#title Die Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung #subtitle Eine Einschätzung der Lage in Deutschland #author Rudolf Rocker #LISTtitle Möglichkeit einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung #SORTauthors Rocker, Rudolf; #SORTtopics Revisionismus, Föderalismus, Deutschland, Zweiter Weltkrieg, Bewegung, Staatlichkeit #date 1947 #source - #lang de #pubdate 2018-07-13T19:33:05 #notes Zweite Auflage 1978, Verlag Freie Gesellschaft. Titel der Erstausgabe war: "Zur Betrachtung der Lage in Deutschland" Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung. Erschienen 1947 New York -LONDON -STOCKHOLM
*** Vorwort zur zweiten Auflage Rudolf Rocker, der in der Zeit nach 1918 zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung gehörte, hat in dieser Betrachtung zur Lage in Deutschland nach, dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur, bewußt den Anarchosyndikalismus nicht als Allheilmittel in den Mittelpunkt gestellt. Die Gründe hierfür lagen zum Teil darin, daß die in Deutschland lebenden Freunde Rockers der Auffassung waren, daß für die Wiederbelebung der alten Bewegung unter den gegebenen Umständen alle Voraussetzungen fehlten. Diese negative Einschätzung war für den in der Emigration lebenden keineswegs ein Grund zur Resignation, im Gegenteil für ihn bedeutete es, daß es nunmehr galt, für eine Entwicklung im Sinne des freiheitlichen Sozialismus neue Ausgangspositionen zu schaffen. Rocker glaubte, daß nach dem Zusammenbruch der Zentralgewalt des autoritären faschistischen Staates, dem Föderalismus durch die Bildung autonomer Gemeinden eine nie mehr wiederkehrende Chance geboten war, die es auszunutzen galt. Besonders für den wirtschaftlichen Aufbau des zerstörten Landes war für ihn die unmittelbare Initiative von unten durch die Gemeinden von ausschlaggebender Bedeutung. Auf die Parteien setzte Rocker keinerlei Hoffnungen für einen föderalistischen Aufbau. Zu sehr waren sie dem Zentralismus verfallen und erstrebten deshalb eine neue Zentralregierung. Das galt besonders für die Kommunisten, die von Moskau gesteuert, sich für eine Zentralregierung stark machten. "Aber auch die SPD", schreibt Rocker, "kann aus ihrer Vergangenheit nicht heraus, und wenn sie auch unter dem Druck der Umstände dem Föderalismus zur Zeit kleine Zugeständnisse macht, so glauben ihre heutigen Führer, daß der wirtschaftliche und soziale Aufbau Deutschlands nur durch eine einheitliche zentrale Regierung erreicht werden kann. Ich halte es daher für völlig ausgeschlossen, daß wir durch unseren Eintritt in solche Körperschaften deren Bestrebungen wesentlich beeinflussen können…" Er schreibt weiter: "Was mir vorschwebt, ist ein Bund freiheitlicher Föderalisten, dem es weniger darauf ankommt, seinen Reihen von Zeit zu Zeit einige Neubekehrte zuzuführen, sondern eine Vereinigung gesinnungsverwandter, von freiheitlichem Geist getragener Menschen, die entschlossen sind, ihrer Betätigung nach außen hin immer weitere Gebiete zu erschließen und ihre Anschauungen in neue Kreise zu tragen, wo sie sich fruchtbar auswirken können…" Neben der aktiven Mitarbeit in den Gemeinden, glaubt Rocker, daß die Gewerkschaften und die Genossenschaften, ein für föderalistische Ideen aufgeschlossenes Betätigungsfeld darstellen. Das Bekenntnis zum Föderalismus als Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist es, was Rocker ansrebt. Wenn sich die Hoffnungen Rockers auf eine Wende in seinem Sinne nicht erfüllt haben, so lag das sicherlich nicht daran, daß er Utopien nachjagte, im Gegenteil, eine föderalistische Gesellschaftsordnung steht sehr wohl auf dem