelangen. – Wo sich heute aber in öffentlichen Bauten und in modernen Siedlungen ja ein neuer Stil durchsetzt, dort entspringt er stets der inneren Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaft, welche die Menschen von der Sklaverei und Leere ihres heutigen Daseins befreien und ihrem Leben wieder Zweck und Inhalt geben soll.
Aber auch diese Epoche mit ihrem bis zum Extrem ausgebildeten Industrialismus, ihren Fabriken, Warenhäusern und Kasernen, mit ihrer heillosen gesellschaftlichen Zersplitterung und dem aus dieser hervorgehenden Stilchaos in der Baukunst ist schließlich auch nur ein Beweis dafür, wie wenig das nationale Bewußtsein im Grunde zu bedeuten hat. Es ist die Zeit und es sind die materiellen, seelischen und geistigen Bedingungen der Zeit, die hier überall zum Ausdruck gelangen und die letzten Endes auch die Äußerungen der Kunst bestimmen.
XXVI. Kunst und Nationalismus
Das Persönliche in der Malerei. Leonardo und Michelangelo. Lebensauffassung und Gestaltungsdrang. Die gemeinschaftlichen Züge einer Epoche und ihr Einfluß auf die Kunst. Albrecht Dürer und die Reformation. Das Deutsche in Dürers Kunst. Fremde Einflüsse. Rembrandt und das nationale Bürgertum. Der Künstler als Opfer des nationalen Unverstandes. Goya und der Geist der Revolution. Das Kunstideal der Privilegierten. Rokoko und Revolution. David und die römische Geste der großen Revolution. Die Herrschaft des Bourgeois. Daumier gegen das «Regiment der Bäuche». Justiz und Militarismus im Spiegel von Daumiers Kunst. Das Erwachen der Arbeit. Das Problem der Arbeit in der modernen Kunst. Millet und Meunier. Der Künstler im Kampfe gegen die soziale Ordnung. Kunstrichtung und nationale Eigenart. Das Allmenschliche in der Kunst. Macht der Einbildung.
Wir haben die Entwicklungsgeschichte der Architektur etwas ausführlicher behandelt, weil sich hier der Übergang der Stilformen und der Einfluß der sozialen Umwelt auf das Kunstwerk am deutlichsten kundgibt; doch wäre es falsch anzunehmen, daß in den übrigen Künsten die nationale Eigenart des Künstlers auf den Charakter seines Werkes eine entscheidende Bedeutung habe. Das Persönliche im Kunstwerk nimmt stets den ersten Platz ein und gibt ihm seine besondere Note. Zwei Künstler, die am selben Orte geboren, derselben Zeit angehören und den Einflüssen ihrer gesellschaftlichen Umgebung in gleicher Weise ausgesetzt sind, reagieren verschieden auf die Eindrücke, die sie empfangen und die ihr Schaffen mehr oder weniger stark beeinflussen.
Michelangelo und Leonardo da Vinci waren beide Florentiner, lebten beide in derselben Zeit, wurden beide vom Geiste ihrer Epoche ergriffen, doch unterscheiden sie sich nicht nur in ihren rein menschlichen Qualitäten wie Tag und Nacht, auch das Werk jedes von ihnen gehört einer anderen Welt an, und auch die kühnste nationale Phantasie kann den Abgrund nicht überbrücken, der zwischen beiden gähnt.
Es liegt etwas Sirenenhaftes, leise Klingendes von abgründiger Tiefe in Leonardos Kunst. Das rätselhafte Lächeln seiner Frauengestalten dringt aus einer inneren Welt, die allem Zeitlichen entrückt ist und lockende Sehnsucht in die Seele träufelt. Es mutet an wie ein traumhaftes Spiel der Sinne, das nimmer Wahrheit werden kann. Und wie ein Traum sind auch die seltsamen Landschaften hingehaucht, die nichts Irdisches an sich haben. Duftige Fernen entzücken das Auge und erwecken Stimmungen von übermenschlicher Schönheit und traumhafter Tiefe. Man denke an die Landschaft der Felsengrottenjungfrau, des Johannes oder der Mona Lisa. Nixenhaft sind alle Gestalten, denen er Leben gab, nixenhaft auch seine Madonnen, die von keinem Hauche christlicher Überlieferung berührt sind. Alles ist vom Zauber zartester Sinnlichkeit umwoben, der sich zitternd in die Seele senkt und aus dem man den leisen Klang der Sphären zu vernehmen glaubt. Dieser seltsame Zug geht durch das ganze Werk Leonardos und kehrt in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit immer wieder. Es ist dieser Zug, der auf die Mit- und Nachwelt so lockend wirkte wie die Kunde von einem fernen Märchenlande, das noch kein Sterblicher betreten. Immer und überall der halbverschleierte Blick, der aus rätseldunklen Tiefen dringt und wie eine Vision aus einer anderen Welt anmutet.
Wie ganz anders ist Michelangelo geartet, der machtvolle Schöpfer titanischer Gestalten, die er mit dem Fluche seines eigenen Lebens beladen hat! Er selbst ist ein Gigant, der jeden Himmel stürmen will und stets den Geist der Schwere in sich fühlt, ein vom Schicksal Geschlagener, in dessen düsterer Seele übermenschliche Kräfte brausen, der nie Befriedigung in seinem Werke findet und doch aus innerem Zwange rastlos schaffen muß, da er nicht anders kann. In seinen dämonischen Gestalten lebt qualvolle Einsamkeit und dumpfes Brüten, das von allen Schrecken der Ewigkeit umwittert ist. Wie ein Alpdruck muten viele seiner Figuren an. Man denke an den Jeremias der Sixtinischen Kapelle, an die Sibyllen und Pfeilerfiguren der riesenhaften Deckenmalerei, oder auch an die mächtigen Steinwerke der Mediceischen Kapelle in Florenz. Dieser Tag, diese Nacht, dieser Morgen, dieser Abend, auf denen die Last der Jahrtausende wuchtet und in welchen die gramerfüllte Seele des Künstlers sich widerspiegelt. Sogar die Leda, die vom Schwane begattet wird, zeigt denselben Ausdruck bleierner Schwere und läßt kein Gefühl sinnlicher Leidenschaft aufkommen. – In anderen Gestalten wogt die Erregung zornigen Affektes, wie in der Kolossalfigur des Moses, in dessen riesigem Körper jeder Muskel gespannt ist und auf dessen Stirne Gewitterstimmung lagert. Auch der Christus des Jüngsten Gerichts und die Schar nackter Giganten, die den Raum füllen, atmen diesen Geist.
Es ist die Verschiedenheit der Weltanschauung, die hier zum Ausdruck kommt. In Leonardos Kunst erlebte der Humanismus, der nicht der Geist einer Nation, sondern der Geist einer Epoche war, seinen Gipfelpunkt und zugleich seinen umfassendsten Ausdruck. Im Werke Michelangelos aber wird der Humanismus bereits überwunden und macht dem inneren Streben nach übermenschlichen Dingen Platz, das an die verborgenen Pforten aller Himmel und jeder Hölle zu pochen wagt, getrieben von der Glut der Empörung und dem fanatischen Verlangen nach einem Recht, das wieder Menschenrecht werden soll. Der Mann, der sich gegen Kaiser und Papst auflehnt, der in Gianottis Dialogen den Tyrannenmord verteidigt, «da der Tyrann kein Mensch, sondern eine Bestie in Menschengestalt sei», lebt auch in seinem Werke.
Was sich im Werke eines großen Künstlers, der geistige Probleme zur Gestaltung bringt, in erster Linie kundgibt, ist nicht das Zufällige seiner Nationalität, sondern das tief Menschliche, das allen Zeiten angehört und uns die Zunge aller Völker verstehen lehrt. Daneben spielen die Einschläge der örtlichen Umgebung – so wichtige Fingerzeige sie für die technische und historische Beurteilung des Kunstwerkes bieten mögen – eine ganz kleine Rolle. Doch auch die rein lokalen Striche im Kunstwerk geben ihm noch keinen nationalen Charakter, denn innerhalb jeder Nation und besonders jeder größeren Nation gibt es eine Unmasse örtlicher Einflüsse, die im bunten Gemisch friedlich nebeneinander wirken, die sich aber nie und nimmer in den engen Rahmen eines fiktiven Nationalbegriffes zusammenfassen lassen.
Was ein Leonardo zum Beispiel in seiner Mona Lisa zum Ausdruck bringen wollte, das waren die mannigfachen Regungen der Menschenseele, die verborgene Ebbe und Flut tiefinnerlicher Gefühle. Er ging dabei den leisesten Schwingungen des Empfindens nach, und gerade das Weib, das er für die Kunst sozusagen neu entdeckt hatte, gab ihm dazu den besten Anhalt. Das rätselvolle Antlitz der Mona Lisa spiegelt alle Extreme des menschlichen Empfindens wider: lieblich Strahlendes und abgründig Dämonisches, heitere Unbefangenheit und listig Verschlagenes, wunschlose Reinheit und betörende Sinnlichkeit. Es ist des Künstlers eigene Seele, die aus diesem Bilde widerstrahlt. Er selbst ein Faust, der alle dunklen Pfade wandert, gepeinigt von dem Drange nach Erkenntnis, und der doch nie zum letzten Thule vordringen kann. Es ist gerade dieses tiefste Erleben der inneren Tragik der Menschenseele, das dem Werke seine eigentliche Größe gibt. – Auch bei Michelangelo wandelt sich jedes Werk zum Ausdruck des eigenen seelischen Empfindens. – «Und immer ward’s ein Bild vom eigenen Gram, trug meiner Stirne düsteres Zeichen.» – In diesem tiefsten Empfinden des Menschen und Künstlers lebt auch nicht ein Hauch nationalen Fühlens. Wie klein und nichtig ist alle nationale Wichtigmacherei dieser ringenden Menschlichkeit gegenüber, die stets nach Übermenschlichem strebt!
Wie in der Geschichte die angeblich nationalen Züge vor den allgemeinen Strömungen der Zeit, denen sich kein Volk entziehen kann, ganz in den Hintergrund treten, so auch in der Kunst. So könnten wir uns das Werk Albrecht Dürers ohne die Reformation und ihre zahllosen Unterströmungen kaum vorstellen. Nur wenn man den Sturm und Drang jener gärenden Zeit, in der soviel Altes und Neues durcheinanderwirbelte, klar ins Auge faßt, begreift man die seltsamen Verbindungen, die sich in Dürers Schaffen offenbaren. Wir führen Dürer an, weil man ihn so oft und so grundlos den deutschesten aller deutschen Maler genannt hat. Eine solche Bezeichnung besagt nämlich gar nichts. Wenn man das tiefe Einfühlen des Meisters in die leisen Regungen und seelischen Ausstrahlungen der heimatlichen Erde als deutsch bezeichnen will, so mag man es immer tun, aber das eigentliche Wesen von Dürers Kunst wird dadurch keineswegs ausgedrückt, und Lafargue hatte schon recht, wenn er sagte:
«Die deutsche Seite seiner Werke ist die Begrenzung seines Könnens. Der nationale oder rassenbedingte Zug in jedem Kunstwerk ist zugleich das Zeichen seiner Schwäche. Was wir deutsch nennen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Form einer weniger alten Kultur.»[160]
In Dürers Kunst lebt jenes seltsame Traumland, das die heimatliche Umgebung in seiner Seele entstehen ließ, bevölkert mit den Geschöpfen seiner Phantasie, die in die Landschaft hineingeboren sind, den Hauch ihrer Erde atmen und ihren dämmernden Himmel über sich fühlen. Werke wie Hieronymus im Gehäus, Die Flucht nach Ägypten, Der Heilige Antonius oder Ritter, Tod und Teufel und viele andere sind von jenem seltsamen Schimmer der heimatlichen Erde verklärt, der so trostvoll auf das Auge wirkt. Aber in demselben Künstler, in dessen Seele sich der ganze Zauber seiner nordischen Heimat abspiegelt, lebt auch die lockende Sehnsucht, der stumme Rhythmus sonniger Gefilde, die sein Fuß durchwandert hat und die seine Kunst befruchtet haben. Es ist gerade dieser Einfluß, dieser Ruf aus südlichen Fernen, der sich in den Werken des Meisters so eindrucksvoll kundgibt. Wenn Scheffler behauptet, daß «in einem Maler wie Dürer das Gotische mit dem Griechischen eine höchst merkwürdige Verbindung eingegangen sei», so gibt er demselben Empfinden nur in anderen Worten Ausdruck. Dürer hat den ganzen Gestaltungsdrang der italienischen Renaissance in sich aufgenommen und jede Fiber seines Wesens damit gesättigt. Der Einfluß italienischer Meister wie Verrocchio, Leonardo Mantegna, Bellini, Raffael, Pollajuole und mancher anderen kommt in vielen seiner Schöpfungen deutlich zum Ausdruck. So hatte – um hier nur ein Beispiel anzuführen – Verrocchios Reiterstandbild des Colleoni Dürer mächtig angeregt, und man kann bestimmt annehmen, daß ohne diesen Einfluß Werke wie Der Heilige Georg und Ritter, Tod und Teufel nie entstanden wären. Auch die italienische Renaissance-Landschaft und vor allem die Liebe zum nackten Menschenkörper, die eines der typischsten Merkmale der Renaissance ist, hatten einen unverkennbaren Einfluß auf Dürers Kunst.
Dürer nahm all das Fremde in sich auf, saugte es mit allen Poren ein, bis es ein Stück von ihm selbst wurde. So mischt sich in seinem Werke das Krause und Dämmerhafte der nordischen Erde mit den klaren und heiteren Eindrücken des Südens, die seine übersprudelnde Phantasie läuterten und klärten und seiner Kunst erst jenen Zug ins Große gäben. Auch das tief Menschliche in seinen Schöpfungen, das uns besonders seine Christusgestalten so nahebringt, ist keineswegs eine Offenbarung seiner deutschen Seele, sondern eine Offenbarung der geistigen Bestrebungen seiner Zeit. Hier spricht der Humanist Dürer zu uns, der allem menschlichen Empfinden bis ins Tiefste nachgeht. Der tief menschliche Zug in Dürers Kunst spricht auch aus dem bekannten Selbstbildnis des Meisters in der Münchener Pinakothek – ein stiller Grübler mit suchenden Augen, deren Blick mehr nach innen gekehrt ist. Man fühlt, daß hinter dieser Stirn die großen Probleme der Zeit nach Gestaltung ringen, doch der tiefe Ernst, der aus dem Antlitz strahlt, sagt uns auch, daß dieses Hirn nicht alle Rätsel lösen wird, und man denkt unwillkürlich an das geflügelte Weib in der Melancholie des Meisters, das mit dumpfem Brüten in eine rätselhafte Ferne blickt, über der sich der Schein von Komet und Nordlicht seltsam ausbreitet.
Gäbe es in der Tat so etwas wie eine nationale Kunst, so wäre ein Künstler wie Rembrandt und mit ihm eine Legion anderer undenkbar. Denn das nationale Empfinden seiner Zeitgenossen hatte für das Werk des größten Künstlers, den das kleine Holland hervorbrachte, nur Spott und Hohn übrig. Seine Träger hatten für Rembrandts Größe so wenig Verständnis, daß sie ihn ruhig im Elend verkommen ließen und sogar von seinem Tode nicht die geringste Notiz nahmen. Erst lange nach seinem Ableben rückte Rembrandt langsam in die Reihen der Unsterblichen auf und gilt heute seinem Lande als Symbol des nationalen Geistes.
Das niederländische Bürgertum, das einst einen verzweifelten Kampf für die Befreiung des Landes vom Joche des spanischen Despotismus führte, war in diesem Ringen Sieger geblieben. Ein neuer Geist erfaßte alle Schichten der Bevölkerung und brachte das kleine Land zu einer ungeahnten Blüte. In allen Städten regte und bewegte es sich; überall machte sich ein Überschuß an Lebenskraft bemerkbar. In den Bildern von Franz Hals lebt noch ein letzter Niederschlag dieses kecken Draufgängertums, das sich an seiner eigenen Kraft berauschte. Allein dieser ungestüme Geist versandete ziemlich rasch, je mehr sich im Bürgertum die Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen bemerkbar machte, die mit der steigenden Entwicklung des Handels und des Kaufmannskapitals immer festere Gestalt annahm. So entwickelte sich allmählich jenes behäbige Spießertum, das nur noch seinen materiellen Interessen lebte und das ganze Leben auf feste Normen einzustellen versuchte.
Rembrandt wurde diese bürgerlich-nationale Ordnung zum Fluch seines Lebens. So lange er, wie er dies zuerst getan hatte, den Geschmack seines phantasielosen Publikums recht und schlecht zu befriedigen versuchte, ging es ihm einigermaßen. Bis sich der Künstler in ihm regte. Da war es mit der billigen Popularität des Meisters vorbei, und der unüberbrückbare Gegensatz zwischen ihm und der Nation trat immer deutlicher hervor. In seinem Werke findet dieser Gegensatz einen ganz bewußten, bis zur beißenden Schärfe gesteigerten Ausdruck. Der Künstler wurde zum Rebellen gegen seine Zeit und zog mit aller Schärfe die Grenze zwischen seiner Kunst und dem nationalen Philistertum seines Landes. Man denke an jenen Simson im Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin, der seinem Schwiegervater die geballte Faust drohend entgegenstreckt, oder an jenen zornigen Moses, in Dresden, der in grimmer Wut die Tafeln des Gesetzes zerbricht, und man fühlt, daß es Rembrandt selbst ist, der die Tafeln der bürgerlichen Ordnung zerschlägt, an der sein Leben zerschellen mußte.
Aber auch in seinen späteren Werken, in denen sich die Eigenart des Künstlers in ihrer vollen Reife kundgibt, als er es längst aufgegeben hatte, an dem geruhsamen Spießer sein Mütchen zu kühlen, kommt er dem nationalen Empfinden seines Landes nicht näher; im Gegenteil, die Kluft zwischen seiner Kunst und der nationalen Geschmacklosigkeit wird immer breiter und tiefer. Bis er endlich mitten im Ghetto von Amsterdam seine Wohnung aufschlägt, wo die aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden seinem wachen Auge eine neue Welt enthüllten, die von dem grauen Einerlei des Tages so seltsam absticht; da vergißt er allmählich auch die holländische Umgebung und schwelgt in allen Farbenträumen des Orients. Was er früher ahnend empfunden und verschiedentlich ausgeführt hatte, wird ihm nun zum tiefsten seelischen Erlebnis. So wurde er der große Magier in der Malerei, der alles Körperhafte geistig durchflutet und die verborgene Landschaft der Seele offenbart. Und gerade dieses macht ihn zum Träger einer neuen Kunst, die durch keine nationale Gebundenheit behindert wird und deshalb den Menschen einer späteren Zeit zur inneren Offenbarung werden mußte.
Auch ein tiefer sozialer Zug lebt in dieser Kunst. Man werfe einen Blick auf den Christus des Hundertguldenblattes, diesen Heiland der Geächteten und Ausgestoßenen, von zerlumpten Bettlern, Siechen und Krüppeln umgeben, die qualvoll nach Erlösung lechzen. Waren doch Bettler, Säufer und fahrendes Volk die steten Gefährten des Künstlers in seinen letzten Lebensjahren, da er im Rausche Vergessenheit suchte, um das Dasein überhaupt noch ertragen zu können. Und nicht vergessen seien hier die letzten Selbstporträts des Meisters, aus denen uns ein vom Fusel verwüstetes, vom seelischen Elend gezeichnetes Antlitz entgegenstarrt – vielleicht die furchtbarste Anklage gegen die Nation, die je von einem Künstler auf die Leinwand gebannt wurde.
Jede große Kunst ist frei von nationaler Beschränktheit und wirkt gerade deshalb so überwältigend auf uns, weil sie die verborgenen Schwingungen unseres Menschentums berührt, die große Einheit der Menschenseele offenbart. Man vertiefe sich in die Schöpfungen Francisco Goyas, aus denen uns die ganze Glut südlicher Breiten entgegenstrahlt. Doch hinter den äußeren Formen der südlichen Umgebung träumt die Seele des Künstlers, stehen Ideen und Probleme, die er in seinem Hirn wälzte und die nicht bloß die Probleme seines Landes, sondern die Probleme seiner Zeit sind. Denn jede lebensstarke Kunst bringt den seelischen Niederschlag ihrer Epoche zur Geltung, der gefühlsmäßig nach Ausdruck ringt. Und gerade hier setzt jenes rein Menschliche ein, das die fremde Umwelt überwindet und uns auf heimatliche Erde führt.
Man braucht nicht Spanier zu sein, um die Kunst Goyas in ihrer ganzen Größe würdigen zu können. Das Rauschen einer neuen Zeit, die mit eisernen Sandalen über eine untergehende Welt hinwegschreitet, dröhnt aus seinen Werken und mutet an wie die Götterdämmerung alles Bestehenden. Seine Bildnisse der spanischen Königsfamilie und der ganzen höfischen Umgebung sind grausame Darstellungen eines unerbittlichen Wahrheitsdranges, der keine Zugeständnisse macht und das Gottesgnadentum von den letzten Flittern des Majestätischen entblößt. Nur das Menschliche, das Allzumenschliche kommt hier zum Ausdruck. Das Nietzschewort «Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron – und oft der Thron auf dem Schlamm» wird hier in beiden Fällen Wirklichkeit.
Und was für seine Bilder gilt, das gilt in noch höherem Maße für die Radierungen des Meisters. Hier nimmt das rebellische Empfinden Goyas geradezu dämonische Formen an. Seine Desastros de la Guerra sind das Grauenhafteste, das je gegen den Krieg gesagt wurde. In jenen schauerlichen Darstellungen lebt kein Schimmer heroischer Gefühle, keine wie immer geartete patriotische Begeisterung, kein Ruhm der großen Schlachtenlenker; nur die menschliche Bestie zeigt sich hier in allen Phasen ihrer mörderischen Betätigung. Ein Revolutionär in des Wortes verwegenster Bedeutung spricht hier zu uns in einer Sprache, die von allen Völkern verstanden wird, und reißt der patriotischen Lüge den letzten Fetzen vom verfaulten Leibe; ein ganz Großer fällt hier sein Urteil über den organisierten Völkermord. Goyas alles zersetzender Geist macht vor keinem Heiligtume halt. Mit grimmem Hohn und mit zorniger Verachtung durchbricht er alle Schranken althergebrachter Überlieferungen und ehrwürdiger Begriffe. Er schreibt sein Menetekel über die Pforten der alten Gesellschaft und steht den Trägern von Staat und Kirche mit derselben Unerbittlichkeit gegenüber wie dem ganzen Wust toter Konventionen und ererbter Vorurteile seiner Zeitgenossen. Als die Flammenzeichen der Französischen Revolution auch in Spanien aufglühten, da jubelte der Künstler der neuen Zeit entgegen, die da kommen sollte. Doch die unbändigen Hoffnungen waren bald zerstoben, und als Fernando VII. den Bruder Napoleons auf dem Throne ablöste, erhob die schwärzeste Reaktion kühn das Haupt und spottete aller Träume von einer kommenden Freiheit. Die Inquisition wurde wieder in die alten Rechte eingesetzt, alle jungen Keime erstarben unter dem Pesthauche eines blutigen Despotismus, und dichte Finsternis breitete sich über das ganze Land. Auch Goyas Traum war ausgeträumt. Völlig taub und erfüllt von grimmiger Menschenverachtung, lebte er von der ganzen Welt zurückgezogen in seinem Landhause bei Madrid, allein mit den Ausgeburten seiner höllischen Phantasie, die seine Hand auf die Wände bannte. Grauenhafte Gebilde einer stummen Gespensterwelt, vom Wahnsinn aller Schrecken umwittert, gegen welche die Hölle Dantes harmlos und friedlich anmutet. – Bis sich der greise Künstler auch in dieser Einsamkeit nicht mehr sicher fühlt vor der Tücke des Despoten, den das Volk den Tiger nannte, und er den siechen Körper nach Frankreich schleppen mußte, wo ihm der Tod die müden Augen schloß.
Mögen begeisterte Anhänger des l’art pour l’art noch so stark betonen, daß die Kunst zeitlos sei, so gibt uns die Kunstgeschichte jeder Epoche unzählige Beispiele, wie unwiderstehlich in der Kunst die geistigen und sozialen Strömungen der Zeit zum Ausdruck kommen. Man vergleiche die Werke der Rokokomalerei in Frankreich mit den Schöpfungen von Jacques-Louis David, und man versteht auf den ersten Blick, daß in dem kurzen Abstand, der zwischen beiden liegt, sich ein Stück Weltgeschichte von gewaltigen Ausmaßen abgespielt hat.
Die geflügelten Worte der Pompadour Nach uns die Sintflut! standen unsichtbar über den Pforten der alten Gesellschaft, die nur eine Welt des trügenden Scheins darstellte, ebenso zerbrechlich wie ihr zartes Porzellan und ihre dünnbeinigen geschweiften Möbel, die mehr für das Auge als für den praktischen Gebrauch gemacht erscheinen. Ihre Sprache ist zierlich und gewählt, ihre Umgangsformen sind von bestrickender Höflichkeit. Sie hat keinen Sinn mehr für die heroischen Gesten Corneilles noch für die steife Würde Racines. Nur das Intime, das Niedliche hat noch Anziehungskraft für ihre Träger; ihre Passion ist das Schäferspiel, das galante Abenteuer, bei dem man nichts mehr einzusetzen braucht, und ist der geschwächte Körper nicht mehr imstande, dem Taumel der Sinne Folge zu leisten, so müssen künstliche Mittel der Aktivität des erotischen Empfindens nachhelfen. Alles erscheint geziert, verweichlicht, überfein in dieser Theaterwelt; alles girrt, lächelt, wiegt sich, tänzelt, lockt, seufzt verliebt, duftet nach Moschus und Schminke und denkt nicht einen Augenblick daran, daß draußen ein ganzes Volk im gräßlichsten Elend verkommt. Und wenn von Zeit zu Zeit ein dumpfes Grollen in das zarte Glück dieses ewigen Festtages klingt, so sieht man sich eine Weile verwirrt und ängstlich an, um bald darauf mit graziöser Ausgelassenheit von neuem draufloszutollen. Sich jeder Wirklichkeit des äußeren Lebens zu verschließen, nicht sehen, was ist, war die Parole jener Gesellschaft, der Mozart in seinem Figaro in so entzückender Weise Klang und Rhythmus zu geben wußte.
Watteaus Einschiffung nach der Insel Cythère könnte jener Zeit als Geleitwort dienen. Eine Gesellschaft verliebter Rokokomenschen inmitten einer lieblichen Landschaft vor einem stillen Gewässer, des Schiffleins harrend, das sie nach den träumenden Gefilden der Seligen hinüberführen wird. Hier ist das Weh und Leid der Welt vergessen; kein rauher Luftzug dringt in dieses verborgene Paradies. Das ganze Leben scheint in Duft und Wonne eingehüllt – ein getreues Abbild jener galanten Gesellschaft, die wie in einem Liebesgarten lebte und alle Zugänge vermauert hatte, damit kein Unberufener ihre Freuden störe. Was Watteau angeregt, fand in den Werken von Lancret, Boucher, Fragonard und anderen eine immer feinere und vollendetere Darstellung. Alles Große, Feierliche, Strenge, das den Beschauer zu ernsten oder gar quälenden Betrachtungen anregen könnte, ist hier verschwunden. Das Leben steht im Zeichen der Venus, die Erotik wird sein einziger Inhalt. Es ist nicht die naive, fast wunschlose Nacktheit einer vergangenen Zeit, die dem Künstler Gelegenheit gibt, allen Bewegungsmotiven des menschlichen Körpers nachzugehen, auch nicht die derbe Sinnlichkeit, die aus Rubens’ Schöpfungen so ungeschlacht hervortritt. Hier tritt ein anderes zutage. Ein leises Zittern geht durch diese Frauenkörper, die oft noch nicht ganz erblüht sind, wie die Mädchengestalten Bouchers. Wie ein lüsternes Erschauern geht es durch dieses nackte Fleisch, das mit verborgenen Genüssen schwanger geht und nach geheimen Liebesfreuden lechzt. Sie ist von entzückendem Reiz, jene sorgenfreie Welt Arkadiens, deren zarter Himmel nie von einem Leid bewölkt erscheint; fast zu schön, um wahr zu sein, und man hat das Gefühl, einer heiteren Vorstellung beizuwohnen, über die sich bald der Vorhang senken wird.
Doch die Schäferidylle sollte ein jähes Ende finden. Zu furchtbar war der Preis, mit dem die Freuden einer kleinen Minderheit privilegierter Müßiggänger erkauft werden mußte, zu ungeheuerlich das Leid, das Millionen Staubgeborener zu Boden drückte, deren letztes Röcheln im Rausch der Liebesfeste ungehört verhallte. Die Katastrophe kam nicht plötzlich. Seit dem Tode Ludwigs XV. wurden die Hungeraufstände der Bauern zu einer regelmäßig wiederkehrenden Erscheinung. Da sich die Unruhen in der Regel nur auf kleine Gebiete begrenzten, so konnten sie von der Regierung verhältnismäßig leicht niedergeworfen werden; aber sie wiederholten sich immer wieder und wurden stets erbitterter. Die Zeichen waren da, doch gab es nur wenige, die sie verstehen wollten, und noch weniger, die den Mut aufbrachten, sie richtig zu deuten. Bis endlich der Sturm ausbrach und wild heulend in das morsche Gebälk der alten Gesellschaft fuhr, daß alles krachend zusammenstürzte. Ein Gewitter war aufgezogen über Cythère; feurige Lohen setzten die alten Bäume in Brand, und durch die lauschigen Alleen, in deren Schatten man bisher nur das Girren und Kosen der Liebe vernahm, hallte des Donners mächtige Stimme und verkündete den Anbruch einer neuen Zeit. Die festen Mauern, welche die Gefilde der Seligen von der äußeren Welt so sicher abgeschlossen hatten, fielen in Trümmer, und empörte Massen wälzten sich in dichten Scharen durch das stille Gehege eines verlorenen Paradieses; die Elenden und Geknechteten ungezählter Jahre. Niemand hatte Mitleid mit ihnen gehabt, nun kannten auch sie keine Gnade und schufen sich mit rauhen Fäusten und verbissenen Zähnen ihr eigenes Recht.
Der holde Traum war zu Ende geträumt, die letzte Illusion zerstoben wie eine schillernde Seifenblase. Die große Götterdämmerung war gekommen und verkündete das Ende aller rauschenden Feste und galanten Schäferspiele. Die Welt duftete nicht länger nach Parfüm und Schminke, sondern nach Schweiß und Blut, Pulver und Blei. Aus einer Herde zerlumpter Untertanen war die Nation geworden, die gegen eine ganze Welt zu Felde zieht. Das sind keine Rokokomenschen mehr, die nun die Weltbühne betreten und sich unter den Klängen der Marseillaise in die Schlacht stürzen, um die Errungenschaften der Revolution zu sichern. Eine neue Idee war geboren worden, die Idee des Vaterlandes; die aufständischen Massen hatten sie selbst aus der Taufe gehoben, erschien sie ihnen doch als das einigende Band, das alle Kräfte zusammenfaßte im Dienste der Revolution gegen ihre Feinde. Denn Patriotismus bedeutete in jener Zeit ein Bekenntnis zur Revolution. Aus dem gewesenen Untertan war ein Bürger geworden, der da fühlte, daß auch er einen Teil der allgemeinen Verantwortung für die Geschicke seines Landes hatte. Alle Weltfremdheit war verschwunden; es gab keine Träumer mehr.
Dieser neue Zustand der Dinge trieb auch die Kunst auf andere Wege und wurde zum Schöpfer eines neuen Stils. In Jacques-Louis David findet diese neue Kunst ihren bedeutendsten Vertreter. Er selbst, ein begeisterter und fanatischer Befürworter der Demokratie im Sinne Rousseaus, gehörte mit zu den Männern, die das Königtum gestürzt und der alten Gesellschaft den Krieg bis aufs Messer erklärt hatten. Ein ausgesprochener Puritaner in der Politik, fühlte er sich am meisten zu Robespierre hingezogen und glaubte wie dieser, die Tugend durch den Schrecken erzwingen zu können. Schon seine ersten Werke: Schwur der Horatier, Brutus, Der Tod des Sokrates zeigen die ganze Herbe seines unerbittlichen Charakters. Welch ein Abstand liegt zwischen diesen Werken und den Schöpfungen eines Boucher oder Fragonard! Zwei Welten stehen sich hier schroff gegenüber, denen jeder Berührungspunkt fehlt. Muther schildert diesen Gegensatz sehr anschaulich, wenn er von David sagt:
«Er zeigte einem neuen puritanischen Geschlecht, das die tändelnde Kunst des Rokoko nicht mehr brauchen konnte, den Mann, den Heros, der für eine Idee, für das Vaterland stirbt. Er gab diesem Manne eine mächtige Muskulatur, wie ein Kämpfer, der sich in die Arena stürzt Und er brachte auch die Farbe, die Liniensprache in Einklang mit dem Heroismus des Tages. Was in der Rokokozeit schmeichlerisch und duftig gewesen war, ist bei David hart und metallisch. Was in der Linie ein kapriziöses Tändeln und Sichbiegen war, ist bei ihm straffe Disziplin. An die Stelle der Unregelmäßigkeit, der Schnörkel und geschweiften Tändeleien tritt das Lineal, die kerzengerade Haltung des Exerzierplatzes, die Bewegung des Soldaten, der Parademarsch macht.»[161]
Es gibt wenig Künstler, bei denen sich der Mensch und das Werk so deckt wie bei David. Seine Persönlichkeit ist aus einem Gusse und wurzelt völlig in den Ereignissen der Zeit. Das zeigt auch sein Verhältnis zu Napoleon. Wie er diesen auffaßte, zeigen die Bilder, welche den General Bonaparte darstellen, besonders das bekannte Porträt, auf dem der Schlachtenlenker mit kühngeschnittenem schmalem Gesicht und ruhigem Selbstbewußtsein trotzig in die Ferne blickt, sicher, daß er den rechten Weg nicht verfehlen wird. David, dem Jakobiner und Volkstribunen von 1793, der von der Diktatur die Herstellung der idealen Gesellschaft erwartet hatte, mußte die Säbeldiktatur des ersten Konsuls und späteren Kaisers als eine Notwendigkeit erscheinen. Mit den Bourbonen, die er bis zum Tode grimmig haßte, hätte er sich nie verbunden, denn sie waren ihm die sichtbaren Träger des alten Regimes. Mit Napoleon aber verband ihn eine innere Wesensverwandtschaft, welche die äußeren Gegensätze überbrückte. David konnte nicht anders. Der geschichtliche Mensch in ihm drückte seiner Individualität den Stempel auf und zeigte seiner Kunst den Weg. Man kennt die Geschichte des Fräuleins de Noailles, das den Künstler aufgefordert hatte, seine Kunst einmal an einem Christus zu versuchen. Als das Bild fertig war, war aus dem Menschheitserlöser ein unerbittlicher Cato geworden, der stets bereit ist, der Welt sein herzloses Ceterum censeo entgegenzuschleudern. Als die Dame ihrem Erstaunen über diese Auffassung des Heilands Ausdruck gab, antwortete der Künstler unwirsch: «Ich habe es längst gewußt, daß aus dem Christentum keine Inspiration mehr zu schöpfen ist!» – Für David gewiß nicht, denn das Verzeihen war nicht seine Art. Leonidas, Cato, Brutus, Spartaner und Römer – wie er sie sah – waren seine Idealgestalten. Das Römertum war volkstümlich geworden in jener Zeit. Man gab sich römische Namen, nannte sich Römer, und die Männer des Konvents wetteiferten miteinander, es den Gesetzgebern des römischen Staates gleichzutun. Ihre Reden haben römischen Schnitt, ihre Haltung trägt die steife Würde, die unter der Toga einherschreitet und keiner menschlichen Erwägung zugänglich ist. Viele nehmen ihre Rolle ernst: Saint-Just, Robespierre und Couthon sind Beispiele dafür; die anderen folgen ihnen, weil es Mode ist.
Es ist von symbolischer Bedeutung, daß die Schöpfer der modernen Nation bereits in ihrer Geburtsstunde darauf versessen waren, ihrem Idol das Gewand eines fremden Volkes anzulegen und ihm die Ausdrucksformen einer längst vergangenen Zeit beizubringen. Die Größe der Nation, die den Männern der großen Revolution vorschwebte, war in Wirklichkeit nur die Allmacht des neuen Staates, der nun anfing, die eisernen Glieder zu recken, um eine neue Epoche in der Geschichte Europas einzuleiten. Denn die große Revolution war nicht bloß eine Erscheinung der französischen Geschichte, sondern ein Ereignis von europäischer Bedeutung, das alle Glieder desselben Kulturkreises gleichermaßen in seinen Bann zog. Davids Kunst war der Heroldsruf dieser anbrechenden Zeit, deren ganze historische Größe sie verkörperte, ohne ihre Mängel und Schwächen überwinden zu können. In diesem Sinne war er nicht nur der Schöpfer eines neuen Stils und neuer ästhetischer Begriffe, welche die strengen Formen der revolutionären Epoche voll zum Ausdruck brachten; auch rein soziologisch gesehen, ist sein Werk von unvergänglicher Bedeutung.
Vieles hat sich seitdem geändert. Perioden der Reaktion und der Revolution wechselten in bunter Reihenfolge und beeinflußten die geistige und soziale Entwicklung der europäischen Völker. Manche Position, die für alle Zeiten gewonnen schien, ging wieder verloren in diesen endlosen Kämpfen der Zeit. Was aber keine Reaktion mehr rückgängig machen konnte, war die Tatsache, daß die Revolution zum erstenmal Massen dauernd in Bewegung gesetzt und ihnen den Glauben beigebracht hatte, daß sie ihr Recht nur im Kampfe finden würden. Zunächst waren es die Ideale des politischen Radikalismus, welche diese Massen in Wallung brachten; dann kamen die großen Ideen des Sozialismus, die auf das Denken und Fühlen der Menschen mächtig einwirkten und dem Begriff der Revolution eine tiefere und umfassendere Bedeutung gaben. Eine neue Schicht in der Gesellschaft war zu eigenem Leben erwacht: die Klasse des werktätigen Volkes, die trotzig die Glieder reckte und von nun an am öffentlichen Geschehen teilnahm. Und niemand würde sie mehr verdrängen, nachdem ihr langsam die Erkenntnis aufgedämmert war, daß ihre Arbeit der Gesellschaft Leben gab. Diese Bewegung der Massen ist eine der charakteristischsten Erscheinungen der modernen Geschichte, die auch in der Kunst und Literatur ihren Ausdruck finden mußte. Die große Reaktion, die nach der Niederlage Napoleons sich über ganz Europa verbreitete, konnte diese Bewegung für kurze Zeit von der Oberfläche verdrängen, aber sie war nicht imstande, die Erinnerung an die heroische Zeit der Revolution aus dem Gedächtnis der Völker zu tilgen. Zu tief hatte der revolutionäre Orkan die Gesellschaft aufgewühlt. Die Französische Revolution hatte ein neues Band um die Völker Europas geschlungen, das keine Regierung zerstören konnte. Alle revolutionären Ereignisse in Europa bis in die Mitte der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein waren von ihren Ideen befruchtet worden und hatten Massen in Bewegung gesetzt. – In Delacroix’ Gemälde Die Freiheit auf der Barrikade finden diese Bestrebungen einen machtvollen Ausdruck. Jauchzende Leidenschaft braust uns daraus entgegen. Masse tritt in Aktion, kämpft, stirbt, gerät in Ekstase, ergriffen vom Rausch der Stunde, der die verborgene Sehnsucht der Jahrhunderte widerspiegelt. Und jener Zug verschwindet nicht mehr aus der Kunst unserer Zeit.
Bis zum Jahre 1848 schlägt der vierte Stand die Schlachten des Bürgertums im Kampfe gegen die letzten Bollwerke des alten Regimes. Doch die blutige Tragödie des Juni machte allen Illusionen von der Harmonie der Klassen ein Ende und zeigte mit grausiger Klarheit den gähnenden Abgrund, der sich zwischen den neuen Emporkömmlingen und der erwachenden Arbeiterklasse aufgetan hatte. Sogar dem Blindesten mußte es klarwerden, daß die Wege der neuen Machthaber nicht die Wege des werktätigen Volkes sein konnten. – Ein neuer gesellschaftlicher Typus hatte sich in den Jahren nach der großen Revolution allmählich herausgebildet: der Bourgeois, die widerliche Mißgeburt jenes Bürgertums, das einst am Sturm auf die Bastille teilgenommen und die Revolution entfesselt hatte. Doch die Söhne und Enkel hatten nichts mehr an sich von jenem unruhigen Geiste; nichts war ihnen verhaßter als Empörung und gärender Aufruhr. Der Bourgeois liebte die Ordnung, die ihm erlaubte, seinen Geschäften in aller Beschaulichkeit nachzugehen. Sein Herz pulste im Geldbeutel, und diesem opferte er rücksichtslos jedes tiefere soziale Empfinden. Mit der abstoßenden Gier des Emporkömmlings versucht er sich alles Untertan zu machen und auf sein eigenes Maß herabzudrücken: geistig beschränkt, plebejerhaft und klobig in seinem Gehaben, behäbig und selbstzufrieden, ein geborener Philister, doch zu jeder Schändlichkeit bereit, wenn er seinen Besitz bedroht glaubt.
Louis-Philippe war der würdige Vertreter dieser Klasse, deren Typus er auch physisch veranschaulichte: ein fettes Bankiergesicht mit feistem Doppelkinn und ränkevollem Blick, in dem hinterhältige Verschlagenheit und geriebener Geschäftssinn lauern. Nach den heißen Julitagen von 1830 hatten 219 Bourgeoisdeputierte diesen edlen Sproß aus dem Hause Orléans den Franzosen als König aufgeschwätzt. Den Bürgerkönig nannten sie ihn, und nie hat ein gekröntes Haupt seinen Titel mit größerem Recht getragen als Louis-Philippe den seinen. Die Regierungszeit dieses Mannes war eine der schamlosesten, die Frankreich über sich ergehen lassen mußte. Die berüchtigten Worte des Ministers Guizot Enrichez-vous! waren diesem erbärmlichen System auf den Leib geschrieben, das während seiner achtzehnjährigen Dauer so furchtbare Erbitterung im Volke auslöste.