Boden der Wirklichkeit. Sie kann nur nicht von Oben erzwungen werden, sondern sie muß von Unten organisch wachsen. In dem unter kommunistischem Einfluß stehenden Teil Deutschlands war eine Entwicklung im föderalistischen Sinne sowieso unterbunden. Und in der Bundesrepublik hat der bekannte Slogan, "Keine Experimente" seine Wirkung nicht verfehlt und die alten Geister wieder auf den Plan gerufen. Trotzdem ist die Idee des Föderalismus und des freiheitlichen Sozialismus nicht tot. Wenn wir diese Schrift neu verlegen, so deshalb, weil darin Probleme angesprochen werden, die auch heute noch ihre volle Gültigkeit haben und weil wir glauben, daß die heutige Generation, welche nicht mehr die Last der Hypothek eines Obrigkeitsstaates mit sich herumträgt, neuen Ideen zugänglich ist. Mit der Studentenbewegung im Jahre 1968 ist zum ersten Male sichtbar geworden, daß auch hierzulande jahrhundertealte Tabus ihre Gültigkeit verloren haben. Wenn auch die Studentenbewegung in Deutschland nur auf die akademische Jugend beschränkt blieb, so sind roch die Bürgerinitiativen, die sich überall spontan bilden, wo die Interessen der Bürger durch kommunale oder staatliche Anordnungen verletzt werden, und die sich oft auf föderalistischer Grundlage zusammenschließen, ein Zeichen dafür, daß der Untertanengeist im Schwinden begriffen ist. Nicht zuletzt scheint auch in den Gewerkschaften die Basis immer mehr Einfluß gegenüber den Gewerkschaftsbürokratien zu gewinnen, sodaß die syndikalistische Gewerkschaftsidee wieder aktuell wird. Sicherlich spricht auch die Tatsache, daß in den letzten Jahren viele Bücher über den freiheitlichen Sozialismus erschienen sind, dafür, daß die freiheitlichen Ideen wieder größere Beachtung finden. Was diese Schrift aber besonders wertvoll macht, ist, daß sich in ihr die Erfahrungen eines erlebnisreichen Lebens widerspiegeln. Der Verlag *** Vorwort Die vorliegende Schrift ist aus dem Bedürfnis Rudolf Rockers entstanden, seinen alten Kameraden in Deutschland einen Gruss zu senden und Anregungen zu neuer Arbeit für den freiheitlichen Sozialismus zu vermitteln. Ihre Bedeutung geht jedoch weit über diesen Anlass hinaus. Rockers Worte sind ein Appell an alle Deutschen, die aus europäischer und internationaler Gesinnung, im Anschluss an die humanistischen und freiheitlichen Überlieferungen Deutschlands selbst den Kampf aufnehmen wollen für wirkliche innere Erneuerung und eine Ordnung der sozialen Gerechtigkeit auf der Grundlage der Freiheit; Rocker zeigt wie das deutsche Volk aus der Not des Zusammenbruchs die ersten Schritte auf dem Wege in eine bessere Zukunft tun kann. Aber er will keine Programme oder Rezepte geben. Es kommt ihm vor allem auf den Geist dieses Neubeginnens an. Rudolf Rocker, der heute 74-jährige „freundliche Herr von Rhein und Main", wie ihn Max Nettlau nannte, ist während seines ganzen kampf- und arbeitsreichen Lebens ein internationaler Sozialist gewesen. Er hat selber am Leben und den sozialen Kämpfen verschiedener Völker lebhaften Anteil genommen und spricht hier aus dem gesammelten Schatze seiner Erfahrungen, aus dem Geiste einer gereiften Humanität wieder zu den Menschen seiner deutschen Heimat, aus der ihn die braune Barbarei vertrieb. Rocker trat in früher Jugend in die Reihen der deutschen Arbeiterbewegung, wanderte als Buchbindergeselle durch viele europäische Länder und kam in Berührung mit den aktiven Kräften des internationalen Anarchismus und Syndikalismus. Lange Jahre wirkte er, bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, unter den jüdischen Proletariern im Londoner Eastend, wo dieser Sohn einer Mainzer