In Honoré Daumier war diesem elenden Regime ein furchtbarer und unerbittlicher Gegner entstanden. Daumier war ein ganz Großer, der es verstand, seinen Zeichnungen, die auf den Bedarf der Stunde berechnet waren, Ewigkeitswert zu geben. Er war geradezu unerschöpflich in seinen Angriffen gegen das herrschende System und seine höchsten Vertreter, erspähte jede seiner Schwächen und geißelte sie mit verzehrendem Spotte. Nach dem König zielten die scharfen Geschosse seines diabolischen Witzes. In allen erdenklichen Positionen stellt er ihn dar: als Harlekin, Seiltänzer, betrügerischen Börsenspekulanten, ja selbst als Verbrecher. Louis-Philippe hatte nichts Majestätisches an sich, deshalb konnte man ihm nicht nehmen, was er nie besaß; aber Daumier schildert ihn in seiner ganzen erbärmlichen Allzumenschlichkeit als typisches Symbol der bourgeoisen Gesellschaft mit dem Zylinder als Bürgerkrone, den plumpen Regenschirm unter dem Arm – der leibhaftige König der Bäuche, denen der Geist nur toter Ballast ist, das Urbild des gefräßigen Philisters, der stets mit einer kleinen Gemeinheit schwanger geht.
Auch das Gefängnis machte Daumier nicht gefügiger, und als die Regierung der Bäuche die berüchtigten Septembergesetze des Jahres 1835 in Kraft setzte, durch welche jede politische Karikatur untersagt und die Freiheit der Presse praktisch aufgehoben wurde, da nahm der Künstler den Bourgeois selbst aufs Korn und machte ihn zur Zielscheibe seines infernalischen Spottes. Er entkleidet ihn förmlich vor den Augen des Beschauers und zeigt die geheimsten Falten seiner öden Philisterseele. Wir sehen ihn auf der Straße, im Theater, auf seinen Spaziergängen im Bois, im Wirtshaus, an der Seite der teuren Gattin, im Bade, im Schlafzimmer und lernen alle Seiten seines geistlosen Lebens gründlich kennen. Daumiers unerbittlicher Stift hat hier eine Galerie von Typen festgehalten, die zum Unvergänglichsten gehören, was Kunst je hervorbrachte. Unübertrefflich sind seine Darstellungen des Robert Macaire, Sinnbild des geriebenen Gauners und Beutelschneiders, der stets bestrebt ist, die geistige Beschränktheit der lieben Mitmenschen in Geld auszumünzen und zusammen mit seinem Freunde Bertram gewissenhaft das Rupfen derjenigen besorgt, die nicht alle werden. Ein bekannter Pariser Schauspieler hatte diesen Typus in einem Melodrama auf die Bühne gebracht, und Daumier bemächtigte sich der vortrefflichen Idee, die ihm einen beispiellosen Erfolg verschaffte. Unter seiner geschickten Hand wird die ganze Periode zum Zeitalter Robert Macaires. Der listige Spitzbube, der fest davon überzeugt ist, daß die Dummheit der braven Zeitgenossen überhaupt keine Grenze hat, betritt mit kühler Überlegenheit alle Gebiete menschlicher Betätigung und gibt seine Gastrollen mit der sachverständigen Miene des Kenners, der genau weiß, was er den Menschen bieten darf. Schier unerschöpflich sind die Variationen, welche Daumier diesem Typus eines marktschreierischen Gaunertums zu entlocken wußte.
Nie war ein Künstler mit seiner sozialen Umwelt so innig verwachsen wie Daumier. Auch wenn er uns nicht sein bekanntes je suis de mon temps zugerufen hätte, wüßten wir es. Ein Blick auf sein Werk genügt, um zu erkennen, daß er wahrlich ein «Kind seiner Zeit» gewesen ist. Wohlgemerkt! seiner Zeit und nicht nur seines Volkes oder seiner Nation, denn seine Kunst reichte weit über die Grenzen Frankreichs hinaus; sein Werk ist Kulturbesitz einer ganzen Welt. Daumier fühlte den Pulsschlag seiner Epoche, erkannte ihre leisesten Regungen und sah vor allem ihre tiefe Erniedrigung. Er sah mit dem geschärften Auge des Künstlers, dem nichts entgeht; deshalb sah er tiefer als die meisten seiner Zeitgenossen, die mit ihm auf derselben Seite der Barrikade standen. So hat er die ganze Hohlheit und Nichtigkeit der gesetzgebenden Versammlungen schon erkannt, als der Parlamentarismus noch in seiner Sünden Maienblüte stand. Man betrachte sich die Idealgestalten, die uns aus der Zeichnung Der gesetzgebende Bauch entgegengrinsen. Niemals sind die sogenannten Volksvertreter und Regierungsmänner so mitleidslos demaskiert worden, wie es hier geschah. Hier tritt das Innerste nach außen. Eine Gesellschaft geistiger Nullen sind diese lieblichen Zeitgenossen, die an Engstirnigkeit, Blähsucht, satter Selbstzufriedenheit, Gehirnverkalkung, kleinlicher Ranküne und brutaler Kaltschnäuzigkeit so ungefähr das Schlimmste vorstellen, was überhaupt über das Kapitel Volksvertretung gesagt werden kann. Und dann die köstlichen Gestalten seiner Représentants représentés aus der Zeit von 1848-49, Figuren von unwiderstehlicher Komik und grausamer Realistik, in welchen die Geistlosigkeit und Impotenz des parlamentarischen Systems beredter dargestellt wird, als die beste Feder es vermöchte.
Daumier war ein glühender Verehrer der Freiheit und blieb es, bis ihm der Tod die Augen schloß. Deshalb fühlte er, daß sich die Freiheit nicht in den engen Rahmen einer Verfassung einsperren läßt, daß sie nicht atmen kann, ersticken muß, sobald man sie der Spitzfindigkeit der Advokaten und Gesetzmacher ausliefert. Welch eindrucksvolle Sprache spricht das Blatt Die Konstitution versetzt die Freiheit in hypnotischen Schlaf! Und jene andere Zeichnung, wo die Verfassung der Freiheit das neue Kleid anmißt und diese besorgt mahnt: «Nicht zuviel wegnehmen, bitte!» – Ach, die Zeit ist noch nicht gekommen, wird nie kommen, wo – wie Georg Büchner in Dantons Tod meinte – die Staatsform einem durchsichtigen Gewände gleichen wird, das sich dicht an den Leib des Volkes anschmiegt, damit sich jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen darin abdrücken kann! Auch die beste Staatsverfassung ist für die Freiheit immer noch eine Zwangsjacke. Überdies haben die ehrbaren Verfassungsschneiderlein in jedem Lande der Freiheit allmählich so viel Stoff vom Gewände abgeschnitten, daß es kaum noch zu einer anständigen Nachtjacke ausreicht.
Und dann jenes herrliche Blatt Die Verfassung auf dem Seziertisch. Ein Weib liegt in der Narkose auf einem Tische ausgestreckt; um sie herum stehen die Ärzte in Operationsschürzen und lauschen den Erklärungen des Professors. Unheimliche Fratzen, diese politischen Chirurgen, widerlich und von abstoßender Häßlichkeit. Man fühlt mit Grauen, was es bedeutet, solchen Kerlen die Sicherung erworbener Freiheiten vertrauensvoll in die Hände zu legen. Spukt nicht der Geist Robert Macaires auch im Operationssaal? Wie modern dieses Blatt anmutet! Just als wäre es Herrn Brüning und der Weimarer Verfassung gewidmet. – Ja, modern ist alles an Daumier, denn der Köhlerglaube an die Wunderkraft der Verfassung hat sich noch lange nicht zu Tode geträumt. Daumier mochte wohl Ähnliches empfunden haben wie Bakunin, der da sagte: «…ich glaube nicht an Konstitutionell und Gesetze; die beste Konstitution würde mich nicht befriedigen können. – Wir brauchen etwas anderes: Sturm und Leben und eine neue, gesetzlose und darum freie Welt.»[162]
Und wie Daumier die Männer der gesetzgebenden Körperschaften zur Zielscheibe seines grimmigen Hohnes erkoren hatte, so haßte er ihre ausführenden Organe mit der ganzen Leidenschaft seines südländischen Temperamentes. Die ganze bürgerliche Justiz war ihm nur die Hure jener Gesellschaft der Bäuche, die er so tief verabscheute. In diesem Lichte zeigt er uns ihre Vertreter: lebendige Verkörperungen scheinheiliger Vorstellung und infamer Tücke, Seelenmörder, die in Paragraphen denken und deren Gefühle stumpf geworden sind in der Routine gesetzlicher Vergewaltigung und Notzucht des Geistes. Auch diese Blätter wirken noch immer mit derselben Wucht, denn in dieser Hinsicht hat sich nichts geändert, und die Justiz ist auch heute noch die organisierte Rache privilegierter Kasten, die das Recht in ihre Dienste pressen.
Daumiers Kunst stellt den Geist der Dinge dar, und die einzelnen Träger bestehender Einrichtungen müssen ihm lediglich dazu dienen, diesem Geiste Ausdruck zu verschaffen. So faßt er auch den Krieg und seinen Zuhälter, den Militarismus, auf. Es ist nicht das Äußere, das ihn reizt, die unmittelbaren Ursachen, die zum Kriege führen. Sein Blick dringt tiefer und zeigt uns jenes grauenhafte Band, das den Menschen von heute noch immer an Vergangenes kettet und scheinbar Gestorbenes in einer bösen Stunde zu neuem Leben erweckt. Daumier wußte auch, daß sich der Militarismus nicht mit der Existenz stehender Heere erschöpfte. Er hatte klar erkannt, daß es sich hier um einen besonderen Geisteszustand handelt, der, einmal künstlich gezüchtet, den Menschen zum gefühllosen Automaten umformt, der blindlings jedem Befehle gehorcht, ohne sich über die Folgen seines Tuns Rechenschaft abzulegen. Diese künstlich erzeugte Lähmung des Gewissens und der eigenen Überlegung, die jede sittliche Kontrolle, jedes Bewußtsein einer persönlichen Verantwortung im Menschen ausschaltet, ist die erste Voraussetzung jedes Militarismus ohne Unterschied der Fahne und der Uniform. Indem Daumier in seinen Darstellungen gerade dieses zum Ausdruck brachte, ging er weit über die engen Schranken nationaler Bedingtheiten hinaus und behandelte Kriege und Militarismus als die unheilvollen Ergebnisse eines Systems, dessen fundamentale Lebensbedingungen in jedem Lande dieselben Wirkungen auslösen. Hier spricht ein Künstler zu uns, in dem der Mensch den Staatsbürger überwunden hatte und der die Menschheit als Ganzes höher einschätzte als das künstliche Erzeugnis der Nation und den so wechselvollen Begriff des Vaterlandes, obwohl er seiner Heimat von ganzem Herzen zugetan war. Dieses Allumfassende der Auffassung ist es, das seine Kunst weit über den Durchschnittsgrad des Alltäglichen erhebt und ihr jene Größe verleiht, die unvergänglich ist.
Was Daumier als Zeichner und Maler angebahnt, blieb bestehen und entwickelte sich weiter. In der finsteren Periode nach den Napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch der Julirevolution waren die Beziehungen der Kunst zu den unmittelbaren sozialen Erscheinungen des Lebens fast verlorengegangen. Daumier hatte sie wiederhergestellt, indem er sich zum Herold einer Kunst machte, aus welcher das Denken und Fühlen des Volkes sprach. Durch die Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung in Europa wurden diese Bestrebungen in der Kunst mächtig gefördert. Eine neue Zeit warf ihre Schatten voraus. Die Arbeit, die man solange verachtet und deren Träger man als minderwertige Heloten zu betrachten pflegte, bekam eine neue Wertung. Die werktätigen Massen fingen an zu begreifen, daß ihre schöpferische Tätigkeit allem gesellschaftlichen Sein zugrunde liegt. Der Geist des Sozialismus war erwacht und legte in allen Ländern die geistigen Fundamente für eine neue Gemeinschaft der Zukunft. Das Volk, das im Schweiße seiner Arbeit fronen mußte, das Paläste baute und Schächte ins Innere der Erde trieb, um dieser ihre Schätze zu entreißen, das Volk, das jeden Tag den Tisch des Lebens für seine Herren deckte und selber seine Tage in Armut und Kümmernis dahinschleppte, reifte allmählich zu einer neuen Erkenntnis heran und zerrte an den Ketten, die man ihm angelegt hatte.
Schon die Revolution von 1848 hatte bewiesen, wie tief dieser Geist Boden gefaßt hatte; auch das Blut der Junischlacht konnte ihn nicht mehr ersticken. Hoffnungstrunken und verheißend hallte später der Ruf der Internationale durch die Länder, um die Enterbten der Gesellschaft zum großen weltumspannenden Bunde der Arbeit zusammenzuschweißen. Nicht länger sollte der Schweiß der Armen die Schmarotzer mästen; die Erde sollte dem Menschen wieder eine Heimat werden und die Frucht der Arbeit alle nähren. Nicht Brosamen von den Tischen der Reichen wollten sie, sondern Gerechtigkeit und Brot und Freiheit für jedermann. Die Arbeit sollte nicht länger das Aschenbrödel der Gesellschaft sein, der arme Lazarus, der sein Leid vor den Türen der Reichen zur Schau stellt, um ihre Herzen mild zu stimmen. Ein großes Sehnen ging durch die Welt der Verdammten. Das Ideal einer besseren Zukunft hatte ihre dumpfen Seelen aufgerüttelt und mit Begeisterung erfüllt. Nun reichten sie sich die Hände über die Grenzen der Staaten hinaus, denn sie fühlten, wie überall dieselbe Not an ihrem Leben zehrte, dieselbe Hoffnung in allen Herzen brannte. So schufen sie den großen Bund der kämpfenden Arbeit, aus dessen Schoße eine neue Gesellschaft hervorgehen sollte.
Auch die Kunst wurde von diesem Geiste erfaßt. Zeigen, was ist, wurde die Losung des Realismus. Nicht länger sollte der Künstler gezwungen sein, nur das Schöne darzustellen, das fremden Welten entlehnt und oft nur überzuckerte Lüge war. So erschien die Welt der Arbeit auf der Leinwand, Menschen in zerschlissenem Gewände mit harten Gesichtern, in die die Sorge ihre Runen eingegraben. Und man entdeckte mit Staunen, daß auch dieser Welt eine geheime Schönheit innewohne, die man vorher nicht gesehen hatte.
François Millet war einer der ersten Künder des neuen Evangeliums der schaffenden Arbeit. Obwohl seinem ganzen Wesen nach unpolitisch, hatte er nichtsdestoweniger die soziale Bedeutung der Arbeit in ihrem tiefsten Sinne erkannt. Selber Bauer, war ihm der Mann der Scholle besonders ans Herz gewachsen; denn er liebte die Erde, liebte alles, was ihre Zeichen trug und den Geruch neugepflügter Felder atmete. Millets Bauern sind keine Phantasiegestalten. In seiner Kunst ist kein Platz für die Schäferromantik phantastischer Schwärmer, denen die Kraft der Einbildung die Wirklichkeit des Lebens ersetzen muß. Was er darstellte, ist harte, ungeschminkte Wirklichkeit: der Mann der Erde kommt hier zum Wort, der in ebenso schlichter wie beredter Art für seines Daseins Inhalt Zeugnis ablegt. Millet malt seine knotigen, mit Schwielen bedeckten Hände, seinen gebeugten Rücken, sein wettergebräuntes, knochiges Gesicht und zeigt ihn uns in seiner innigen Verwachsenheit mit dem Boden, den er mit seinem Schweiße düngt und fruchtbar macht. Das sind nicht die Bauern, die wir aus Auerbachs Dorfgeschichten kennen und die oft den Eindruck erwecken, als habe man sie eigens frisiert und in den Sonntagsrock gesteckt, um sie salonfähig zu machen; nein, Millets Bauern wirken echt. Und doch liegt über allem, was er geschaffen, der Hauch einer stillen Feierlichkeit, die nicht künstlich erzeugt wird, sondern dem Stoffe selbst entspringt. Es ist der kräftige Hauch der Erde, der mit dem ewigen Rhythmus der Arbeit zusammenklingt und in der Seele des Beschauers jenes seltsame Schwingen wachruft, das ihm den inneren Gleichklang alles Werdens so greifbar nahebringt. Bilder wie die Ährenleserinnen, der Mann mit der Hacke, die Schafhirtin oder Angelus wirken monumental in der schlichten Größe ihres Ausdrucks.
Sie hatte keinen leichten Stand, diese neue Kunst. Wie bekämpfte man Gustave Courbet, den Freund Proudhons, den Anhänger jeder Revolution, wie er sich nannte, als er es wagte, das Prinzip der Schönheit zu profanieren, indem er Proleten im Werktagsgewande auf die Leinwand brachte und einer neuen Kunst das Wort redete, die sich nicht länger an die klassischen Vorbilder einer toten Vergangenheit anlehnen mochte und ihre Stoffe und Inspirationen dem modernen Leben entnahm, das den Künstler von allen Seiten umbrauste! Werke wie die Steinklopfer, das Begräbnis in Omans, der Mann mit der Pfeife, für deren künstlerische Qualitäten man heute nicht genug Bewunderung aufbringen kann, wurden von den Akademikern verhöhnt und als Erzeugnisse abscheulichster Geschmacksverirrung eingeschätzt. Und doch war der Realismus Courbets nicht mehr als ein Versuch, Welt und Menschen in einem anderen Lichte zu sehen, wobei er an Dinge rührte, die vor ihm kein anderer wahrgenommen hatte. Das zeigen auch seine prächtigen Landschaften mit ihrer greifbaren Trächtigkeit und Lebensüberfülle, die wie ein Hymnus auf das Prinzip der Fruchtbarkeit anmuten.
Welch innere Schönheit man der Welt der Arbeit entlocken kann, erkannte auch Constantin Meunier, der ein so begeisterter Verehrer antiker Formenschönheit war. Doch inmitten der rauchenden Schlote, der Schachtanlagen und der Hochöfen der Borinage fühlte er den raschen Pulsschlag jenes stählernen Reiches, das mit eisernen Lungen atmete und im Takte der Maschinen die mächtigen Glieder regte. Da kam ihm auch die Erkenntnis, daß er seiner Zeit angehörte, in der seine Kunst Wurzel schlagen mußte. Die Sehnsucht nach den Formen der Antike mischte sich mit den gewaltigen Eindrücken, die der Künstler im Herzen der belgischen Industrie empfangen hatte. So schuf er jene mächtigen Gestalten der Arbeit, die von der Sehnsucht nach einer neuen Welt durchdrungen sind und trotz aller Kümmernisse ihres harten Daseins der Gegenwart siegesgewiß ins Auge blicken. Welche Kraft lebt in diesen Gestalten, die im Schoße der Erde die Spitzaxt schwingen, vom magischen Schein umglüht, den flüssigen Stahl bändigen, über dunkle Äcker schreiten und fruchtbare Saat ausstreuen oder auf ihren starken Schultern schwere Lasten schleppen. Wuchtige Bahnbrecher einer neuen Zeit sind es, Künder eines neuen Werdens, das keine Macht der Erde zurückdämmen kann. Es hegt eine antike Größe in diesen Gestalten, die mit festen Schritten dem Frührot einer neuen Zeit entgegenschreiten. Und ebenso gewaltig wirkt das kyklopische Reich, in dem sie wandeln und ihre Sehnsucht stählen.
In jedem Lande erstanden dieser neuen Kunst Künder und Deuter, in deren Werken die Not der Zeit lebendig wurde und nach Ausdruck rang. In ihren Schöpfungen spiegelt sich die innere Zwiespältigkeit unserer gesellschaftlichen Ordnung, ihre doppelzüngige Moral, ihr herzloser Egoismus, ihr Mangel an wahrem Menschentum, die ganze sittliche Zerfressenheit einer Epoche, die den Mammon zum Herrn der Welt erhoben hat. Und noch etwas anderes lebt in diesen Werken: der brausende Hymnus weltumspannender Arbeit und die fiebernde Glut revolutionärer Volksbewegungen, die bange Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaft wahrer Freiheit, und Gerechtigkeit. Eine lange Reihe Namen steht vor unseren Augen, Künstler aus aller Herren Ländern, die durch das unsichtbare Band des inneren Erlebens miteinander verbunden sind und – jeder in seiner Art – am Werke der gesellschaftlichen Umgestaltung mitwirken. Charles de Grouxaud und Th. A. Steinlen, Léon Frédéric und Antoine Wiertz, Segantini und Luce, Charles Hermanns und E. Laermans, Vincent van Gogh, G. F. Watts und Käthe Kollwitz, Franz Masereel, Heinrich Zille, George Grosz und zahllose andere, sie alle wurzeln in den großen sozialen Erscheinungen der Zeit, und ihre Kunst hat zu dem Zufall ihrer nationalen Abstammung so gut wie gar keine Beziehung.
Das aber trifft nicht nur für jene Künstler zu, in deren Werken ein mehr oder weniger deutlicher sozialer Einschlag zum Ausdruck kommt, sondern für den Künstler überhaupt. Jeder Künstler ist schließlich nur ein Glied einer großen Kultureinheit, die neben seinen persönlichen Anlagen sein Schaffen bestimmt, wobei die Nationalität eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Auch in der Kunst erkennt man dieselben allgemeinen Erscheinungen, die sich auf jedem anderen Gebiet des menschlichen Schaffens bemerkbar machen; auch hier spielt die gegenseitige Befruchtung innerhalb desselben Kulturkreises, von dem die Nation nur ein Ausschnitt ist, eine entscheidende Rolle. Man denke an die Worte Anselm Feuerbachs, der gewiß kein Mensch mit revolutionären Gedankengängen gewesen ist:
«Man hat beliebt, mich als vorzugsweise deutschen Künstler hinzustellen. Ich protestiere feierlich gegen diese Bezeichnung, denn das, was ich bin, habe ich teils mir selbst, teils den Franzosen von 1848 und den alten Italienern zu danken.»
Es ist übrigens bezeichnend, daß dieser angeblich so deutsche Künstler während seines Lebens gerade in Deutschland verpönt war, und zwar so sehr, daß man ihm sogar die Fähigkeit als Maler abgesprochen hat. Die Nation als solche schafft also nicht nur keinen Künstler, es fehlen ihr auch alle Voraussetzungen, ein Kunstwerk richtig oder überhaupt würdigen zu können. Die Stimme des Blutes war bisher nie imstande, die artverwandten Züge im Kunstwerk zu entdecken, sonst wäre die Zahl der Künstler, die von den Zeitgenossen der eigenen Nation so furchtbar verkannt, verhöhnt und verlästert wurden, nicht so groß.
Man halte sich einmal vor Augen, welch starken Einfluß die verschiedenen Kunstrichtungen auf das Schaffen des einzelnen Künstlers ausüben, ohne daß seine Nationalität sich diesem Einfluß entziehen kann. Die verschiedenen Strömungen in der Kunst wurzeln nicht in der Nation, sondern in der Zeit und in den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit. Klassizismus und Romantik, Expressionismus und Impressionismus, Kubismus und Futurismus sind Zeiterscheinungen, auf welche die Nation keinen Einfluß hat. Bei Künstlern, die zwar nicht derselben Nation, wohl aber derselben Kunstrichtung angehören, ist die innere Verwandtschaft auf den ersten Blick erkennbar; bei zwei Abkömmlingen derselben Nation aber, von denen der eine dem Klassizismus anhängt, während der andere in den Spuren des Kubismus oder Futurismus wandelt, gibt es – soweit ihre Kunst in Frage kommt – überhaupt keine Berührungspunkte. Das gilt für jede Kunst und auch für die Literatur. Zwischen Zola und den Anhängern des Naturalismus in anderen Ländern besteht eine unverkennbare Verwandtschaft; aber zwischen Zola und de L’Isle Adam oder de Nerval, obgleich sie alle Franzosen, zwischen Huysmans und Maeterlinck, obgleich sie beide Belgier zwischen Poe und Mark Twain, obgleich sie beide Amerikaner sind, gähnt ein ganzer Abgrund. Alles Gerede von dem nationalen Kern, der jedem Kunstwerk angeblich zugrunde liegt, entbehrt jeder tieferen Begründung und ist nicht mehr als eine Wunschvorstellung.
Nein, die Kunst ist nicht national, ebensowenig wie die Wissenschaft oder irgendein anderes Gebiet unseres geistigen und materiellen Lebens. Es sei unbestritten, daß Klima und äußere Umgebung auf den Seelenzustand der Menschen und folglich auch auf den Künstler einen gewissen Einfluß haben; aber das geschieht sehr häufig im selben Lande und innerhalb derselben Nation. Daß sich daraus kein Gesetz der Nationalität ableiten läßt, geht schon daraus hervor, daß alle nordischen Völkerschaften, die nach dem Süden wanderten und sich dort niederließen, wie die Normannen in Sizilien oder die Goten in Spanien, in der neuen Heimat nicht nur die alte Sprache vergaßen, sondern sich auch in ihrem Gefühlsleben der neuen Umgebung anpaßten. Die nationale Schablone, wenn sie durchführbar wäre, würde jede Kunst zur öden Nachahmung verurteilen und ihr gerade das nehmen, was sie erst zur Kunst macht – die innere Inspiration. Denn was man gewöhnlich das Nationale nennt, ist in der Regel nur das Festhalten an Vergangenem, die Alleinherrschaft der Überlieferung. Auch Überliefertes kann schön sein und den Künstler zum Schaffen anregen; aber es darf nicht zum Kompaß des Lebens werden und alles Neue lähmen durch das Gewicht einer toten Vergangenheit. Wo man versucht, Vergangenes zu neuem Leben zu erwecken, wie dies z. B. in so grotesker Form in Deutschland geschah, dort wird das Leben öde und schal und ein bloßes Zerrbild des Gewesenen. Denn es gibt keine Brücke, die zum Vergangenen zurückführt. Wie der erwachsene Mensch trotz aller Sehnsucht nicht mehr zu den Jahren der Kindheit zurückkehren kann und seines Lebens Weg vollenden muß, so kann auch ein Volk die Geschichte seiner Vergangenheit nicht mehr ins Dasein zurückrufen. Jedes kulturelle Schaffen ist universal, am meisten die Kunst. Es war kein anderer als Hanns Heinz Ewers, der sich später in der Gnade Adolf Hitlers sonnte, welcher dieser Wahrheit Ausdruck verlieh, wenn er sagte:
«Ganze Welten trennen den Kulturmenschen in Deutschland von seinen Landsleuten, die er täglich in der Straße sieht: ein Nichts aber, eine Wasserrinne nur, trennt ihn von dem Kulturmenschen in Amerika. Heine fühlte das und warf es den Frankfurtern ins Gesicht. Edgar Allan Poe sprach es noch viel klarer aus. Die meisten Künstler aber und Gelehrten und Gebildeten aller Völker hatten ein so geringes Verständnis dafür, daß bis auf unsere Tage Horaz’ feines Odi profanum falsch ausgelegt wird! Der Künstler, der für ‹sein Volk› schaffen will, erstrebt etwas Unmögliches und vernachlässigt dadurch häufig etwas Erreichbares und doch Höheres: für die ganze Welt zu schaffen. Über dem Deutschen, über dem Briten und Franzosen steht eine höhere Nation: die Kulturnation; für sie zu schaffen, ist des Künstlers allein würdig.»[163]
Kunst und Kultur stehen über der Nation, über dem Staate. Wie kein wahrer Künstler nur für ein bestimmtes Volk schafft, so läßt sich auch die Kunst als solche nie in das Prokrustesbett der Nation spannen. Sie wird vielmehr als feinste Deuterin des sozialen Lebens am ersten zur Vorbereitung einer höheren gesellschaftlichen Kultur beitragen, die Staat und Nation überwinden wird, um der Menschheit die Pforten einer neuen Gemeinschaft aufzutun, die ihrer Sehnsucht Ziel ist.
XXVII. Soziale Probleme unserer Zeit
Der Nationalstaat und der Untergang der alten Gemeinschaft. Die Ära der Revolution als Folge des verlorenen gesellschaftlichen Gleichgewichtes. Die geschichtlichen Zusammenhänge als Kulturerscheinungen. Die Schwächung des sozialen Bewußtseins und der persönlichen Selbständigkeit. Die fatalistische Art unseres Denkens und der Glaube an die Gesetzmäßigkeit des sozialen Geschehens. Großstaat und Wirtschaftsmonopolismus als Geißeln der Menschheit. Mensch und Maschine. Internationales Wirtschaftschaos. Technokratische Betrachtungen. Die soziale Frage, ein Problem des Verbrauchs, nicht der Produktion. Ist der Staatskapitalismus eine Lösung? Internationalisierung der Rohstoffgebiete. Weltwirtschaft, nicht Weltausbeutung. Was der Staat uns kostet. Die materiellen Verluste des Weltkrieges. Die Diktatur als Übergangsstadium. Die Folgen der Diktatur. Faschismus oder «Kommunismus»? Die bürgerliche Demokratie und die Ereignisse in Spanien, Überwindung des Staates und der Nation durch die neue Gemeinschaft.
Nach dem Untergang der alten Städtekultur und der Periode des Föderalismus in Europa geriet der Selbstzweck des gesellschaftlichen Daseins mehr und mehr in Vergessenheit. Die Gesellschaft ist schon lange nicht mehr der natürliche Bund, in dem die Beziehungen von Mensch zu Mensch zum Ausdruck gelangen. Mit dem Erscheinen des sogenannten Nationalstaates wird jede gesellschaftliche Betätigung allmählich ein Mittel im Dienste der Sonderbestrebungen politischer Machtgebilde, die nicht länger den Interessen der Allgemeinheit, sondern den Wünschen und Bedürfnissen privilegierter Kasten und Klassen im Staate entsprechen. Damit verliert die Gesellschaft ihr inneres Gleichgewicht und gerät in einen Zustand periodischer Erschütterung, der dem bewußten oder unbewußten Bestreben entspringt den verlorenen Zusammenhalt wiederherzustellen.
Louis Blanc fühlte die Keime der großen Französischen Revolution bis auf das Mittelalter und die Reformation zurück. In der Tat beginnt mit der Reformation ein neuer Abschnitt in der europäischen Geschichte, der bis heute noch keinen endgültigen Abschluß gefunden hat und den man mit Recht die Ära der Revolutionen genannt hat, eine Bezeichnung, die um so berechtigter erscheint, da alle Völker unseres Kontinents vom Geiste dieser Epoche gleichermaßen erfaßt und beeinflußt wurden. In seinem lichtvollen Essai, Die Revolution, hat Gustav Landauer versucht, die einzelnen Etappen dieser Epoche abzustecken und in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen, die folgendes Bild ergibt: «Die eigentliche Reformation mit ihren geistigen und sozialen Umwandlungen, ihren Säkularisationen und Staatsbildungen; der Bauernkrieg; die englische Revolution; der Dreißigjährige Krieg; der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, weniger um seiner Vorfälle als seiner geistigen Prozesse und Ideen willen, mit denen er den stärksten Einfluß auf das ausübte, was nun folgt: die große Französische Revolution.»
Wie Proudhon und nach ihm Bakunin, Pi y Margall und Kropotkin, so sah auch Landauer in allen Aufständen und Umwälzungen, die seit 1789 bis heute die verschiedenen Länder in Europa periodisch in Aufruhr setzten, nur Auswirkungen desselben revolutionären Geschehens. Diese Erkenntnis festigte in ihm die Überzeugung, daß die Ära der Revolutionen noch nicht vorüber sei und wir uns noch immer inmitten eines sozialen Umgestaltungsprozesses von riesigen Ausmaßen befinden, dessen Ende vorläufig gar nicht abzusehen ist. Macht man sich diesen Standpunkt zu eigen, dessen zwingende Logik unverkennbar ist, so kann man nicht umhin, auch die neuesten Ergebnisse der Geschichte: den Weltkrieg, die sozialen Bewegungen der Gegenwart, die Revolutionen in Mitteleuropa und besonders in Rußland, die Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und alle politischen und sozialen Veränderungen in Europa seit dem Weltkriege, als besondere Erscheinungsformen desselben großen Prozesses aufzufassen, der seit vierhundert Jahren das gesamte Leben der europäischen Völker immer wieder von neuem aufwühlt und dessen Fernwirkungen sich heute bereits auch in anderen Erdteilen deutlich bemerkbar machen.
Diese Vorgänge werden so lange keinen Abschluß finden, bis nicht ein wirklicher Ausgleich zwischen den Eigentumsbestrebungen des Einzelwesens und den allgemeinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen gefunden ist, eine Art Synthese von persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit durch solidarisches Zusammenwirken aller, das der Gesellschaft wieder Inhalt gibt und die Grundlagen zu einer neuen Gemeinschaft legen wird, die keines äußeren Zwanges mehr bedarf, da sie ihr inneres Gleichgewicht in der Wahrnehmung der Interessen aller findet und für politische und wirtschaftliche Machtbestrebungen keinen Platz mehr hat. Erst dann wird die Ära der Revolutionen ihren Abschluß finden, um einer neuen sozialen Kultur das Feld zu räumen, die einer neuen Entwicklungsphase der Menschheit Ausdruck geben wird.
Faßt man die Geschichte in diesem Geiste auf, so erkennt man erst richtig die gemeinsamen Züge einer beistimmten Epoche, die sich in allen Ländern desselben Kulturkreises in ähnlichen Schwingungen bemerkbar machen. In jedem großen Abschnitt der Geschichte macht sich zunächst die Art des Denkens fühlbar, welche den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit entspringt und umgestaltend auf diese zurückwirkt. Im Vergleich mit den allgemeinen Problemen, welche das Denken der Menschen einer gewissen Epoche beschäftigen, haben die sogenannten nationalen Bestrebungen, die ihnen überdies erst künstlich beigebracht werden müssen, so gut wie keine Bedeutung. Sie dienen nur dazu, dem Menschen den Einblick in das eigentliche Kulturgeschehen zu trüben und dieses selber auf längere oder kürzere Zeit in seiner natürlichen Entwicklung zu hemmen. Nur in seinen inneren Zusammenhängen wird uns das historische Geschehen einer Epoche erst verständlich, während eine künstlich erzeugte nationale Ideologie, deren Träger stets bestrebt sind, jedes Land und Volk nur in dem Licht zu sehen, das ihren Sonderbestrebungen gerade dienlich ist, uns über diese Zusammenhänge keinen Aufschluß geben kann. Schließlich ist die ganze nationale Geschichte eines Volkes immer nur die Geschichte eines besonderen Staates, nie aber die Geschichte seiner Kultur, die stets das Gepräge ihrer Zeit trägt. Unsere Einteilung des europäischen Völkerlebens in die Geschichte einzelner Nationen mag durch die Existenz der heutigen Staatsgebilde bedingt sein, ist aber darum nicht weniger irreführend. Solche Einteilungen schaffen nur künstliche Grenzen, die mit den allgemeinen sozialen Bestrebungen wenig gemein haben, und verwischen das Gesamtbild einer Epoche oft so gründlich, daß dem Beschauer alle inneren Zusammenhänge verlorengehen.
Man gebe sich einmal Rechenschaft darüber ab, welch tiefgehenden und entscheidenden Einfluß bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen auf den Gesamtcharakter ganzer Epochen gehabt haben. So hat die Verbreitung des Christentums dem gesamten Geistesleben der europäischen Völker seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt; ebenso hat der moderne Kapitalismus alle gesellschaftlichen Einrichtungen während der letzten zweihundert Jahre völlig umgestaltet und nicht bloß den rein materiellen Lebensbedingungen, sondern auch allen geistigen Bestrebungen dieser Epoche einen besonderen Charakter verliehen, über den man sich nicht hinwegtäuschen kann. Von den mächtigen Einflüssen bestimmter Welt- und Lebensanschauungen auf das Denken der Völker des europäisch-amerikanischen Kulturkreises ist bereits früher die Rede gewesen.
Ist nicht die gegenwärtige Krise der gesamten kapitalistischen Welt der überzeugendste Beweis für die inneren Zusammenhänge einer Epoche, die sich in allen Ländern ähnlich auswirken? Täuschen wir uns nicht, diese Krise ist keine reine Wirtschaftskrise, es ist die Krise der heutigen Gesellschaft, die Krise unseres modernen Denkens, die auf eine Neugestaltung unseres gesamten geistigen und seelischen Lebens hindrängt und nicht bloß auf einen Ausgleich seiner rein wirtschaftlichen Formen. Es ist der Beginn der großen Götterdämmerung, deren Abschluß vorläufig nicht abzusehen ist. Aus dem wirbelnden Chaos alter und neuer Begriffe wird sich allmählich eine neue Erkenntnis der Dinge herausbilden, die das geistige Blickfeld der Menschen verändern und ihnen die inneren Zusammenhänge zwischen Mensch und Gesellschaft in einem neuen Lichte zeigen wird. Denn eine große Revolution des Geistes ist vonnöten, um die Beziehungen der Menschen zu den Dingen des materiellen Lebens und seinen Begleiterscheinungen neu zu gestalten und sie zum Handeln in einer neuen Richtung anzuregen.
Vor allem müssen wir lernen, den Dingen selbst wieder unmittelbarer gegenüberzustehen, und dürfen uns nicht länger damit begnügen, die Erscheinungen des sozialen Lebens durch die Brille philosophischer Voraussetzungen zu betrachten. Der Entwicklungsgedanke, der einst das gesamte Denken unseres Kulturkreises von Grund aus revolutioniert und umgestaltet hat, ist uns heute vielfach zu einem Hemmschuh des Handelns geworden. Wir beschäftigten uns zu lange und zu ausschließlich mit den Ursachen und Übergängen der gesellschaftlichen Erscheinungen, bis uns diese selbst fremd und nebensächlich geworden sind. Nebensächlich in dem Sinne, daß uns die unmittelbare Wirkung der Dinge weniger Interesse abnötigt als die Ursachen, aus denen sie geboren wurden. Wir haben uns viele Jahrzehnte als geschickte Analytiker der kapitalistischen Gesellschaft bewährt, allein wir verloren darüber die Fähigkeit, dem gesellschaftlichen Leben durch bewußtes Handeln einen neuen Inhalt zu geben und der Menschheit neue Horizonte ihres Wirkens zu erschließen. Unser Denken hat den ethischen Gehalt verloren, der im Geiste der Gemeinschaft wurzelt, und ist zu sehr an die rein technische Feststellung der Dinge gebunden. Ging man doch so weit, daß man ethische Erwägungen geradezu als Schwäche auffaßte und sich einredete, daß dergleichen Betrachtungen überhaupt keinen Einfluß auf das gesellschaftliche Tun der Menschen hätten. Wohin das führt, sehen wir heute mit erschreckender Deutlichkeit.
Der Entwicklungsgedanke gestaltete sich bei vielen zu einer fatalistischen Auffassung des gesellschaftlichen Geschehens und verleitete sie dazu, sogar die empörendsten Erscheinungen der Zeit als Ergebnisse unabänderlicher Entwicklungsvorgänge zu betrachten, in die der Mensch nicht willkürlich eingreifen kann. Dieser Glaube an die Unvermeidlichkeit und das Gesetzmäßige alles Geschehens mußte die Menschen dem natürlichen Empfinden von Recht und Unrecht entfremden und ihr Verständnis für den ethischen Sinn der Dinge abstumpfen.[164] Spielte man doch sogar in Deutschland mit dem gefährlichen Gedanken, daß der überall vordringende Faschismus eine notwendige Entwicklungsform des modernen Kapitalismus sei, die letzten Endes dem Sozialismus den Weg vorbereiten müsse.[165]
Mit solchen Gedankengängen lähmt man nicht nur jedes Gefühl des Widerstandes gegen Willkür und brutale Gewalt, man rechtfertigt damit auch indirekt die Verüber solcher Gewaltstreiche, indem man sie zu Trägern geschichtlicher Notwendigkeiten erhebt, die jenseits von Gut und Böse stehen. In Wirklichkeit hatte das persönliche Handeln brutaler Gewaltmenschen, haben die ungeheuerlichen Verbrechen, die in Deutschland und überall, wo der Faschismus Fuß faßte, begangen wurden, ohne auch nur den leisesten Protest sogenannter demokratischer Regierungen herauszurufen, mit der sozialen Entwicklung überhaupt nichts zu tun. Es handelte sich hier lediglich um den Machtwahn einer Minderheit, die es verstanden hatte, eine gegebene Situation auszunutzen, und dabei auf ihre Rechnung kam.
Man hat sich daran gewöhnt, alle Gebresten der heutigen Gesellschaft als Ergebnisse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verbuchen, aber man hat vergessen, daß mit Erklärungsversuchen die Dinge selbst nicht geändert werden; so sehr vergessen, daß sogar jene Parteien, die angeblich auf eine völlige Umgestaltung der heutigen gesellschaftlichen Zustände hinarbeiten, nichts Besseres zu tun wußten, als sich in die bestehende Ordnung der Dinge einzunisten, und zwar so fest, daß sie Bestandteile dieser Ordnung geworden sind und sie durch ihre Methoden neu gestärkt haben. Dieses Versagen der sozialistischen Parteien hat viele Hoffnungen vernichtet und breite Massen an der Idee des Sozialismus irregemacht, den sie für die Niederlage der sozialistischen Organisationen verantwortlich machen; ebenso wie man heute die Gesellschaftsauffassung des Liberalismus für das Versagen der liberalen Parteien verantwortlich macht. In Wirklichkeit ist damit nur bewiesen worden, daß eine Bewegung, die eine vollständige Umgestaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens erstrebt, diesem Ziele nie näherkommen kann, ja sogar gezwungen ist, sich immer weiter von ihrem Ausgangspunkte zu entfernen, je mehr sie versucht, in den alten Institutionen der staatlichen Ordnung Fuß zu fassen, um ihrerseits die politische Maschine in Gang zu setzen, die auf Grund ihres Mechanismus nur in einer bestimmten Richtung arbeiten kann, wer immer ihre Hebel in Bewegung setzt.
Weder die Ziele des Sozialismus noch des Liberalismus sind bisher verwirklicht worden; ihre Verwirklichung wurde sogar nie ernsthaft in Angriff genommen oder durch den Einfluß bestimmter Kräfte immer wieder in falsche Bahnen gelenkt. Und doch zeigt uns die ganze Entwicklung unserer wirtschaftlichen und politischen Zustände heute mehr denn je, wie richtig diese Bestrebungen ursprünglich gewesen sind und welchem gefährlichen Abgrund wir uns genähert haben, indem wir den angeblichen Wegen der Entwicklung folgten, anstatt uns der heraufziehenden Gefahr entgegenzustemmen, die uns heute von allen Seiten bedroht.
Denn das eine dürfte heute allen nach einer tieferen Erkenntnis strebenden Menschen klargeworden sein: der heutige Großstaat und der moderne Wirtschaftsmonopolismus haben sich zu furchtbaren Geißeln der Menschheit ausgewachsen und führen uns in immer rascherem Tempo einem Zustand entgegen, der ganz offenkundig in die brutalste Barbarei ausmündet. Es ist der Wahnwitz dieses Systems, daß seinen Trägern die Maschine sozusagen zum Symbol geworden ist und sie bestrebt sind, jede menschliche Betätigung auf die seelenlose Bewegung des Apparates abzustimmen. Das geschieht heute überall: in der Wirtschaft, in der Politik, in der öffentlichen Erziehung, im Rechtsleben und auf allen anderen Gebieten. Dadurch wurde der lebendige Geist in den Käfig toter Begriffe gesperrt und den Menschen der Glaube beigebracht, daß das ganze Leben nichts anderes sei als ein automatisches, ruckweises Bewegen am laufenden Band des Geschehens. Nur aus einem solchen Geisteszustände konnte jener herzlose Egoismus hervorgehen, der über Leichen schreitet, um seiner Gier zu frönen, und jenes ungezügelte Machtgelüste, das mit dem Schicksal von Millionen spielt, als wären es tote Zahlenreihen und nicht Wesen aus Fleisch und Blut. Und dieser Zustand ist auch die Ursache jener sklavischen Ergebenheit, der seine eigenen Opfer dazu bewegt, jede Demütigung ihrer Menschenwürde mit stumpfer Gleichgültigkeit und ohne nennenswerten Widerstand hinzunehmen.
Die Ungeheuerlichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise hat besonders nach dem ersten Weltkriege einen Charakter angenommen, der auch dem Blindesten die Augen öffnen müßte. Die kapitalistische Welt beherbergt heute Millionen Arbeitslose, die zusammen mit ihren Familien der Bevölkerung eines modernen Großstaates gleichkommen. Und während diese Menschen im Zustande eines ewigen Dauerelendes dahinvegetieren und vielfach nicht in der Lage sind, die elementarsten Bedürfnisse des Lebens befriedigen zu können, vernichtete man in vielen Ländern unter der direkten Anleitung der Regierung ungeheure Quantitäten von Lebensmitteln, für die sich kein Absatz fand, weil die Kaufkraft der Ärmsten im Volke zu gering war.[166] Wenn unsre Zeit noch Recht von Unrecht unterscheiden könnte, so müßte diese schnöde Verachtung alles Menschentums das soziale Gewissen der Menschen aufrütteln und sie zum Einschreiten gegen solche Ungeheuerlichkeiten zwingen. Doch wir registrieren einfach die Tatsachen, und die meisten fühlen nicht einmal den grausamen Sinn der großen Menschentragödie, die sich tagtäglich vor ihren Augen abspielt.
Als die ersten Anzeichen der großen Wirtschaftskrise in Europa sich bemerkbar machten, dachte man nicht etwa daran, nach neuen Wegen Ausschau zu halten, sondern verlegte sich einfach darauf, die Selbstkosten der Produktion zu senken, indem man eine gründliche Rationalisierung der Wirtschaft vornahm, ohne sich auch nur den kleinsten Gedanken darüber zu machen, wie sich die unvermeidlichen Folgen eines so gefährlichen Experiments für die werktätige Bevölkerung auswirken mußten. In Deutschland unterstützten sogar die Gewerkschaften diesen verhängnisvollen Plan der Großindustriellen in vollem Umfange, indem man den Arbeitern einredete, daß die Krise nur auf diesem Wege behoben werden könne. Die Arbeiter glaubten auch zunächst daran, bis es ihnen am eigenen Körper fühlbar wurde, daß man sie getäuscht und dem schlimmsten Elend preisgegeben hatte. Auch damals zeigte es sich, wie wenig es den Kapitalgewaltigen auf die Person des Menschen ankommt. Man hat den Menschen rücksichtslos der Technik geopfert, ihn zur Maschine degradiert, zur wesenlosen Produktionskraft umgeschaffen, ihn aller Züge seines Menschentums entkleidet, damit der Arbeitsprozeß sich möglichst reibungslos und ohne innere Hemmungen vollziehe.
Und doch zeigt sich heute immer deutlicher, daß auf diesem Wege dem Menschen keine neue Zukunft erstehen kann, ja, daß sich die sogenannte Rationalisierung immer mehr zu einem Fehlschlag aller früheren Berechnungen auswirkt. So erklärte Professor Felix Krüger, der Leiter des Instituts für Psychologie in Leipzig, bereits vor zwölf Jahren, daß das vielgepriesene Taylorsystem und die sogenannte Rationalisierung der Industrie einer Laboratorium-Psychologie entsprungen seien, deren wirtschaftliche Fehlschläge immer unverhüllter in die Erscheinung treten. Krüger vertrat den Standpunkt, daß nach allen bisher gemachten Erfahrungen es heute feststehe, daß die naturgemäße, vom inneren Rhythmus der Arbeit getragene Bewegung weniger ermüde als ein zwangsläufig festgelegtes Arbeiten, da das Handeln des Menschen seinen Ursprung in der Seele fände, die man auf kein bestimmtes Schema festlegen könne.
Diese Erfahrung hat sich seitdem immer wieder bestätigt. Trotzdem glaubt man noch immer, der Krise auf dem Gebiete der Produktion beikomme zu können. Die sogenannte Technokratische Schule in Amerika hat seitdem an der Hand eines umfangreichen Tatsachenmaterials, das sich auf genaue wissenschaftliche Beobachtungen stützt, den Nachweis erbracht, daß unsere Produktionsmöglichkeiten in der Tat fast unbegrenzt sind, ja, daß sogar die hohe Leistungsfähigkeit der heutigen Wirtschaft zu unserem technischen Können in gar keinem Verhältnis steht, da eine volle Anwendung aller technischen Errungenschaften unter dem heutigen System zu einer unmittelbaren Katastrophe führen müßte. Howard Scott und seine 350 wissenschaftlichen Mitarbeiter sind daher der Meinung, daß diese drohende Katastrophe nur dadurch vermieden werden kann, daß man die Männer der Technik mit der Führung der Wirtschaft beauftragt und eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit auf sechzehn Stunden die Woche vornimmt.
Daß eine erhebliche Verkürzung der Arbeitszeit ein Mittel sein könnte, die bestehende Wirtschaftskrise einzudämmen und die Wirtschaft selbst in einigermaßen normale Bahnen zurückzuleiten, wurde schon früher behauptet; doch wäre es ein Selbstbetrug, zu glauben, daß damit die große Frage der Zeit gelöst werden könne. Das heutige Wirtschaftsproblem ist weniger eine Frage der Produktion als des Verbrauchs. Es war diese Erkenntnis, die bereits Robert Owen Adam Smith entgegenstellte; darin erschöpft sich die ganze wirtschaftliche Bedeutung des Sozialismus überhaupt. Daß die Männer der Wissenschaft und Technik der Produktion ungeheure Möglichkeiten erschlossen haben, wird von keinem bestritten und bedarf keiner besonderen Begründung. Aber unter dem heutigen System wirkt sich jede Errungenschaft der Technik zu einer Waffe des Kapitalismus gegen das Volk aus und erzielt gerade das Gegenteil von dem, was sie erzielen sollte. Jeder technische Fortschritt hat dem Menschen die Arbeit bisher nur schwerer und drückender gemacht und seine wirtschaftliche Sicherheit mehr und mehr untergraben. Das wichtigste Problem der Wirtschaft ist heute nicht, die Produktion durch neue Erfindungen und bessere Arbeitsmethoden fortgesetzt zu steigern und ertragsreicher zu gestalten, sondern dafür Sorge zu tragen, daß die Errungenschaften des technischen Könnens und der Ertrag der Arbeit allen Mitgliedern der Gesellschaft in gleicher Weise zugute kommen.
Unter dem heutigen System, das den Gewinn einzelner und nicht die Zufriedenstellung der Bedürfnisse aller zum Angelpunkt der Wirtschaft gemacht hat, ist dies völlig ausgeschlossen. Die Entwicklung der Privatwirtschaft zur Monopolwirtschaft hat diese Aufgabe noch schwieriger gestaltet, denn sie hat den einzelnen Wirtschaftsgebilden eine Macht in die Hände gespielt, die weit über die Grenzen des Wirtschaftlichen hinausgeht und die Gesellschaft völlig den Machtgelüsten und der rücksichtslosen Ausbeutung der modernen Trustokratie ausliefert. Welchen Einfluß die Könige der Hochfinanz und der großen Industriekonzerne heute auf die Politik der Staaten ausüben, ist zu bekannt und bedarf keiner besonderen Erläuterung.[167]
Aber auch der Staatssozialismus, von dem heute so viel die Rede ist, ist kein Ausweg aus der geistigen und materiellen Not der Zeit; er würde im Gegenteil die Welt erst recht in ein Zuchthaus verwandeln und jedes Gefühl der Freiheit im Keime ersticken, wie dies heute in Rußland der Fall ist. Wenn es trotzdem heute Sozialisten gibt, die im Staatskapitalismus eine höhere Form der Wirtschaft erkennen wollen, so beweist das nur, daß sie sich weder über das Wesen des Sozialismus noch über das Wesen der Wirtschaft jemals richtig klargeworden sind. Kapitalistisch gedacht, das heißt anerkennend, daß der Mensch der Wirtschaft wegen und nicht die Wirtschaft des Menschen wegen da ist, mag der Staatskapitalismus immerhin eine höhere Form der Wirtschaft darstellen, sozialistisch gedacht aber ist eine solche Auffassung die grausamste Versündigung am Geiste des Sozialismus und der Freiheit. Doch auch rein wirtschaftlich betrachtet ist die ungeheuerliche Steigerung des Zwanges auf die produktive Betätigung, die jedem Staatskapitalismus zugrunde liegt, gleichbedeutend mit einer Abnahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Menschen. Sklavenarbeit hat die Wirtschaft nie gefördert, denn sie raubte ihr den seelischen Anreiz und das Bewußtsein des schöpferischen Tuns. Als die Sklaverei in Rom am höchsten florierte, ging die Ertragfähigkeit des Bodens immer mehr zurück und führte zuletzt zu einer allgemeinen Katastrophe. Dieselbe Erfahrung machte man in der Zeit der Feudalherrschaft; je unerträglichere Formen die Leibeigenschaft in den Ländern Europas angenommen hatte, desto kümmerlicher wurden die Erträgnisse der Arbeit, desto mehr verödete das Land. Es gilt die Arbeit von den Ketten der Abhängigkeit zu befreien, nicht ihre Fesseln fester zu schmieden.
Eine gründliche Umgestaltung des heutigen Wirtschaftssystems, die eine wirkliche Lösung des Problems im Auge hat, läßt sich nur durch die Beseitigung sämtlicher wirtschaftlicher Monopole und Privilegien erwirken, die heute einer kleinen Minderheit in der Gesellschaft zugute kommen und diesen Auserwählten die Möglichkeit verschaffen, ihre brutale Interessenwirtschaft den breiten Massen des Volkes aufzuzwingen. Nur durch eine gründliche Reorganisation der Arbeit auf genossenschaftlicher Grundlage, die keinem anderen Zwecke dient, als die Bedürfnisse aller zu befriedigen, anstatt wie heute die Gewinne einzelner zu häufen, kann das heutige Wirtschaftschaos überwunden und der Weg zu einer höheren sozialen Kultur freigelegt werden. Es gilt, den Menschen von der Ausbeutung des Menschen zu befreien und ihm die Frucht seiner Arbeit zu sichern. Nur dann wird es möglich sein, jede neue Errungenschaft der Technik dem Wohle aller dienstbar zu machen und zu verhindern, daß das, was allen zum Segen gereichen sollte, den meisten zum Fluche wird.
Ebenso wie es Minderheiten innerhalb einer wirklichen Volksgemeinschaft nicht gestattet werden kann, die lebenswichtigen Rohstoffe und Produktionsmittel für ihre Sonderinteressen zu monopolisieren, darf es auch in einer neuen Gemeinschaft keiner bestimmten Menschengruppe als Ganzem erlaubt sein, Monopole auf Kosten anderer Menschengruppen zu errichten, um diese ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung dienstbar zu machen. Die ganze Tendenz des Kapitalismus, besonders seitdem er in die imperialistische Phase seiner Entwicklung eingetreten ist, ist ja gerade deshalb so hoffnungslos volksfeindlich und für das Wohl und Wehe der Gesellschaft so ungemein schädlich, weil seine Träger mit allen Mitteln danach streben, alle natürlichen Reichtümer der Macht ihrer Monopole zu unterwerfen, um die Menschen in die Ketten wirtschaftlicher Abhängigkeit zu schmieden. Und das geschieht stets im Namen der Nation, und jede Seite rechtfertigt diese Wegelagererpolitik, indem sie sich auf die nationalen Belange beruft, die ihre wahren Absichten verdecken müssen.
Was wir erstreben, ist nicht Weltausbeutung, sondern Weltwirtschaft, in der jede Volksgruppe ihren natürlichen Platz findet und dieselben Rechte genießt wie alle anderen. Deshalb ist die Internationalisierung der Bodenschätze und Rohstoffgebiete eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Bestand einer nach freiheitlichen und solidarischen Grundsätzen aufgebauten Gesellschaftsordnung. Durch gemeinschaftliche Verträge und gegenseitige Vereinbarungen muß die Nutznießung der Naturschätze allen menschlichen Gruppen gesichert werden, wenn nicht neue Monopole entstehen und demzufolge neue Klasseneinteilungen und wirtschaftliche Versklavung Platz greifen sollen. Es gilt, eine neue Gemeinschaft der Menschen ins Leben zu rufen, die in der Gleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen ihre Wurzel findet und alle Glieder der großen Kulturgemeinschaft über die Grenzen der heutigen Staaten hinaus durch solidarische Bande miteinander verknüpft. Auf der Basis des heutigen Wirtschaftssystems gibt es keine Erlösung aus der Sklaverei unserer Zeit, sondern nur ein immer tieferes Versinken in einen Zustand sozialer und wirtschaftlicher Abhängigkeit und eines Schreckens ohne Ende. Die menschliche Gesellschaft muß den Kapitalismus überwinden, wenn sie sich nicht selber aufgeben will.
Wie der Kapitalismus immer gefährlicher wurde, je stärkere Wirtschaftskräfte sich in den Händen seiner Träger zusammenballten und ihnen eine Macht verschafften, die sie zu Herren über Leben und Tod ganzer Völker machte, so treten auch die furchtbaren Übel der modernen Staatsorganisationen mit der Vergrößerung des Staates und der steten Erweiterung seiner Machtbefugnisse immer deutlicher in die Erscheinung. Der moderne Großstaat, der sich parallel mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickelt hat, hat sich heute zu einer stets drohenden Gefahr für den Bestand der Gesellschaft überhaupt ausgewachsen. Nicht genug, daß diese ungeheuerliche Maschine zum größten Hindernis aller freiheitlichen Bestrebungen der Menschen geworden ist, die mit ihren stählernen Gliedern alles gesellschaftliche Leben in die toten Formen vorgeschriebener Verordnungen zwingt; die Erhaltung der Maschine selbst verschlingt auch den größten Teil aller Staatseinnahmen und entzieht der geistigen Kultur mehr und mehr alle materiellen Vorbedingungen ihrer weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. – In seinen Betrachtungen über Europa und seine Völker bemerkte Lichtenberg einst:
«Wenn man auf einer entfernten Insel einmal ein Volk anträfe, bei dem alle Häuser mit scharf geladenen Gewehren behängt wären und man beständig des Nachts Wache hielte, was würde ein Reisender anders denken können, als daß die ganze Insel von Räubern bewohnt wäre. Ist es aber mit den europäischen Reichen anders?»
Seitdem sind nahezu hundertfünfzig Jahre verflossen. Der gute Lichtenberg! Was er wohl heute sagen würde, wenn er Europa sehen könnte? Die sogenannte Landesverteidigung allein, die dem Staate obliegt, das heißt die stehenden Heere, die Rüstungsausgaben und alles, was mit dem Kapitel Krieg und Militarismus zusammenhängt, verschlingen heute in jedem Staate 40 bis 60 Prozent aller Einnahmen, die durch Steuern, Zölle usw. aufgebracht werden müssen. In einem ausgezeichneten Schriftchen erklärt Lehmann-Rußbüldt, einer der ausgesprochensten Gegner des modernen Rüstungskapitals:
«Rechnet man also rund jährlich 50.000 Millionen Reichsmark auf das Konto Krieg, so entfällt davon die Hälfte auf die Folgen des alten Weltkrieges und die andere Hälfte auf die Vorbereitung neuer Kriege. Auf den Tag des Jahres ergibt das rund 140.000.000 Reichsmark. Das ist der Haushalt des Jahres einer Großstadt, der täglich vom Moloch Weltmilitarismus ohne produktive Gegenleistung verschlungen wird. 50 Prozent der Staatseinnahmen für das Konto Krieg ergeben sich sogar für die kleine nicht in den Weltkrieg verwickelte neutralisierte Schweiz. Bei der Sowjet-Union liegt die Grenze unter 50 Prozent, aber hauptsächlich nur deshalb, weil sie die Kriegsschuldenzinsen radikal strich. Aber auch in der Sowjet-Union sind die Ausgaben für das Konto Krieg größer als die Ausgaben für Schule und Bildung. Das ist so gut wie in allen Ländern der Fall – nur z. B. nicht in Andorra, Costa Rica, Island.»[168]
Rußbüldt rechnet aus, daß, während die Kosten der Erziehung eines Menschen bis zum sechzehnten Lebensjahre, das heißt bis zum Beginn der Erwerbsfähigkeit, sich auf mindestens 8.000 bis 15.000 Reichsmark belaufen, je nachdem man außer den Kosten der Ernährung und Kleidung im Elternhause die Kosten der Gemeinde und des Staates hinzurechnet, kostet es 100.000 Reichsmark, einen Menschen im Kriege totzuschlagen, wovon auf die Rüstungsindustrie die Hälfte, d. h. ein Reingewinn von 50.000 Reichsmark entfällt.
Die materiellen Verluste, die der erste Weltkrieg den Völkern gebracht hat, sind so phantastisch, daß sie dem Menschenhirne nichts mehr sagen, soweit es sich um Gesamtsummen handelt. Man begreift im besten Falle, daß diese astronomischen Ziffern etwas Außerordentliches vorstellen, aber das ist auch alles; auch das menschliche Begriffsvermögen hat schließlich seine Grenzen. Das Verständnis für das Ungeheuerliche, das in diesen toten Zahlen zum Ausdruck gelangt, kann dem Menschen nur durch eine Art Anschauungsunterricht beigebracht werden.[169]
Wer angesichts dieses ungeheuerlichen Tatsachenmaterials noch immer glaubt, daß der Staat mit seinen bis an die Zähne bewaffneten Armeen, seinem Heere von Bürokraten, seiner Geheimdiplomatie und seinen unzähligen, auf die Verkrüppelung des Menschengeistes eingestellten Institutionen dem Menschen zum Schutze dient, dem ist überhaupt nicht zu helfen. In Wirklichkeit ist die Existenz der modernen Großstaaten eine stete Gefahr für den Frieden, eine ständige Anregung zum organisierten Völkermord und zur Verwüstung aller kulturellen Errungenschaften. Außer diesem kostspieligen Schutz, den der Staat seinen Bürgern gewährt, schafft er nichts Positives; wohl aber stellt er jede kulturelle Errungenschaft sofort in den Dienst der Zerstörung, so daß sie den Menschen nicht zum Segen, sondern zu einem fortgesetzten Fluche wird.
Die Geschichte des Staates ist die Geschichte menschlicher Unterdrückung und geistiger Entmündigung. Es ist die Geschichte unbegrenzter Machtbestrebungen kleiner Minderheiten, die mit der Versklavung und Ausbeutung der Völker erkauft werden mußten. Je tiefer der Staat mit seinen unzähligen Organen in alle Betätigungsgebiete des gesellschaftlichen Lebens eindringt, je mehr es seinen Trägern gelingt, die Menschen in geistlose Automaten seines Willens umzuformen, desto unabwendbarer gestaltet sich die Welt zu einem großen Gefängnis, in dem zuletzt kein Hauch der Freiheit mehr zu verspüren sein wird. Die Zustände in Rußland, Italien, Ungarn, Polen, Österreich, Deutschland usw. sprechen eine zu beredte Sprache, als daß man sich noch länger über die unvermeidlichen Folgen einer solchen Entwicklung täuschen könnte. Daß der Menschheit auf diesem Wege keine bessere Zukunft erblühen kann, ist für jeden klar, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen. Was heute am gesellschaftlichen Horizont Europas und der Welt heraufzieht, ist die Diktatur des Ungeistes, der da glaubt, die ganze Gesellschaft auf das tote Räderwerk einer Maschine einstellen zu können, deren Gleichgang alles Organische erstickt und die Seelenlosigkeit der Mechanik zum Prinzip erhebt. Täuschen wir uns nicht: es ist nicht die Form des Staates, es ist der Staat selbst, der das Übel schafft und fortgesetzt nährt und fördert. Je mehr das Staatliche das Gesellschaftliche im Leben der Menschen verdrängt oder unter seine Botmäßigkeit zwingt, desto rascher löst sich die Gesellschaft in ihre einzelnen Bestandteile auf, die jede innere Bindung miteinander verlieren und entweder im blöden Zwiespalt der Interessen rücksichtlos aufeinanderprallen oder sich haltlos vom Strome treiben lassen, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, wohin er sie treiben wird.
Je weiter dieser Zustand der Dinge schreitet, desto schwerer wird es sein, die Menschen zu einer neuen Gemeinschaft zusammenzufassen und sie zu einer Erneuerung ihres sozialen Lebens anzuregen. Der Wahnglaube an die Diktatur, der sich heute wie eine Pest über Europa verbreitet, ist nur die reife Frucht jener geistlosen Staatsgläubigkeit, die man den Menschen seit vielen Jahrzehnten eingepflanzt hat. Nicht das Regieren der Menschen, sondern das Verwalten der Dinge ist das große Problem, das unserer Zeit gestellt ist und das innerhalb der großen Staatsverbände nie gelöst werden kann. Nicht darauf kommt es an, wie wir regiert werden, sondern daß wir regiert werden; denn dieses ist ein Zeichen unserer Unmündigkeit, die uns verhindert, unsere Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Wir erkaufen den Schutz des Staates mit unserer Freiheit, um wenigstens das Leben zu erhalten, und sehen nicht ein, daß es dieser Schutz ist, der uns das Leben zur Hölle macht, dem nur die Freiheit Würde und innere Kraft verleihen kann.
Es gibt heute nur allzu viele, welche das Übel der Diktatur an sich erkannt haben; aber sie trösten sich mit dem fatalistischen Glauben, daß sie als Übergangsstadium unvermeidlich sei, daß es sich dabei um die sogenannte proletarische Diktatur handelt, die den Menschen angeblich den Sozialismus bringen soll. Waren die Gefahren, welche den jungen kommunistischen Staat in Rußland von allen Seiten bedrohten, nicht eine moralische Rechtfertigung für die Diktatur? Und mußte man nicht annehmen, daß die Diktatur freieren Zuständen Platz machen würde, sobald diese Gefahren überwunden und der proletarische Staat innerlich gefestigt sei?[170]
Seitdem sind nahezu zwanzig Jahre ins Land gegangen. Rußland ist heute der stärkste militärische Staat Europas und mit Frankreich und anderen Staaten durch starke Allianzen zur gegenseitigen Sicherheit verbunden. Der bolschewistische Staat wurde nicht nur von allen anderen Mächten anerkannt, er ist heute auch in allen Körperschaften der internationalen Weltdiplomatie vertreten und ist zur Zeit keinen größeren äußeren Gefahren ausgesetzt als jeder andere Großstaat Europas. Aber die inneren politischen Zustände in Rußland haben sich nicht geändert; sie sind von Jahr zu Jahr schlimmer geworden und haben jede Hoffnung für die Zukunft zuschanden gemacht. Die Zahl der politischen Opfer wurde mit jedem Jahre größer. Zwischen ihnen befinden sich viele Tausende, die seit den letzten fünfzehn Jahren von Kerker zu Kerker geschleppt oder ums Leben gebracht wurden, nicht weil sie gegen das bestehende System mit den Waffen in der Hand revoltierten, sondern lediglich dafür, weil sie die vom Staate vorgeschriebene Gesinnung nicht aufzubringen vermochten und über die Lösung der sozialen Probleme anderer Meinung waren als die herrschenden Gewalthaber.
Dieser Zustand läßt sich nicht durch den Druck äußerer Verhältnisse erklären, wie sich so viele naiverweise eingeredet haben. Er ist das logische Ergebnis einer durch und durch freiheitsfeindlichen Gesinnung, die für die Rechte und die Überzeugung des Menschen nicht das geringste Verständnis besitzt. Es ist die Logik des totalitären Staates, die dem Einzelwesen nur so viel Existenzberechtigung zuspricht, wie sie dem Räderwerke der politischen Maschine dienlich ist. Ein System, das die Freiheit als bürgerliches Vorurteil in Verruf brachte, konnte nicht zu anderen Ergebnissen gelangen. Es mußte auf seinem Wege die Unterdrückung jeder freien Meinungsäußerung zum Grundprinzip des Staates erheben und Schafott und Gefängnis zum Eckstein seiner Existenz machen. Mehr als das: Es mußte auf diesem verhängnisvollen Wege weiter gehen als irgendein reaktionäres System der Vergangenheit. Seine Träger begnügten sich nicht damit, ihre revolutionären und sozialistischen Gegner unschädlich zu machen, sie zur Richtstätte zu schleppen oder lebendig zu begraben, sie sprechen ihren Opfern auch die Ehrlichkeit der Gesinnung und die Lauterkeit ihres Charakters ab und schrecken vor keinem Mittel zurück, sie der Welt als Halunken und erkaufte Werkzeuge der Reaktion darzustellen.
Die Männer und Frauen, die im zaristischen Rußland gefangen saßen, galten der freiheitliebenden Welt als Märtyrer ihrer Gesinnung. Sogar die Kerkerwächter des Zarismus hatten nicht den Mut, ihre Ehre anzutasten oder ihre innere Überzeugung in Frage zu stellen. Die Opfer der sogenannten proletarischen Diktatur aber werden von ihren Unterdrückern in schamloser Weise geschmäht und verlästert und der Welt als Abschaum der Gesellschaft vorgeführt. Und Hunderttausende blinder Fanatiker in allen Ländern, deren armes Hirn lediglich auf den Rhythmus der Moskauer Walze eingestellt ist, die jede Fähigkeit zum eigenen Denken längst verloren oder niemals besessen haben, schwätzen gedankenlos nach, was ihnen von den russischen Gewalthabern vordiktiert wird.
Wir haben es hier mit einer Reaktion zu tun, die tiefer geht und in ihren Folgen verhängnisvoller wirkt als jede politische Reaktion der Vergangenheit. Denn die Reaktion unserer Zeit ist nicht verkörpert in bestimmten Regierungssystemen, die den Gewaltmethoden kleiner Minderheiten entsprungen sind. Die Reaktion von heute, das ist der blinde Glaube breiter Massen, der auch die schmählichste Vergewaltigung jedes Menschenrechtes bedingungslos gutheißt, solange sie von einer bestimmten Seite begangen wird, und alles kritiklos verurteilt, das von jener Seite als falsch und ketzerisch verdammt wird. Der Glaube an die politische Unfehlbarkeit der Diktatoren ersetzt heute den Glauben an die religiöse Unfehlbarkeit der katholischen Päpste und führt moralisch zu denselben Ergebnissen. Gegen die Macht reaktionärer Ideen läßt sich streiten, solange man an die Vernunft und das menschliche Empfinden appellieren kann. Gegen den blinden Fanatismus gedankenloser Nachschwätzer, die jede ehrliche Überzeugung von vornhinein verdammen, weil sie selber keine Spur davon besitzen, ist jede Vernunft ohnmächtig. Hitler, Mussolini und Stalin sind nur die Symbole dieses blinden Glaubens, der alles rücksichtslos verurteilt, das seiner Gewalt widerstrebt.
Die schmachvollen Justizkomödien gegen die sogenannten Trotzkisten in Moskau sind blutige Beispiele dafür. Jeder, der auch nur eine Spur eigener Urteilskraft besitzt, mußte erkennen, daß die eigentliche Tragödie jener unwürdigen Gerichtskomödien sich hinter den Kulissen der Prozesse abspielte. Die ältesten und hervorragendsten Führer einer Partei, alle vertraute Freunde des verstorbenen Lenin, überboten sich gegenseitig vor Gericht in grauenhaften Selbstbeschuldigungen, wie man sie bisher in keinem politischen Prozesse erlebt hatte. Einer suchte den anderen in der Beschreibung seiner eigenen Nichtswürdigkeit zu übertreffen, um vor der Welt als unwürdiges Werkzeug des Faschismus zu erscheinen; aber alle wiesen mit verblüffender Einstimmigkeit auf Trotzki als den eigentlichen Urheber ihrer angeblichen Verbrechen hin.
Was hat sich hinter den stummen Kerkermauern zugetragen, um diese Männer zu einer solch masochistischen Verleugnung ihrer Menschenwürde zu bewegen? Jeder Mensch, dem blinder Fanatismus die Urteilskraft nicht gelähmt hatte, mußte sich diese Frage vorlegen. Nicht so die Anhänger Moskaus. Die kommunistische Presse der ganzen Welt begrüßte die grauenhaften Urteile gegen diejenigen, die sie noch vor wenigen Jahren als die Heiligen des bolschewistischen Rußland feierte und die sie mit Stolz Kameraden nannte, als den Ausdruck höchster Gerechtigkeit und heulte Stalin ihren Beifall zu. Wäre in dem rein persönlichen Streite um die Besetzung des Diktatorpostens Trotzki als Sieger hervorgegangen und hätte Stalin hingerichtet, dieselben Leute würden heute ihm dieselbe sklavische Ergebenheit bezeugen, die sie jetzt seinem Nebenbuhler kundgeben.
Keine Bewegung ist gegen einzelne Verräter in ihren Reihen gesichert. Aber zu glauben, daß die große Mehrheit der prominentesten Führer einer Bewegung sich zum Verrate an allem, was sie früher gepredigt hatten, bereit fänden, dazu muß man mehr denn blind sein. – Und wenn die ungeheuerliche Anklage trotzdem auf Tatsachen beruhte? Dann um so schlimmer. Welches Urteil müßte man über eine Bewegung fällen, deren älteste und prominenteste Führer, die alle einmal die höchsten Stellen bekleideten, die die Partei zu vergeben hatte, im geheimen Dienste der Reaktion standen? Und wenn die große Mehrheit der alten Führer alle Verräter wären, wer bürgt dafür, daß die drei oder vier von der alten Garde, die heute noch am Leben sind, aus besserem Stoffe gemacht sind? – Nein, auch hier bewahrheitet sich nur dasselbe Gesetz, das jeder Diktatur zugrunde liegt: Der Diktator kann nicht eher Ruhe finden, bis er sich von allen unbequemen Mitbewerbern befreit hat. Dieselbe innere Logik, die Robespierre dazu zwang, seine Freunde von gestern dem Henker auszuliefern, dieselbe Logik, die Hitler dazu bewegte, in der Blutnacht des 30. Juni 1934 seine intimsten Kameraden aus dem Wege zu räumen, dieselbe Logik brachte heute Stalin dazu, sich der sogenannten Trotzkisten zu entledigen, weil er Furcht hatte, daß sie seiner Macht gefährlich werden könnten. Für jeden Diktator ist der tote Gegner der beste Gegner.
Aber auch an den Opfern hat sich dasselbe Schicksal vollzogen, das sie früher, als sie noch an der Macht waren, ihren Gegnern von anderen Richtungen sooft bereitet hatten. Sie waren Geist vom selben Geiste und Blut vom selben Blute, inspiriert von derselben Machtbesessenheit wie ihre Henker, die jedes Gesetz der Menschlichkeit mit Füßen traten, um ihre eigene Macht zu festigen. Man hat ihnen nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre geraubt und ihre Namen mit dem Odium des Verrates belastet. Aber auch Trotzki, der 1921 die Matrosen und Arbeiter von Kronstadt abschlachten ließ – 14.000 Männer, Frauen und Kinder –, begnügte sich nicht damit, den Protest jener Pioniere der russischen Revolution im Blute zu ersticken; er und seine Mithelfer schreckten auch nicht davor zurück, ihre Opfer der Welt als Konterrevolutionäre und Verbündete des Zarismus zu denunzieren. Heute mußte er es erleben, von seinen gewesenen Freunden der Welt als Verbündeter Hitlers und Werkzeug des Faschismus vorgestellt zu werden. Das ist die Nemesis der Geschichte.
Derselben fatalistischen Auffassung, die da glaubt, die Diktatur als notwendiges Übergangsstadium zu besseren sozialen Zuständen nicht entbehren zu können, entspringt auch der gefährliche Glauben, der heute immer mehr Verbreitung findet, daß die Welt letzten Endes nur zwischen Kommunismus und Faschismus zu wählen habe, da jeder andere Ausweg ungangbar sei. Eine solche Auffassung der Dinge beweist nur, daß man sich über das eigentliche Wesen des Faschismus und des Kommunismus überhaupt nicht klargeworden ist und noch nicht begriffen hat, daß beide auf demselben Holze gewachsen sind. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, daß Kommunismus hier immer nur als Ausdruck des gegenwärtigen russischen Staatssystems zu bewerten ist, das von der ursprünglichen Bedeutung des Kommunismus als sozialen Systems wirtschaftlicher Gleichheit, über das hier kein Urteil gefällt werden soll, ebensoweit entfernt ist wie jedes andere Regierungssystem.
Daß die ursprünglichen Motive der bolschewistischen Diktatur in Rußland von denen der faschistischen Diktaturen in Italien und Deutschland verschieden waren, sei unbestritten. Aber einmal ins Leben getreten, führte die Diktatur in Rußland so wie in den faschistischen Staaten zu denselben unmittelbaren Ergebnissen, die in einer progressiv immer deutlicher zu Tage tretenden Ähnlichkeit beider Systeme ihren Ausdruck finden. Tatsache ist, daß die ganze innere Entwicklung des Bolschewismus in Rußland und die gesellschaftliche Gestaltung in den faschistischen Ländern heute eine Stufe erreicht haben, die, soweit die inneren Richtlinien in Betracht kommen, überhaupt keinen Gegensatz mehr zwischen beiden Systemen erkennen lassen. Es handelt sich heute bloß noch um Unterschiede sekundärer Natur, die sich auch zwischen dem Faschismus in Deutschland und Italien feststellen lassen und die in den besonderen Verhältnissen der Länder ihre Erklärung finden.
Rußland hat sich unter der Diktatur Stalins noch in einem höheren Maße zum totalitären Staat entwickelt als Deutschland und Italien. Die willkürliche und brutale Unterdrückung jeder anderen Richtung und jeder Meinungsfreiheit, die Unterstellung aller Gebiete des öffentlichen Lebens unter die eiserne Kontrolle des Staates, die Allmacht eines unbeschränkten und skrupellosen Polizeisystems, das in die intimsten Verhältnisse der Menschen eindringt und über jeden Atemzug des Einzelwesens wacht, die beispiellose Geringschätzung alles Menschenlebens, die vor keinem Mittel zurückschreckt, um unbequeme Elemente aus dem Wege zu räumen, dieses und vieles mehr hat im bolschewistischen Rußland denselben Umfang angenommen wie im Lande Hitlers und Mussolinis. Sogar die ursprüngliche internationale Tendenz der bolschewistischen Bewegung, die einst als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen dem russischen Staatskommunismus und den extrem nationalistischen Bestrebungen des Faschismus betrachtet werden konnte, ist unter Stalins Regime restlos verschwunden, um einer streng nationalistischen Erziehung der russischen Jugend den Platz zu räumen. Diese Jugend singt zwar bei feierlichen Gelegenheiten noch immer die Internationale, aber sie ist nichtsdestoweniger mit eisernen Ketten an die Interessen des nationalen Staates gebunden wie die faschistische Jugend Deutschlands und Italiens.
Von der anderen Seite ist der Faschismus in Deutschland und ganz besonders in Italien immer mehr auf die Wege des Staatskapitalismus geraten. Die Verstaatlichung des gesamten Kreditwesens in Italien, die stufenweise Unterordnung des ganzen Außenhandels unter die Kontrolle des Staates, die von Mussolini bereits angesagte Verstaatlichung der Schwerindustrie und vieles andere zeigen immer deutlicher die Tendenz einer staatskapitalistischen Entwicklung nach russischem Muster, eine Erscheinung, die den großkapitalistischen Helfershelfern des Faschismus nicht wenig Kopfzerbrechen verursacht. Ähnliche Erscheinungen treten heute auch in Deutschland immer mehr zutage. In Wirklichkeit sind diese Tendenzen nur das folgerichtige Ergebnis der Idee vom totalen Staate, der sich nicht eher zufrieden geben kann, als bis er sich alle Gebiete des sozialen Lebens gleichmäßig dienstbar gemacht hat.
Faschismus und Kommunismus sind daher nicht als Gegensätze zweier verschiedener Auffassungen vom Wesen der Gesellschaft zu bewerten, sie sind lediglich zwei verschiedene Formen derselben Bestrebungen, die nach demselben Ziele hinwirken. Daran ändert auch die mit so großem Pathos vorgetragene Kriegserklärung Hitlers gegen den Kommunismus nicht das geringste, denn jeder Einsichtige ist sich klar darüber, daß es sich hier nur um einen Propagandatrick handelt, um die bürgerliche Welt ins Bockshorn zu jagen. Sogar die rücksichtslose Brutalität, die sowohl den neuen Gewalthabern im bolschewistischen Rußland als auch in den faschistischen Staaten eigen ist, findet ihre Erklärung darin, daß sie alle Emporkömmlinge sind: der Parvenü der Macht aber ist um kein Haar besser als der Parvenü des Besitzes.
Daß Faschismus und Kommunismus überhaupt als Gegensätze aufgefaßt werden konnten, findet seine Erklärung hauptsächlich in der jämmerlichen Haltung der sogenannten demokratischen Staaten, die in ihrem Abwehrkampfe gegen die Flut des Faschismus sich mehr und mehr dessen Methoden aneignen und dadurch unvermeidlich immer tiefer in das Fahrwasser faschistischer Tendenzen geraten. Es wiederholen sich hier dieselben Vorgänge, die Hitler in Deutschland zum Siege verholfen haben. In ihrem Bestreben, dem «größeren Übel» durch das kleinere Einhalt zu gebieten, haben die republikanischen Parteien in Deutschland die konstitutionellen Rechte und Freiheiten immer mehr eingedämmt, bis von dem sogenannten Verfassungsstaate zuletzt kaum noch etwas übrigblieb. Tatsache ist, daß die Regierung Brüning zuletzt bloß noch mit Dekreten und unter Ausschaltung der gesetzgebenden Körperschaften regierte. Dadurch verwischten sich die Gegensätze zwischen Demokratie und Faschismus immer mehr, bis endlich Hitler der lachende Erbe der deutschen Republik geworden ist.
Doch die demokratischen Länder haben von diesem Beispiele anscheinend nichts gelernt und folgen mit fatalistischer Ergebenheit denselben Spuren. Das zeigte sich besonders deutlich in ihrer jammervollen Haltung den furchtbaren Geschehnissen in Spanien gegenüber. Eine Verschwörung machtlüsterner Offiziere erhob sich gegen eine vom Volke erwählte demokratische Regierung und entfesselte mit der Hilfe fremder Söldner und unter den Anweisungen Hitlers und Mussolinis einen mörderischen Krieg gegen das eigene Volk, der ein ganzes Land in eine Wüste verwandelt und bereits Hunderttausende von Menschenleben gekostet hat. Und während ein ganzes Volk mit heroischer Entschlossenheit sich gegen diese blutige Vergewaltigung seiner Rechte und Freiheiten zur Wehr setzt und gegen eine Handvoll gewissenloser Abenteurer einen Kampf führt, wie ihn die Welt selten gesehen hat, wußten die sogenannten Demokratien Europas nichts Besseres zu tun, als sich gegen diese schnöde Vergewaltigung aller Menschenrechte hinter einem lächerlichen Neutralitätspakt zu verschanzen, von dem man im voraus wußte, daß weder Hitler noch Mussolini ihn respektieren würden. Dabei wurde durch dieses Meisterstück der Diplomatie ein freiheitsliebendes Volk, das mit dem Leben seiner Söhne und Töchter für sein Recht eintritt, und seine feigen Henker, die dieses Recht in einem Sumpfe von Blut zu ersticken drohen, als gleiche Parteien angesehen und moralisch auf dieselbe Stufe gestellt. Kann man sich da noch wundern, wenn die Demokratie heute keine Zugkraft mehr gegen den Faschismus besitzt?
Seit Monaten sieht die Welt ruhig zu, wie die Hauptstadt eines Landes allen Schrecken des Krieges ausgesetzt ist und schutzlose Frauen und Kinder von faschistischen Barbaren niedergemacht werden. Und nirgends erhebt sich ein Wort des Protestes, das diesen Scheußlichkeiten Einhalt zu gebieten sucht. Die bürgerliche Demokratie ist altersschwach geworden und hat jedes Verständnis verloren für das, was sie einst zu verteidigen pflegte. Es ist diese moralische Abgestumpftheit und der Mangel an ethischen Idealen, der ihr die eigenen Schwingen lähmt und sie zwingt, Anleihen zu machen bei dem Feinde, der sie zu verschlingen droht. Der staatliche Zentralismus hat ihren Geist geknickt, ihre Initiative gelähmt. Das ist die Ursache, weshalb heute so viele glauben, zwischen Faschismus und Kommunismus wählen zu müssen.
Wenn es heute wirklich noch eine Wahl gibt, so ist es nicht die zwischen Faschismus und Kommunismus, sondern die Wahl zwischen Despotismus und Freiheit, zwischen brutalem Zwange und freier Vereinbarung, zwischen menschlicher Ausbeutung und kooperativer Wirtschaft für die Interessen aller.
Proudhon, Fourier, Pi y Margall und andere glaubten, daß das 19. Jahrhundert die Auflösung der großen Staatsverbände einleiten werde, um einer Epoche der Föderationen freier Bünde und Gemeinden den Weg zu bereiten. Sie haben sich in der Zeit getäuscht, aber in ihren Anschauungen recht behalten; denn die staatliche Zentralisation hat heute einen Umfang angenommen, der auch den Unbefangensten mit heimlichem Bangen für die Zukunft Europas und der Welt erfüllen muß. Nur ein föderalistisches Gesellschaftsgebilde, das sich auf gemeinsame Interessen aller stützt und dem das freie Übereinkommen aller menschlichen Gruppierungen zugrunde liegt, kann uns vom Fluche der politischen Maschine befreien, die sich vom Schweiße und Blute der Völker nährt.