Arbeiterfamilie sogar die jiddische Sprache erlernte, die er, der Nichtjude, jahrzehntelang sprach und schrieb. Während des ersten Weltkrieges als deutscher Zivilgefangener in England interniert, reiste er nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zurück nach Deutschland. Hier war er bald die überragende, geistig führende Persönlichkeit der deutschen syndikalistischen Bewegung (Freie Arbeiter-Union Deutschlands). Seine Tätigkeit als Redner und Schriftsteller machte ihn weit über die Bewegung hinaus bekannt. Im Gedanken an die überlebenden aus dem Kreis der in jenen Jahren erworbenen deutschen Freunde hat Rudolf Rocker diese Arbeit geschrieben, die aber auch vielen anderen etwas zu sagen hat. Wir können hier keinen Überblick über das Gesamtwerk Rockers geben, sondern wollen hauptsächlich auf die Schriften hinweisen, die nach seiner Emigration aus Deutschland erschienen sind. Von den Veröffentlichungen seiner Deutschland-Zeit erwähnen wir Rockers Erinnerungen aus englischer Gefangenschaft: „Hinter Stacheldraht und Gitter", dieses schöne Zeugnis für die tätige Menschlichkeit, die natürliche Toleranz und freiheitliche Gesinnung, die nicht nur Rockers Lehre, sondern vor allem seinen Charakter kennzeichnen und diesem Manne, dem jeder Gedanke an Ausübung von äusserer Macht weltenfern liegt, eine so grosse Macht über Menschenseelen geben. Diesem Werke steht würdig zur Seite die umfassende wissenschaftliche Arbeit der zwanziger Jahre, „John Most, das Leben eines Rebellen", das eine Geschichte des früheren deutschen Anarchismus und wichtige Beiträge zur internationalen Geschichte der freiheitlichen Ideenwelt enthält. In der Emigration brachte Rocker eine ganze Reihe neuer Werke heraus, die in Deutschland unbekannt sind. Wir nennen an erster Stelle „Der Nationalismus und seine Beziehungen zur Kultur", Rockers Lebenswerk, das noch in Deutschland abgeschlossen wurde, aber nicht mehr verlegt werden konnte. Es ist im Auslande in vielen Sprachen erschienen und hat Anerkennung in weiten Kreisen unabhängiger Kritiker gefunden. Während des spanischen Bürgerkrieges schilderte Rocker in den zwei zunächst englisch erschienenen Schriften „Die Wahrheit über Spanien" und „Die Tragödie Spaniens" den sozialen Hintergrund der spanischen Volksbewegung und die internationalen reaktionären Interessen und Intriguen, deren Opfer das freiheitsliebende spanische Volk wurde. Damals schrieb Rocker auch das aufschlussreiche kleine Werk „Anarchosyndikalismus", das dem erwachenden internationalen Interesse für die Ideen der freiheitlichen spanischen Arbeiterbewegung entgegenkam. Es erschien in englisch und spanisch. Einen wesentlichen Beitrag zu den Problemen der Zeit bildet das in Mexiko erschienene Büchlein „Der Einfluss der absolutistischen Ideen auf den Sozialismus". Aus der Frühgeschichte des autoritären Sozialismus bis zu Marx und Lasalle weist Rocker hier die später verhängnisvoll gewordenen totalitären Ideen nach und gibt gleichzeitig einen Aufriss der Ideenwelt Pierre Joseph Proudhons, den man gerade jetzt in Deutschland als wahren Antipoden des Totalitarismus wiederentdeckt. Das umfangreichere Werk „Pioniere des freiheitlichen Denkens in Amerika" (spanisch und englisch) schildert den amerikanischen individualistischen Anarchismus und Proudhonismus und führt zum Verständnis der modernen Genossenschaftsideen, in denen der amerikanische Genossenschaftler J. P. Warbasse mit Recht eine Wiederauferstehung der Proudhonschen Gedanken erblickt. In dem Band „Der zweite Weltkrieg" (spanisch) sind Rockers aktuelle Aufsätze aus der Kriegszeit, die hauptsächlich in „La Protesta" - Buenos