Föderalismus ist organisches Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte von unten nach oben für ein gemeinschaftliches Ziel auf Grund frei eingegangener Verträge. Föderalismus ist nicht Zersplitterung der schöpferischen Betätigung, ist kein chaotisches Drunter und Drüber, sondern gemeinsames Arbeiten und Wirken aller Glieder für die Freiheit und das Wohlergehen aller. Es ist die Einheit des Handelns, welche der inneren Überzeugung entspringt und in der lebendigen Solidarität aller seinen Ausdruck findet. Er ist der Geist der Freiwilligkeit, der von innen nach außen wirkt und sich nicht im geistlosen Nachahmen toter Formen erschöpft, die keine persönliche Anregung aufkommen lassen. Zusammen mit dem Monopol des Besitzes muß auch das Monopol der Macht verschwinden, damit der Alpdruck von den Menschen weiche, der wie ein Berg auf unseren Seelen lastet und unserem Geiste die Schwingen bricht.
Befreiung der Wirtschaft vom Kapitalismus! Befreiung der Gesellschaft vom Staate! In diesem Zeichen werden die sozialen Kämpfe einer nahen Zukunft stattfinden, um einer neuen Ära der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität den Weg zu bahnen. Jede Bewegung, die den Kapitalismus in seinem Wesenskern trifft und nach der Befreiung der Wirtschaft von der Tyrannei der Monopole strebt; jede Initiative, die dem Staate seine Wirksamkeit streitig macht und nach dem Ausschalten der Macht aus dem Leben der Gesellschaft zielt, ist ein Schritt näher zur Freiheit und zum Werden einer neuen Zeit. Alles, was heute nach dem entgegengesetzten Ziele strebt, unter welcher Flagge das immer geschehen mag, stützt bewußt oder unbewußt die Bollwerke der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reaktion, die heute drohender das Haupt erhebt als je zuvor.
Was uns not tut, ist ein neuer humanitärer Sozialismus, der sich von allen Kollektivvorstellungen und vorgefaßten Dogmen befreit hat und den Menschen wieder zum Mittelpunkt alles sozialen Geschehens macht. Ein Sozialismus, der die Beherrschung des Menschen durch die Verwaltung der Dinge ersetzt und im ethischen Bewußtsein der Menschen wurzelt. Ein Sozialismus, der sich im kleinsten und im größten seiner großen Aufgabe bewußt bleibt und das Band der Menschheit wieder knüpfen wird, das nationaler Wahn zerrissen hat.
Und mit den Zwangseinrichtungen des Staates wird auch die Nation verschwinden, die nur Staatsvolk ist; damit wird der Begriff der Menschheit wieder einen neuen Sinn erhalten, der sich in jedem ihrer Teile kundgibt und aus der reichen Mannigfaltigkeit des Lebens sich erst das Ganze schaffen wird.
Das Gefühl der Abhängigkeit von einer äußeren Macht, dieser ewige Quell aller geistigen und sozialen Gebundenheit, die den Menschen stets an Vergangenes kettet und ihm den Pfad in eine neue Zukunft verstellt, wird einer neuen Erkenntnis der Dinge weichen müssen, die ihn endlich zum Herrn seines eignen Schicksals macht, der keinem anderen mehr Ketten anlegt, weil er selbst nicht länger Ketten tragen will.
Auch für den Sozialismus gilt es heute wieder, den Menschen zu entdecken, den er hinter einem Wuste toter Begriffe, hohler Verallgemeinerungen und schemenhafter Kollektivvorstellungen verloren hat. Gerade für ihn gilt das alte Goethewort mehr als für alle anderen:
Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.
Nachwort zur zweiten amerikanischen Ausgabe
Dieses Buch, dessen Vorarbeiten mich viele Jahre lang beschäftigten, die häufig durch andere Arbeiten unterbrochen wurden, wurde kurz vor dem Machtantritt der Nazis beendet und konnte deshalb nicht mehr in Deutschland erscheinen, obgleich alle technischen Vorbereitungen zur Drucklegung bereits getroffen waren. Die erste spanische Ausgabe erschien 1936-37 in drei Bänden im Verlag von Tierra y Libertad in Barcelona. Die erste englische Ausgabe wurde 1937 im Verlag von Covici-Friede in New York veröffentlicht. Eine holländische Ausgabe in drei Bänden kam 1939 in Amsterdam heraus. Die zweite spanische Ausgabe erschien 1942 im Verlag Imán in Buenos Aires. Ausgaben in jiddischer, portugiesischer und schwedischer Sprache werden gegenwärtig in Buenos Aires, São Paulo und Stockholm vorbereitet.
***
Mein Werk versuchte, in großen Umrissen die wichtigsten Ursachen des allgemeinen Niedergangs unserer Kultur zu schildern, die sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 immer stärker bemerkbar machten, um einige Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches in die ungeheuerliche Katastrophe des zweiten Weltkrieges auszumünden. Manches, was hier vorausgesagt wurde, ist später buchstäblich eingetroffen, was übrigens nicht schwer zu erkennen war, denn jeder, der versuchte, den Ursachen des großen Abstiegs tiefer nachzugehen, mußte zu ähnlichen Ergebnissen gelangen. Daraus aber ergeben sich ganz von selbst die Mittel und Wege, die heute allein noch imstande sind, eine allmähliche Gesundung herbeizuführen und die allgemeine soziale Entwicklung in Bahnen zu lenken, die eine ersprießliche und friedliche Zusammenarbeit der verschiedenen Völkergruppen ermöglichen. Es wird von den Menschen selbst abhängen, ob sie die furchtbaren Lehren der größten aller Katastrophen beherzigen werden und entschlossen sind, endlich Wege zu betreten, die ihnen eine neue Zukunft ihrer schmerzenreichen Geschichte erschließen können, oder ob sie das alte Spiel der Geheimdiplomatie, militärischer und politischer Bündnisse und einer uferlosen Machtpolitik fortsetzen wollen, die nur zu neuen Katastrophen und schließlich zum Untergang aller Kultur führen müssen.
Auch ein neuer Weg wird nicht leicht sein und ohne Zweifel die Arbeit mehrerer Generationen in Anspruch nehmen. Niemand darf erwarten, daß nach dem furchtbaren Chaos, das der vergangene Weltkrieg uns hinterlassen hat, der Menschheit plötzlich ein Millennium erstehen kann, das mit einem Schlage alle Wunden heilt und den Völkern eine neue Welt der Freiheit und Gerechtigkeit kampflos in den Schoß legen wird. Eine Katastrophe von so ungeheuerlichen Ausmaßen läßt sich nicht in wenigen Jahren überwinden. Das wüste Trümmerfeld, das wir als Erbschaft übernommen haben, kann nicht über Nacht aufgeräumt und frisch beackert werden. Die demoralisierenden Wirkungen, welche die Nazibarbarei und der Krieg selbst verursacht haben, lassen sich nicht mit einem Male aus der Welt schaffen.
Doch der Weg, den wir einschlagen, wird von entscheidender Bedeutung sein, und auf uns selbst wird es ankommen, ob dieser Weg in der Tat ein neuer Aufstieg oder bloß ein Irrweg sein wird. Es gab vielleicht nie eine Zeit in der Geschichte, wo der Menschheit als Ganzem mit solcher Dringlichkeit die Aufgabe gestellt wurde, ihr kommendes Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Im Vergleich mit dieser allgemeinen Aufgabe sind alle andern Fragen, auch die Frage, was mit Deutschland geschehen soll, die heute so viele beschäftigt, völlig bedeutungslos, denn auch ein neues Deutschland kann sich nur in einem neuen Europa und einer neuen Welt entwickeln. Sogar wenn Deutschland völlig zerschlagen und seine Bevölkerung dezimiert würde, wäre damit nichts gewonnen, solange man die Voraussetzungen der alten Machtpolitik unberührt läßt und nicht wagt, die eigentlichen Ursachen anzutasten, die zu dem blutigen Niedergang unsrer gesamten Zivilisation geführt haben. Durch eine einfache Verschiebung der Machtverhältnisse wird man niemals imstande sein, das Übel auszutilgen. Man beseitigt die Gefahr nicht, indem man sie auf ein anderes Gebiet verlegt. Die gleichen Ursachen erzeugen stets die gleichen Wirkungen. Diese Wirkungen können, je nach den Umständen, verschiedene Formen annehmen, aber diese berühren nicht den Kern des Übels, der stets dieselben Folgen nach sich zieht.
Auch der Glaube, daß durch den Zusammenschluß von drei oder fünf Großmächten die Frage gelöst werden könnte, beruht auf einer völligen Verkennung der Tatsachen. Ein solcher Zusammenschluß kann sogar unter den besten Umständen nur ganz bestimmte Aufgaben erfüllen, aber er kann die Gefahr nicht bannen, die uns bedroht, und bietet keinen Schutz gegen neue Katastrophen unsres sozialen Lebens. Er kann die kleineren Völker zwingen, sich vorläufig und gegen ihren Willen mit bestimmten Lebensformen abzufinden, solange einige Großmächte ihre Rechnung dabei finden, aber er zerfällt in dem Augenblick, wo die inneren politischen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den führenden Mächten schärfer hervortreten und zu einem neuen Chaos führen.
Das zeigt sich bereits heute schon, wenn die ganze Welt noch aus tausend Wunden blutet und Millionen Menschen dem nackten Hunger und dem furchtbarsten Elend ausgesetzt sind. Anstatt alle Kräfte darauf einzustellen, diese Wunden zu heilen und Millionen vor dem sicheren Tod oder unheilbarer physischer und geistiger Degeneration zu retten, um einen Neuaufbau in den kriegszerstörten Ländern zu ermöglichen und auf dem raschesten Wege wieder einigermaßen erträgliche Zustände herzustellen, die einer weiteren Entwicklung der Dinge förderlich sind, verhindert die bereits wieder so üppig ins Kraut geschossene Machtpolitik der Großstaaten diese vornehmste aller Aufgaben und legt schon heute die Keime neuer Zerwürfnisse, die sich nur katastrophal auswirken können.
Gerade zwischen Amerika, England und Rußland, den drei Ländern, die man zur Sicherung eines dauernden Friedens in der Welt besonders berufen glaubte, haben sich gleich im Beginn klaffende Gegensätze aufgetan, die jeden Tag unüberbrückbarer werden. Sogar wenn man, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall sein dürfte, diese Gegensätze vorläufig durch allerhand faule Zugeständnisse notdürftig zu verkleistern versuchen wird, so werden sie dadurch nicht aus der Welt geschafft, sondern müssen sich bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge immer weiter auswirken, bis endlich der offene Bruch unvermeidlich wird und die Völker, falls sie nicht frühzeitig der Weisheit ihrer Regierungen zuvorkommen, wiederum vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bis endlich die Atombombe vielleicht den Strich unter die Rechnung setzt und dem ganzen Spuk ein Ende macht. Von den Staatslenkern der Welt ist wohl kaum eine bessere Einsicht zu erwarten, und wenn die Völker nicht endlich selbst zur Einsicht gelangen, so ist bei einer solchen Selbstmordtaktik des politischen Wahnsinns wohl schwerlich ein anderes Ende vorauszusehen.
Dabei ist es eine besondere Ironie der Geschichte, daß gerade Rußland, das rote Vaterland des Proletariats, das Land der sozialistischen Wirklichkeit, wie es so häufig genannt wurde, in seinen unbegrenzten Expansionsbestrebungen den Imperialismus der westlichen Großmächte bei weitem übertrifft und durch seine unersättlichen Ansprüche fortgesetzt neue Gefahren heraufbeschwört, wenn diesen nicht rechtzeitig Halt geboten wird. Rußland, das größte Land der Erde, das ein Sechstel des gesamten Territoriums unseres Planeten umfaßt, hat sich bereits jetzt schon, teils durch den 1939 mit Hitler abgeschlossenen Geheimvertrag, teils durch militärische Operationen, einen Land- und Bevölkerungszuwachs verschafft wie kein anderes Land. Nach einem in der New York Times vom 14. März 1946 aufgestellten Bericht verteilt sich diese Territorialvergrößerung wie folgt:
Land | Quadratmeilen | Bevölkerung | |
---|---|---|---|
Zusammen | 274.947 | 24.354.500 | |
Litauen | 24.058 | 3.029.000 | |
Lettland | 20.056 | 1.950.000 | |
Estland | 18.353 | 1.120.000 | |
Bessarabien und Bukowina | 19.360 | 3.748.000 | |
Moldau-Distrikt | 13.124 | 2.200.000 | |
Karpatho-Ukraine | 4.922 | 800.000 | |
Ostpreußen | 3.500 | 400.000 | |
Finnisch-Karelien | 16.173 | 470.000 | |
Petsamo, Finnland | 4.087 | 4.000 | |
Tannu-Tuva (Zentralasien) | 65.000 | 64.000 | |
Süd-Sachalin | 14.075 | 415.000 | |
Kurilische Inseln | 3.949 | 4.500 |
Dazu kommen noch die Länder des östlichen Europa: Polen, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und im hohen Grade auch Ungarn und die Tschechoslowakei, die heute vollständig in den Bannkreis der Machtsphäre Rußlands geraten sind und ihm als Werkzeug dienen, seinen Einfluß immer weiter nach Süden und Westen auszudehnen. Nicht zu reden von den Ansprüchen, die der russische Staat auf Iran, gewisse Teile der Türkei, die dodonäische Inselgruppe und die frühere italienische Kolonie Libyen erhebt. Von den Expansionsbestrebungen Rußlands im Fernen Osten soll hier gar nicht gesprochen werden, da bei der Verworrenheit der dortigen Lage ein klares Bild heute noch kaum möglich ist. Daß ein Land mit einem so ungeheuren Ausdehnungsgebiet noch fortgesetzt neue Ansprüche auf weiteren Landzuwachs erhebt, sollte schließlich jedem, der zu eigenem Denken noch fähig ist, deutlich zum Bewußtsein bringen, daß ein solcher Weg nur zu einem neuen Abgrund führen muß und sicher nicht geeignet ist, der Welt den Frieden zu geben, den sie so dringend ersehnt.
Es wurde in diesem Buche wiederholt darauf hingewiesen, daß seit der Entstehung der nationalen Großstaaten in Europa jede dieser neuen Mächte zunächst versuchte, die lokalen Freiheiten und föderativen Bindungen, die aus dem sozialen Leben der Völker selbst hervorgegangen waren, durch gewaltsame Eingriffe und Zentralisierung aller Machtbefugnisse zu beseitigen und, nachdem sie dieses Ziel erreicht hatte, dazu überging, den neu errungenen Einfluß auf benachbarte Länder auszudehnen und sie ihren außenpolitischen Interessen gefügig zu machen. Machtpolitik kennt eben keine anderen Grenzen als die, welche ihr von einer stärkeren Macht gezogen werden, oder solche, die sie nicht mit einem Schlage überwinden kann. Doch der innere Drang nach politischer und wirtschaftlicher Hegemonie läßt keinen großen Staat zur Ruhe kommen und wirkt sich um so verderblicher aus, je besser ihm die Versklavung des eigenen Volkes gelungen ist. Tatsache ist, daß der Grad des Despotismus in einem Lande bisher noch stets der sicherste Maßstab gewesen ist für die Gefahr, mit der es andere Länder fortgesetzt bedrohte. Die ganze Geschichte der europäischen Großstaaten war seit Jahrhunderten ein fast ununterbrochener Kampf um die Hegemonie auf dem Kontinent, der für die stärkeren stets von einem zeitweiligen Erfolg begleitet war, bis ihm früher oder später durch neue Machtkombinationen oder andere Umstände ein Ziel gesetzt wurde. Aber nur, indem dieselben Bestrebungen bald wieder von einer anderen Großmacht aufgenommen wurden und sich nicht weniger verhängnisvoll auswirkten, was stets zu neuen Katastrophen führte.
Die immer stärker um sich greifende politische Zentralisation, die unausgesetzt versuchte, alle lokalen Rechte und Freiheiten zu erdrosseln und das ganze Leben eines Volkes auf bestimmte Normen zu bringen, weil dies den inneren und äußeren Machtbestrebungen seiner Gewalthaber am förderlichsten war, läßt sich fast ausschließlich auf diesen Kampf um die Hegemonie zurückführen. Das unvermeidliche Ergebnis dieser sinnlosen Versuche einer geistlosen Machtpolitik war dabei in fast allen Fällen das gleiche: nachdem es ihren Trägern gelungen war, durch fortgesetzte Bedrohungen und offene Kriege andere Völker ihrem Willen dienstbar zu machen, wurden sie endlich selber die Opfer ihrer unersättlichen Machtgelüste. Wenn England bisher eine Ausnahme dieser allgemeinen Regel darstellte, so ist dies einerseits darauf zurückzuführen, daß nach der Besiegung des fürstlichen Absolutismus sogar in den reaktionärsten Perioden seiner Geschichte die errungenen Freiheiten nie wieder ganz rückgängig gemacht werden konnten, und andererseits, daß seine politischen Vertreter bisher die einzigen geblieben sind, die aus den Erfahrungen der Geschichte manches gelernt und daraus Nutzen gezogen haben. Das erkannte auch Peter Kropotkin sehr klar, wenn er in einer Rede vor dem Bund der Föderalisten in Moskau am 7. Januar 1918 ausführte:
«Das Britische Reich gibt uns eine drastische Lehre. Beide Methoden wurden dort versucht: Föderalismus und Zentralismus, und die Ergebnisse von beiden lassen an handgreiflicher Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Angeregt durch den Einfluß der Liberalen Partei auf das englische Volk, erhielten die britischen Kolonien Kanada, Australien und Südafrika ihre volle Freiheit; nicht bloß in der Selbstverwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten, sondern eine vollständig selbständige politische Administration mit eigenen legislativen Körperschaften, eigener Finanz, eigenen Handelsverträgen und eigenen Armeen. Das Ergebnis war, daß diese Kolonien sich wirtschaftlich nicht nur glänzend entwickelten, sondern auch, wenn harte Zeiten für England anbrachen, sie sich mit solidarischer Bereitschaft ihrer alten Metropole annahmen und die schwersten Opfer brachten, als wenn es sich um eine ältere Schwester oder Mutter gehandelt hätte. Derselbe Geist machte sich auch auf den kleinen, sich selbst verwaltenden Inseln Jersey, Guernsey und Man bemerkbar, deren inneres Leben einen solchen Grad von Unabhängigkeit besitzt, daß für sie in Fragen des Grundeigentums noch immer das normannische Gesetz maßgebend ist und, soweit es sich um Beziehungen mit anderen Regierungen handelt, sie nicht erlauben, daß die in England noch immer bestehenden Zollbestimmungen für ausländische Waren auch ihnen aufgezwungen werden können. Eine solche Autonomie, die der Unabhängigkeit so nahekommt, und die daraus hervorgehenden föderativen Bindungen haben sich also als die sichersten Grundlagen einer inneren Einheit erwiesen. – Und auf der anderen Seite, welcher Kontrast in Irland, wo durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch die starke Hand von Dublin Castle, das heißt die Verwaltung eines General-Gouverneurs, das Parlament und die innere Organisation des Landes ersetzen mußte … Zentralismus ist nicht nur die Pest der Autokratie; er ruinierte auch die Kolonien Frankreichs und Deutschlands, während dicht dabei die englischen Kolonien blühen und gedeihen konnten, weil sie sich einer weitgehenden Autonomie erfreuten und sich heute allmählich zu einer Föderation von Völkern entwickeln.»
Anstatt diese kostbaren Lehren der Geschichte zu beherzigen und den eigentlichen Ursachen der größten Katastrophe, von der die Menschheit bisher betroffen wurde, auf den Grund zu gehen, erhält man immer mehr den Eindruck, daß sogar die westlichen Länder, die immerhin auf eine lange Überlieferung liberaler Gedankenströmungen zurückblicken können, die in den größten Epochen ihrer Geschichte eine bedeutende Rolle spielten, heute selbst immer tiefer in denselben Bannkreis derselben Anschauungen geraten, aus denen die Idee des totalen Staates hervorgegangen ist. Von Rußland soll hier gar nicht gesprochen werden, da es sich unter der sogenannten proletarischen Diktatur selbst zu einem vollständigen totalen Staatsgebilde ausgewachsen hat, dessen innere Einrichtungen später dem siegreichen Faschismus vielfach als Vorbild dienen mußten.
Aus diesen Vorstellungen, die heute immer weitere Kreise ziehen, ist auch der ebenso naive als gefährliche Glaube hervorgegangen, daß man in der Zukunft bewaffnete Konflikte dadurch ausschalten könnte, daß man die ganze Welt der Polizeikontrolle einiger Großmächte unterstellt, denen alle kleineren Länder auf Gedeih und Verderb unterworfen sind. Daß man sich, dem Drängen Rußlands nachgebend, sogar dazu entschließen mußte, alle derartigen Bestimmungen nur dann zu sanktionieren, wenn sie von den drei oder fünf Großstaaten einstimmig angenommen werden, und daß sogar der beste Vorschlag vereitelt werden kann, sobald eine dieser Großmächte von ihrem Vetorecht Gebrauch macht, macht die ganze Lage noch hoffnungsloser, da sich auf diese Weise jeder ernste Beschluß mit bestem Erfolg sabotieren läßt.
Wie sich ein solcher Zustand auswirkt, das zeigte sich bereits in den ersten Sitzungen des Rates der Vereinten Nationen, wo man gerade aus diesem Grunde zu keiner ernsten Beratung gelangen konnte und gezwungen war, die wichtigsten Fragen, von deren Entscheidung heute das Wohl und Weh von Millionen Menschen abhängt, immer wieder auf später zu verlegen. Vielleicht ist es gut so, daß diese Mißstände gleich von Beginn in die Erscheinung getreten sind, denn sie dürften manchen zu einer besseren Einsicht bringen und ihm zeigen, daß solche Einrichtungen nicht nur den elementarsten Prinzipien der Demokratie hohnsprechen, sondern daß auf diesem Wege auch nie ein ersprießliches Ergebnis zu erreichen ist. Denn auf diese Weise wird der Rat der Vereinten Nationen, auf den man so große Hoffnungen gesetzt hatte, nur zum ewigen Zankapfel einiger Großmächte, während die kleineren Länder überhaupt kaum etwas zu bestellen haben. Sogar, wenn man ihnen schon ja gestattet, ihre Beschwerden dem Rat vorzulegen, ist die Entscheidung immer nur von wenigen Mächten abhängig, auch wenn sie durch kein Veto verhindert wird, so daß die kleineren Völker dem Machtgebot der drei oder fünf Großen ausgeliefert sind, ohne dagegen einen wirksamen Einspruch erheben zu können. Was ihnen im besten Falle übrigbleibt ist, keinen Anstoß zu erregen und sich durch Willfährigkeit die Gunst derjenigen Großmacht zu erkaufen, deren Ansprüche ihnen in einer gegebenen Situation am gefährlichsten werden könnten. Damit aber bleiben die eigentlichen Grundlagen der Machtpolitik unberührt und folglich auch die unvermeidlichen Ergebnisse und Gefahren, die unabänderlich mit einem solchen Zustand der Dinge verbunden sind.
Die Befreiung von Furcht war eine der großen Forderungen der Atlantic Charta, von der schon lange nicht mehr gesprochen wird; aber gerade dieser Punkt, wie alle anderen Freiheiten, die seinerzeit mit soviel Nachdruck hervorgehoben wurden, klingt heute fast wie eine offensichtliche Verhöhnung. In der Tat, welches kleine Land wird angesichts der heutigen Lage den Mut aufbringen, den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen und alle Schikanen auf sich nehmen, die jeder Großstaat einem kleinen Lande zufügen kann? In den meisten Fällen wird man sich einfach einschüchtern lassen und sich lieber mit einer offenbaren Ungerechtigkeit abfinden, was den meisten noch immer vorteilhafter erscheinen mag, als sich als Versuchskaninchen in dem großen Wettstreit der Großen gebrauchen zu lassen. Wie die Dinge heute stehen, zeigt es sich immer deutlicher, daß ein dauernder Friede unter den Völkern innerhalb der enggezogenen Grenzen der heutigen Nationalstaaten überhaupt nicht ausführbar ist, auch wenn keiner vorläufig ernstlich daran denkt, einen neuen Krieg zu provozieren. Solange die Interessen aller hinter den Sonderinteressen des nationalen Staates zurücktreten müssen, ist eine wirkliche Lösung dieser wichtigsten aller Fragen undenkbar. Um Zeit zu gewinnen, wird man sich vorläufig zu allerhand Zugeständnissen bequemen müssen, bis die eine oder die andere Großmacht sich endlich so stark fühlt, auf weitere Rücksichten verzichten zu können, und es auf eine Machtprobe ankommen läßt, falls die andern ihr nicht aus dem einen oder dem andern Grunde kampflos das Feld abtreten.
Sogar die allgemeine Abrüstung, die früher so häufig in Aussicht gestellt wurde und angesichts der ganzen heutigen Lage die erste Voraussetzung einer wirklichen Friedenspolitik sein müßte, ist bereits völlig gegenstandslos geworden, nachdem Stalin in seiner Rede vom 9. Februar 1946 offen erklärte, daß die Stärkung und Ausbildung der Roten Armee die wichtigste Aufgabe sei, um die Grenzen Rußlands zu sichern, und vielleicht noch weitere drei oder mehr Fünfjahrespläne nötig seien, um dieses Ziel zu erreichen. Das heißt mit dürren Worten aussprechen, daß die weitere Industrialisierung Rußlands nicht etwa auf Zwecke des Friedens und der Wohlfahrt des russischen Volkes eingestellt werden soll, sondern auf alle Eventualitäten eines neuen Krieges.
Diese Sprache ist nicht neu. Es sind genau dieselben Gründe, die Bismarck nach dem Kriege von 1870/71 ins Feld führte, um die Militarisierung des neuen Reiches zu rechtfertigen, und die Hitler später wiederholte, um Deutschland gegen die angeblichen Machtpläne feindlicher Staaten zu sichern. Es ist dieselbe Sprache, die bisher noch jeder Despot im Munde führte, um seine eigenen Eroberungspläne zu verschleiern. Bismarcks bewaffneter Friede, wie man es damals nannte, führte schließlich zu der Militarisierung von ganz Europa und legte die Grundlagen zu jenem verhängnisvollen Wettrüsten aller Völker, das letzten Endes die rote Sintflut des ersten Weltkrieges entfesselte. Kein Mensch mit etwas politischer Einsicht wird ernstlich zu behaupten wagen, daß sich die Dinge im Falle Rußlands anders auswirken könnten. Es ist derselbe alte Kampf um die Hegemonie in Europa und heute auch in Asien, nur daß die Rollen nunmehr vertauscht sind und die Diktatur des Kremls die Erbschaft Deutschlands übernommen hat.
Stalin hat bereits mehr aus dem vergangenen Kriege heimgetragen, als je ein russischer Zar zu erhoffen wagte, und da jedem Machtpolitiker der Appetit erst beim Essen kommt und er mit jedem verschlungenen Bissen bekanntlich größer wird, so ist vorläufig gar nicht abzusehen, mit welch weiteren Plänen die Träger des russischen Imperialismus schwanger gehen, denen das Spiel noch wesentlich erleichtert wird, da sie in jedem Lande über eine fanatische und organisierte Anhängerschaft verfügen, die sich ohne Bedenken als Werkzeug der russischen Außenpolitik gebrauchen läßt, während Hitler sich seine Quislings erst mühsam schaffen mußte.
Trotzdem gibt es bereits eine ganze Schule Intellektueller, von denen viele sogar auf den Namen Liberale Anspruch erheben – what is in a name? – welche die Ansprüche der bolschewistischen Autokratie zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, daß Stalin heute in Europa und Asien eine historische Mission erfülle und durch die Zerschlagung des großen Grundeigentums in den der russischen Machtsphäre unterworfenen Gebieten die Möglichkeiten einer neuen sozialen Entwicklung schaffe, wodurch der von dem westlichen Imperialismus geschaffene Status quo nicht wiederhergestellt werden könne. Um diese sonderbare Ansicht auch andern mundgerecht zu machen, verweist man auf die Rolle Napoleons und seiner Armeen, durch welche die Ideen der großen Revolution über alle Länder verbreitet und die Grundfesten des absoluten Regimes und seiner feudalistischen Einrichtungen gebrochen wurden.
Wer solche Betrachtungen anstellen kann, dem fehlt überhaupt jedes Augenmaß für geschichtliche Tatsachen. Die Französische Revolution war in der Tat der Heroldsruf einer neuen Zeit. Sie hat den fürstlichen Absolutismus zu Grabe geläutet und seine wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen in Trümmer geschlagen. Sie hat in der Erklärung der Menschenrechte die Grundlagen eines neuen Menschentums und eines neuen geschichtlichen Werdens in Europa niedergelegt, wie Jefferson in der Declaration of Independence in Amerika. Wenn auch die Ideen und Wünsche dieser beiden großen historischen Dokumente sich noch lange nicht erfüllt haben, so haben sie doch die besten Hoffnungen aller Völker angeregt und auf die ganze spätere Geschichte einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt, der bis heute nicht verschwunden ist und das Leben der Menschen auf neue Bahnen gelenkt hat. Es bleibt auch unbestritten, daß die Soldaten der französischen Heere, die in den Stürmen der großen Revolution aufgewachsen waren, ihren Geist durch alle Länder trugen und dem fürstlichen Absolutismus Wunden schlugen, von denen er sich nie wieder erholen konnte. Sogar Napoleon, der aus der Revolution hervorgegangen war, um sich später am schwersten an ihr zu versündigen, konnte dieser Verbreitung revolutionärer Ideen in Europa nicht Einhalt gebieten, die sich bis nach Rußland auswirkten und dort zu dem Aufstand der Dekabristen führten, die das Land von der Autokratie und ihren feudalen Bindungen befreien und sie durch eine freie Föderation russischer Völker ersetzen wollten.
Die Französische Revolution und ihre Auswirkungen in Europa waren in der Tat der Beginn einer neuen Periode in der Geschichte der europäischen Völker, die dem alten System des Absolutismus ein Ende setzte und neue Wege in die Zukunft bahnte. Sogar alle späteren sozialen Volksbewegungen, die über die wirtschaftlichen Ziele des Liberalismus und der politischen Demokratie hinausgingen und den Absolutismus aus seiner letzten Feste, der Wirtschaft, verdrängen wollten, waren das unmittelbare Ergebnis jener großen geistigen Strömungen, welche die große Revolution in allen Ländern ausgelöst hatte und die noch lange nicht zum Abschluß gekommen sind.
Wer aber versucht, die großen und unvergänglichen Ergebnisse dieses mächtigsten Ereignisses der modernen Geschichte und seine geistigen Auswirkungen auf die soziale Entwicklung Europas den Bestrebungen des roten Imperialismus und seiner Außenpolitik gleichzustellen, dem fehlt auch der leiseste Schimmer für die Beurteilung geschichtlicher Geschehnisse, denn er wirft Dinge in einen Topf, die nur im negativen Sinne vergleichbar sind, sich sonst aber wie Wasser und Feuer scheiden. Solche Analogien sind nicht bloß irreführend, sie bilden eine unmittelbare Gefahr für jeden geistigen und sozialen Fortschritt, indem sie Menschen veranlassen, sich mit Dingen abzufinden, die jeder gesunden Entwicklung den Weg verstellen und durch eine Vorspiegelung falscher Tatsachen die Völker für eine neue soziale Reaktion empfänglich machen, deren Bestrebungen tief in den absolutistischen Vorstellungen vergangener Jahrhunderte wurzeln.
Was sich in Rußland seit über einem Vierteljahrhundert entwickelt hat und immer stärker in die Erscheinung trat, ist ein neuer Absolutismus, dessen innere und äußere Gestaltung die machtpolitischen Errungenschaften des fürstlichen Absolutismus weit in den Schatten stellt. Alle politischen und sozialen Rechte und Freiheiten, welche durch die Französische Revolution und ihren Einfluß auf das übrige Europa unter schweren Kämpfen errungen wurden, darunter das Recht des freien Meinungsausdrucks und der Sicherheit der Person, haben im heutigen Rußland und den Ländern, die seinem unmittelbaren Einfluß unterstehen, überhaupt keine Geltung. Die gesamte Presse und alle sonstige Literatur, der Rundfunk, kurz alle Organe des öffentlichen Meinungsausdrucks, unterstehen einer dreifachen Zensur, so daß praktisch keine andere Auffassung als die der Regierung zum Ausdruck gelangen kann und die aus diesem Grunde auch keiner Kritik untersteht. Was in andern Ländern vorgeht, davon erfährt das russische Volk nur so viel, als seine Regierung für ratsam hält. Sogar unter dem zaristischen Regime war das Land niemals so hermetisch vom Ausland abgeschlossen wie heute. In einem Lande, das den traurigen Ruhm für sich in Anspruch nehmen kann, die skrupelloseste und despotischste Polizeidiktatur zu besitzen, ist natürlich auch die bescheidenste Sicherheit der Person ausgeschlossen. Sicher ist nur der, der sich den herrschenden Gewalthabern bedingungslos unterwirft und durch keinen unglücklichen Zufall den Verdacht des allmächtigen Spähertums auf sich lenkt. Die rücksichtslose und blutige Austilgung aller anderen politischen Richtungen und die brutale Abschlachtung der meisten älteren Führer der bolschewistischen Partei unter den empörendsten Begleiterscheinungen ist wohl der beste Beweis, daß diese Behauptung keineswegs übertrieben ist.
Nun gibt es zwar genügsame Leute, die sich mit all diesen unbestreitbaren Erscheinungen eines unbegrenzten politischen Absolutismus geruhsam abfinden, weil sie wirklich oder vorgeblich glauben, daß sie durch die neue Wirtschaftsordnung des russischen Staates reichlich aufgewogen werden, die, ihrer Meinung nach, der Entwicklung einer sozialistischen Ordnung auch in anderen Ländern nur förderlich sein kann. Auch dieser Köhlerglaube entspringt einer vollständigen Verkennung aller wirklichen Tatsachen. Was sich in Rußland heute als sozialistische Wirtschaftsordnung kundgibt, hat mit den wirklichen Ideengängen des Sozialismus ebensowenig zu tun wie die Autokratie des Kremls mit den Bestrebungen der Französischen Revolution gegen den fürstlichen Absolutismus. Das, was man heute in Rußland mit diesem Namen bezeichnet und was gedankenlose Menschen im Ausland ohne Überlegung mechanisch nachplappern, ist in Wirklichkeit nur das letzte Wort des modernen Monopolkapitalismus, der durch die Wirtschaftsdiktatur der Trusts und Kartelle jeden lästigen Wettbewerb beseitigen und die gesamte Wirtschaft auf bestimmte Normen bringen will. Das letzte Glied einer solchen Entwicklung ist nicht der Sozialismus, sondern der Staatskapitalismus mit all seinen unvermeidlichen Begleiterscheinungen eines neuen Wirtschaftsfeudalismus und einem neuen System der Hörigkeit – und das ist es, was heute in Rußland wirklich besteht.
Die Französische Revolution hatte die alten erzwungenen Bindungen beseitigt, in welche der fürstliche Absolutismus und sein Zwillingsbruder, der Feudalismus, die Menschen jahrhundertelang verstrickt hatte. Gerade darin besteht ihr unvergängliches Verdienst und die große historische Bedeutung ihrer unmittelbaren Ergebnisse. Die Diktatur des Bolschewismus aber hat die alten feudalen Bindungen, die sogar im Rußland der Zaren keinen Bestand mehr hatten, wieder neu hergestellt und bis zum letzten Extrem entwickelt. Wenn der Sozialismus in der Tat nur durch die Austilgung jeder persönlichen Freiheit, jeder eigenen Initiative, jedes unabhängigen Denkens erkauft werden müßte, dann wäre das privatkapitalistische System mit allen seinen unvermeidlichen Mängeln und Unzulänglichkeiten unter allen Umständen vorzuziehen. Diese Wahrheit muß endlich offen ausgesprochen werden; sie zu verleugnen, kann nur dazu beitragen, einer neuen und größeren Versklavung der Menschheit Vorschub zu leisten.
Wenn das russische Beispiel uns etwas gelehrt hat, so nur dieses, daß ein Sozialismus ohne politische, soziale und geistige Freiheit undenkbar ist und unwiderruflich zu einem unbegrenzten Despotismus führen muß, der in seiner groben Gefühllosigkeit von keinerlei ethischen Hemmungen mehr beeinflußt wird. Das hatte Proudhon schon vor nahezu hundert Jahren erkannt und deutlich ausgesprochen, wenn er sagte, daß eine Allianz des Sozialismus mit dem Absolutismus die schlimmste Tyrannei aller Zeiten erzeugen müßte.
Der alte Glaube, daß die Diktatur nur ein notwendiger Übergangszustand sei und die Beseitigung des Privatkapitals in Industrie und Landwirtschaft rein automatisch zu einer vollständigen Befreiung der Menschheit von allen rückständigen Bindungen einer versklavten Vergangenheit führen müsse, ist seitdem so gründlich in die Brüche gegangen, daß er für die nüchterne Wirklichkeit jedes Geltungsrecht verloren hat. Keine Macht ist geneigt, sich selbst aufzugeben, und je stärker die Machtmittel sind, über die sie verfügt, desto weniger ist bei ihr das Bedürfnis vorhanden, freiwillig abzudanken. Auch in dieser Hinsicht hatte Proudhon den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er behauptete, daß jede provisorische Regierung von dem Bestreben getragen sei, permanent zu werden. Es ist dies eine Tendenz, die bisher noch stets der Wesenskern jeder Machtorganisation gewesen ist und um die man mit hohlen Phrasen nicht herumkommt. Eine allmächtige Bürokratie mit ihren unersättlichen Bevormundungsgelüsten und ihrem unentrinnbaren Netz mechanischer Reglementierungen für alle Phasen des öffentlichen und privaten Lebens ist für die allgemeine kulturelle und soziale Entwicklung noch eine viel größere Gefahr als jede andere Form der Tyrannei, auch wenn das Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln nicht länger mehr besteht und die gesamte Wirtschaft der eisernen Kontrolle eines totalen Staates unterstellt ist.
Indem ich diese durch die bittersten Erfahrungen bestätigte Wahrheit offen ausspreche, liegt es mir vollständig fern, den imperialistischen Bestrebungen der Westmächte auch nur das geringste Zugeständnis zu machen, wie dies für jeden aus dem ganzen Inhalt dieses Buches klar hervorgeht. Die ganze Machtpolitik der nationalen Staaten und insbesondere der ausschlaggebenden Großmächte mit ihrer Geheimdiplomatie, ihren militärischen und politischen Bündnissen, ihrer Kolonialpolitik und ihren wirtschaftlichen Druckmitteln, durch welche die soziale Entwicklung kleinerer Völker so häufig gehemmt, wenn nicht gänzlich unterbunden wurde, verstärkt durch die ewigen Intrigen der Hochfinanz und des internationalen Rüstungskapitals, hat das wirtschaftliche und politische Leben der Völker fortgesetzt periodischen Erschütterungen ausgesetzt, die sich immer unerträglicher gestalteten und die Kriegsgefahr zu einem Dauerzustand machten. Daß hier zunächst der Hebel angesetzt werden muß, um ein neues Verhältnis der Völker untereinander anzubahnen, unter dem ein friedlicher Ausgleich allseitiger Interessen möglich ist, ist wohl für jeden, der aus den beiden Weltkatastrophen etwas gelernt hat, unbestreitbar. Jeder, der nicht mit unheilbarer Blindheit geschlagen ist, muß heute erkennen, daß eine Fortsetzung der imperialistischen Machtpolitik und des alten Spiels um die Hegemonie im Zeitalter der Atombombe und der ungeheuerlichen Entwicklung der modernen Kriegstechnik unwiderruflich zum Untergang unserer gesamten Zivilisation führen muß.
Aber sogar wenn man all diese Gefahren voll in Betracht zieht und richtig einschätzt, bleibt es doch unverkennbar, daß eine Abkehr von dem alten Wege nur dort möglich ist, wo die geistigen und sozialen Voraussetzungen für eine neue Umgestaltung des Völkerlebens gegeben sind. Nur in Ländern, wo eine freie Meinungsäußerung noch vorhanden ist und das Denken und Handeln der Menschen noch nicht vollständig der Bevormundung des totalen Staates untersteht, ist eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung für die Entwicklung einer besseren Erkenntnis denkbar. Im heutigen Rußland aber fehlt diese wichtige Voraussetzung gänzlich wie in jedem totalen Staat. Wo aber der freie Meinungsaustausch zwischen Völkern künstlich unterbunden wird, dort fehlen auch die Mittel einer gegenseitigen Verständigung und die ersten Vorbedingungen einer ersprießlichen Zusammenarbeit.
Die große Aufgabe, die uns heute gestellt ist, ist kein Problem einiger großer Staaten, sondern ein planmäßiges Zusammenwirken aller Völkergruppen unter gleichen Voraussetzungen und gleichen Rechten. Ein solches Bündnis ist aber nur möglich, wenn es nicht länger von nationalen Sonderinteressen beeinflußt wird, sondern die Förderung allgemeiner Interessen zum Ziel hat und jedem Bundesgenossen die gleichen Ansprüche für seine politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sichert. Nur eine wirkliche Föderation europäischer Völker ist heute noch imstande, die feindlichen Gegensätze zwischen den europäischen Völkergruppen auszugleichen, die bisher durch einen ebenso engherzigen als kulturschädlichen Nationalismus künstlich erzeugt und aufrechterhalten wurden. Eine Föderation Europas aber ist in derselben Zeit die erste Voraussetzung und die einzige Basis für eine kommende Weltföderation, die ohne den organischen Zusammenschluß der europäischen Völker nie erreicht werden kann. Es ist daher überaus bezeichnend, daß gerade Rußland sich bisher einer solchen Lösung am entschiedensten widersetzt hat und durch die Errichtung einer neuen militärischen und politischen Machtsphäre in den östlichen Ländern Europas, die bereits tief in die mittleren Teile des Kontinents hineinragt, der inneren Zerrissenheit Europas weiteren Vorschub leistet, die seit Jahrhunderten die ewige Ursache aller feindlichen Gegensätze gewesen ist.