Aires erschienen, zusammengefasst. Ein ganz persönliches Bekenntnis schliesslich bedeutet Rockers Erinnerungsbuch über seinen besten Freund: „Max Nettlau, der Mann und sein Werk", in dem der Verfasser die Lebensarbeit und den freiheitlichen Humanismus des Historikers Nettlau an Hand einer reichen Dokumentensammlung verständnisvoll schildert. Soeben schliesst Rocker den zweiten Band seiner „Erinnerungen" ab, deren erster bereits in Buenos Aires gedruckt wird. Damit leitet der Verlag Américalee unter Diego Abad de Santilláns Redaktion eine grosse Ausgabe aller wichtigen Werke Rockers ein, die 14 Bände umfassen wird. Gegenwärtig arbeitet Rocker u. a. am Abschluss eines Werkes über die Voraussetzungen eines föderativen Europa, von dem die Arbeit über den Einfluss der absolutistischen Ideen auf den Sozialismus ein Kapitel bildet. Hierzu kommt Rockers laufende Produktion an Aufsätzen, die ununterbrochen in verschiedenen Ländern erscheinen. Immer volksverbunden und den idealistischen Impulsen seiner Jugend treu, ist Rocker in Jahrzehnten rastloser sozialistischer Arbeit und freiheitlichen Kampfes von einer Erkenntnis zur anderen gegangen und niemals stehen geblieben. Stets in innigem Kontakt mit der Jugend, der allgemeinen geistigen und sozialen Entwicklung folgend, immer an die Bedingungen der Wirklichkeit anknüpfend hat Rocker seine Erkenntnisse und zahlreiche Anregungen in einem reichen Werke niedergelegt, dessen Geist sich in den folgenden Seiten verkörpert. Hier spricht ein in Wahrheit über allen, Parteien stehender reiner und reifer Mensch, dessen Stimme zu allen dringen sollte, die darüber nachdenken, wie Deutschland sich aus dem Abgrund, in den es durch eine gewissenlose nationalistische Verbrecherbande gestürzt wurde, wieder erheben und in Beziehung zu den guten, einer besseren Zukunft zugewandten Kräften aller Völker treten kann. Helmut Rüdiger. Die Herausgabe der vorliegenden Schrift wurde ermöglicht dank der Hilfe der schwedischen syndikalistischen Bewegung (Svergee Arbetares Centralorganisation) und der Internationalen Arbeiter-Assoziation. *** Zur Betrachtung der Lage in Deutschland
Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung Wer aus sich heraus lebt,
tut immer besser, als
wer in sich hinein lebt.
J. G. Seume.
Nachdem die Schranken endlich gefallen sind, durch welche Deutschland zwölf Jahre lang von der übrigen Welt abgeschlossen war, ist auch mir nun die Gelegenheit geboten, mit den alten Freunden und Kameraden in der Heimat die Beziehungen wieder aufzunehmen. So manche der alten Genossen haben die Götterdämmerung des Dritten Reiches nicht mehr erlebt, das nach den Weissagungen seiner Begründer tausend Jahre währen sollte. Erich Mühsam, Fritz Kater, Arthur Holke, Anton Rosinke, Carl Windhoff, Gerhard Wartenberg, Hermann Steinacker und wahrscheinlich noch viele andere, deren Schicksal mir zur Zeit unbekannt ist, sind nicht mehr in unseren Reihen. Hunderte unserer Genossen, die ihrer Überzeugung treu geblieben in jener Zeit des Grauens und der schweren Not, mussten lange und qualvolle Jahre der Gefangenschaft über sich ergehen lassen. Sie sind nun der Freiheit wiedergegeben, aber nur, um in einem vollständig verwüsteten Lande, dessen Existenzmöglichkeiten in der furchtbarsten Weise beengt sind, den Kampf um die nackte Notdurft des Lebens unter den schwersten Umständen neu beginnen zu müssen. Von der alten FAUD sind auch die letzten Ansätze verschwunden. Aus den zahlreichen Briefen, die mir bisher aus allen Teilen des Reiches zugingen und solchen, die mir durch deutsche Kameraden im Ausland zur Verfügung gestellt wurden, geht