Europa ist seiner geographischen Lage nach kein besonderer Kontinent wie Afrika, Amerika und Australien, sondern nur eine Halbinsel des großen asiatischen Festlandes und von diesem durch keine natürliche Grenze getrennt. Deshalb bequemt man sich auch heute mehr und mehr dazu, die ungeheure Landmasse, die sich ununterbrochen östlich vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean ausdehnt, als eine geographische Einheit zu betrachten und sie als Eurasien zu bezeichnen. Was Europa in unserer Vorstellung zu einem besonderen Kontinent gemacht hat, hatte nicht geographische, sondern politisch-soziale Ursachen. Die Stämme und Völkerschaften, die bereits in vorgeschichtlichen Zeiten aus Asien und Afrika in Europa eingewandert sind, sich dort festgesetzt und sich nach zahllosen Rassenmischungen allmählich zu besonderen Völkern und später zu Nationen entwickelt haben, wurden im Lauf der Zeiten durch eine gemeinschaftliche Zivilisation so eng miteinander verbunden, daß die Geschichte irgendeiner europäischen Volksgruppe ohne die Geschichte der anderen überhaupt nicht zu verstehen ist. Auf diese Weise entstand eine allgemeine europäische Kultur, die sich in späteren Zeiten auch auf Nord- und Südamerika, Australien und große Teile Afrikas verpflanzte. Im Osten Europas wurde die Entwicklung dieser Kultur jahrhundertelang durch mongolische Einwirkungen beeinflußt, während im Süden sich lange Zeit starke arabische und andere Einflüsse bemerkbar machten. Im allgemeinen aber erhielt diese Kultur ein eigenartiges und einheitliches Gepräge mit reichen Schattierungen und örtlichen Abtönungen, das sich von den verschiedenen Zivilisationsgebilden der asiatischen Völker wesentlich unterscheidet, bei den einzelnen Völkergruppen in Europa aber eine tiefe innere Verwandtschaft erzeugte, die auch späterhin durch keine nationalen Gegensätze verwischt werden konnte.
Diese Erscheinung läßt sich auf verschiedene geschichtliche Ursachen zurückführen, die sich alle in derselben Richtung auswirkten. Vor allem hatte die mächtige Ausdehnung des Römischen Reiches über alle damals bekannten Teile Europas einen entscheidenden Einfluß auf die gesamte kulturelle Gestaltung des europäischen Festlandes und seiner verschiedenen Inselgruppen, der sich sogar bis heute in der Gesetzgebung der meisten europäischen Völker und auf manchen anderen Gebieten erhalten hat. In Rom hatte sich das geistige Erbe Griechenlands, Vorderasiens und Nordafrikas allmählich zu einer Zivilisation aus mancherlei verschiedenen Bestandteilen verdichtet, und die endlosen Eroberungen der Römer sorgten dafür, daß ihre materiellen und geistigen Errungenschaften überall einen Niederschlag fanden. Das wurde ihnen um so leichter, als die spärliche Bevölkerung Europas zu jener Zeit zum großen Teil aus Völkergruppen bestand, deren primitive Lebensformen der römischen Zivilisation keinen großen Widerstand entgegensetzen konnten und allmählich von ihr aufgesaugt wurden. Die zahllosen späteren Einfälle der sogenannten Barbaren zur Zeit der großen Völkerwanderungen haben die höhere Kultur des Römertums zwar häufig mancherlei Gefahren ausgesetzt, doch konnten sie letzten Endes nicht verhindern, daß jene Völkerschaften durch ihre fortgesetzten Berührungen mit der römischen Welt immer mehr von deren Geist durchsetzt wurden.
Noch einen weit stärkeren Einfluß auf die geistige und kulturelle Entwicklung Europas aber hatte die Verbreitung des Christentums in der Form, die ihm die katholische Kirche gegeben hatte und die allmählich auch in solche Gebiete vordrang, die von den römischen Legionen nie betreten wurden. Die Kirche hatte nicht bloß die Gedankengänge des römischen Cäsarismus übernommen und in ihrer Weise ausgebildet, sie hatte auch das Erbe einer weitverzweigten Zivilisation angetreten, die sich in Rom seit vielen Jahrhunderten konzentriert hatte und nunmehr den kirchlichen Machtbestrebungen einen mächtigen Vorschub leisten mußte. Was der römische Staat auf dem Gebiete der politischen Zentralisation und der aus dieser hervorgehenden Rechtsauffassungen vollbracht hatte, das setzte die Kirche in ihrer Weise fort, indem sie das Denken des europäischen Menschen auf neue Wege lenkte und in dem feinen Netzwerk ihrer theologischen Dogmen zu verstricken suchte. Ihre Agenten waren nicht mehr die Prokonsuln und Statthalter des Römischen Reiches, sondern Priester und Mönche, die im Dienste derselben Sache standen und tief in die entlegensten Gebiete eindrangen. Diese neue Macht erwies sich stärker als die Herrschaft der Cäsaren, die sich lediglich auf die militärische Überlegenheit ihrer Legionen stützte, während die Macht der Kirche auf seelischen Einflüssen fußte, welche die Menschen mit ihrem irdischen Dasein versöhnten und ihnen das Bewußtsein beibrachten, daß ihr Schicksal dem Willen einer höheren Macht unterliege, deren Gewogenheit ihnen nur durch die Kirche vermittelt werden konnte. So entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte die christliche Zivilisation Europas, die unter den Völkern des Kontinents eine unverkennbare Ähnlichkeit des Strebens herstellte und sie in ihrem Tun und Denken innerlich näherbrachte.
Diese große Gemeinschaft des Glaubens, die an keine politische Grenze gebunden war, brachte es mit sich, daß auch in späteren Epochen, als die Gegenströmungen gegen die Macht der Kirche und der weltlichen Gewalthaber einsetzten, auch diese neuen Bestrebungen von einem verwandten Geiste getragen wurden. Dieselben geistigen Vorbedingungen lösten überall dieselben Keime eines neuen Denkens aus und führten mit überraschender Gleichmäßigkeit zu verwandten Ergebnissen. Die Unterschiede, die sich dabei bemerkbar machten, waren lediglich Unterschiede des Grades, welche durch die örtlichen Verhältnisse bedingt waren, aber die innere Wesensverwandtschaft nicht verleugnen konnten. Obgleich die europäische Kultur zu den kompliziertesten Gebilden gehört, die von Menschen geschaffen wurden, so läßt sich die geistige Einheit ihres Wesens doch in keiner Periode ihrer Geschichte verkennen. Jedes große Ereignis, das in irgendeinem Lande Europas zuerst in die Erscheinung trat, fand zu jeder Zeit einen stärkeren oder schwächeren Abglanz in allen übrigen Ländern und wird uns gerade dadurch in seinen inneren Zusammenhängen erst recht verständlich.
Alle großen Gedankenströmungen, die auf das Denken und Fühlen der Völker des Kontinents einen zeitweiligen oder dauernden Einfluß hatten, waren europäische, nicht nationale Erscheinungen. Sogar der Nationalismus selbst macht davon keine Ausnahme, denn er entwickelte sich überall in einer bestimmten Periode der europäischen Geschichte und aus den gleichen Motiven und Voraussetzungen. Jede Kundgebung auf den Gebieten des religiösen und philosophischen Denkens, jede neue Auffassung über die Bedeutung politischer und sozialer Lebensformen, jede große Veränderung auf dem breiten Felde wirtschaftlicher Existenzmöglichkeiten, jede neue ästhetische Bewertung im Bereich der Kunst und Literatur, jeder Fortschritt in der Wissenschaft, jede neue Phase in der Erkenntnis des natürlichen Geschehens, alle großen Volksbewegungen, das Ebben und Fluten revolutionärer und reaktionäres Gedankenrichtungen – das alles findet und fand stets einen deutlichen Niederschlag in dem gesamten Kulturkreise, dem wir angehören und aus dem wir nicht willkürlich herausfallen können. Die äußeren Vorgänge dieser Erscheinungen sind zwar nicht überall die gleichen und erhalten durch die Verschiedenheit der örtlichen Bedingungen häufig eine besondere Färbung, doch bleibt der innere Kern stets derselbe und ist für den aufmerksamen Beobachter deutlich erkennbar.
Kein Mensch mit innerer Einsicht wird die lebendigen Zusammenhänge im Leben der Völker unseres Kulturkreises in Frage stellen. Die geistigen Voraussetzungen für ein föderatives Europa brauchen daher nicht erst geschaffen zu werden, denn sie sind für jedes Volk seit langem gegeben und von den besten und vorurteilsfreiesten Geistern aller Nationen immer wieder betont worden. Was uns heute trennt, sind vornehmlich politische und wirtschaftliche Gegensätze, welche durch die ebenso geistlosen als verderblichen Einflüsse nationalistischer und machtpolitischer Bestrebungen so lange künstlich gezüchtet und genährt wurden, bis sie uns endlich zum Schicksal geworden sind.
Jeder nationale Staat, sobald er über die nötige Bevölkerung verfügte, um sich zum Großstaat entwickeln zu können, hat bisher stets versucht, durch die Errichtung besonderer Macht- und Interessensphären die wirtschaftliche Entwicklung anderer Völker zu unterbinden, wobei die schwächeren natürlich zuerst unter die Räder kommen mußten. Diese Tendenz ist eines der wichtigsten Wesensmerkmale jeder Machtpolitik, und wenn kleinere Staaten infolge der numerischen Schwachheit ihrer Bevölkerung davon keinen Gebrauch machen können, so ist ihre angebliche Tugend, wie Bakunin einmal sehr richtig bemerkte, hauptsächlich auf ihre Impotenz zurückzuführen. Wo es ihnen aber gelingt, durch Gebietszuwachs einen stärkeren Einfluß zu gewinnen, dort folgen sie stets den Spuren der Großstaaten, wie das Beispiel Polens, Rumäniens und Serbiens deutlich genug gezeigt hat.
Wie das System des fürstlichen Absolutismus durch seine unsinnige Reglementierung aller Produktionszweige und kommerziellen Beziehungen die natürliche Entwicklung der gesamten europäischen Wirtschaft jahrhundertelang künstlich eingedämmt hatte, so wurde der nationale Staat auch im Zeitalter des Kapitalismus durch seine fortgesetzten Eingriffe in das Wirtschaftsleben der Völker zu einer ewigen Quelle periodischer Erschütterungen des politischen und wirtschaftlichen Gleichgewichts in Europa, die in den meisten Fällen durch offenen Krieg einen Abschluß fanden, aber nur, um den ewigen Kreislauf der Blindheit von neuem zu beginnen, der immer wieder dieselben Folgen nach sich ziehen mußte. Durch Ein- und Ausfuhrzölle, hohe Tarife und staatliche Begünstigung bestimmter Zweige der Industrie und Landwirtschaft auf Kosten der Gesamtbevölkerung, durch den ununterbrochenen Kampf um die Rohstoff- und Absatzgebiete und die rücksichtslose Ausbeutung der sogenannten Kolonialvölker, durch die Praktizierung des Dumpingsystems und die Entwicklung großer, von den Regierungen begünstigter Trusts und Kartelle und ungezählte andere politische und wirtschaftliche Druckmittel wurde das allgemeine Wirtschaftsgebiet immer mehr zerstückelt und die Grundlagen für eine uferlose Freibeuterpolitik gelegt, die sich in ihrer egoistischen Verbohrtheit an keine ethischen Grundsätze mehr gebunden fühlte und die brutale Macht zum Ausgangspunkt aller Bestrebungen machte.
Da aber keine Macht auf die Dauer mit reinen Gewaltmitteln aufrechterhalten werden kann, so ist sie stets gezwungen, durch eine bestimmte Ideologie ihre Ansprüche zu rechtfertigen, um ihren eigentlichen Charakter zu verschleiern. So wurde der Nationalismus zu einer politischen Religion entwickelt, welche das persönliche Rechtsgefühl durch die Rechtsanschauungen des nationalen Staates ersetzte und in den Grundsatz ausmündete: «Wrong or right, my country!» – Der Zufall der Geburt wurde zum Ausgangspunkt der nationalen Erziehung, der Mensch zum Gefäß der Nation, die ihm das ethische Bewußtsein von Recht und Unrecht durch leere Formeln ersetzte, für die allgemeine menschliche Erwägungen kein Geltungsrecht mehr besaßen. Der Nationalegoismus wurde zum Mittelpunkt des politischen Denkens, das alle Beziehungen zu anderen Völkern bestimmte und die eigene Nation mit dem Heiligenschein ihrer Auserwähltheit umleuchtete. Man darf sich daher nicht wundern, wenn in der geistigen Öde nationalistischer Verschrobenheiten schließlich auch solches Unkraut emporwucherte wie die Idee des deutschen Herrenvolkes oder der nordischen Wunderrasse. Wo aber der Glaube an die Auserwähltheit erst einsetzt, dort keimt bereits die Drachensaat des Hochmuts, der alle anderen Völker geringer einschätzt und sie als minderwertig betrachtet. Alles andere findet sich dann von selbst, denn es liegt in der Natur aller machtpolitischen Bestrebungen, daß sich ihre Träger nicht mit dem Glauben an ihre angebliche Überlegenheit begnügen, sondern stets geneigt sind, wo sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet, ihre eingebildeten Vorzüge auch anderen fühlbar zu machen.
Unter diesen Umständen konnte es nicht ausbleiben, daß der offene und versteckte Krieg sich zum Dauerzustand unseres sozialen Lebens auswachsen mußte, denn wenn die innere Gemeinschaft unseres Kulturkreises auch immer wieder auf eine föderative Vereinigung der europäischen Völker hindrängte, so wußten die Träger der Machtpolitik und des Nationalismus fortgesetzt neue Mittel und Wege zu finden, eine solche Lösung zu verhindern und jeden friedlichen Ausgleich unter den verschiedenen Völkergruppen zu untergraben. Wozu das schließlich führen mußte, darüber hat uns die Verwüstung ganzer Länder, die barbarische Vernichtung alter Kulturstätten, die grausame Abschlachtung von Millionen junger Menschen in der Blüte ihrer Jahre und das namenlose Elend anderer Millionen, die gewaltsam von Haus und Scholle vertrieben wurden, einen Anschauungsunterricht gegeben, wie ihn die Welt in diesem Umfang nie vorher erlebt hat. Wer angesichts dieses furchtbaren Rückfalls in die brutalste Barbarei nichts gelernt und nichts vergessen hat und nicht alle Mittel einsetzt, um den Völkern ein menschenwürdiges Dasein auf dieser Erde zu ermöglichen und kommende Geschlechter vor den Gefahren zu schützen, die heute eine ganze Welt in Tod und Verderben gestürzt haben, der verdient in der Tat kein besseres Schicksal.
Wenn die Befürworter des Nationalismus noch zu einer besseren Erkenntnis fähig wären, so hätte ihnen die Entwicklung der letzten hundert Jahre deutlich zeigen müssen, daß alle ihre Bestrebungen auf einer vollständigen Verkennung politischer und sozialer Tatsachen beruhen und besonders für die kleineren Völker nur eine leere Fiktion sind. In der Tat, welche Bedeutung hat der Traum einer nationalen Souveränität und einer sogenannten nationalen Unabhängigkeit im Zeitalter einer uferlosen Machtpolitik der Großstaaten, die stets versuchen, die kleineren Staaten ihren Machtsphären unterzuordnen und sie zu Vasallen ihrer eigenen Interessen zu benutzen? Die meisten der kleineren Nationalitäten, die sich, durch eine momentane Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa begünstigt, ihre angebliche nationale Unabhängigkeit errungen hatten, sind dadurch nur vom Regen in die Traufe gekommen. Ihre politische Souveränität gewährte ihnen kaum einen Schutz gegen die Machtansprüche der Großstaaten und hat ihre Lage häufig bloß noch drückender gestaltet. Die Kaste ihrer neuen Staatsmänner und Berufspolitiker mag wohl aus der nationalen Einheit manchen Vorteil davongetragen haben, doch für die Völker selbst wurde die allgemeine Lage nicht besser.
In der Tat, wer wollte behaupten, daß die Lage des polnischen Volkes unter der Herrschaft Pilsudskis und der Generäle beneidenswerter gewesen ist als unter der Fremdherrschaft Rußlands, Österreichs und Preußens? Wer, wahrlich, wollte behaupten, daß die Ungarn unter der Diktatur Horthys sich einer größeren Freiheit erfreuten als unter der Dynastie der Habsburger? Hat die nationale Souveränität Jugoslawiens und der übrigen Balkanstaaten ihren Völkern mehr Bewegungsfreiheit und eine größere Ausdehnung ihrer Rechte und Freiheiten verschafft? In den meisten Fällen ist gerade das Gegenteil eingetreten, und die eigene Herrschaft erwies sich häufig noch als ein schlimmeres Übel als die fremde. Es gibt zwar Leute, die sich sogar durch solche offenkundigen Tatsachen nicht beeinflussen lassen. Heinrich Heine behauptete ja bekanntlich schon vor hundert Jahren von den Deutschen, daß sie es vorzögen, mit einem eigenen anstatt mit einem fremden Stock geprügelt zu werden. Wer eben so bescheiden ist, der darf sich nicht wundern, wenn ihm immer ein Stock auf dem Rücken tanzen wird.
Heute sehen wir eine neue Wiederholung derselben Tatsachen, nur daß die Rollen vertauscht wurden. Dieselben souveränen Staaten, von denen gerade gesprochen wurde, sind heute vollständig unter den Einfluß der russischen Machtsphäre geraten und haben nicht nur ihre nationale Unabhängigkeit gänzlich verloren, sondern auch die letzten Rechte eingebüßt, die sie früher besessen hatten. Aber nicht bloß die politische Lage, sondern auch die wirtschaftlichen Verhältnisse sind für die meisten jener Völker seit ihrer nationalen Befreiung wesentlich schlechter geworden. Aus dem ersten Weltkrieg sind in Europa neun neue souveräne Staaten hervorgegangen. Alle diese Länder, die früher einem größeren Wirtschaftsgebiet angehörten, waren nun gezwungen, sich ihre eigene Wirtschaft zu schaffen, was keinem von ihnen wirklich gelungen ist, außer der Tschechoslowakei, die durch ihre außergewöhnlichen Bodenschätze besonders darin begünstigt wurde.
Aber auch die Völker der europäischen Großstaaten haben in ihrer nationalen Einheit nie den Schutz und die Sicherheit gefunden, die man ihnen versprochen hatte. Durch die blinde Machtpolitik ihrer nationalen Regierungen wurden sie nicht bloß fortgesetzt mit neuen Steuern und Abgaben belastet, die immer größere Teile ihres nationalen Einkommens verschlangen, sondern auch ständig den Gefahren neuer Kriege ausgesetzt, die eben das logische Ergebnis jeder Machtpolitik sind.
Das Schicksal Deutschlands und Japans und die furchtbaren Wunden, welche der vergangene Weltkrieg allen Völkern, kleinen und großen, geschlagen hat, sollten schließlich jedem, der den ehrlichen Willen hat, aus dem heutigen Labyrinth der Irrungen einen Ausweg zu finden, die Binde von den Augen nehmen und ihm zeigen, wie es um die nationale Souveränität bestellt ist, die keinem Volke wirkliche Sicherheit gewährt und seine Existenz immer wieder neuen Katastrophen aussetzt, die jede friedliche Entwicklung seiner Lebensmöglichkeiten fortgesetzt unterbinden. Die politische und soziale Unabhängigkeit nationaler Völkergruppen wird stets eine Utopie bleiben, solange ihr die wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlen und ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben fortgesetzt durch die Intrigen machtpolitischer Bestrebungen und nationalistischen Größenwahn verhindert wird.
Ein föderiertes Europa mit einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet, zu dem keinem Volke der Zutritt durch künstliche Schranken versperrt wird, ist daher nach allen bitteren Erfahrungen der Vergangenheit der einzige gangbare Weg, der aus der Stickluft der heutigen Zustände ins Freie führen kann. Nur auf diese Weise läßt sich eine wirkliche Neugestaltung im Leben der Völker anbahnen, die jeder Machtpolitik ein Ziel setzt und gleichzeitig alle Keime in sich trägt, um weitere Wandlungen in dem allgemeinen Organismus unseres sozialen Lebens herbeizuführen und der wirtschaftlichen Ausbeutung von Menschen und Völkern ein Ende zu machen. Solange man die Arbeit lediglich als Ware betrachtet, die gegen jede andere Ware austauschbar ist, und die tiefe ethische Bedeutung alles menschlichen Schaffens in so schnöder Weise verkennt, wird die Wirtschaft stets ein Ding an sich bleiben, das einer kleinen Oberschicht alle Vorteile gewährt, von denen die breiten Massen in jedem Volke ausgeschlossen sind. Nur ein kooperatives Zusammenwirken der Menschen, das weder der Willkür monopolistischer Gruppen noch der Bürokratie des Staates untersteht, kann die Erzeugung wirtschaftlicher Werte in gleichem Maße allen dienstbar machen und allen Gliedern der verschiedenen Völkergruppen ein menschenwürdiges Dasein sichern, ohne der persönlichen Freiheit Schranken zu setzen, die sich unter solchen Zuständen erst voll entfalten kann.
Gerade die letzten Errungenschaften des wissenschaftlichen Forschens zeigen klar und deutlich, daß ein solcher Zustand nicht länger ins Reich der Utopie gehört, sondern vielmehr zu einer unabänderlichen Notwendigkeit unseres sozialen Lebens werden muß, wenn wir den Untergang alles Menschentums und aller Zivilisation nicht selbst in frevelhafter Weise heraufbeschwören wollen. Von uns allen wird es abhängen, ob die Atombombe, die heute zum Schreckbild der Zeit geworden ist, der Menschheit zum Schicksal werden oder ob die technische Verwendung atomischer Kräfte für die Zwecke des Friedens und der allgemeinen Wohlfahrt zum Ausgangspunkt einer neuen Epoche unserer Geschichte werden soll. Die Zeichen sind gegeben, und es wird ganz darauf ankommen, welchen Weg wir einschlagen.
***
Eine Föderation der europäischen Völker, oder wenigstens die ersten Ansätze dazu, ist die erste Voraussetzung zu der Entwicklung einer Weltföderation, die auch den sogenannten Kolonialvölkern die gleichen Rechte und Ansprüche auf ihr volles Menschentum sichern könnte. Dieses Ziel zu erreichen, wird nicht leicht sein, aber der Anfang muß gemacht werden, wenn wir nicht einem neuen Abgrund entgegentaumeln wollen. Und dieser Anfang muß von den Völkern selbst ausgehen. Dazu gehört vor allem eine neue Erkenntnis und der feste Wille zu einem neuen Werden. Denn heute mehr als je gilt der Ausspruch des französischen Historikers Edgar Quinet:
«Die Völker werden erst dann emporsteigen, wenn ihnen die Tiefe ihres Verfalls voll zum Bewußtsein kommen wird.»
Crompond, New York, April 1946
Rudolf Rocker
Vorwort zur ersten italienischen Ausgabe
Die Arbeit an diesem Buch habe ich begonnen, als ich in England lebte, und es ursprünglich auf Deutsch geschrieben. Es war das Ergebnis von vielen Jahren Forschung, zuerst oft von anderen Arbeiten unterbrochen und schließlich von meiner Internierung während des Ersten Weltkriegs. Das reiche Material, das ich gesammelt hatte, seit ich Deutschland 1892 verlassen hatte, und die historischen Studien, mit denen ich mich in Paris und später in London beschäftigt hatte, blieben lange liegen, bis die kritische internationale Lage und der immer mehr drohende große europäische Krieg mich dazu brachten, die Vorbereitung des Buchs ernsthaft anzugehen. Ich sah voraus, daß ein solcher Krieg nur zu einer gigantischen Weltwirtschaftskrise führen konnte und den Weg für die größte Katastrophe der menschlichen Geschichte bereiten würde – die wir nun, mit all ihren bösen Folgen – zu bewältigen haben.
Ich hatte schon einen beträchtlichen Teil meines Materials gesichtet und einen ersten Rohentwurf mehrerer Kapitel geschrieben, als die Nachricht eintraf, daß deutsche Truppen in Belgien einmarschiert waren. Der Krieg, ein sehr langer, war nun unvermeidlich, wie ich in einem Leitartikel im Arbeiter Freund ausführte. Bald darauf erklärte das Vereinigte Königreich Deutschland den Krieg und die Internierung der sogenannten «feindlichen Ausländer» begann. Mir schwante, daß meine Tage in Freiheit gezählt waren, und ich ergriff die nötigen Vorbereitungen. Ich hatte mich nicht getäuscht; rund drei Monate später wurde ich auch interniert.
Ich wurde zuerst ins Olympia gebracht, diesen schrecklichen Ort, der damals als Sammelstelle für die auf andere Lager zu verteilenden Gefangenen diente. Mir wurde sofort klar, daß schöpferische Arbeit in einem solchen Irrenhaus völlig außer Frage stand. Obwohl ich hoffte, daß ein anderes Lager günstigere Umstände bieten würde, würde auch das, was ich dort würde tun können, sehr beschränkt sein. Die Atmosphäre eines Internierungslagers als solche ist jeder intellektuellen Aktivität feindlich. Der jede normale Toleranzschwelle überschreitende enge physische Kontakt mit Tausenden von gegen ihren Willen zusammengepferchten Menschen und die Tatsache, daß es keinerlei Privatsphäre gab, schlossen jede Möglichkeit einer konzentrierten geistigen Arbeit aus.
Natürlich gaben mir die ermüdenden Jahre meiner Gefangenschaft die Gelegenheit zu einer Menge sinnvoller Arbeit, die in der Situation bedeutend wichtiger war als ein Buch zu schreiben. Tag ein, Tag aus war es unerläßlich, sich um die elementaren Dinge des Überlebens zu kümmern. Es gab den endlosen Kampf für die Rechte der Zivilisten gegen die Dummheit, Routine und Herrschsucht der seelenlosen uniformierten Zuchtmeister, für die wir nichts als Nummern waren, die ohne jede menschliche Rücksicht behandelt werden konnten.
Während ich dank der Mithilfe meiner Leidensgenossen diesen unentwegten Kampf für unser aller Wohl zu führen in der Lage war, hatte ich auch selbst eigene Sorgen, die ich vor den anderen verbarg. Achtzehn Monate nach meiner Internierung wurde auch Milly, viele Jahre meine tapfere und loyale Gefährtin, ins Frauengefängnis von Aylesbury gesteckt, vierzig Kilometer von London entfernt, und mein ältester Sohn Philip landete im schlimmsten Lager Englands, einer wahren Hölle. Damit war unsere ganze Familie hinter Schloß und Riegel, mit der Ausnahme unseres jüngsten Sohnes Fermin, der zu der Zeit noch ein Kind war.
Ich möchte diese Jahre nicht noch einmal durchleben, aber ich möchte sie auch nicht missen. Sie gaben mir ein neues Verständnis der menschlichen Natur. Ich sah die tragischen Folgen, die ein mit Gewalt erzwungenes Zusammenpferchen einer großen Zahl von Menschen hat, die beängstigenden Veränderungen und Entstellungen, die Männer, besonders solche schon vorgeschrittenen Alters, durch plötzliche gewaltsame Veränderungen ihrer normalen Umgebung, ihrer Lebensweise erfahren. Das kann man in dieser Form nur in jener besonders schändlichen Errungenschaft des modernen Staates, dem Konzentrationslager lernen.
Die früheste Form des Konzentrationslagers erschien in Europa während der Kriege gegen die französische Revolution und in der Folge in den Kriegen gegen Napoleon. Damals waren es Zivilisten, die wie Kriegsgefangene behandelt und in Festungen geworfen, zu Zwangsarbeit gezwungen und unter unmenschlichen Bedingungen gehalten wurden. Tausende fielen den «Schlachten ohne Blutvergießen in den Kasematten» zum Opfer. Nicht viele überlebten den Horror und die Verzweiflung ihrer Einkerkerung.
Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts, während Großbritanniens südafrikanischem Krieg gegen die zwei Burenrepubliken (1899-1901), hat die konservative britische Regierung sogar Frauen und Kinder interniert und diese Maßnahme als eine Kriegsnotwendigkeit verteidigt. Aber es hat noch kein Verbrechen gegeben, das nicht als Kriegsnotwendigkeit verteidigt wurde und von denen sanktioniert, die Krieg als Form von Geschäft oder als nützlichen Schritt auf der Karriereleiter betrachten. Seither wird das Konzentrationslager von den meisten modernen Regierungen als legitimes Mittel in der Politik angesehen.
Es war der nächste logische Schritt, daß die Verteidiger des totalitären Staates das Konzentrationslager zur permanenten gesellschaftlichen Einrichtung machten, die nicht nur im Krieg, sondern auch zu allen anderen Zeiten von Nutzen sei. Dort können Menschen darauf abgerichtet werden, in der vorgeschriebenen Weise zu denken, oder heimlich, still und leise liquidiert werden, denn der Staat ist zum höchsten Richter in allen Bereichen des Denkens geworden. Ihre Vorläufer in der «freien Welt» hatten den Weg so gründlich bereitet, daß die Lenin, Stalin, Hitler, Mussolini, Franco, Peron und der ganze Rest nur noch zu übernehmen und weiterzumachen brauchten. So ist das Konzentrationslager nicht länger einfach nur eine Institution; es ist zu einem weithin sichtbaren Symbol des größten Niedergangs in der Menschheitsgeschichte geworden. Es ist Ausdruck des neuen Barbarismus, der nicht nur die Wurzeln unseres kulturellen Lebens, sondern zugleich die ganze menschliche Existenz zu zerstören droht.
Wie in Deutschland, so standen auch in England alle Lager unter der Kontrolle der militärischen Autoritäten. Nicht einmal der britische Innenminister konnte die Entscheidungen des Kriegsministeriums in irgendeiner Weise beeinflussen. Die meisten Lager wurden von alten Offizieren mit langer Dienstzeit in den Kolonien verwaltet. Dies ist der Grund dafür, daß alles von militärischer Disziplin bestimmt war und die Zivilgefangenen in armeeähnliche Bataillone und Einheiten regimentiert wurden. Der Kommandant meines letzten Lagers in England, in Alexandra Palace, war Colonel R. S. Frowd-Walker, ein Mann von etwa siebzig Jahren, der mehr als dreißig Jahre in der englischen Armee in Indien gedient hatte. Als ich ihn zuerst sah, nachdem die Royal Edward einige Meilen von Southend entfernt an der Küste gelandet und wir von Bord gegangen waren, hatte ich das Gefühl, daß der alte Mann uns eine Menge Ärger verursachen würde. Aber als ich später in meiner Eigenschaft als gewählter Leiter der Selbstverwaltung des größten Batallions im Lager mit ihm beinahe täglich zu tun hatte, stellte ich fest, daß er im Grunde überhaupt kein übler Kerl war. Gelegentlich zeigte er ausgesprochen schöne Züge. Aber bei allem blieb er ein alter Soldat, vor allem den Traditionen seiner Kaste treu. Er herrschte mittels Anordnungen, gab niemals Erklärungen, und erwartete widerspruchslosen Gehorsam.
Mit Ausnahme einiger älterer Untergebener und des Kommandanten selbst waren alle anderen Offiziere seines Stabs Zivilisten in Uniform. Mit ihnen umzugehen war nicht schwierig. Darüber hinaus wußten sie, daß keiner der internierten Zivilisten – viele von ihnen über sechzig oder gar über siebzig, viele krank, einige sterbend –, in irgendeiner Weise für den Krieg verantwortlich war. Diese Gefangenen hatten kein Verbrechen begangen. Sie waren nichts als Opfer eines fanatischen Chauvinismus, von skrupellosen Demagogen angefacht und von denen am Leben gehalten, die ein direktes Interesse am Krieg hatten.
Mir persönlich war es eine große Erfahrung, meine Vorstellungen in einer durch die Willkür des Krieges wild zusammengewürfelten Menge von Menschen in die Praxis umzusetzen. Und es funktionierte einfach wie durch ein Wunder. Es bewies mir, daß gegenseitige Hilfe, menschliches Mitgefühl und der Wille, dem als Böses Empfundenen Widerstand zu leisten, ganz unabhängig von den Umständen ein besserer Weg sind als rücksichtslos Menschenrechte zu vergewaltigen und unabhängiges Denken zu unterdrücken. Dies erklärt auch, warum wir selbst unter den härtesten Bedingungen so viel erreichen konnten. Dies war von all den Lehren, die meine Internierung mir brachte, die mit Abstand beeindruckendste.
Meine Verwaltungsarbeit im Lager fand ein Ende, als ich in den letzten sieben Monaten des Krieges mit einigen Hundert anderer im Austausch gegen britische Zivilisten nach Ruheleben bei Berlin geschickt wurde.
Ich kam in Berlin nur wenige Wochen nach dem Ausbruch der Novemberrevolution von 1918 an. Es gab mehr als genug Arbeit zu tun und es fiel mir nicht schwer, ein mir angemessenes Tätigkeitsfeld zu finden. Die deutschen Syndikalisten, die sich später in Anarcho-Syndikalisten umbenannten, versuchten damals gerade – zusammen mit der Anarchistischen Föderation Deutschlands – ihre Bewegung, die während des Kriegs unterdrückt gewesen war, neu zu organisieren. Während jener ereignisreichen Jahre bitteren Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution war die junge anarcho-syndikalistische Bewegung die bei weitem stärkste und aktivste von den wenigen wirklichen libertären Organisationen. Es war eine gesunde Bewegung, mit Anhängern in beinahe jedem Teil Deutschlands. Während im allgemeinen die Arbeiterbewegung in Deutschland mit autoritären politischen Parteien und überzentralisierten Gewerkschaften überladen war, hatte die anarcho-syndikalistische Minorität ein besseres Verständnis für die Schlüsselprobleme der politischen Situation als viele andere Gruppen. Daher hielt sie sich von den hoffnungslos mörderischen Kriegen zwischen den verschiedenen sozialistischen Parteien fern, da sie davon überzeugt war, daß es in einer revolutionären Umbruchszeit wichtiger ist, mit den Arbeitern und kleinen Bauern über die Inbesitznahme der Werkstätten, Fabriken und großen Güter der preußischen Junker zu reden, als die Eroberung der Macht zu predigen, was nur der Konterrevolution nützen konnte, – was dann ja auch geschah.
Außer an den Tageskämpfen der Zeit teilzunehmen, gründete die anarcho-syndikalistische Bewegung – die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) – schon bald nach ihrer Reorganisation einen großen Verlag. Bis er, wie die gesamte Arbeiterbewegung, durch die Nazis unterdrückt wurde, produzierte er die reichste und umfangreichste libertäre Literatur, die Deutschland bis dahin gesehen hatte.
Das große Unglück der deutschen Arbeiterbewegung lag wesentlich in der Tatsache begründet, daß sie von einem fanatischen Glauben an die Notwendigkeit einer Staatsdiktatur als Übergangsstadium und Vorläufer für eine sozialistische Gesellschaft besessen war. Ihr extrem autoritärer Charakter und die große Wirtschaftskrise, die das Land nach dem Krieg nicht los ließ, erklären zum Teil diese Einstellung großer Teile der deutschen Arbeiterschaft und eines Teils der sozialistischen Intellektuellen. Dabei wäre dieser Trend auch in Deutschland nicht so spürbar gewesen, wenn die Entwicklung in Rußland eine andere gewesen wäre. Aber nach dem Staatsstreich der Bolschewiki und dem Fall Kerenskis war ein extrem mächtiger Staatsapparat in die Hände Lenins und seiner Anhänger gefallen und setzte sie politisch und finanziell in den Stand, ihren Einfluß auch im Ausland auszuüben.
Aber Lenin konnte seinen Plan, eine Dritte Internationale mit permanenter Exekutive in Moskau zu schaffen, erst umsetzen, nachdem er den Einfluß der Zweiten Internationale gänzlich paralysiert und die revolutionären Kräfte in allen anderen Ländern für seine Ziele zu gewinnen versucht hatte. Selbst die Verfassung der Kommunistischen Partei Deutschlands befriedigte ihn anfangs nicht, da ihm wohl bewußt war, daß Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die zwei wichtigsten Führer der Partei, einige seiner jesuitischen Methoden in Frage stellten und nicht bereit waren, ihm überallhin zu folgen. Aber diese beiden wurden kaltblütig ermordet und die Partei durch bittere interne Querelen zerrissen, bevor dann auch die deutschen Kommunisten zu einem reinen Werkzeug der Außenpolitik des russischen Staates verkamen, bereit, seinen Befehlen ohne Einwand zu folgen und jeden Dissidenten als Konterrevolutionär zu denunzieren.
In dieser Zeit wildester Verwirrung, als man willkürlich leere Schlagworte produzierte, um die ahnungs- und verständnislosen Massen damit zu füttern, erschien es uns von großer Bedeutung, eine eindeutige Stellungnahme gegen jede Form von Diktatur abzugeben.
Ich trug meinen Teil dazu bei, bereiste das ganze Land, hielt Hunderte von Vorträgen und sprach bei großen Demonstrationen usw. Häufig war ich wochen- und monatelang nicht zuhause. Daneben mußte ich für unsere Presse Artikel liefern und eine ganze Reihe Broschüren produzieren, die sich mit den neuen Problemen beschäftigten, darunter eine Prinzipienerklärung für die FAUD, oder auch eine, die die Diktatur und das russische Experiment in Staatskapitalismus vom libertären Standpunkt aus diskutierte. Alle diese Veröffentlichungen wurden in zahlreiche Sprachen übertragen. Die meisten deutschen Ausgaben erschienen in unserem neuen Berliner Verlag; fünf weitere wurden vom Verlag des anarchistischen Blattes Der freie Arbeiter publiziert.
Zu all diesen verschiedenen Tätigkeiten kam bald noch meine Mitarbeit an der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Ich hatte eine sehr aktive Rolle bei ihrer Vorbereitung und Gründung gespielt und ihre Prinzipienerklärung geschrieben, die auf ihrem ersten Kongreß in Berlin angenommen wurde. Auch wenn meine Arbeit für die IAA prinzipiell unbezahlt war, wurde ich einer ihrer Sekretäre und nahm an allen ihren Veranstaltungen und Kongressen teil, bis ich mich in den USA niederließ und meine Rückkehr nach Europa durch den Zweiten Weltkrieg illusorisch wurde.
Wenn ich nun mein Leben in diesen turbulenten Jahren Revue passieren lasse, überrascht es mich nicht, daß es mich so viel Zeit kostete, bis ich das Manuskript dieses Buches abschließen konnte – beinahe fünfzehn Jahre. Es gab so viele andere Dinge, die sofort und ohne Verzögerung erledigt werden mußten. Ich konnte im übrigen nur mit großen Unterbrechungen arbeiten, und nur in Berlin, wo ich all meine Notizen und das gedruckte Material hatte, das auf die endgültige Redaktion wartete. So konnte ich das letzte Kapitel nur gerade vor Hitlers Machtergreifung für den Drucker fertigstellen. Jeder, der mit den politischen und sozialen Bedingungen im sogenannten Dritten Reich einigermaßen vertraut ist, wird verstehen, daß dieses Buch nicht in einem Land erscheinen konnte, in dem rücksichtsloser politischer Terror, pausenlose Angst und brutale Vergewaltigung aller Menschenrechte an der Tagesordnung waren. Als die nationale Revolution Deutschland überschwemmte, war ich daher gezwungen, mich ins Ausland zu flüchten. Bei meiner Flucht konnte ich nur das Manuskript dieses Buches retten.
Aber auf eine Publikation konnte ich natürlich nicht mehr rechnen, und ganz abgesehen davon war ich nun ja vom deutschen Lesepublikum abgeschnitten. Ich verlor also praktisch jede Hoffnung, das Werk je im Druck zu sehen. Doch damit mußte ich mich abfinden, wie auch mit den vielen anderen Einschränkungen und Verlusten, die mit einem Leben im Exil verbunden sind.
Aber dann passierte das Unerwartete. Während einer Vortragstour durch Kanada und die Vereinigten Staaten kam ich in Kontakt mit einer ganzen Reihe alter und neuer Freunde, die sich lebhaft für mein Werk interessierten. Dank ihres selbstlosen Einsatzes entstanden bald besondere Gruppen in Chicago, Los Angeles und New York, die es möglich machten, daß das Buch ins Englische übersetzt und schließlich in den Vereinigten Staaten publiziert wurde.
***
Rocker verwendet an dieser Stelle einen identischen Teil des Nachworts zur zweiten amerikanischen Ausgabe (Rocker S. 307-325) auf den wir hiermit verweisen wollen. (A.d.Hrsg.)
***
Es würde wohl zu weit führen, in der vorliegenden italienischen Ausgabe die Namen all jener aufzuführen, deren wertvolle Mitarbeit dieses Ereignis möglich machten. Ihr Einsatz war umso willkommener, als er spontan und ohne jeden Aufruf meinerseits zustande kam. Ich habe ihnen schon meinen Dank in den Vorworten zur ersten und zweiten amerikanischen Ausgabe ausgedrückt, und mein guter Freund, Professor Ray E. Chase, der englische Übersetzer des Buches, hat das gleiche getan. Ich erhielt als Ausländer in den USA eine so freundliche Aufnahme, daß sie alle meine Hoffnungen bei weitem übertraf, und gerade als Flüchtling ist man für solche Hilfe doppelt empfänglich.
Ich kann hier nur wiederholen, was ich für die dritte amerikanische Ausgabe meines Buches im Mai 1946 geschrieben habe:
Möge dieses Buch dazu beitragen, das schlafende Bewußtsein der Freiheit zu wecken. Möge es die Menschen ermutigen, der Gefahr ins Auge zu blicken, die heute die menschliche Kultur bedroht und die der Menschheit zum Schicksal werden wird, wenn sie sich nicht dazu aufrafft, dem Übel ein Ende zu machen. Denn die Worte des Dichters gelten auch für uns:
<quote>
The man of virtuous soul commands not nor obeys.
Power, like a desolating pestilence,
Pollutes whate’er it touches;
…and obedience,
Bane of all genius, virtue, freedom, truth,
Makes slaves of men and of the human frame
A mechanized automaton.
Der wirklich tugendhafte Mensch befiehlt weder noch gehorcht er.
Macht, einer verheerenden Pest gleich,
Beschmutzt, was immer sie berührt;
…und Gehorsam,
Das Gift allen Genies, aller Tugend, Freiheit, Wahrheit,
Macht Sklaven aus Menschen und aus menschlichem Körper
Einen mechanisierten Automaten.
New York, 20. Mai 1958.
Rudolf Rocker
Bibliographie
Adams, John: A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America. Philadelphia: Hall & Seilers, etc., 1787.
Adler, Georg: Geschichte des Sozialismus und Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart. Teil 1: Bis zur französischen Revolution. Leipzig: Hirschfeld, 1899; 2. Aufl. 1920; 3. Aufl. 1923 (= Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften, 1. Abt.: Volkswirtschaft, Bd. 3).
Andrews, Stephen Pearl: The Science of Society No. 1: The True Constitution of Government in the Sovereignty of the Individual as the Final Development of Protestantism, Democracy, and Socialism. New York: T. L. Nichols, (Jan. 1851); 2. Aufl. 1852; 3. Aufl. 1854.
– The Science of Society No. 2: Cost the Limit of Price: A Scientific Measure of Honesty in Trade as One of the Fundamental Principles in the Solution of the Social Problem. New York: Fowlers & Wells, 1851; 2. Aufl. 1852; 3. Aufl. 1854. – Neue und erw. Ausg. (mit Einl. von Benjamin R. Tucker) Boston: Sarah E. Holmes, 1888, repr. 1895; – versch. Neudr., z.B. Weston, Mass.: M & S Press, 1970 (Einleitung von Charles Shively); dt. Übs. Die Wissenschaft von der Gesellschaft. Die rechte Verfassung der Gesellschaft. Das Kostenprinzip. Zwei Abhandlungen. Nach der Übs. von M. Kriege. Hrsg. von W. Russbüldt. Schmargendorf bei Berlin: Verlag «Renaissance», 1904.
Aristoteles: Politik. Eingel. und übers. von Olof Gigon. Zürich u. Stuttgart: Artemis-Verlag, 1970 u.ö.
Arndt, E. M.: Sendschreiben an die deutsche Nation und vorzüglich an die Preussen. o.O. o.J. [1813?]; anonym erschienen; zahlr. Neudr.
– Der Geist derzeit. o.O. [Altona] 1806; zahlr. Neudr.
Arnould, Arthur: L’état et la révolution. Genf: Librairie socialiste du Rabotnik, 1877. Neuausgabe mit einer Einleitung Arthur Arnould ou La vie d‘un mort est toujours fictive von Bernard Noel. Lyon: Éds. Jacques-Marie Laffont et Associés, (1981).
Augustinus: Bekenntnisse. (Confessiones). Dt. v. A. Hoffmann. München 1914.
– Der Gottesstaat. (De civitate dei). Dt. v. A Schröder. München 1911-1916; 3 Bde.
Aulard, F[rancois] A[lphonse]: La Société des Jacobins. Recueil de documents pour l’histoire du club des Jacobins de Paris. Paris, 1889-1897; 6 tomes: (= Coll, de documents relatifs à l’histoire de Paris pendant la Révolution française. Publ. sous le patronage du Conseil municipal)
Baader, Franz von: Franz von Baaders Gedanken über Staat und Gesellschaft, Revolution und Reform. Aus sämtlichen Werken mitgeteilt durch Johannes Claassen. Gütersloh, C. Bertelsmann, 1890; Neudr. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968.
Baird, Henry Martyn: History of the Rise of the Huguénots, London: Hodder & Stoughton, 1880.
Bakunin, Michail: Oeuvres. Fédéralisme, Socialisme et Antithéologisme – Lettres sur le Patriotisme – Dieu et L’État. [Hg. von N. (Max Nettlau)]. Paris: P. V. Stock, Éditeur, 1895; zahlreiche Neudrucke.
– Archives Bakounine. Bakunin Archiv. Leiden: E. J. Brill, 1961-1981; 7 in 8 Bänden: Bd. I: M. Bakounine et l’Italie: 1871-1872: Teil 1: La Polémique avec Mazzini (1961); Teil 2: La Prèmiere Internationale et le conflit avec Marx (1963) Bd. II: M. Bakounine et les conflits dans l’Internationale: 1872 (1965); Bd. III Étatisme et anarchie (1967); Bd. IV: M. Bakounine et ses relations avec Sergej Ne aev: 1870-1872 (1971); Bd. V:M Bakounine et ses relations slaves: 1870-1875 (1974); Bd. VI: M. Bakounine sur la guerre franco-allemande et la révolution sociale en France: 1870-1871 (1977); Bd. VII: L’Empire knouto-germanique et la révolution sociale: 1870-1871 (1981); korrigierter Neudruck u.d.T. Oeuvres complètes, Bd. 1-8, Paris: Champ libre (jetzt Editions Ivrea), 1973-1982.
– L’Empire knouto-germanique et la Révolution sociale. Genf: Chez tous les libraires, 1871; vollst. Ausg. mit Materialien in Archives Bakounine, Bd. VII (= Oeuvres complètes, Bd. 8), S. 1 ff.; dt. Übs. in Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin: Verlag «Der Syndikalist», 1921; Repr. Berlin: Karin Kramer, 1975 u.ö.
– La théologie politique de Mazzini et l’Internationale. o.O.: Commission de Propagande socialiste, 1871; jetzt vollst, in: Archives Bakounine, Bd. I/1 (= Oeuvres complètes, Bd. 2), S. 21 ff.
– Dieu et l’État. Genf: Imprimerie Jurassienne, 1882; vollst. Ausg. in Archives Bakounine, Bd. VII (= Oeuvres complètes, Bd. 8), S. 87 ff.; zahlr. dt. Übs., z.B. von Max Nettlau, Leipzig: C.L. Hirschfeld, 1919 (mehrere Neudr., z.B. Bremen: Impuls, [1977]).
Balabanoff, Angelica: Wesen und Werdegang des italienischen Faschismus. Wien usw.: Hess, 1931.
Barker, Ernest: The Political Thought of Plato and Aristotle, London: Methuen & Co., 1906.
Barthélemy, C. / Maistre, Joseph Marie de: L’Esprit du Comte Joseph de Maistre, précédée d’un Essai sur sa vie et ses écrits par C. Barthélemy, complété par un grand nombre de notes. Paris [& Corbeil], 1859.
Bauer, Otto: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien: Wiener Volksbuchhandlung, 1907; 2. Aufl. 1924 (= Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus, Bd. 2).
Beard, Charles A.: Economic origins of Jeffersonian democracy New York: Macmillan Co., 1915; repr., z.B. New York: Free Press & London: Collier-Macmillan, 1965.
Beer, Max: Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. 6. durchges. u. erw. Aufl., Berlin 1929; weitere Neuausg.; Repr. Erlangen: Politladen, 1972. (= Politladen-Reprint; 10).
Bentham, Jeremy: Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London: T. Payne & Son, 1789; zahlreiche Neuausg., z.B. hg. von J. H. Burns und H. L. A. Hart. London: University of London, Athlone Press, 1970 (= The collected works of Jeremy Bentham). Dt. Übs. F. E. Beneke: Prinzipien der Gesetzgebung. (Hg. Etienne Dumont). Köln 1883; Repr. Frankfurt/M. 1966.
Berens, Lewis H.: The Digger Movement in the Days of the Commonwealth as Revealed in the Writings of Gerrard Winstanley, the Digger, Mystic and Rationalist, Communist and Social Reformer. London: Simpkin, Marshall, Hamilton, Kent, & Co. Ltd., 1906.
Berger, Martin: Görres als politischer Publizist. Bonn & Leipzig, 1921; (= Bücherei der Kultur und Geschichte, Bd. 18.).
Berkman, Alexander: The Bolshevik Myth. (Diary 1920-1922). London: Hutchinson and Co. [Publishers] Ltd., (1925). [ergänzt durch:] The «Anti-Climax». The Concluding Chapter of my Russian Diary „The Bolshevik Myth“. Berlin: [The Author], 1925. – Neudruck der gesamten Ausgabe, mit Einleitung von Nicolas Walter, London & Winchester, Mass.: Pluto Press (1989).
Bernstein, E.: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart: Dietz, 1899; neue, verb. u. erg. Ausg. 1921; 8. Aufl. Berlin usw.: Dietz, 1984.
– Zur Geschichte und Theorie des Socialismus: gesammelte Abhandlungen. Berlin [u.a.]: Akad. Verl. für Sociale Wissenschaften Edelheim, 1901.
Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk. – Bd. 1. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Berlin-Fichtenau: Verl. für Gesellschaft und Erziehung, 1921.
Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart [usw.]: Cotta, 1898.
– Neuausg. mit e. Essay von Lothar Gall. Berlin [W]: Propyläen Verl., 1990.
Bisset, Andrew: History of the Commonwealth of England from the death of Charles I. to the expulsion of the Long Parliament by Cromwell; being omitted chapters of the history of England. 2 Bde. London: John Murray, 1867.
Blanc, Louis: Révolution française. Histoire de dix ans. 1830-1840. 5 Bde. Paris: Pagnerre, 1843-1844. Dt. Übs. von Ludwig Buhl: Geschichte der zehn Jahre 1830-1840. Berlin: Hermes, 1844-1845.
– Histoire de la révolution française. Paris: Langlois et Leclercq (& Bruxelles,Société typographique beige), 1847-1862; 12 Bde.
– Histoire de la révolution de 1848. – Paris: Lacroix et Verboeckhoven, 1870; 2 Bde.
Boas, Franz: Kultur und Rasse. 2. Aufl., Berlin u. Leipzig: Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger, 1922.
Boétie, Etienne de: Discours de la servitude volontaire, in Memoires de L’Estat de France, Bd. III, Meidelbourg 1577; in (OEuvres Complètes d’Estienne De La Boétie. Hg. von Paul Bonnefon. Bordeaux: G. Gounouilhou, Éditeur/ Paris: J. Rouam & Cie, Éditeurs, 1892; jetzt in (OEuvres Complètes d’Estienne De La Boétie. Hg. von Louis Desgraves; 2 Bd. [Bordeaux]: William Blake and Co. Edit., (1991); – beste dt. Ausg. Von der freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitwirkung von Neithard Bulst übs. und hg. von Horst Günther. (Frankfurt/M.): Europäische Verlagsanstalt, (1980).
Bonald, Louis Gabriel Ambroise de: Recherches philosophiques sur le premier object de connaissance morale. Paris: Adrien Le Clere, 1818; Neudr. z.B. 3. Aufl. in dess. OEuvres. Paris 1836-1838, Bde. 8-9; repr. Genf: Slatkine, 1982.
Bonaparte, Louis: Idées napoléoniennes. 1839.
Bourne, Henry Richard Fox: The Life of John Locke. London: H. S. King, 1876.
Brandes, Georg: Die romantische Schule in Deutschland. Berlin 1900.
Brockway, Archibald Fenner: The Devil’s Business. A comedy in one act, etc. London: I.L.P. Publication Dept., [1926].
Buckle, Th. H.: History of Civilization in England. London: J. W. Parker & Son, 1857-1861; 2 Bde.; zahlr. Neuausg.; dt. Übs. von Arnold Rüge, Geschichte der Civilisation in England. Leipzig [u.a.]: Winter, 1868; 2 Bde.; zahlr. Neuausg.
Buonarroti, Filippo Michele: Conspiration pour l’égalité, dite de Babeuf suivie du procès auquel eile donna Heu, et des pièces justificatives, etc., etc. Brüssel: La Librairie romantique, 1828; 2 Bde.; dt. Ausg.: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit: mit dem durch sie veranlaßten Prozeß und den Belegstücken. Übers. und eingel. von A. Bios und W. Bios. Stuttgart: Dietz, 1909; (= Internationale Bibliothek; 49); Repr. Berlin (usw.): Dietz, 1975.
Burckhardt, Jakob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860; lfd. neugedr., z.B. hg. von Horst Günther: Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989.
– Die Geschichte der Renaissance. Stuttgart: Ebner & Seubert, 1868 [1867]; (= Geschichte der neueren Baukunst, [Bd. 1]).
– Griechische Kulturgeschichte, 1898-1900.
Burke, Edmund: A Vindication of Natural Society: or, a view of the miseries and evils arising to mankind from … artificial Society … By a late noble writer [i.e. H. St. John Viscount Bolingbroke; in Wirklichkeit E. Burke]. London, 1756; zahlr. Neudr., z.b. mit einer Eil. von Frank N. Pagano, Indianapolis: Liberty Classics, (1982).
– Reflections on the Revolution in France and on the proceedings in certain societies in London relative to that event. In a letter intended to have been sent to a gentleman in Paris. London: J. Dodsley, 1790; zahlr. Neuausg.; seit 1793 mehrere dt. Übs., z.B. Betrachtungen über die französische Revolution. Dt. Übertr. von Friedrich Gentz. Bearb. u. mit einem Nachw. von Lore Iser. Einl. von Dieter Henrich. Frankfurt: Suhrkamp, 1967.
– A Letter to a Noble Lord. London: J. Owen; F. & C. Rivington, 1796; zahlr. Neuausg.; dt. Übs. Edmund Burkes Rechtfertigung seines politischen Lebens. Gegen einen Angriff des Herzogs von Bedford und des Grafen Lauderdale bei Gelegenheit einer ihm verliehenen Pension. Übs. mit einer Vorrede und einigen Anmerkungen von Friedrich Gentz. Berlin 1796.
– Thoughts on the prospect of a regicide peace : in a series of letters. London : J. Owen, 1796.
Campbell, Douglas: The Puritan in Holland, England and America. An introduction to American history, 2 Bde.: London (New York): J. R. Osgood, Mcllvaine & Co., 1892.
Carlyle, Thomas: On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History. Six Lectures. Reported with emendations and additions. London: James Fräser, 1841; zahlr. Reprints u. Neuausg.; z.B. in Thomas Carlyle’s Works. The Ashburton edition, London: Chapman & Hall, 1885-1888; mehrere dt. Übs., z.B. von E. Friedeil: Heldenverehrung. München 1914.
– Oliver Cromwell’s Letters and Speeches. With elucidations by Thomas Carlyle, London 1845; zahlr. Neuausg., z.B. in Thomas Carlyles Works…, Bde. 6-8.
Chamberlain, H. St.: Demokratie und Freiheit. München: Bruckmann, 1917.
– Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. München: Bruckmann, 1899; zahlr. Neuausg., z.B. 18. Aufl., ebd., 1934.
Chaptal, Jean Antoine Claude (Comte de Chanteloup): De l’industrie française. Paris 1829; 2 Bde.
Charles-Brun, Jean: Le Régionalisme. Paris, Bloud, 1911.
Chateaubriand, François René de: Génie du christianisme, ou Beautés de la religion chrétienne. Paris, 1802; 5 Bde.; – Neuausg. mit zusätzlichen Anm.: Paris 1802; 4 Bde.; zahlr. Neuausg.; mehrere dt. Übs., z.B. von J.F. Schneller, Der Geist des Christentums. Freiburg i.B. 1856-1857; 2 Bde.
Chelcicky [Cheltschizki], Peter: Das Netz des Glaubens (Dt. Übs. u. Einl. Carl Vogl). Dachau: Einhorn-Verlag, [1923]; Neuaufl. mit Einf. v. Amedeo Molnár, Hildesheim-New York: G.Olms, 1970.
Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Erläut. d. W. von Scherff. Berlin: F. Schneider & Co., 1880 (4. Aufl.); Neuausg. hg. Werner Hahlweg. 19. Aufl., Bonn: Dümmlers, 1980.
Clauß, L. F.: Rasse und Seele. Eine Einführung in die Gegenwart. München: J.F. Lehmann, 1926 [1925]; 18. Aufl. München-Berlin, J.F. Lehmann, 1943.
Clément, Pierre: Histoire de Colbert et de son administration. 3. Aufl. Paris: Perrin, 1892; 2 Bde.; repr. Genf: Slatkine, 1980.
Coeurderoy, Ernest: De la révolution dans l’homme et dans la société, London & Brüssel 1852.
Condorcet, M. J.: Esquisse d’un tableau historique deprogrès de l’esprit humain. Paris 1795; 4. Aufl. 1823. Dt. Übs. von W. Alff u. H. Schweppenhäuser (mit frz. Text): Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt/M. 1963.
Considérant, Victor: Destinée sociale. 4 Bde., Paris: Librairie Phalanstérienne, 1837 [1836] -1844; mehrere Neuausg.
– Principes du socialisme: Manifeste de la démocratie du XlXme siècle. Suivi du «Procès de la Démocratie pacifique». Paris: Librairie phalanstérienne, 1847; repr. in Cahiers du Futur, Nr. 1: La Démocratie. Paris: Champ Libre, [1973], pp. 7-42.
– Le Socialisme devant le vieux mondef ou le Vivant devant les morts. … Suivi de Jésus-Christ devant les conseils de guerre, 2. erw. Ausg. von Victor Meunier. Paris, 1848.
Conway, Moncure D.: The Life of Thomas Paine ... To which is added a sketch of Paine by William Cobbett, hitherto unpublished; 2 Bde., New York, London: G. P. Putnam’s Sons, 1892; zahlr. Reprints, z.B. New York: Chelsea House, 1983.
Costa y Martinez, Joaquin: Colectivismo agrario en España: Doctrina y hechos, 1898. Madrid: Impr. de San Francisco de Sales, 1898; neu hg. mit Einl. v. Carlos Serrano. Zaragoza/Guara: Instituto de Estudios Agrarios, Pesqueros y Alimentarios, 1983; 2 Bde.
Cunow, Heinrich: Die soziale Verfassung des Inkareichs: Eine Untersuchung des altperuanischen Agrarkommunismus. Stuttgart: Dietz, 1896.
– Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie: Grundzüge dee Marxschen Soziologie. Berlin: Buchh. Vorwärts, 1920-1921; 2 Bde.
Curtius, Ernst: Die Jonier vor der jonischen Wanderung. Berlin 1855.
– Griechische Geschichte. Berlin 1857-1867; 3. umgearb. Aufl. Berlin 1868-1874; 3 Bde.
Dalling, Henry Lytton Bulwer, Baron: The Life of Henry John Temple, Viscount Palmerston: with Selections from his Diaries and Correspondence. London: R. Bentley, 1870-1874; 3 Bde.
De Greef, Guillaume: L’évolution des croyances et des doctrines politiques. Brüssel 1895.
Dehio, Georg: Geschichte der deutschen Kunst. Berlin u. Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, 1919-1926; 6 Bde.
De Man, Hendrik: Zur Psychologie des Sozialismus. Jena: Diederichs, 1926; Neuausg. 1927.
– Sozialismus und National-Faschismus. Potsdam: Protte, 1931.
Dhorme, Paul: La religion Assyro-Babylonienne: Conférences données à l’Institut Catholique de Paris. 2. Aufl. Paris: Librairie Victor Lecoffre, J. Gabalda, 1910.
Diderot, Denis: OEuvres complètes. Hg. J. Assezat. Paris: o. N., 1875-1877; 20 Bde.
Diercks, Gustav: Geschichte Spaniens von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Berlin 1895.
Domela Nieuwenhuis, Ferdinand: Le Socialisme en danger. Mit Vorw. von Élisée Reclus. Paris: P. V. Stock, 1897 (= Bibliothèque sociologique, Nr. 15); Neuausg. (mit Biogr., Anm., Bibliogr.) von Jean Yves Beriou, Paris: Payot, 1975.
Dragomanow, Michail (Hg.): Michael Bakunins sozial-politischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarew. Übs. aus dem Russ. von Boris Minzes. Stuttgart: Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung, 1895 (= Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten, Bd. 6); Neuausg. mit einer Einleitung von Arthur Lehning, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1977.
– La Pologne historique et la démocratie moscovite. Genf 1881.
Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Frage des Racencharakters und seiner Schädlichkeiten für Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Mit einer denkerisch freiheitlichen und praktisch abschliessenden Antwort. 5. umgearb. Aufl. Nowawes-Neuendorf bei Berlin: Personalist-Verlag von Ulrich Dühring, 1901; zuletzt Reisland, 1930.
– Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk und Schlüssel zu seinen sämtlichen Schriften. Mit seinem Bildniss. 2., erg. u. verm. Aufl. Leipzig: Druck und Verlag von CG. Naumann, 1903.
Ebe, Gustav: Architektonische Raumlehre: Entwicklung der Typen des Innenbaues. Dresden: Kühtmann, 1900-1901; 2 Bde.
Eckermann, Joh. Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Leipzig: F.A. Brockhaus [Magdeburg: Heinrichshofen (Bd. 3)], 1836-1848; 3 Bde. Zahlr. Neuausg., z. B. mit Einf. u. hrsg. v. Ernst Beutler. München: dtv, 1999.
Emerson, Ralph Waldo: Essays – Second Series. London: John Chapman, 1844.
– Representative Men: Seven Lectures. London: John Chapman, 1850. – Dt. von Oskar Dähnert: Repräsentanten der Menschheit. Plato, Swedenborg, Montaigne, Shakespeare, Napoleon, Goethe. Sieben Essays. Nachw. v. Egon Friedell. Zürich: Diogenes/detebe, 2. Aufl. 1996.
– Journals of Ralph Waldo Emerson, with annotations… Boston: Houghton Mifflin, 1909-1914; 10 Bde.
Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft: Philosophie, politische Oekonomie, Sozialismus. Leipzig: Genossenschaftsbuchdruckerei, 1877-1878.
– Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Hottingen-Zürich: Schweizerische Genossenschaftsbuchdruckerei, 1884.
– Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassisch-deutschen Philosophie. Stuttgart: Dietz, 1888.
Engländer, Sigmund: The Abolition of the State. London: Trübner, 1873.
Ewald, Alexander Charles: The Life and Times of the Hon. Algernon Sydney, 1622-1683. London 1873; 2 Bde.
Ewers, Hanns Heinz: Edgar Allan Poe. Berlin und Leipzig 1905.
Fabbri, Luce: Camisas negras. Estudio crítico histórico del origen y evolución del fascismo, sus hechos y sus ideas. Con nota final Proyectada a la actualidad autoritaria argentina por J.M. Lunazzi. Buenos Aires, 1935.
Fabbri, Luigi: Carlo Pisacane. La vita, le opere, l’azione rivoluzionaria. Cenni storici. Rom (usw.): Serantoni, 1904; (= I precursori della rivoluzione).
– Dittatura e rivoluzione. Con una lettera di E. Malatesta. Ancona: Bitelli, 1921. Repr., mit Einl. von Giuseppe Rose, Cesena : „L’Antistato“, 1971.
Ferrari, G.: Filosofia della rivoluzione. London 1851; 2 Bde.; 2. vom Autor überarb. Aufl. Mailand: Manini, o.J. [1851]; 2 Bde.
– La Federazione repubblicana. London: o. N., 1851; zahlr. Neuausg., z.B. Florenz: Felice Le Monnier, 1969.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig: O. Wigand, 1841; hg. Werner Schuffenhauer & Wolfgang Harich, Berlin: Akademie-Verlag, 1984.
– Vorlesungen über das Wesen der Religion: nebst Zusätzen und Anmerkungen. Leipzig: O. Wigand, 1851 (1845); hg. W. Harich: Berlin: Akademie-Verlag, 1984.
Fichte, Johann Gottlieb: Ueber den Begriff des wahrhaften Krieges in Bezug auf den Krieg im Jahre 1813. Tübingen, 1815; auch in: Sämtliche Werke. (1845-1846). Nachdruck Berlin: de Gruyter, 1966.
Fischer, W.: Die deutsche Sprache von heute. Berlin-Leipzig 1918.
Fourier, Charles: Traité de l’association domestique et agricole. 2 Bde., Paris & London: Bossange & Mongie, 1822-1823; 2. Aufl. u.d.T. Théorie de l’unité universelle. 4 Bde., Paris 1841-1843; repr., z.B. in Bde. II-V der Oeuvres completès de Charles Fourier. 12 vols., Paris: Éditions Anthropos, 1966-1968.
– Le Nouveau monde industriel et sociétaire, ou invention du procédé d’industrie attrayante et naturelle distribuée en séries passionnées. Paris: Bossange et Mongie, 1829; 3. Aufl. 1848; repr., z.B. in Bd. VI der Oeuvres complètes.
Frantz, Constantin: Kritik aller Parteien. Berlin 1862.
– Das neue Deutschland: beleuchtet in Briefen an einen Preussischen Staatsmann. Leipzig 1871.
– Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland. Mainz 1879.
– Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen. München 1874.
Friedländer, Ludwig: Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine. 3. Aufl. Leipzig: S. Hirzel, 1869-1871; 3 Bde.; zahlr. Neuausg.
Galiffe, John Barthélemy Gaifre: Quelques pages d’histoire exacte soit les procès … pour haute trahison contre No. Ami Perrin … et contre son accusateur No. Laurent Maigret… Genf: [o. NJ, 1862; auch Genf: H. Georg, 1868
– Nouvelles pages d’histoire exacte soit le procès de Pierre Ameaux … et ses incidents …; extrait pour la premiere fois des documents et des pièces officielles de l’époque… Genf: [o. N.], 1863; auch Genf: H. Georg, 1868.
Galton, Sir Francis: Hereditary Genius: An Enquiry into its Laws and Consequences. London 1869; Neuausg. London: Macmillan, 1914.
Garrido, Fernando: Historia de las Asociaciones obreras en Europa, ó Las clases trabajadoras regeneradas por la asociación. Barcelona: Manero, 1864; 2 Bde.
– Historia de la clases trabajadoras… precedida de un prólogo de Emilio Castelar. Madrid: Impr. de T. Nuñez Amor, 1870; repr. Algorta (Vizcaya): Zero, 1970-1971; 4 Bde.
– La España contemporánea: sus progresos morales y materiales en el siglo XIX. Barcelona: S. Manero, 1865-1867; 2 Bde.
– La Revolución en la Hacienda del Estado, las Provincias y los Municipios. Madrid: Impr. de E. Vicente, 1880.
Gentz, Friedrich von: Ueber den Ursprung und Charakter des Krieges gegen die Französische Revolution. Berlin: H. Frölich, [1801]; repr. als Bd. 1 der Gesammelten Schriften. Hildesheim-New York: Olms-Weidmann, 1997.
Gibbon, Edward: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. (1776-1788). Hg. J. B. Bury. London: Methuen & Co., 1896-1900; 7 Bde.
Gille, Paul: Esquisse d’une Philosophie de la dignité humaine. Paris: Librairie Félix Alcan, 1924.
Gobineau, Arthur de: Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris: Didot frères/ Hannover: Rumpier, 1853-1855; 4 Bde.
– Frankreichs Schicksale im Jahre 1870. (Aus einem nichtvollendeten Manuskript). Dt. Übers. von Rudolf Schlösser. Leipzig, Reclam, o. J. [1917?].
Godwin, William: An Enquiry concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness. 2 Bde., London: Printed for G.G.J. and J. Robinson, 1793 [1792]; 2. veränd. Aufl. 1796; 3. Aufl. 1798; jetzt mit Varianten in Political and Philosophical Writings of William Godwin. Hg. Mark Philp u.a. London: William Pickering (Pickering & Chatto, Pubs.), 1993 (Bde. 3-4).
Goldman, Emma: My Disillusionment in Russia. Garden City-New York: Doubleday, Page & Co., 1923; My Further Disillusionment in Russia, Garden City-New York: Doubleday, Page & Co., 1924. – Ausg. in 1 Bd. mit Einl. von Rebecca West, London: C.W. Daniels & Co., o. J. [1925]; Reprint New York: Thomas Y. Crowell (Apollo Editions), 1970.
Goldstein, Julius: Rasse und Politik. Rasse und Politik. Vorrede von Heinrich Frick. Schlüchtern: Neuwerk-Verl., 1921; auch Berlin: Philo-Verl., 1924.
Görres, Joseph: Teutschland und die Revolution. Coblenz: Hölscher, 1819.
Grote, George: A History of Greece. London 1846-56; 12 Bde.; zahlr. Neu- u. Teilausg.; dt. Übs. Geschichte Griechenlands… Nach der 2. Auflage aus dem Engl, übertr. von N. N. W. Meissner u.a. Leipzig 1850-1855; 6 Bde.
Gruber, Max von: Volk und Rasse, in Süddeutsche Monatshefte, 1927.
Guillaume, James: L’Internationale: Documents et Souvenirs (1864-1878). 4 Bde., Paris 1905-1908; mehrere Neudr. (in 2 Bdn.): New York, N.Y.: Burt Franklin, 1969; Vaduz: Topos Verlag, 1979; Paris: Éditions Gerard Lebovici (jetzt: Éditions Ivrea), 1985, mit Einl. von Marc Vuilleumier, Bibliographie und Register.
– Karl Marx Pangermaniste et l’Association Internationale des Travailleurs de 1864 à 1870. Paris: Librairie Armand Colin, 1915.
Gumplowicz, Ludwig: Der Rassenkampf. Sociologische Untersuchungen. Innsbruck 1883; 2. durchges. Aufl. Innsbruck: Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung, 1909 (im Anhang die 1875 erschienene Schrift Rasse und Staat).
– Die sociologische Staatsidee. Graz 1892; 2. verm. Aufl. Innsbruck: Wagner, 1902.
– Soziologische Essays: Soziologie und Politik. [1892] Mit Vorw. v. Franco Savorgnan. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 1928; Reprint Aalen: Scientia, 1972.
Gurlitt, C: Geschichte des Barockstiles, des Rococo und des Klassicismus… Stuttgart: Ebner & Seubert (P. Neff) [1886] 1887-1889.
Guyau, Jean-Marie: Esquisse d’une morale sans Obligation ni sanction. Paris: F. Alcan, 1885; zahlr. Neudr.; dt. v. Elisabeth Schwarz: Sittlichkeit ohne «Pflicht». Biogr.-krit. Einl. v. Alfred Fouillée u. bisher unveröff. Randbem. Friedrich Nietzsches. Leipzig: Klinkhardt, 1909; (= Philosophisch-soziologische Bücherei, Bd. 13).
– L’irreligion de l’avenir: Etude sociologique. Paris: F. Alcan, 1887.
Harper, Robert Francis: The Code of Hammurabi, King of Babylon, about 2250 B.C. Autographed text, transliteration, translation (etc.). London: Luzoc & Company, 1904; Reprint Holmes Beach, Fla.: Gaunt, 1994.
Harrar, A.: Rasse – Menschen von gestern und morgen. Leipzig.
Hauser, Otto: Die Germanen in Europa. Dresden: Heimat und Welt-Verlag, [1916].
– Rasse und Kultur. Braunschweig & Hamburg: G. Westermann, 1924.
Haym, Rudolf: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857.
– Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. Leipzig 1877-85; 2 Bde.; Neuausg. mit Einl. von Wolf gang Harich. Berlin 1954; 2 Bde.
Hegel, Karl: Geschichte der Städteverfassung von Italien. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung, 1847.
– Die Entstehung des deutschen Städtewesens. Leipzig: S. Hirzel, 1898.
– Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter. Leipzig: Duncker & Humblot, 1891. Repr. Aalen: Scientia, 1962.
Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hg. E. Gans. Berlin 1837; (= Bd. 9 der Werke); 2. erw. Ausg. hg. Carl Hegel. Berlin 1840; zahlr. Neuausg., z.B. hg. von G. Lasson. Leipzig: Verlag von Felix Meiner, 1917-1920 (Repr. Hamburg 1968); (= Philosophische Bibliothek, 17a-d).
Heine, Heinrich: Memoiren und neugesammelte Gedichte, Prosa, Briefe. Hg. Eduard Engel. Hamburg: Campe, 1884, S. 83-208; auch in: Der Prosa-Nachlaß, hg. Erich Loewenthal, Hamburg u. Berlin (1925), S. 3-89.
Hendrick, Burton J.: The Life and Letters of Walter H. Page. Garden City, NY: Doubleday Page, 1922.
Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität. Riga 1793-, 1797 (1794); Neudr., z.B. in Sämtliche Werke. Hg. B. Suphan, Bde. 17-18. Berlin 1881, 1893 (Repr. Hildesheim 1967).
– Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Riga 1784-91; Neudr., z.B. ebd. Bde. 13-14. Berlin 1887, 1909; auch hg. H. Stolpe, Berlin-Weimar 1965.
Hertz, Friedrich: Rasse und Kultur. Eine kritische Untersuchung der Rassentheorien… 3., gänzlich neubearb. u. verm. Aufl. Leipzig: Alfred Kröner Verlag, 1925; (= Philosophisch-soziologische Bücherei, Bd. 34).
Herwegh, Marcel: 1848. Briefe von und an Georg Herwegh hg. von Marcel Herwegh. Paris-Leipzig-München: Verlag von Albert Langen, 1896.
Hess, Moses: Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage. Briefe und Noten. Leipzig: Eduard Wengler, 1862; zahlr. Neuausg., u.a. mit einem Nachwort von Theodor Zlocisti, Wien und Jerusalem: R. Löwit, 1935.
Hinojosa, Eduardo: El origen del régimen municipal en Castilla y Léon, 1919.
Hinter den Kulissen des französischen Journalismus: von einem Pariser Chefredakteur [d.i. Eduard Nathan (-Ganz)]. Berlin: Deutsche Rundschau, 1925.
Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine Abrechnung. München 1925-1927; 2 Bde.
Hobbes, Thomas: Leviathan, or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. London 1651. Zahlr. Neuausg., z.B. hg. u. eingel. M. Oakeshott. Oxford 1957 u.ö. Dt. Übs. von Walter Euchner, hg. u. eingel. von Iring Fetscher. Neuwied-Berlin 1966; mehrere Neudr.
Hooker, Richard: The Laws of Ecclesiastical Polity, 1593-94 (Neue Ausg. 1907).
Horaz: Oden. Übs. K.W. Ramler. Berlin 1818; auch z.B. als Die Gedichte des Horaz. (Übs. R. Helm). Stuttgart 1954.
Humboldt, Wilhelm von: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung der Menschheit. Berlin 1836; Repr. Bonn-München 1960.
– Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) Breslau 1851 [1850]; zahlr. Neudr.
Hunter, William Wilson: A History of British India. London: Longmans & Co., 1899-1900; 2 Bde.
Ibsen, Henrik: Briefe von Henrik Ibsen. Hg. mit Einl. u. Anm. v. Julius Elias u. Halvdan Koht. Berlin: S. Fischer, 1905.
– Henrik Ibsens sämtliche Werke in deutscher Sprache. Berlin: S. Fischer, 1898-[1904]; 2. Reihe: Nachgelassene Schriften. Hg. Julius Elias u. Halvdan Koht. Berlin: S. Fischer, 1909.
Ihering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts. Bd. 1, Leipzig 1852.
Jefferson, Thomas: Memoirs, Correspondence, and Miscellanies, from the papers of T. J. Hg. von Thomas Jefferson Randolph. London 1829; 4 Bde.; zahlr. Neuausg.
Joli, H.: Ignace de Loyola. Paris 1899.
Kautsky, Karl: Die Befreiung der Nationen. Stuttgart: Dietz, 1917.
– Die Diktatur des Proletariats. Wien: Verl. der Wiener Volksbuchh., Brand, 1918; Neuausg., z.B. hg. von Hans-Jürgen Mende. Berlin: Dietz Verlag, 1990.
– Die materialistische Geschichtsauffassung. Berlin: Dietz, 1927; 2 Bde.: 1. Natur und Gesellschaft; – 2. Der Staat und die Entwicklung der Menschheit, gek. Neuausg., hg., eingel. und annotiert von John H. Kautsky. Berlin [W] [u.a.]: Dietz, 1988.
– Nationalität und Internationalität. Stuttgart: Singer, 1908; (= Die neue Zeit: Ergänzungshefte, 1).
Kohn, Hans: Geschichte der nationalen Bewegung im Orient. Berlin-Grunewald: K Vowinckel, 1928.
Kowalewskij, Maksim M.: Die ökonomische Entwicklung Europas bis zum Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsform. Aus dem Russ. übers. Berlin: Prager, 1901-1914; 7 Bde.; (= Bibliothek der Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftswissenschaft, 11-16, 20).
– La France économique et sociale à la veille de la révolution. Paris, 1911; (= Bibliothèque sociologique internationale, 39-40).
Kropotkin, Peter: Ethik. Erster Band: Ursprung und Entwicklung der Sitten. Berlin: Verlag «Der Syndikalist», 1923; Repr. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1976.
– The State: Its Role in History. London: Freedom, 1898 (= Freedom Pamphlet, 11); zahlr. Neuausg.; dt. Übs. von Ladislaus Gumplowicz, in Der Sozialist (Berlin), 7. Jg. Nr. 41-52: 9. Okt-25. Dez. 1897; 8. Jg. Nr. 1-7: 1. Jan.-12. Febr. 1898; mehrere Neudr., z.B. in Aufsatzsammlung. Bd. 2: Der Staat. Frankfurt a.M.: Verlag Freie Gesellschaft, o.J. [1978], S. 5-45.
– Mutual Aid: A Factor of Evolution. London: W. Heinemann, 1902; zahlr. Neudr.; dt. Übs. von Gustav Landauer: Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. Leipzig: Theodor Thomas, 1904; Neudr. u.d.T. Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, z.B. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1975 u.ö.; Grafenau: Trotzdem Verlag, 1993.
– The Great French Revolution 1789-1793. Übs. von Nanny F. Dryhurst und Alexandra Kropotkin, London: W. Heinemann, 1909; zahlr. Neudr.; dt. Übs. von Gustav Landauer, Leipzig: Theodor Thomas, 1909 (2 Bde.); zahlr. Neuausg., z.B. Leipzig-Weimar: Kiepenheuer Verlag, 1982.
– «The Modern State», in Freedom (London), Nr. 295-301, 305: Nov. 1913-Mai 1914, Sept. 1914; dt. Übers. von Gustav Landauer: «Der moderne Staat», in Der Sozialist (Berlin-Bern), 5. Jg. Nr. 7-19: April-Nov. 1913; repr. in Aufsatzsammlung, Bd. 2: Der Staat Frankfurt a.M.: Verlag Freie Gesellschaft, o.J. [1978], S. 47-101.
– La Science moderne et l’anarchie, [2., korr. u. erw. Aufl.] Paris: P.-V. Stock, 1913 (= Bibliothèque sociologique, 49).
Kulczycki, Ludwik: Geschichte der russischen Revolution. Übers. aus dem Poln. von Anna Schapire-Neurath [u.a.]. Gotha: Perthes, 1910-1911-1914; 3 Bde.; 1. Von den Dekabristen bis zu dem Versuch, die Agitation ins Volk zu tragen (1825 bis 1870); – 2. Vom Versuch, die Agitation ins Volk zu tragen bis zum Verfall der Organisation «Volksfreiheit» (1870 bis 1886); – 3. Vom Beginn der sozialdemokratischen Bewegung bis zum Ausbruch der Unzufriedenheit in der russischen Gesellschaft (1886 bis 1900).
Labriola, Antonio: Saggi intorno alla concezione materialistica della storia, 2: Del materialismo storico. Dilucidazione preliminare. 2. Aufl. mit Anh., Rom: Loescher, 1902. Kompl. Neuausg. u.d.T. Saggi sul materialismo storico. Hg. Valentino Gerratana u. Augusto Guerra. Roma: Ed. Riuniti, 1968 u.ö.; dt. Über den historischen Materialismus. Hg. von A. Ascheri-Osterlow und C. Pozzoli. [Frankfurt/M.]: Suhrkamp, [1974]
Lafargue, John: Great Masters. New York 1906.
Lafargue, Paul: Die französische Sprache vor und nach der Revolution. Stuttgart: Dietz, 1912; (= Die neue Zeit: Ergänzungshefte, 15); neue erw. Ausg. hg. u. eingel. von Jürgen Baumgarten. Hamburg: Junius-Verl, 1988; (= Sammlung Junius, 1).
Landauer Gustav: Die Revolution. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening, (1907); (= Die Gesellschaft, hg. Martin Buber, Bd. 13); mehrere Neudr., z.B. Revolution. Berlin: Karin Kramer Verlag, (1974).
– Briefe aus der französischen Revolution ausgewählt, übersetzt und erläutert von Gustav Landauer. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening, 1919; 2 Bde.; mehrere Neudr., z.B. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990.
Lange, Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn: Baedeker, 1866. Zahlr. Neuausg., z.B. hg. u. eingel. von Alfred Schmidt, Frankfurt: Suhrkamp, 1974; (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 70); 2 Bde.
Lao-tse: Die Bahn und der rechte Weg des Lao-tse: der chinesischen Urschrift nachgedacht von Alexander Ular. Leipzig: Insel, [1903]; zahlr. Neudr., z.B. [Frankfurt (Main)]: Insel, 1976.
Laski, H. J. H.: Grammar of Politics. London: G. Allen & Unwin, [1926]; repr. London (usw.): Pickering and Chatto, 1996.
Lassalle, F.: Die Philosophie Fichte’s und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes. Festrede geh. bei der am 19. Mai 1862 [...] veranstalteten Fichtefeier. Berlin, 1862.
– Ueber Verfassungswesen: ein Vortrag geh. in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein. Berlin: Jansen, 1862; Neuausg. mit Essay v. Ekkehart Krippendorff. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, (1993).
– Der italienische Krieg und die Aufgabe Preussens: eine Stimme aus der Demokratie. Berlin: Duneker, 1859. [Anon. publ.].
Lazare, Bernard: L’Antisémitisme, son histoire et ses causes. Paris: Léon Challey, 1894; engl. Übs. Anti-Semitism: Its History and Causes. New York: The International Library Publishing Co., 1903; repr. London: Britons Publ. Co., 1967.
Lazarus, Moritz: Das Leben der Seele. Berlin 1855-1857.
Lecky, Edw. Hartpole: History of European Morals from Augustus to Charlemagne. London: Longmans, Green, 1869. 2 Bde.
– History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe. London: Longmans, Green, 1865. – Dt. v. H. Jolowicz: Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Leipzig: Heidelberg: C.F. Winter, 1868.
– Democracy and Liberty. [London]: Longmans, Green, 1896.
Lefrancais, G.: La commune et la révolution. [Paris : Impr. Dupont], 1896.
– Étude sur le mouvement communaliste à Paris, en 1871. Neuchâtel: Imprimerie G. Guillaume Fils, 1871; Repr. Paris: EDHIS, 1968
Lehmann-Rußbüldt, Otto: Die blutige Internationale der Rüstungsindustrie. Hamburg-Bergedorf: Fackelreiter-Verlag, 1929; auch Berlin: Fackelreiter-Verlag, 1933.
– Der Krieg als Geschäft. Hrsg. v. d. Deutschen Friedensgesellschaft. Berlin: Nebelhorn Verl., 1932.
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution: Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Leipzig: Frankes Verlag, [1917]; (= Kommunistische Bibliothek, 4); zahlr. Neuausg., z.B. Leipzig: Reclam, 1972; (= Reclams Universal-Bibliothek, 509).
Leseine, V.: L’influence de Hegel sur Marx. Paris: Impr. Bonvalot-Jouve, 1907.
Lessing, G. E.: Die Erziehung des Menschengeschlechtes. Berlin: Chr. Friedr. Voß u. Sohn, 1780; zahlr. Neuausg., z.B. in Lessings Werke, hg. v. Kurt Wölfel, (Frankfurt/M.): Insel, (1967), Bd. 2, S. 544-563.
– Ernst und Falk: Gespräche für Freimaurer. Wolfenbüttel [= Göttingen: J.C. Dietrich], 1778 (1-3); Frankfurt/M.: H.L. Brönner, 1780 (4-5); Neuausg. ebd. S. 509-543.
– Soldaten und Mönche. 1780.
Letourneau, Charles: L’évolution de l’esclavage dans les diverses races humaines. Paris: Vigot frères, 1897; (= Bibliothèque anthropologique, Bd. 17).
– L’évolution religieuse dans les diverses races humaines. Paris: Vigot 1892.
Leverdays, Emile: Les Assemblées parlantes: Critique du gouvernement représentatif Paris: C. Marpon & E. Flammarion, 1883.
Locke, John: An essay concerning humane understanding: in four books. London: Prt. by Eliz. Holt for Thomas Bassett, 1690 [1689]. Dt. Übs. Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg: Felix Meiner, 4. Aufl. 1981/1988.
– A [second / third…] letter concerning toleration: humbly submitted, &c. [Aus dem Lat. übs. v. Wm. Poppte]. London: Awnsham & Churchill, 1689-1690-1692. Dt.: Ein Brief über Toleranz. Einl. u. übers. v. Julius Ebbinghaus. Hamburg: F. Meiner, 1996; (= Philosophische Bibliothek, Bd. 289).
– Treatise on Civil Government. 1690. Dt. Übs. v. Hans-J. Hoffmann: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. u. eingel. v. Euchner, Walter. (Frankfurt/M): Suhrkamp, 1977.
Luchaire, Achille: Innocent III, la croisade des Albigeois. Paris: Haehette, 1905.
Lundin, Hilda G.: The Influence of Jeremy Bentham on English Democratic Development. Iowa City 1920; (= University of Iowa Studies in the Social Sciences. Bd. 7 Nr. 3.).
Luschan, Felix von: Völker, Rassen und Sprachen. Berlin 1922.
Luxemburg, Rosa: Die russische Revolution: eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß… Berlin: Verlag Gesellschaft und Erziehung, 1922; zahlr. Neuausg., z.b. eingel. u. hg. Ossip K. Flechtheim. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1963.
Machiavelli, Niccolò: Discorsi sopra la prima deca di Titus Livius (1512). Mit biogr. u. krit. Anm. Mailand: Casa Ed. Sonzogno, 1931; dt. Ausg. z.B. Erörterungen über die erste Dekade des Titus Livius. Übers. von W. Grüzmacher. Berlin: Heimann, 1870.
– Il Principe (1513-14); nach der dt. Übs. Der Fürstenspiegel von F. von Oppeln-Bronikowski, Jena: Diederichs, 1912; zahlr. Neuausg., z.B. Der Fürst: «Il principe». Übs. und hg. von Rudolf Zorn. Stuttgart: Kröner, 1963.
Macpherson, John/Kurtz, Joh. Heinr.: Church History. [Bd. 2]. New York: Funk & Wagnalls, [1888].
Maistre, Joseph de: De Pape. Paris: G. Charpentier, [1817?]; krit. Neuausg. mit Einl. v. Jacques Lovie u. Joannès Chetai, Genf: Droz, 1966.
– Les soirées de Saint Pétersbourg: ou, Entretiens sur le gouvernement temporel de la Providence: suivis d’un traité sur les sacrifices. Paris: Librairie Grecque, 1821.
Mantel, Jean: Clemenceau spricht. Berlin 1930.
Marat, J. P.: The Chains of Slavery: a work wherein the clandestine and villainous attempts of princes to ruin liberty arepointed out… London: J. Almon [usw.], 1774. – Dt. Übs. a.d. Frz. von Reinhard Seufert: Die Ketten der Sklaverei. Giessen. Lollar: Andreas Achenbach, 1975.
Martyn, Carlos: Wendell Phillips: the agitator. With an appendix… Rev. ed. New York: Funk & Wagnalls, [1890].
Marx, Karl: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. Einl. Friedr. Engels. Berlin: Vorwärts (usw.), 1895.
– Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Ausg. Hamburg: Otto Meißner, 1869; 3. Aufl. ebd. 1885.
– Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalraths der Int. Arbeiter-Assoziation… Leipzig: Volksstaat, 1871.
– Zur Kritik der politischen Ökonomie. Heft 1. Berlin 1859.
– Das Kapital Kritik der politischen Oekonomie. Bd. 1. Hamburg: Otto Meißner, 1867. Marx und Engels: Die heilige Familie oder Kritik zur kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. Frankfurt/M.: Lit. Anstalt (J. Rütten), 1845.
– Manifest der kommunistischen Partei. London: Office der «Bildungs-Gesellschaft für Arbeiten»…, o. J. [1848].
– Briefwechsel zwischen K. Marx und F. Engels. 4 Bde. (Stuttgart: J.H.W. Dietz 1913); 1929-31.
Masaryk: Th. G.: Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus: Studien zur socialen Frage. Wien: C. Konegen, 1899; Repr. Osnabrück: Otto Zeller, 1964.
Mathiez, A.: Etudes robespierristes. Paris: Colin, 1917-1918; 2 Bde.
– Les origines des cultes révolutionnaires. (1789-1792). Paris: G. Bellais, 1904. Reprint Genf: Megariotis, 1977.
Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart (& Berlin) 1901-1902; 3 Bde.; 3., verm. u. Überarb. Aufl. Leipzig 1923; repr. Hildesheim: Olms 1967-1969.
– Die Sprache. Frankfurt a.M.: Lit. Anstalt Rütten & Loening, 1906; (= Die Gesellschaft, hg. Martin Buber, Bd. 9).
– Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart und Leipzig 1921-23; 4 Bde.; repr. Frankfurt/M.: Eichborn, 1989.
Mayer, Gustav: Bismarck und Lassalle: ihr Briefwechsel und ihre Gespräche. Berlin: Dietz, 1928.
Mazzini, Giuseppe: Allgemeine Unterweisung für die Verbrüderung des Jungen Italien (1831). In Politische Schriften. Band 1. Dt. von Siegfried Flesch. Leipzig: Reichenbach, 1911.
Meaux, Alfred: Les luttes religieuses en France au XVIme siècle. Paris: E. Plon, 1879.
Mejía, Pero: Relación de las comunidades de Castilla. Barcelona: Munoz Moya y Montraveta, o. J. [1985?].
Mehring, Franz: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Stuttgart: Dietz, 1897-1898; (= Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen; 3,1-2); zahlr. Neuausg.
– Karl Marx: Geschichte seines Lebens. Leipzig: Leipziger Buchdruckerei, 1918; zahlr. Neuausg.
Melegari, Dora: La giovine Italia e la giovine Europa. Dal earteggio inedito di Giuseppe Mazzini a Luigi Amedeo Melegari. Milano, Fratelli Treves, 1906.
Merriam, Charles Edward: A History of American Political Theories. New York & London: Macmillan, 1913. Repr. New York, Russell & Russell [1968].
Michels, Robert: Political Parties: a sociological study of the oligarchical tendencies of modern democracy. Aus d. Ital. von Eden & Cedar Paul. London, Jarrold & Sons [1915]. – Dt. Orig. Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie: Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Leipzig: Klinkhardt, 1911; Neuausg. z.B. Stuttgart: Kröner, 1957, 4. Aufl. (eingel. u. hg. v. Frank R. Pfetsch), 1989.
– Sozialismus und Fascismus in Italien. München: Meyer & Jessen, 1925; (= Sozialismus und Fascismus als politische Strömungen in Italien, 2).
Mill, John Stuart: Essay on Liberty. London: John W. Parker, 1859. Dt. Über Freiheit. Aus d. Engl, übertr. und mit einem Anh. vers. von Achim von Borries. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt, 1969.
– Considerations on Representative Government. London: Parker, 1861. Dt. v. Hannelore Irle-Dietrich: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie. Hg. u. eingel. v. Kurt L. Shell. Paderborn: Schöningh, 1971.
Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Berlin: Weidmann, 1854-1856. 3 Bde.; Neuausg. München: dtv, 1976.
Montesquieu, Charles Louis de Secondat: Lettres persanes. Amsterdam 1721; rev. u. korr. Amsterdam 1731. – Dt. Perserbriefe. Aus d. Franz. v. Jürgen von Stackelberg. (Frankfurt/M.): Insel, 1997.
– De l’esprit des lois, ou Du rapport que les lois doivent avoir avec la Constitution de chaque gouvernement, les moeurs, le climat, la religion. (usw.). Genf 1748; 2 Bde. – Dt. Übs. v. Ernst Forsthoff: Vom Geist der Gesetze. Tübingen 1951 (1992); 2 Bde.
Mosley, Oswald: The Greater Britain. New ed. Chelsea: BUF, 1934.
Moszkowski, Alexander: Einstein: Einblicke in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche Betrachtungen über die Relativitätstheorie und ein neues Weltsystem. Entwickelt aus Gesprächen mit Einstein. Hamburg: Hoffmann & Campe / Berlin: F. Fontane, 1921.
Mühlenbeck, E.: Etude sur les origines de la Sainte Alliance. Paris, F. Vieweg [1887].
Müller, F. Max: The Science of Thought. London (& New York): C. Scribner’s sons, 1887; Repr. New York: AMS Press, 1978.
Munk, Salomon: Mélanges de philosophie juive et arabe, renfermant des extraits méthodiques de la Source de vie de Salomon ibn-Gebirol (dit Avicebron), tr. en français sur la version hébraïque de Schem-Tob ibn-Falaquéra, et accompagnés de notes critiques et explicatives; – un mémoire sur la vie, les écrits et la philosophie d’Ibn-Gebirol, – des notices sur les principaux philosophes arabes et leurs doctrines, – et une esquisse historique de la philosophie chez les Juifs. Paris: A. Franck, 1859. Repr. Paris: Vrin, 1988.
Muñoz y Romero, Tomás: Colección defueros municipales y cartas pueblas de las [!] reinos de Castilla, Leon, Corona de Aragón y Navarra coordinada y anotada. Madrid: J. M. Alonso, 1847; zahlr. Repr., z. B. Madrid: Ediciones Atlas, 1972.
Mussolini, Benito: My Autobiography. New York: Charles Scribner’s Sons, 1928.
Muther, Richard: Geschichte der Malerei. Leipzig 1909.
Myers, Gustavus: History of Canadian Wealth. Chicago: Charles H. Kerr & Co (1914).
Nearing, Scott: Oil and the Germs of War. Ridgewood, N. J.: Nellie S. Nearing [1923].
Nearing, Scott & Joseph Freeman: Dollar Diplomacy. New York, NY: Huebsch, 1925.
Nettlau, Max: Anarchisten und Sozial-Revolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880-1886. Berlin: ASY-Verlag GmbH, (Febr. 1931); (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus, V);
– Bakunin e l’Internazionale in Italia dal 1864 al 1872. Mit Vorwort von Errico Malatesta. Genf: Edizione del Risveglio, 1928; Reprint Rom: Savelli, 1975 u.ö.
– Bibliographie de l’anarchie. Vorwort von Elisée Reclus. Brüssel: Bibliothèque des «Temps Nouveaux» / Paris: P.-V. Stock, 1897; (= Bibliothèque des «Temps Nouveaux», 8); mehrere Reprints, z.B. New York: Burt Franklin, (1968).
– Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880. Berlin: Verlag «Der Syndikalist» Fritz Kater, 1927; (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus, Bd. 2); mehrere Neudrucke.
– Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus, Bd. 1). Berlin: Verlag «Der Syndikalist», 1925; mehrere Neudrucke.
– Documentos ineditos sobre la Internacional y la Alianza en España. Buenos Aires: Editorial La Protesta, 1930.
– Eliseo Reclus: La vida de un sabio y rebelde. (Übs. von V. Orobón Fernández.) Barcelona: Publicaciones de «La Revista Bianca», n. d. [1929-30]; 2 Bde. Korrig. u. erw. Übs. von Elisée Reclus. Anarchist und Gelehrter (1830-1905). Berlin: Verlag «Der Syndikalist» Fritz Kater, 1928; (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus, Bd. 4); Reprint Vaduz/Liechtenstein: Topos Verlag AG, 1977.
– Errico Malatesta: Das Leben eines Anarchisten. Vom Verfasser besorgte deutsche Ausgabe des italienischen Werkes (New York 1922). Berlin: Verlag «Der Syndikalist», 1922; Neudr. (mit einer Einleitung von Bernd Kramer) u.d.T. Die revolutionären Aktionen des italienischen Proletariats und die Rolle Errico Malatestas. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1973.
– Michael Bakunin. Eine Biographie. (The Life of Michael Bakounine). Privately printed (reproduced by the autocopyist) by the author. London, 21.2.1896 – 8.7.1900. 3 Bde.
– Miguel Bakunin, la Internacional y la Alianza en España. [Vorwort von E. Nido]. o.O. [= Buenos Aires: Editorial La Protesta] 1925; (= Biblioteca de La Protesta, 1). Mehrere Neudr., z.B. mit Einl. u. Anm. von Clara E. Lida. (New York): Iberama Publishing Co. Inc., 1971; (= Colección Historia Social de España, dirigada por Jose Nieto Ruiz).
Newbold, J. T. Walton: How Europe armed for War. London 1916.
Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, oder, Wie man mit dem Hammer philosophiert. Leipzig 1888.
– Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Leipzig 1886; 2 Bde.
– Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig 1895 (= Werke, Bd. 1).
Nordau, Max: Der Sinn der Geschichte. Berlin: Carl Duncker, 1909.
Novalis: Die Christenheit oder Europa. (1799; posthum veröff.). Hg. u. eingel. v. Otto Heuschele. Stuttgart: Reclam (1966).
Obuchow, Marianne: Die internationale Pest. Berlin 1933.
Oliveira Martins, Joaquim Pedro: Historia de la Civilización ibérica. Durchges. u. vom Autor erw. Übs. v. Don Luciano Taxonera. Madrid: Fortanet, 1894; Neuausg. Málaga: Editorial Algazara, 1993.
Onken, Wilhelm: Die Staatslehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen. Ein Beitrag zur Geschichte der hellenischen Staatsidee und zur Einführung in die aristotelische Politik. Leipzig: W. Engelmann, 1870-1875; 2 Bde.; Repr. Aalen: Scientia, 1964.
Oppenheimer, Franz: Moderne Geschichtsphilosophie. 1909.
– System der Soziologie. Jena: G. Fischer, 1922-1929; 3 in 5 Bdn.; 2. Aufl. in 9 Bdn. 1964.
Orsi, Pietro: Cavour and the Making of Modern Italy, 1810-1861. New York (& London): G. P. Putnam’s Sons, 1904; neue Ausg. 1926.
Paine, Thomas: Common Sense. Philadelphia 1776.
– The Rights of Man; Being an Answer to Mr. Burkes Attack on the French Revolution. London 1791-1792; zahlr. Neuausg.; dt. z.B. Die Rechte des Menschen. Hg., übers. u. eingel. v. Wolfgang Mönke. Berlin [Ost]: Akademie-Verlag, 1962.
– The Age of Reason. Boston/Paris 1794. Dt. v. Voelkel, Magdeburg 1890.
Pater, Walter H.: The Renaissance. London: Macmillan, 1873; Repr. Oxford: Blackwell, 1967.
Paul, C. Kegan: William Godwin: His friends and contemporaries. London: King, 1876; 2 Bde.
Pí y Margall, Francisco: La Reacción y la Revolución. Estudios Politicos y Sociales. Madrid: Rivadeneyra, 1854; Neudr. mit Vorwort von Federica Montseny, Barcelona: Ed. de La Revista blanca, o.J. [1928?].
– Las Nacionalidades. Madrid: Impr. y libreria de E. Martínez, 1877. Neuausg. eingel. v. Jordi Solé Tura: Madrid: Centro de Estudios Constitucionales, 1986.
– La Federación: Discurso pronunciado ante el Tribunal de Imprenta en Defensa del Periódico federalista La Union, y otros Trabajos acerca del Sistema federativo, precedidos de una Notice biográfica del autor, por D. Pablo Correa y Zafrilla. Madrid: Enrique Vicente, 1880.
Pilsudski, Joseph: The Memoirs of a Polish Revolutionary and Soldier. 1931.
Pisacane, Carlo: Saggi storico-politici-militari sull’Italia. 3. Band: La Rivoluzione. Mailand 1860. Mehrere Neuausg., z.B. in Opere complete. Hg. Aldo Romano. Mailand 1957-1964.
Plato: Politeia. Dt. z.B. u.d.T. Die Republik, oder ein Gespräch über das Gerechte. Lemgo 1780; u.d.T. Der Staat, z.B. übs. v. O. Apelt (hg. v. K. Bormann), Hamburg 1961.
Pohlenz, M.: Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen. Leipzig: Quelle & Meyer, 1923.
Prescott, William H.: History of the Conquest of Mexico: with a preliminary view of the ancient Mexican civilization, and the life of the conqueror, Hernando Cortés. London: R. Bentley, 1843. 3 Bde.; zahlr. Neuausg.; dt. Übs.: Entdeckung und Eroberung von Mexiko. Baden: Gyr-Verlag, 1950.
– History of the conquest of Peru. With a preliminary view of the civilization of the Incas. London: R. Bentley, 1846; 2 Bde.; dt. Übs.: Entdeckung und Eroberung von Peru. Baden: Gyr-Verlag, 1951.
Price, Richard: Observations on the Nature of Civil Liberty and the Justice and Policy of the War with America. (1776); in: Political writings. Hg. D.O. Thomas. Cambridge (usw.): Cambridge University Press, 1991; (= Cambridge texts in the history of political thought).
Proudhon, Pierre-Joseph: De la Capacité Politique des Classes Ouvrières. Paris, E. Dentu, Libraire-Éditeur, 1865; beste Neuausg. in Oeuvres complètes de P.-J. Proudhon (Nouvelle édition). Einf. u. Anm. von Maxime Leroy. Paris: Librairie des Sciences politiques et sociales Marcel Rivière, 1924.
– De la création de l’ordre de l’humanité ou Principes d’organisation politique. 2. Ausg. Paris: Garnier frères, 1848; beste Neuausg. in Oeuvres complètes… (Nouv. éd.). Einf. u. Anm. von Célestin Bouglé u. Armand Cuvillier. Paris: Rivière, 1927.
– De la Justice dans la Révolution et dans l’Église, nouveaux principes de Philosophie pratique adressés à S. Em. Mgr. Mathieu, cardinal, arvchevêque de Bésançon. Paris, Garnier frères, 1858 (3 vols.); revidierte u. erw. Ausg.: Brüssel 1860-1861 (in 12 Teilen); beste Neuausg. in Oeuvres complètes... (Nouv. éd.): De la Justice… Einl. von Georges Guy-Grand, einem Essay von Gabriel Séailles u. Anm. von Célestin Bouglé u. Jules-L. Puech. Paris: Rivière, 1930, 1931, 1932, 1935 (4 Bde.).
– Du Principe Fédératif et De la Nécessité de Reconstituer le Parti de la Révolution. Paris: E. Dentu, 1863; – La fédération et l’unité en Italie, Paris: E. Dentu, 1862; – Nouvelles observations sur l’unité italienne, Paris: E. Dentu, 1865. Beste Neuausg. in Oeuvres complètes... (Nouv. éd.): Du Principe fédératif La Fédération et l’Unité en Italie. Nouvelles observations sur l’Unité italienne. France et Rhin. Einleitungen von Georges Scelle, Jules-L. Puech u. Théodore Ruyssen und Anm. von Jules-L. Puech u. Th. Ruyssen. Paris: Rivière, 1959. Dt. Übs. Über das Föderative Prinzip und die Notwendigkeit, die Partei der Revolution wieder aufzubauen. Frankfurt/M. (usw.): Lang, 1989-1992; (= Demokratie, Ökologie, Föderalismus, Bde. 6 u. 9).
– Idée Générale de la Révolution au XIX Siècle. (Choix d’études sur la pratique révolutionnaire et industrielle). Paris: Garnier Frères, Libraires, 1851; beste Neuausg. in Oeuvres complètes... (Nouv. éd.), Einl. u. Anm. von Maxime Leroy. Paris: Rivière, 1924.
– Philosophie du progrès, Programme. Brüssel: A. Lebègue, 1853. Beste Neuausg. mit Einl. u. Anm. v. Théodor Ruyssen (u. J.-L. Puech), in Oeuvres complètes... (Nouv. éd.). Paris: Rivière, 1946.
– Qu’est-ce que la Propriété? ou Recherches sur le principe du droit et du gouvemement. Premier mémoire. Paris, J.-F. Brocard, [Juni] 1840; beste neue Ausg. in Oeuvres complètes... (Nouv. éd.): Candidature à la pension Suard – De la Célébration du Dimanche – Qu’est-ce que la Propriété? Einf. u. Anm. von Michel Augé-Laribe. Paris: Rivière, 1926. Dt. Was ist das Eigentum? Erste Denkschrift; Untersuchungen über den Ursprung und die Grundlagen des Rechts und der Herrschaft. Übers. u. mit einem Vorw. von Alfons Fedor Cohn. Berlin: Zack, 1896 u.ö.
Quinet, Edgar: Les révolutions d’Italie. Paris: Chamerot, 1848-1852. 2 Bde.
– La révolution. Paris, Bruxelles: A. Lacroix, Verboeckhoven, 1865; Neuausg. mit Einl. v. Claude Lefort. [Paris]: Belin, (1987).
– L’esprit nouveau. Paris: Germer-Baillière [1874]; 3. veränd. Aufl. Paris : E. Dentu, 1875; Repr. Genf: Slatkine, 1973.
Ranke, Leopold: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Berlin: Duncker u. Humblot, 1839-1847. 6 Bde.; zahlr. Neuausg.
– Die römischen Päpste: ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin: Duncker u. Humblot, 1834-1836. 3 Bde.; zahlr. Neuausg.
Reclus, Elisée: L’homme et la terre, 6 Bde., Paris: Librairie Universelle, (1905-1908); gek. u. Überarb. Neuausg. hg. von G. Goujon, A. Perpillou u. Paul Reclus, 3 Bde.; Paris: Albin Michel, Èditeur, o. J. (1931); Auswahl mit Einl. von Béatrice Giblin, Paris: François Maspero, 1982; 2 Bde.
Rittinghausen, Moritz: Sozialdemokratische Abhandlungen, 1869 [1868-1872]; u.d.T. Die direkte Gesetzgebung durch das Volk versch. Neudrucke., 5. Ausg. Zürich: Buchhandlung des Schweizer. Grütlivereins, 1893.
Robinet, Jean Francois E.: Danton, homme d’état. Paris: Charavay frères, 1889.
Rogers, James E. Thorold: Six Centuries of Work and Wages. The history of English labour. London: W. S. Sonnenschein, 1884. – Dt. Übs. von Max Pannwitz: Die Geschichte der Englischen Arbeit. Stuttgart: Dietz, 1896; von Karl Kautsky rev. Ausg. ebd. 1906.
– The Economic Interpretation of History: lectures delivered at Worchester College Hall, Oxford, 1887-8. London: T. Fisher Unwin, 1888.
– A history of agriculture and prices in England, from the year after the Oxford parliament (1259) to the commencement of the Continental war (1793); compiled entirely from the original and contemporaneous records … Oxford: Clarendon Press, [1866-1902]; 7 Bde.
Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts; eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1930.
Rosselli, N.: Mazzini e Bakunin. Dodici anni di movimento operaio in Italia (1860-1872). Turin: Ed. Fratelli Bocca, 1927; Neudruck Turin: Einaudi, 1967 u.ö.
Rostovtzeff, Michael I.: The Social & Economic History of the Roman Empire. Oxford: The Clarendon Press, 1926; dt. v. Lothar Wickert: Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich. Leipzig: Quelle & Meyer, o. J. [1930?].
Rousseau, J. J.: Du contrat social ou principes du droit politique. Amsterdam 1762; dt. Übs. v. H. Denhardt: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Leipzig 1885; rev. v. H. Weinstock, Stuttgart: Reclam, 1958.
– Emile ou de l’éducation. Den Haag-Amsterdam 1762; 4 Bde. – Emil oder Über die Erziehung. Dt. v. C. F. Kramer. Braunschweig 1789-1791.
Russell, Bertrand: Roads to Freedom. Socialism, Anarchism, and Syndicalism. London: George Allen & Unwin Ltd., (1918); zahlr. Neuausg.; dt. Übs. Wege zur Freiheit. Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus. (Frankfurt/M.): Suhrkamp, es. 447, (1971), u.ö.
Sacken, E. von: Katechismus der Baustile; oder, Lehre der architektonischen Stilarten von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, nebst einer Erklärung der im Werke vorkommenden Kunstausdrücke. Leipzig: J. J. Weber, 1861; zahlr. Aufl. u. Neudr., z. B. Meran: Freundeskreis der k.u.k…, 1995; (= Webers illustrierte Katechismen, Bd. 39).
Saint-Simon, Henri de: De la réorganisation de la société européenne, ou de la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de L’Europe en un seul corps politique en conservant à chacun son indépendance nationale, par M. le comte de Saint-Simon et par A. Thierry, son èléve. Paris, A. Egron, 1814; Neuausg., mit Einl. v. Henry de Jouvenel: Lausanne: Centre de recherches européennes, 1967.
– Du Système industriel. Paris: Antoine-Augustin Renouard/Chez l’Auteur/Corréard, 1821-1822; 3 Bde.
– Nouveau christianisme: Dialogues entre un conservateur et un novateur. Paris: Bossange Père, 1825; Neuausg. Paris: Éditions du Seuil, 1969.– Dt. Übs. u. Einl. v. Friedrich Muckle: Neues Christentum… Leipzig: C. L. Hirschfeld, 1911.
Salvemini, G.: The Fascist Dictatorship in Italy. Einl. Ramsay Muir. London: J. Cape, [1928].
Salvioli, Joseph: Der Kapitalismus im Altertum: Studien über die römische Wirtschaftsgeschichte. Nach d. Franz. übers. von Karl Kautsky. Stuttgart: Dietz, 1912; (= Internationale Bibliothek; 52); Neuausg. ebd. 1922.
Sandfeld-Jensen, K: Die Sprachwissenschaft. Leipzig-Berlin 1923.
Sayce, Archibald Henry: The Religions of ancient Egypt and Babylonia: the Gifford lectures on the ancient Egyptian and Babylonian Conception of the Divine, delivered in Aberdeen. Edinburgh: T. & T. Clark, 1902. Repr. New York: AMS Press, 1979.
Schäfer, Heinrich: Die Leistung der ägyptischen Kunst. Leipzig: J. C. Hinrichs, 1929.
Scheffler, Karl: Der Architekt. Frankfurt a. M. 1907.
– Der Geist der Gotik. Leipzig 1921.
Schubert-Soldern, Victor von: Die Borgias und ihre Zeit. Dresden: E. Pierson’s Verlag, 1902.
Schulemann, Günther: Die Geschichte der Dalailamas. Heidelberg, C. Winter, 1911; (= Religionswissenschaftliche Bibliothek, 3. Bd.).
Sidney, Algernon: Discourses Concerning Government. With his letters. London: A. Miliar, 1763; zahlr. andere Ausg., z.B. Indianapolis: Liberty Fund, 1996.
Simpson, Frederick Moore: A History of Architectural Development. London, New York [etc.]: Longmans, Green, 1905-1911; 3 Bde.
Sismondi, Jean-Charles Simonde de: Histoire des républiques italiennes du moyen âge. 1817. Zürich: H. Gessner / Paris: H. Nicolle / Paris: Treuttel et Würtz, 1807-1818; 16 Bde.
– Histoire de la renaissance et de la liberté en Italie, de ses progrès, de sa décadence et de sa chute. Paris: Treuttel et Würtz, 1832; 2 Bde.
Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Zahlr. Ausg.; z.B. hg. von W. B. Todd. Oxford: Clarendon Pr., 1976; (= The Glasgow Edition of the works and correspondence of Adam Smith, hg. von R. H. Campbell u. A. S. Skinner, 2); 2 Bde.; Der Wohlstand der Nationen. Neu aus d. Engl, übertr. nach der 5, Aufl. (letzter Hand) und mit einer Würdigung von Horst Klaus Recktenwald. München: Beck, 1974.
– The Theory of Moral Sentiments. London: A. Miliar, A. Kincaid and J. Bell in Edinburgh, 1759; zahlr. Neuausg., z.B. Indianapolis: Liberty Fund, 1984.
Smith, Joshua Toulmin: Local Self-Government and Centralization. The characteristics of each; and its practical tendencies, as affecting social, moral, and political welfare and progress including comprehensive outlines of the english Constitution. London: Chapman, 1851 [1850].
Sombart, Werner: Händler und Helden: Patriotische Besinnungen. München 1915.
Sorel, Albert: L’Europe et la Révolution française. Paris: E. Plön (etc.), 1885-1904; 8 Bde.; Repr. Osnabrück: 0. Zeller, 1974-1986; 9 Bde.
Sorel, Georges: Réflexions sur la violence. Paris: M. Rivière, 1909; (= Etudes sur le devenir sociale, 4). - Dt. Übs. von Ludwig Oppenheimer [zuerst 1928]: Über die Gewalt. Mit einem Nachwort von George Lichtheim. Frankfurt: Suhrkamp, 1969.
– La décomposition du marxisme. Paris: Marcel Rivière, 1908 u.ö.; (= Bibliothèque du mouvement prolétarien, Bd. 3); dt. Übs. von Ernst Posse: Die Auflösung des Marxismus. Hamburg: Edition Nautilus Verl. Schulenburg, 1978.
– Les illusions du progrès. 2. erw. u. korr. Aufl. Paris: M. Rivière 1911; (= Ètude sur le devenir social, Bd. 1).
Spann, Othmar: Zur Soziologie und Philosophie des Krieges. Berlin: J. Guttentag, 1913.
Spencer, Herbert: Social Staues: or the Conditions Essential to Human Happiness Specified, and the First of Them Developed. London: John Chapman, 1851.
– The Man versus the State. London-Edinburgh: Williams & Norgate, 1884; zahlr. Neudr., z.B. With six essays on government, society and freedom. Vorw. Eric Mack u. Einl. Albert Jay Nock. Indianapolis: Liberty Classics, (1981).
Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Wien: Braumüller / München: C. H. Beck, 1918-1922; 2 Bde.
Spirito, Ugo: Capitalismo e corporativismo. Florenz: G.C. Sansoni, 1933.
Sprading, Charles T. (Hg.): Liberty and the Great Libertarians: an anthology on liberty, a hand-book of freedom. Los Angeles: For the author, 1913; Repr. New York, Arno Press, 1972.
– Freedom and Its Fundamentals. Los Angeles, Cal.: Libertarian Publ. Co., 1923.
Springer, B.: Die Blutmischung als Grundgesetz des Lebens. Berlin-Nikolassee: Verlag der Neuen Generation, [1929].
Stalin, Joseph: Leninism. Übs. v. Eden & Cedar Paul. London: G. Allen & Unwin, [1928-33]; 2 Bde.
Stein, Ludwig: Die Anfänge der menschlichen Kultur. Leipzig 1906.
Steinthal, Heymann: Der Ursprung der Sprache, im Zusammenhange mit den letzten Fragen allen Wissens. Eine Darstellung der Ansicht Wilhelm v. Humboldts, verglichen mit denen Herders und Hamanns. Berlin: Ferd. Dümmler’s Buchhandlung, 1851; Repr. Frankfurt/Main: Minerva, 1978.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig: Verlag von Otto Wigand, 1845 [Okt. 1844]; 2. Ausg. 1882; zahlr. Neuausg.; z.B. hg. von Ahlrich Meyer, Stuttgart: Reclam Verlag, o. J.
– Die Geschichte der Reaktion. I. Die Vorläufer der Reaktion. II. Die moderne Reaktion. Berlin: Allgemeine deutsche Verlagsanstalt, 1852; Repr. Aalen: Scientia, 1967.
Strasser, Vera: Psychologie der Zusammenhänge und Begebenheiten. Berlin 1921.
Strzygowski, Joseph: Orient oder Rom: Beiträge zur Geschichte der Spätantiken und Frühchristlichen Kunst. Leipzig: J.C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1901.
Suetonius: The Histories of Twelve Caesars. London: F. Etchells & H. Macdonald, 1931; dt. z.B. Leben der Caesaren. Übs. u. hg. v. André Lambert. München: dtv, 1972.
Tagore, Rabindranath: Nationalism. London: Macmillan, 1917; dt. Übs. von Helene Meyer-Franck: Nationalismus. Leipzig: Verlag Der Neue Geist, o.J.
Taine, H.: Les Origines de la France contemporaine. Paris: Hachette, 1876-1894; 6 Bde.; dt. Übs. v. L. Katscher: Die Entstehung des modernen Frankreich. Leipzig 1877-1891 / 1893-1894; 3 Bde.
– La philosophie de l’art. Paris 1865; zahlr. Neuausg. - Übs. v. E. Hardt: Philosophie der Kunst. Leipzig 1902-1903.
Thierry, Augustin: Considérations sur l’histoire de France (1827), in: Récits des temps mérovingiens, précédés de considérations sur l’histoire de France. Paris: J. Tessier, 1840; 2 Bde.
– Recueil des monuments inédits de l’histoire du Tiers état. 1. série, Chartes, coutumes, actes municipaux, Statuts des corporations d’arts et métiers des villes et communes de France. Région du Nord. Paris: Firmin Didot, 1850-1870; (= Documents inédits sur l’histoire de France).
Thoreau, Henry David: Resistance to civil government, in Aesthetic Papers, Nr. 1, ed. by Elizabeth P. Peabody. Boston: The Editor, 1849; später u.d.T. On ihe duty of civil disobedience. (in: A Yankee in Canada, 1866); zahlr. Neudrucke; maßgebliche Ausg. jetzt (unter dem ursprünglichen Titel) in: Reform Papers. Hg. Wendell Glick (= The Writings of Henry David Thoreau). Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1973, S. 63-90 & 313-329 (Anm. usw.). Dt. Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Übers., Nachw. und Anm. von W. E. Richartz. Zürich: Diogenes, 1973.
– Life Without Principle, in: Atlantic Monthly, Bd. XII Nr. 72: Oct. 1863, S. 484-495; zahlr. Neudr., z.b. in Reform Papers, S. 155-179 & 369-377 (Anm. usw.); dt. Übs.
Tivaroni, Carlo: Storia critica del risorgimento italiano. Turin-Neapel: L. Roux, 1888-1897; 9 Bde.
Tocqueville, Alexis de: De la démocratie en Amérique. Paris: C. Gosselin, 1835-1840; 4 Bde. – Dt. v. Hans Zbinden: Über die Demokratie in Amerika. Zürich: Manesse, 1987.
Tolstoi, Leo: Church and State. 1891.
– The Slavery of our Time. 1900.
– War. 1892.
Treumann, Rudolf: Die Monarchomachen: Eine Darstellung der revolutionären Staatslehren des XVI. Jahrhunderts (1573-1599). Leipzig: Duncker & Humblot, 1895.
Trotzki, Leo: The Defence of Terrorism: (Terrorism and Communism): a reply to Karl Kautsky. With a preface by H. N. Brailsford. London: Labour Pub. Co., 1921; amerik. Ausg. u.d.T.: Dictatorship vs. Democracy (Terrorism and communism) a reply to Karl Kautsky. With a preface by H. N. Brailsford, and a foreword by Max Bedact. New York City: Workers Party of America, 1922.
– Lenin. New York: Minton, Balch & Company / London (usw.): Harrap, 1925. Dt. Der junge Lenin. Übertr. von Walter Fischer. Wien (usw.): Molden, 1969.
– The Permanent Revolution. Transl. by Max Shachtman. New York: Pioneer Publ., 1931. Dt. Übs. z.B. Die permanente Revolution. Frankfurt: Fischer, 1970.
Ular, Alexander: Die Politik: Untersuchung über die völkerpsychologischen Bedingungen gesellschaftlicher Organisation. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening, (1906); (= Die Gesellschaft, 3).
– Un empire russo-chinois. Paris, F. Juven [1903].
Vatter, Ernst: Die Rassen und Völker der Erde. Leipzig 1927.
Vera y González, E.: Pí y Margall y la política contemporánea. 1886.
Vogl, Carl: Peter Cheltschizki : Ein Prophet an der Wende der Zeiten. Zürich & Leipzig: Rotapfel-Verlag, 1926.
Voltaire: Traité sur la tolérance à l’occasion de la mort de Jean Calas. Genf 1763; mehrere dt. Übs.
Vrehse, Eduard: Geschichte des preußischen Hofes. Hamburg 1851.
Waddell, Laurence Austine: The Buddhism of Tibet, or Lamaism, with its mystic cults, symbolism and mythology, and in its relation to Indian Buddhism. London: W. H. Allen, 1895; Repr. z.B. Jalandhar City: Gaurav Pub. House, 1985.
Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850.
– Kunst und die Revolution. Leipzig: Otto Wigand, 1849.
Warren, Josiah: True Civilization: A Subject of Vital and Serious Interest to all People; but most immediately to Men and Women of Labor and Sorrow. Part I. Cliftondale, Mass.: The Author, 1869.
Wasserzieher, Ernst: Bilderbuch der deutschen Sprache: fünfundsiebzig Aufsätze zur Sprachgeschichte. 2., verb. Aufl. Berlin: F. Dümmlers, 1925.
Watson, John: Comte, Mill, and Spencer: an outline of philosophy. Glasgow: J. Maclehose & New York: Macmillan & Co., 1895; Repr. Bristol: Thoemmes Press, 1994.
Weller, Emil O.: Die Freiheitsbestrebungen der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert, dargestellt in Zeugnissen ihrer Literatur. Leipzig: E. D. Weller, 1847; 2. verm. Aufl. Leipzig, 1849; Nachdr. d. Ausg. 1847: Kronberg/Ts.: Scriptor-Verlag, 1975.
Whipple, Leon (for the American Civil Liberties Union): The Story of Civil Liberty in the United States. New York, NY: Vanguard Press, 1927; repr. Westport, Conn.: Greenwood, (1970).
Wilda, Wilhelm Eduard: Das Gildenwesen im Mittelalter. Halle: Verlag der Rengerschen Buchhandlung, 1831; Repr. Aalen: Scientia Verlag, 1964.
Wilde, Oskar: The Soul of Man Under Socialism. Zuerst in Fortnightly Review (London), February 1891, S. 292-319. Dt. von Gustav Landauer: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Aus dem Zuchthaus von Reading. Aesthetisches Manifest. Berlin: Karl Schnabel, 1904; mehrere Neudrucke, z.B. Zürich: Diogenes Verlag, 1989.
Willson, Beckles: Ledger and Sword; or, The honourable Company of merchants of England trading to the East Indies (1599-1874). London, New York [etc.]: Longmans, Green, 1903.
Winckelmann, Johann Joachim: Johann Winckelmanns … Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden: In der Waltherischen Hof-Buchhandlung, 1764; 2 Bde.; zahlr. Neuausg.
Wirth, Albrecht: Das Auf und Ab der Völker. Leipzig 1920.
– Volkstum und Weltmacht in der Geschichte. München: F. Bruckmann, 1901; 2. verm. Aufl. München: Bruckmann, 1904.
Woltmann, Ludwig: Die Germanen in Frankreich: Eine Untersuchung über den Einfluss der germanischen Rasse auf die Geschichte und Kultur Frankreichs. Jena: Eugen Diederichs, 1907; Neuausg., hg. von O. Reche, Leipzig: Dörner, 1936.
– Die Germanen und die Renaissance in Italien. Leipzig: Thüringische Verlagsanstalt, 1905.
Young, Arthur: Travels during the years 1787, 1788, and 1789. Undertaken more particularly with a view of ascertaining the Cultivation, Wealth, Resources, and National Prosperity of the Kingdom of France. Bury St. Edmunds: J. Rackham, 1792-1794; 2 Bde.; zahlr. Neuaufl.
Zancada, Práxedes: El Obrero en España: Notas para su Historia política y social. Con pról. de [J.] Canalejas [y Mendez]. Barcelona (usw.): Maucci, 1902.
Ziese, Maxim und Ziese-Beringer, Hermann: Generäle, Händler und Soldaten; ein Totentanz der Tatsachen um die von gegenüber. Berlin: Frundsberg-Verlag, 1930.
Zimmermann, W.: Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges: Nach handschriftlichen und gedruckten Quellen. Stuttgart: Köhler, 1841-1842 (2 Bde.); 2. Aufl. 1856; zahlr. Neuaufl., z.B. Der Große Deutsche Bauernkrieg: Volksausgabe. Berlin: Das europäische Buch, 1975.
[1] Rudolf Rocker, Nationalismus und Kultur, Unruhen Publiktionen, 2015, S. 8. - in Kapitel: I. Die Unzulänglichkeit aller Geschichtsauffassungen
[2] Rocker, S. 191. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[3] Rocker, S. 193 f. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[5] Rocker, S. 156 f. - in Kapitel: X. Liberalismus und Demokratie
[6] J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts; Erstes Buch, Kapitel VII.
[8] Rocker, S. 160 f. - in Kapitel: X. Liberalismus und Demokratie
[9] Saint-Just, siehe Rocker, S. 174. - in Kapitel: X. Liberalismus und Demokratie
[10] Heinrich Meier [1998], Leo Strauss und der Begriff des Politischen, S. 133.
[11] Carl Schmitt 1927, zitiert nach Adam Armin [1992]: Rekonstruktion des Politischen, S. 61 f.
[12] Kant, siehe Rocker, S. 179 f. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[13] Rocker, S. 184 f. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[14] Werner Binder [2009], Politische Metaphysik und Ikonographie der Grausamkeit.
[15] Lukas 11.23.
[16] Rocker, S. 187. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[17] Rocker, S. 188. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[18] Engels, siehe Rocker S. 194. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[19] vgl. Rocker, S. 188. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[20] Rocker, S. 150. - in Kapitel: IX. Liberale Ideen in Europa und Amerika
[21] Rocker, S. 189. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[22] Rocker, S. 190. - in Kapitel: XI. Der Staat im Lichte der deutschen Philosophie
[23] ebd.
[24] Fernando Garrido. La España contemporánea. Bd. 1. Barcelona 1865. Reiches Material enthalten auch die übrigen Schriften Garridos, besonders sein Werk Historia de las Clases trabajadores.
[25] Práxedes Zancada, El Obrero en España: Notas para su Historia politica y social, Barcelona 1902.
[26] Alexander Ular, Die Politik. Frankfurt a.M. 1906, S. 44.
[27] Jean-Jacques Rousseau, Le Contrat social, 2. Buch, 7. Kapitel.
[28] Plato, Der Staat; drittes Buch.
[29] Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung.
[30] Niccolo Machiavelli, Il Principe, nach der deutschen Übersetzung Der Fürstenspiegel von F. von Oppeln-Bronikowski; Jena 1912.
[31] Novalis hatte den tieferen Sinn dieser folgenschweren politischen Umgestaltung klar erfaßt, wenn er schrieb: «Unglücklicherweise hatten sich die Fürsten in diese Spaltung gemischt, und viele benutzten diese Streitigkeiten zur Befestigung und Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte. Sie waren froh, jenes hohen Einflusses überhoben zu sein, und nahmen die neuen Konsistorien nun unter ihre landesväterliche Beschützung und Leitung. Sie waren eifrigst besorgt, die gänzliche Vereinigung der protestantischen Kirchen zu hindern, und so wurde die Religion irreligiöserweise in Staatsgrenzen eingeschlossen und damit der Grund zur allmählichen Untergrabung des religiösen kosmopolitischen Interesses gelegt. So verlor die Religion ihren großen politischen friedenstiftenden Einfluß, ihre eigentümliche Rolle des vereinigenden, individualisierenden Prinzips der Christenheit.» (Novalis: Die Christenheit oder Europa; Fragment, geschrieben 1799.)
[32] Carl Vogl, Peter Chelcicky. Ein Prophet an der Wende der Zeiten. Zürich-Leipzig, 1926; S. 43.
[33] Calixtiner vom lateinischen Calix, Kelch; Utraquisten vom lateinischen sub utraque specie, weil sie das Abendmahl, in zweierlei Gestalt nahmen und sich vom Priester nicht nur das Brot, sondern auch den Wein reichen ließen; weshalb der Kelch auch das Abzeichen der Hussiten wurde. Übrigens stammt dieser Brauch nicht von Hus, sondern von Jacob von Mies, auch Jacobellus genannt.
[34] Taboriten, weil sie einem Ort, der in der Nähe von Prag auf einem Hügel lag, den biblischen Namen Tabor gegeben hatten. Tabor blieb bis zum Untergang der Taboriten der geistige Mittelpunkt der Bewegung, und seine Einwohner lebten unter einer Art Gütergemeinschaft, die man als Kriegskommunismus bezeichnen könnte.
[35] Peter Chelcicky, Das Netz des Glaubens. Aus dem Alttschechischen übersetzt von Dr. Carl Vogl; Dachau bei München, 1925.
[36] Der Genfer Historiker J. B. Galiffe hat in seinen beiden Schriften Quelques pages d’Histoire exacte und Nouvelles pages eine Unmenge Material aus alten Chroniken, Prozeßberichten usw. zusammengestellt, das ein geradezu erschreckendes Bild von den damaligen Zuständen enthüllte.
[37] ropotkin hat in sehr überzeugender Weise dargetan, wie durch den Untergang der mittelalterlichen Städtekultur und durch die gewaltsame Unterdrückung aller föderalistischen Gesellschaftseinrichtungen die wirtschaftliche Entwicklung Europas einen Schlag erhielt, der ihre besten technischen Kräfte lähmte und außer Dienst setzte. Wie groß dieser Rückschlag gewesen ist, kann man daraus ermessen, daß James Watt, der Erfinder der Dampfmaschine, für seine Erfindung zwanzig Jahre lang keine Verwendung fand, da er in ganz England keinen Mechaniker auftreiben konnte, der imstande gewesen wäre, einen richtigen Zylinder zu drehen, wozu er in jeder größeren Stadt des Mittelalters reichlich Gelegenheit gefunden hätte. (P. Kropotkin, Mutual Aid: a factor of Evolution. Deutsche Übersetzung von Gustav Landauer: Gegenseitige Hilfe usw., Leipzig 1904).
[38] Das Wort Manufaktur ist entstanden aus manu facere, was soviel bedeutet wie: Dinge mit der Hand bearbeiten.
[39] Reiches Material über jene Epoche enthält das großangelegte Werk von M. Kowalewsky, Die ökonomische Entwicklung Europas bis zum Beginn des kapitalistischen Zeitalters; Berlin 1901-1914.
[40] Über die Geschichte dieser Gesellschaft, die in der englischen Außenpolitik eine so bedeutende Rolle spielen sollte, unterrichten sehr ausführlich: Beckles Willson, Ledger and Sword, London 1903; und W.W. Hunter, History of British India, London 1899.
Empfehlenswerte Bücher über die Entwicklung der englischen Industrie, Monopolwesen und Verordnungen des alten Regimes sind: J. E. Rogers, Six Centuries of Work and Wages, ferner The Economic Interpretation of History und A History of Agriculture and Prices in England von demselben Verfasser. Viel lehrreiches Material bringen Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations und der erste Band von Marx, Das Kapital.
[41] Reiches Material über die Geschichte der Hudson’s Bay Company bringt das vorzügliche Werk History of Canadian Wealth von Gustavus Myers, Chicago 1914.
[42] F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Band 1 (10. Aufl.), S. 248.
[43] Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart und Leipzig 1921, Band II, S. 535.
[44] J. Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislations; 1789.
[45] Richard Price, Observation on the Nature of Civil Liberty and the Justice and Policy of the War with Amerika; 1776.
[46] Thomas Paine, Common Sense, Philadelphia 1776.
[47] Thomas Paine, The Rights of Man; being an answer to Mr. Burkes Attack on the French Revolution; London 1791. Der zweite Teil des Werkes erschien 1792 und trug Paine eine Anklage wegen Hochverrats ein, deren Folgen er sich noch rechtzeitig durch seine Flucht nach Frankreich entziehen konnte.
Burkes frühere Schrift A Vindication of Natural Society, die bereits 1756 erschienen war, gilt mit Recht als eines der ersten Schriftwerke des modernen Anarchismus, und ihr Verfasser hat Godwin manche Folgerung vorweggenommen.
[48] William Godwin, An Enquiry concerning Political Justice and it’s Influence upon General Virtue and Happiness; London 1793.
[49] Eduard Vrehse, Geschichte des preußischen Hofes; Hamburg 1851.
[50] Diese Dichtung verdankt ihren Ursprung einer heitern Begebenheit. In einer kleinen Gesellschaft von Männern und Frauen wurde Diderot zum sogenannten «Bohnenkönig» erkoren, und der Zufall wollte es, daß er drei Jahre hinter einander bei derselben Gelegenheit die eingebackene Bohne in seinem Stück Kuchen fand. Das erstemal gab er, dem Geiste Rabelais’ folgend, seinen Untertanen das eine Gesetz: «Sei jeder glücklich auf seine eigene Art!» Im dritten Jahre aber schildert er in der Dichtung Les Eleutheromanes, wie er seines Königreiches müde ward und die Krone niederlegte, wobei die Freiheitsliebe des Verfassers in schönster Weise zum Ausdruck kommt. Die folgende Stelle beweist das am besten:
«Jamais au public avantage,
L’homme n’a franchement sacrifié ses droits!
La nature n’a fait ni serviteurs ni maîtres.
Je ne veux ni donner ni recevoir de lois!
Et ses mains coudraient les entrailles du prêtre,
Au défaut d’un cordon pour étrangler les rois.»
[51] J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts; Erstes Buch, Kapitel VII.
[52] Gesellschaftsvertrag; Zweites Buch, Kapitel V.
[53] Gesellschaftsvertrag; Zweites Buch, Kapitel VII.
[54] J. J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung; Erstes Buch.
[55] Gesellschaftsvertrag; Zweites Buch, Kapitel IV.
[56] Aus einem nachgelassenen, nichtvollendeten Manuskript. Deutsche Übersetzung von Rudolf Schlösser: Frankreichs Schicksale im Jahre 1870; Reclam Verlag, S. 34.
[57] A. Mathiez, Les Origines des Cultes Révolutionnaires; Paris 1904.
[58] Das seltsame Spiel, das heute von dem russischen Bolschewismus mit dem Begriff der Demokratie getrieben wird, ist uns ein neuer Beweis dafür.
[59] In seinem großen Werk Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (Band IV S. 72) gibt Fritz Mautner eine sehr interessante Beschreibung von Fichte, wobei er unter anderem bemerkt: «Als er [Fichte], des Atheismus beschuldigt, im März 1799 an die Weimarer Regierung den Drohbrief schickte, er würde im Falle auch nur eines öffentlichen Verweises Jena verlassen und mit einigen gleichgesinnten Professoren einen anderen, schon zugesicherten Wirkungskreis suchen, da hatte er nicht geflunkert; in Mainz, wo sich Forster und die anderen Klubbisten für die Französische Revolution begeistert hatten, wo es nach der zweiten Eroberung wieder eine rheinische Republik gab, wo die französische Regierung die ehemalige Universität wieder ins Leben rufen wollte, sollte Fichte – vielleicht kam die Anregung von General Bonaparte – in hervorragender Stellung mitwirken.»
Für die damalige Gesinnung Fichtes ist auch sein Brief an den Professor Reinhold vom 22. Mai 1799 bezeichnend, wo man liest: «In Summa: es ist nichts gewisser als das Gewisseste, daß, wenn nicht die Franzosen die ungeheure Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens in einem beträchtlichen Teil desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird.»
Wie klar Fichte damals gesehen hat, haben die Ereignisse nach den sogenannten «Befreiungskriegen» deutlich gezeigt: die Heilige Allianz, die Karlsbader Beschlüsse, die Demagogenverfolgungen, kurz – das System Metternich, die offene Reaktion im vollen Vormarsch und auf der ganzen Linie, die brutale Hetze gegen alle, die einst das Volk zum Kampfe gegen Napoleon aufgerufen hatten. Hätte die tödliche Seuche Fichte nicht rechtzeitig hinweggerafft, so hätte man sich sicherlich nicht damit begnügt, nur seine Reden an die Deutsche Nation zu verbieten, wie man es tatsächlich getan hat. Man hätte ihn sicher nicht glimpflicher behandelt als Arndt, Jahn und so viele andere, deren patriotische Tätigkeit die „Freiheitskriege» eingeleitet und entfesselt haben.
[60] Schon Herder lenkte die Aufmerksamkeit auf diese absonderliche Schrulle, die sich im Laufe der Zeit zu einem geistigen Defekt ausgewachsen hat, als er jenem sonderbaren Realis de Vienne die Worte in den Mund legte: «Deutschlands Vorzug besteht in diesen vier Stücken: daß es in der langen Nacht der dicken Unwissenheit die ersten, die meisten, die höchsten Erfinder gehabt und in neunhundert Jahren mehr Verstand erwiesen, als die übrigen vier Meistervölker zusammen in viertausend Jahren. Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Völker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die griechische Weisheit kann man das alte Vernunftstestament, die deutsche das neue nennen.» (Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität; 4. Sammlung, 1794.)
[61] In seinem vorzüglichen Werkchen Rasse und Politik bemerkt Julius Goldstein sehr fein: «Das leere Schema seines [Hegels] Denkens weste weiter bei jenen Männern – es sind merkwürdigerweise größtenteils Ausländer – die den Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Welt in der Rasse zu finden geglaubt haben. Gobineau, Chamberlain, Woltmann stehen im Banne eines Hegelianismus mit naturalistischen Vorzeichen; Hegelianismus ist es, wenn statt des Einzelgeistes der Rassengeist zur Erklärung geistiger Schöpfungen herangezogen wird; Hegelianismus ist es, wenn alle Kontingenz aus der Geschichte verbannt wird und aus vorgefaßten Ideen über das, was eine Rasse leisten und nicht leisten kann, die Schicksale der Völker konstruiert werden; Hegelianismus ist es, wenn Germanentum und Semitentum in logischer Ausschließlichkeit gegeneinander gestellt und alle tieferen Lebensbezüge zwischen ihnen mit harter nationalistischer Formel geleugnet werden. Hegelianismus ist es schließlich, wenn der bisherige und künftige Ablauf der Geschichte ohne Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der in verschiedenen Epochen wirksamen Kräfte überall aus einem einzigen entscheidenden Faktor, der Rasse, erklärt werden soll.»
[62] Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.
[63] Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit; Berlin 1857.
[64] Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens.
[65] E. M. Arndt, Der Geist der Zeit; Erster Teil, Kapitel VII.
[66] Fichte, Über den Begriff des wahrhaften Krieges in bezug auf den Krieg 1813; Dritte Vorlesung.
[67] E. M. Arndt, An die Preußen; Januar 1813.
[68] Georg Brandes, Die romantische Schule in Deutschland; Berlin 1900, S. 6.
[69] Constantin Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland; Mainz 1879, S. 253.
[70] Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels; Stuttgart 1913, Band IV.
[71] Der erst vor wenigen Jahren wiederaufgefundene Briefwechsel zwischen Bismarck und Lassalle, den Gustav Mayer in seiner lesenswerten Schrift Bismarck und Lassalle veröffentlicht hat, wirft ein eigenartiges Licht auf die Persönlichkeit Lassalles und ist auch rein psychologisch von großem Interesse.
[72] Jean Mantel, Clemenceau spricht; Berlin 1930, S. 151.
[73] Popolo d’Italia vom 6. April 1920.
[74] Wir folgen hier dem Kongreßbericht der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Abendausgabe vom 21. Oktober 1931.
[75] Aus der faschistischen Zeitschrift Gerarchia, die den Aufsatz Mussolinis «Forza e Consenso» brachte. (Aprilnummer 1922)
[76] Hier nur ein kleines Beispiel zwischen tausend anderen: «Es gibt zwei verschiedene Sorten des Antisemitismus: die höhere und die niedere. Die erste ist intellektuell, human, ein Palliativmittel und besteht darin, daß Gesetze, die den Wirkungskreis der Juden begrenzen, geschaffen werden. Diese Gesetze machen das Zusammenleben der Juden und Gojim möglich. Diese Maßnahmen sind zu vergleichen mit dem Brett, welches den Kühen vor die Hörner gebunden wird, damit sie die anderen nicht schädigen können. – Es gibt aber den anderen Antisemitismus, der darin besteht, daß die Juden von den Gojim, die bis zur Grenze ihrer Qualen, Not und Geduld gekommen sind, einfach totgeschlagen werden. Dieser Antisemitismus ist zwar schrecklich, aber seine Folgen sind segensreich. Er zerschneidet einfach den Knoten der jüdischen Frage, indem er alles Jüdische vernichtet. Er kommt immer wieder von unten aus den Volksmassen, ist aber gegeben von oben, von Gott selbst, und seine Auswirkungen haben die ungeheure Kraft einer Naturgewalt, hinter deren Geheimnisse wir noch nicht gekommen sind.» (Marianne Obuchow, Die internationale Pest; Berlin 1933, S. 22.)
[77] Saint-Simon, Du système industriell, 1821.
[78] Als die Nachricht von dieser Zusammenkunft in die Öffentlichkeit sickerte und es bekannt wurde, daß General Degoutte die Herren darüber nicht im unklaren gelassen hatte, daß er nicht gewillt sei, sich in Angelegenheiten der deutschen Innenpolitik einzumischen, klagte die deutsche Arbeiterpresse die Herren Stinnes und Co. des Landesverrates an. Dadurch in die Enge getrieben, leugneten die Unternehmer zunächst alles glatt ab. Doch in der Reichstagssitzung vom 20. November 1923 verlas der sozialistische Abgeordnete Wels das von der Schwerindustrie selbst angefertigte Protokoll jener Unterredung, wodurch auch der letzte Zweifel über die stattgefundene Zusammenkunft behoben wurde.
[79] Geschäfte dieser Art müssen sogar häufig dazu herhalten, den eigenen Staat zu Bestellungen anzuregen. So berichtet Walton Newbold in einem lesenswerten Buche über einzelne konkrete Fälle aus der Geschäftspraxis der bekannten Rüstungsfirma Mitchell & Co. in England, die für die Methoden der Rüstungsgewaltigen bezeichnend sind:
«Armstrong war ein Genie», schreibt Newbold. «Seine Firma baute für Chile einen sehr starken Kreuzer, die Esmeralda. Als das Schiff fertig war, wandte er sich an die britische Öffentlichkeit und erklärte mit allem Aufwand sittlicher Entrüstung, daß unsere [die englische] Flotte kein Schiff besitze, das die Esmeralda überholen, ihr entgehen oder sich mit Erfolg mit ihr schlagen könnte. Und er wies auf die Gefahr hin, die unserem Handel durch solche Schiffe erwachse. Die Admiralität kam diesem zarten Winke bald entgegen und kaufte bei der Firma von Sir William Armstrong die meisten Kanonen und Ausrüstungsgegenstände für neue und verbesserte Esmeraldas. Später baute dieselbe Firma einen noch besseren Kreuzer, die Piemonte, für Italien; und wiederum verstand es Armstrong, die Welt für seine Firma zu interessieren, und die südamerikanischen Staaten rissen sich untereinander und mit Japan, die ersten verbesserten Piemontes aus Elswick zu erhalten. Auch England legte sich einige Piemontes zu, die zwar anderswo gebaut wurden, aber mit Kanonen nach Armstrongs neuestem Muster ausgerüstet waren.» An einer anderen Stelle berichtet Newbold:
«Nahezu dreißig Jahre lang bekämpften sich die Firmen von Sir William Armstrong und Sir Joseph Whitworth, die beide Kanonen herstellten, wie Hund und Katze und gaben sich alle Mühe, ihre Fabrikate gegenseitig herabzusetzen. Nur in einem Punkte herrschte bei ihnen Einstimmigkeit: beide vertraten die Meinung, daß alle Ausgaben für die Herstellung von Panzerplatten als nutzlos vergeudetes Geld zu bewerten seien, das man besser für Kanonen verwenden sollte. Beide Firmen erzeugten nur Kanonen, keine Panzerplatten. Zehn Jahre nach dieser beherzten Kampfansage gegen die Panzerplatten, als beide Firmen sich, vereinigt hatten, war der erste Schritt ihrer Nachfolger die Errichtung einer wunderbaren Betriebsanlage für die Herstellung von Panzerplatten.» (J. T. Walton Newbold, How Europe armed for War, London 1916.)
Diese Fälle sind keineswegs die schlimmsten und nicht bloß im «perfiden Albion» möglich. Jede Rüstungsfirma, ohne Unterschied der Nation, befolgt dieselben unsauberen Methoden und versteht es vortrefflich, die gegebenen Möglichkeiten für ein gutes Geschäft zu ihrem Vorteil zu korrigieren. Hier nur ein Beispiel:
«Am 19. April 1913 machte der Abgeordnete Karl Liebknecht, unterstützt von dem Zentrumsabgeordneten Pfeifer, im Reichstag eine Erklärung, die ganz Deutschland aufwühlte. An der Hand unbestreitbarer Dokumente erbrachte er den Beweis, daß Krupp durch die Vermittlung eines gewissen Brandt eine Anzahl Unterbeamte des Großen Generalstabes und des Kriegsministeriums bestechen ließ, um sich in den Besitz wichtiger Geheimakten über bevorstehende Waffenlieferungen zu setzen. Ferner hatte Krupp Offiziere aller Rangstufen, bis in die Generalität und Admiralität hinauf, mit höchsten Gehältern in seine Dienste genommen, welche Heeresaufträge für ihn hereinzubringen hatten. Als dies nicht ausreichte, nahm er im Verein mit anderen Kriegslieferanten, Mauser, Thyssen, Düren, Löwe, einen Teil der Presse in Sold, um den Hurrapatriotismus und die Kriegsstimmung aufzupeitschen. Bei einer Haussuchung wurde ein Teil dieser Geheimakten bei dem Unterdirektor der Krupp-Werke, Herrn von Dewitz, gefunden. – Durch diese Presseagitation sollte das deutsche Volk, im Gefühl ständiger Bedrohung durch die anderen Mächte, neuen Rüstungen und erhöhten Ausgaben für diesen Zweck zugänglich gemacht werden. – Je nach Jahreszeit und Bedarf wechselte man den Namen des bedrohenden Feindes: Wenn Krupp oder Thyssen Bestellungen auf Maschinengewehre brauchten, so war es der Russe oder der Franzose, wollten die Stettiner Werften Aufträge für Panzerschiffe, so war Deutschland von den Engländern bedroht. Liebknecht besaß unter seinem Belastungsmaterial den Brief des Direktors der Löwe- Waffenfabrik an seine Pariser Vertretung in der Rue de Châteaudun:
‹Wäre es Ihnen möglich, in einer der gelesensten Zeitungen von Frankreich, am liebsten dem Figaro, einen Artikel aufnehmen zu lassen, ungefähr wie: ‹Das französische Kriegsministerium hat beschlossen, die Herstellung der für die Armee bestimmten Maschinengewehre beträchtlich zu beschleunigen und die ursprünglichen Aufträge auf das Doppelte zu erhöhen.› Tun Sie bitte ihr möglichstes, um die Verbreitung einer solchen und ähnlicher Nachrichten durchzusetzen, gez. von Gontard, Direktor.›
Der Bericht wurde jedoch in dieser Form nicht aufgenommen. Die Lüge war zu offenbar, und das Kriegsministerium hätte sie sofort dementiert. Dagegen erschienen einige Tage darauf – natürlich ganz zufällig! – im Figaro, dem Matin und dem Echo de Paris eine Anzahl Aufsätze über die Vorzüge der französischen Maschinengewehre und das dadurch erzielte Übergewicht der französischen Heeresbewaffnung. Mit diesen Zeitungsnummern in der Hand, interpellierte der preußische Abgeordnete Schmidt, ein Verbündeter der deutschen Schwerindustrie, beim Reichskanzler und stellte die Frage, was die Regierung zu tun gedenke, um diesen französischen Bedrohungen entgegenzuwirken und das Gleichgewicht in der Bewaffnung wiederherzustellen. Verblüfft und zugleich beängstigt, bewilligte der Reichstag mit großer Mehrheit und ohne Diskussion die Mittel zur Vermehrung der Maschinengewehre. Frankreich antwortete darauf ganz natürlich mit einer weiteren Verstärkung dieser Waffengattung. Während also der Figaro, Matin und Echo de Paris das französische Volk durch Auszüge aus all deutschen Blättern, besonders der Post, deren Hauptaktionär Gontard war, in Unruhe versetzten, wurde die öffentliche Meinung in Deutschland auf die gleiche Weise für neue Rüstungen empfänglich gemacht. Die Dividenden der Creusots, der Mausers und Krupps stiegen, die Direktoren heimsten größere Tantiemen ein, Figaro, Matin und Echo de Paris hatten eine Anzahl Schecks einkassiert – und das Volk, wie immer, zahlte.» (Hinter den Kulissen des französischen Journalismus, von einem Pariser Chefredakteur, Berlin 1925.)
[80] Hinter den Kulissen des französischen Journalismus usw. S. 252.
[81] Es besteht bereits eine ganze Literatur über dieses, dunkelste Kapitel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Außer den bereits erwähnten Schriften seien hier noch angeführt: Generale, Händler und Soldaten von Maxim Ziese und Hermann Ziese-Beringer, The Devil’s Business von A. Fenner Brockway, Dollar Diplomacy von Scott Nearing und vor allem die vortreffliche Schrift Otto Lehmann-Rußbüldts, Die blutige Internationale der Rüstungsindustrie. Es ist bezeichnend, daß, obwohl bisher so gar kein Versuch gemacht wurde, die furchtbaren Anklagen Lehmann-Rußbüldts auch nur anzuzweifeln, die republikanische deutsche Regierung diesem aufrechten Manne den Paß entzogen hatte, um ihm das Reisen im Auslande unmöglich zu machen, weil dadurch die Interessen des Reiches angeblich gefährdet werden könnten. Man findet es ganz in der Ordnung, daß zivilisierte Kannibalen aus dem organisierten Völkermord ein Geschäft machen und ihre Kapitalien in Unternehmungen anlegen, die den Menschentotschlag im großen zur Voraussetzung haben, während man in derselben Zeit einen Mann gesellschaftlich ächtet, der den Mut besitzt, das schamlose und verbrecherische Treiben derer zu brandmarken, die aus dem Blute und der Qual von Millionen klingelnde Münze schlagen.
[82] Rabindranath Tagore, Nationalismus, Leipzig, o. J., S. 13.
[83] Fritz Mauthner, Die Sprache, Frankfurt a. M. 1906, S. 55.
[84] Ernst Wasserzieher, Bilderbuch der deutschen Sprache. Leben und Weben der Sprache.
[85] W. v. Humboldt, Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung der Menschheit.
[86] K. Sandfeld-Jensen, Die Sprachwissenschaft, Leipzig-Berlin 1923.
[87] Dieser Aufsatz, dem wir einige auf die Entwicklung der französischen Sprache bezügliche Stellen entnommen haben, erschien zuerst in der Pariser Zeitschrift Ere Nouvelle. Eine deutsche Übersetzung erschien als Ergänzungsheft Nr. 15 von Die neue Zeit unter dem Titel «Die französische Sprache vor und nach der Revolution».
[88] Siehe W. Fischer, Die deutsche Sprache von heute; Berlin-Leipzig 1918.
[89] Fritz Mauthner, Die Sprache, S. 49.
[90] Manche englischen Sprachforscher führen das Verb to write, schreiben, auf reizza zurück, da es ursprünglich soviel wie etwas markieren bedeutete.
[91] Ernst Vatter, Die Rassen und Völker der Erde, Leipzig 1927, S. 77.
[92] F. Boas in der Zeitschrift für Ethnologie 1913; Band 45. Vergleiche auch die Schrift desselben Verfassers, Kultur und Rasse, zweite Auflage, Berlin 1922.
[93] Otto Hauser, Die Germanen in Europa, Dresden 1916, S. 5.
[94] H. S. Chamberlain, Demokratie und Freiheit, München 1917.
[95] Henrik Ibsens Sämtliche Werke in deutscher Sprache, zehnter Band, Berlin 1905; Brief an Georg Brandes vom Februar 1871.
[96] Ludwig Woltmann, Die Germanen und die Renaissance in Italien, 1905. – Die Germanen in Frankreich, 1907.
[97] Max von Gruber, Volk und Rasse, in Süddeutsche Monatshefte, 1927.
[98] Der bekannte Münchener Rassenhygieniker Max von Gruber, Präsident der bayerischen Akademie der Wissenschaften und einer der führenden Köpfe der völkischen Bewegung Deutschlands, also gewiß ein unverdächtiger Zeuge, hat von Hitler folgendes Bild entworfen: «Zum ersten Male sah ich Hitler in der Nähe, Gesicht und Kopf schlechte Rasse, Mischling. Niedrige, fliehende Stirn, unschöne Nase, breite Backenknochen, kleine Augen, dunkles Haar. Eine kurze Bürste von Schnurrbart, nur so breit wie die Nase, gibt dem Gesicht etwas Herausforderndes. Gesichtsausdruck ist nicht der eines in voller Selbstbeherrschung Gebietenden, sondern eines wahnwitzig Erregten. Wiederholtes Zucken der Gesichtsmuskeln. Zum Schluß Ausdruck eines beglückenden Selbstgefühls.» (Essener Volkswacht vom 9. 11. 1929)
[99] Dr. L. F. Clauß, Rasse und Seele, München 1925, S. 60.
[100] B. Springer, Die Blutmischung als Grundgesetz des Lebens, Berlin.
[101] L. F. Clauß, Rasse und Seele, S. 118.
[102] Otto Hauser, Rasse und Kultur, Braunschweig; S. 69.
[103] Othmar Spann, Zur Soziologie und Philosophie des Krieges, 1913.
[104] Wir entnehmen diese Stelle dem Werke Rasse und Kultur von Friedrich Hertz.
[105] Werner Sombart: Händler und Helden; Patriotische Besinnungen. München, 1915, S. 143.
[106] Albrecht Wirth: Das Auf und Ab der Völker, Leipzig 1920, S. 84.
[107] Eugen Dühring: Die Judenfrage als Frage der Rassenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Kultur der Völker. Siehe auch: Sache, Leben und Feinde.
[108] Otto Hauser, Die Germanen in Europa, S. 112.
[109] A. Harrar: Rasse – Menschen von gestern und morgen. Leipzig; S. 68.
[110] Vera Strasser: Psychologie der Zusammenhänge und Begebenheiten, Berlin 1921.
[110] Vera Strasser: Psychologie der Zusammenhänge und Begebenheiten, Berlin 1921.
[111] Dr. Ludwig Stein: Die Anfänge der menschlichen Kultur. Leipzig 1906.
[112] Peter Kropotkin: Mutual Aid, a factor of Evolution. Ins Deutsche übersetzt von Gustav Landauer: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1904.
[113] So berichtet Procopius in seinen Aufzeichnungen über die Kriege der Goten und Vandalen von einem bezeichnenden Ausspruch Luitprands: «Wollen wir einen Feind öffentlich entehren und ihn der Verachtung preisgeben, so nennen wir ihn einen Römer.» – Die germanischen Stämme waren besonders jedem Unterricht und allem Bildungswesen abhold, weil sie darin, wie Procopius meinte, eine Entnervung ihrer kriegerischen Tüchtigkeit erblickten.
[114] In den Skolien kamen auch häufig politische Motive zum Ausdruck, wie der Haß gegen die Tyrannei usw. Hier eine Strophe aus dem Triumphgesang auf die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die man dem Kallistratos zuschreibt:
«Tragen will ich in Myrtengrün mein Schlachtschwert
Wie Harmodios und Aristogeiton,
Als an Pallas hochheiligem Feste
Sie den Tyrannen Hipparchos erschlugen.
Stets wird Ruhm euch auf Erden, Vielgeliebte,
Blühn, Harmodios und Aristogeiton!
Da vor euch hinsank der Tyrann
Und da ihr gleich und frei wieder Athen gemacht.»
[115] Hippolyte Taine: Philosophie der Kunst.
[116] J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, 1764.
[117] Albrecht Wirth: Volkstum und Weltmacht in der Geschichte. Leipzig.
[118] Ernst Curtius: Geschichte Griechenlands und Die Jonier vor der jonischen Wanderung.
[119] H. Taine: Philosophie der Kunst.
[120] Francis Galton: Hereditary Genius, its Law and Consequences; 1869.
[121] Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches. Achtes Hauptstück.
[122] Fritz Mauthner: Der Atheismus usw., Band 1.
[123] Peter Kropotkin, La Science moderne et l’Anarchie, Paris 1913, 111; L’Etat: son rôle historique, ebd.
[124] Elisée Reclus: L’Homme et la Terre, vol. II.
[125] Albrecht Wirth: Volkstum und Weltmacht, S. 40.
[126] Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Heute behauptet Julius Streicher, der Busenfreund Hitlers, bei dem der Antisemitismus geradezu pathologische Formen angenommen hat, daß die jüdischen Ärzte eine Verschwörung angezettelt hätten, um das deutsche Volk zu vergiften.
[127] Joseph Strzygowski, Orient oder Rom?, 1901.
[128] P. Mauthner: Der Atheismus…, Band 1.
[129] Rudolf von Ihering: Geist des römischen Rechts, 1, Leipzig 1852.
[130] Richard Wagner, der in seinen revolutionären Tagen die Bedeutung der Freiheit für die Kultur im allgemeinen und für die Kunst im besonderen sehr wohl erkannte, ließ sich in seiner Schrift Kunst und Revolution über die innere Roheit des Römertums wie folgt aus: «Die Römer, deren nationale Kunst frühzeitig vor dem Einfluß der ausgebildeten griechischen Künste gewichen war, ließen sich von griechischen Architekten, Bildhauern, Malern bedienen, ihre Schöngeister übten sich an griechischer Rhetorik und Verskunst; die große Volks Schaubühne eröffneten sie aber nicht den Göttern und Helden des Mythos, nicht den freien Tänzern und Sängern des heiligen Chores, sondern wilde Bestien, Löwen, Panther und Elefanten mußten sich im Amphitheater zerfleischen, um dem römischen Auge zu schmeicheln, Gladiatoren – zur Kraft und Geschicklichkeit erzogene Sklaven – mußten mit ihrem Todesröcheln das römische Ohr ergötzen. Diese brutalen Weltbesieger behagten sich nur in der positiven Realität; ihre Einbildungskraft konnte sich nur in materiellster Verwirklichung befriedigen. Den dem öffentlichen Leben schüchtern entflohenen Philosophen ließen sie getrost sich dem abstrakten Denken überliefern; in der Öffentlichkeit selbst liebten sie, sich der allerkonkretesten Mordlust zu überlassen, das menschliche Leiden in absoluter physischer Wirklichkeit sich vorgestellt zu sehen.»
[131] Heine: Memoiren, 1854.
[132] P. J. Proudhon: Qu’est-ce que la propriété ou recherches sur le principe du droit du gouvernement. Paris 1840.
[133] Hegel: Philosophie der Geschichte.
[134] J. Salvioli: Der Kapitalismus im Altertum, Stuttgart 1922.
[135] Horaz: Oden, Zweites Buch, 18.
[136] Rabindranath Tagore, Nationalismus.
[137] Gustav Diercks, Geschichte Spaniens von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Berlin 1895.
[138] Eduardo Hinojosa, El origin del regimen municipal en Castilla y Leon.
[139] Práxedes Zancada, El Obrero en España. Barcelona 1902.
[140] Gustav Diercks, Geschichte Spaniens.
[141] Allgemeine Unterweisung für die Verbrüderung des Jungen Italien, 1831. Aus Mazzinis Politischen Schriften, Band 1, Leipzig 1911.
[142] P.-J. Proudhon: La Fédération et l’Unité en Italie, Paris 1862.
[143] Brief an Georg Brandes vom 17. Februar 1873. Briefe von Henrik Ibsen, Berlin 1905.
[144] Nietzsche, Werke, Band V, S. 179.
[145] C. Frantz, Die preußische Intelligenz und ihre Grenzen, München 1874.
[146] Moritz Lazarus, Das Leben der Seele, Berlin 1855-1857.
[147] Wir entnehmen diese beiden Zitate der geistvollen Schrift Rasse und Politik von Prof. Julius Goldstein.
[148] P. Kropotkin: La Science moderne…, Paris 1913.
[149] J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823-1832.
[150] A. Moszkowski: Einstein, Einblick in seine Gedankenwelt, Berlin 1921.
[151] Die Entwicklung und Vervollkommnung des Teleskops wurde durch Angehörige aller Nationen gefördert. Galilei war keineswegs der Erfinder des astronomischen Fernrohrs, wie oft behauptet wurde; erzählte er doch selbst, daß er durch die Erfindung eines Belgiers zu der Herstellung seines Instrumentes angeregt wurde. Sicher ist, daß das Teleskop im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts in Holland erfunden wurde, und zwar werden die beiden Brillenmacher Hans Lippershey und Zacharias Jansen als die Erfinder angegeben. Einzelne Instrumente wurden aber schon früher angefertigt. Die Erfindung lag sozusagen in der Luft und wurde in ihrer weiteren Entwicklung durch Geister aller Nationen befruchtet.
[152] Salomon Munk erbrachte in seinem Buche Mélanges de philosophie juive et arabe den Beweis, daß Avicebron kein anderer als der große jüdische Dichterphilosoph Ibn Gabirol gewesen ist.
[153] Kropotkin veröffentlichte seine Arbeit zunächst in einzelnen Aufsätzen in der englischen Zeitschrift Nineteenth Century (September 1890 bis Juni 1896). Eine wertvolle Ergänzung dazu bildet sein letztes Werk Ethik (Berlin 1923), das leider nicht vollendet wurde.
[154] Karl Scheffler: Der Geist der Gotik, Leipzig 1921, S. 14.
[155] Nietzsches Werke, Band 1: Die Geburt der Tragödie.
[156] Karl Scheffler: Der Architekt, Frankfurt a. M. 1907, S. 10.
[157] Heinrich Schäfer: Die Leistung der ägyptischen Kunst, Leipzig 1929.
[158] Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst, Band 1, S. 215.
[159] Gustav Ebe: Architektonische Raumlehre, Dresden 1900, Band II, S. 1.
[160] John Lafargue: Great Masters, New York 1906.
[161] Richard Muther: Geschichte der Malerei, Leipzig 1909; Band III, S. 128.
[162] Marcel Herwegh: 1848. Briefe von und an Georg Herwegh, München 1896: Brief Bakunins an Herwegh aus dem Jahre 1848.
[163] Heinz Ewers: Edgar Allan Poe, Berlin und Leipzig 1905, S. 39.
[164] Wie sich das auswirkt, dafür nur ein Beispiel zwischen vielen: Als die konservative Regierung Englands 1899 die beiden südafrikanischen Burenrepubliken mit Krieg überzog, um sie nach langen mörderischen Kämpfen endlich zu annektieren, wußte jedermann, daß es sich dabei lediglich um den ungestörten Besitz der Goldgruben des Transvaal drehte. Wilhelm Liebknecht aber, damals neben August Bebel der gefeiertste Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, versuchte sich mit den Ereignissen abzufinden, indem er seinen Lesern im Vorwärts erklärte, daß sich hier eine politische Notwendigkeit vollziehe, die sich nicht umgehen lasse; denn ebenso wie in der wirtschaftlichen Entwicklung die Tendenz zu beobachten sei, daß das Kapital sich in immer weniger Händen konzentriere, was zu der Aufsaugung der kleineren Kapitalisten durch die größeren führe, so sei es auch in der politischen Entwicklung unvermeidlich, daß die kleineren Staaten von den größeren verschlungen würden. Mit solchen Erklärungen, die sich im besten Falle auf eine unbewiesene Hypothese stützen, trübt man den Menschen den Blick für die Ungeheuerlichkeit des Geschehens und macht sie unempfindlich für jedes Gebot der Menschlichkeit.
[165] Kurz vor dem Machtantritt Hitlers war diese Auffassung unter den Anhängern der Kommunistischen Partei Deutschlands so verbreitet, daß sich sogar die Redaktion der Roten Fahne genötigt sah, gegen diese gefährliche Stellung Front zu machen, obgleich diese Auffassung nur das logische Ergebnis der von den deutschen Kommunisten seit Jahr und Tag betriebenen Taktik war. Die Tatsache, daß Hitler ohne nennenswerten Widerstand der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterschaft die Macht ergreifen konnte, ist wohl die beste Illustration für jene fatalistische Denkweise, die den Willen der Massen lähmte und Deutschland in den Abgrund stürzte. Man spielte so lange mit dem Glauben an die Unvermeidlichkeit der Diktatur, bis die Diktatur da war, nur daß sie von einer anderen Seite kam, als man sich vorgestellt hatte.
[166] In Amerika vernichtete man auf den Rat der Behörden vier Millionen Ballen Baumwolle, indem man in den Plantagen jede dritte Reihe der Pflanzen nicht pflückte. In Kanada wurden ungeheure Weizenvorräte verbrannt, für die sich keine Abnehmer fanden. Brasilien vernichtete im Oktober 1932 über 10,2 Millionen Sack Kaffee, und in Argentinien verbrannte man getrocknetes Fleisch. In Alaska zerstörte man 400.000 Büchsen Lachs, und im Staate New York mußten die Lokalverwaltungen gegen die Verunreinigung der Flüsse einschreiten, weil durch die großen Mengen weggegossener Milch die Fische eingingen. In Australien tötete man eine Million Schafe und verscharrte sie zwecklos in der Erde, um damit der sogenannten Überproduktion zu steuern, die in Wirklichkeit doch nur als Unterkonsum zu bewerten ist. Riesige Heringsfänge wurden wieder ins Meer versenkt, da sich keine Käufer einstellten. Sogar in einem vom Elend so geschlagenen Lande wie Deutschland ließ man jedes Jahr große Vorräte an Gurken und Gemüse verfaulen oder verwandte sie als Dünger, weil sich keine Abnehmer dafür fanden. Und dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer langen Liste, deren stumme Anklage man nicht leicht mißverstehen kann.
[167] Mit welch haarsträubender Selbstverständlichkeit man heute jederzeit bereit ist, den Wirtschaftsinteressen kleiner Minderheiten Millionen Menschenleben aufzuopfern, beweist die Kabelnachricht, welche der ehemalige amerikanische Botschafter in London, Mr. Walter Hines Page, am 5. März 1917 an den Präsidenten Wilson sandte, und der einen Monat später die Kriegserklärung Amerikas an Deutschland folgte:
«England kann die großen Ankäufe in den Vereinigten Staaten ohne Goldsendungen nicht aufrechterhalten, und es kann große Goldsendungen nicht weiter machen … Es liegt deshalb die unmittelbare Gefahr vor, daß die französisch-amerikanische und die englisch-amerikanische Börse derartig betroffen werden, daß die Bestellungen von allen alliierten Regierungen bis zum niedrigsten Minimum herabgedrückt werden und der transatlantische Handel damit fast zum Stillstand gebracht wird. Das wird natürlich eine Panik in den Vereinigten Staaten auslösen… Wenn wir uns entschließen würden, gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, so würde alles Geld in unserem Lande bleiben, der Handel würde weitergeführt und ausgebaut werden bis zum Ende des Krieges, und nach dem Kriege würde Europa weiter Lebensmittel von uns kaufen und ferner enorme Lieferungen von Waren von uns beziehen, um seine Friedensindustrien neu auszustatten. Wir würden so den Profit eines ununterbrochenen, vielleicht größeren Handels während einer Reihe von Jahren ernten, und, wir sollten uns die nötigen Sicherheitsgarantien als Zahlungen zurückbehalten… Ich glaube, der Druck der herannahenden Krise ist über die Fähigkeiten der Morgan-Finanzagentur für die englische und französische Regierung hinausgegangen. Die Lage wird zu groß und dringlich, als daß irgendeine Privatgesellschaft ihr begegnen kann, denn jede solche Agentur muß mit der Eifersucht von Rivalen und Gruppen in Konflikt geraten. Vielleicht ist unser Eintritt in den Krieg der einzige Weg, in dem unsere hervorragende Handelsstellung aufrechterhalten und eine Panik abgewendet werden kann.» (Burton J. Hendrick: The Life and Letters of Walter H. Page, New York).
[168] Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Krieg als Geschäft, Berlin 1932. Diese Angaben haben sich seitdem wesentlich geändert, denn das Wettrüsten der letzten Jahre hat das Verhältnis noch ungünstiger gestaltet und dem Militarismus noch größere Summen des Staatseinkommens ausgeliefert.
[169] Dieser Aufgabe hat sich ein Mitglied des amerikanischen Parlaments, Victor L. Berger, fünf Jahre nach dem ersten Weltkriege unterzogen, was ihm um so leichter fiel, als ihm in Washington das beste Quellenmaterial für seine Berechnungen zur Verfügung stand. Berger stellte fest, daß mit den fabelhaften Summen, die der Krieg verschlungen hat, man jeder Familie in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und Rußland ein Haus im Werte von 2500 Dollars mit einer Wohnungseinrichtung im Werte von 1.000 Dollars und für jedes Haus noch fünf Acker Land, den Acker zu 100 Dollars berechnet, hätte schenken können. Damit wäre aber die Summe noch lange nicht erschöpft, und es bliebe noch immer so viel übrig, daß man jede Stadt in den oben angeführten Ländern, die mehr als 20.000 Einwohner zählt, mit einer öffentlichen Bibliothek und einem Krankenhaus im Werte von je fünf Millionen Dollars und dazu noch mit einer Universität im Werte von zehn Millionen Dollars hätte versorgen können. Doch auch damit hätte das ungeheure Kapital noch keine volle Verwendung gefunden. Würde man die übriggebliebene Summe auf fünf Prozent anlegen, so könnte man damit eine Armee von 125.000 Lehrern und 125.000 Krankenschwestern entlohnen, und selbst dann würde noch so viel übrigbleiben, um sämtliche Sachwerte Frankreichs und Belgiens aufkaufen zu können.
[170] Diese Zeilen wurden 1933 geschrieben.