deutlich hervor, dass an eine Wiederbelebung unsrer alten Bewegung in ihrer gewesenen Form unter den heutigen Umständen kaum gedacht werden kann, da alle Vorbedingungen dazu fehlen. Das ist durchaus kein Wunder, denn nach einer so ungeheuerlichen Katastrophe, die alle Fundamente des sozialen Lebens von Grund auf zerstört und uns vor ganz neue Probleme gestellt hat, lässt sich schwer annehmen, dass man genau wieder dort anfangen kann, wo wir vor dreizehn Jahren aufgehört haben. Das sollte jedem ohne weiteres verständlich sein, der sich redlich bemüht, den tieferen Ursachen des grössten Zusammenbruches aller Zeiten ernstlich nachzugehen. Unter den Leichenhügeln und Trümmerfeldern, die uns der Krieg hinterlassen hat, ist eine alte Welt begraben worden, die in ihrer gewesenen Gestalt nie wieder aufleben wird. Alle Versuche, die gegenwärtig in den meisten Ländern Europas unternommen werden, um mehr oder weniger tiefgehende Änderungen in der Struktur unserer sozialen Lebensbedingungen herbeizuführen, legen dafür Zeugnis ab, womit jedoch keineswegs behauptet werden soll, dass die eingeschlagenen Wege uns über die Not der Zeit hinweghelfen und den schwergeprüften Völkern eine bessere Zukunft erschliessen können. In dem kranken und chaotischen Zustand, in dem sich heute die Welt befindet, ist auch das Denken der Menschen Verwirrungen jeder Art ausgesetzt, umsomehr, als blinde Vergeltungsgelüste und politische Leidenschaften nie zu einem Ziele führen können und jedes besonnene Schaffen nur verzögern müssen, von dem heute alles abhängt. Wie man über Nacht aus einem wüsten Trümmerhaufen kein Paradies hervorzaubern kann, so kann eine Klärung der Gedanken nur allmählich eintreten, nachdem die gröbsten Hindernisse überwunden sind. Es kommt daher heute vor allem auf den Weg an, den wir einschlagen, um uns aus dem Abgrund emporzuarbeiten, in den wir geraten sind, und die Menschen für neue Lebensmöglichkeiten empfänglich zu machen. So mancher Weg, der uns heute von irgend einem Doktor Eisenbart als Aufstieg angepriesen wird, ist nur ein Abweg, der uns bloss tieferen Abgründen zuführen muss, wenn wir die Gefahr nicht rechtzeitig erkennen und uns von Trugbildern blenden lassen, die wie schillernde Seifenblasen an der Wirklichkeit des Lebens zerschellen müssen. Vor allem müssen wir begreifen lernen, dass die sozialen Gebresten unserer Zeit sich nicht auf eine bestimmte Ursache zurückführen lassen und es eben deshalb auch kein Allheilmittel gibt, das uns mit einem Schlage von aller Not befreien kann. Es gibt zwar innere Zusammenhänge zwischen den sozialen Lebenserscheinungen, die so eng mit einander verwoben sind, dass sich scharfe Grenzen überhaupt nicht feststellen lassen, aber es gibt keine bestimmte Quelle, aus der sich alles ableiten lässt und die man bloss zu entdecken braucht, um für alles eine Erklärung zu finden. Ein solches Suchen nach dem Stein dem Weisen ist nur soziale Alchemie, die zu allen Trugschlüssen Tür und Tor öffnet. Nichts ist gefährlicher, als der Glaube an absolute Wahrheiten. Was wir mit diesem Namen bezeichnen, entspringt nur dem jeweiligen Stand unserer Erkentnis und kann jederzeit durch eine neue Erkenntnis abgelöst werden. Das starre Festhalten an überlieferten Vorstellungen und toten Gedankenbildern ist das grösste Hindernis für jede neue Entwicklung. Die Wahrheiten von gestern entwickeln sich stets zu den Lügen von heute, wenn wir ihnen einen absoluten Charakter beilegen, der unserem Denken Schranken setzt. Auch die erhabenste und vorgeschrittenste Idee muss zum toten Dogma erstarren, wenn sie den Umständen des Lebens nicht Rechnung trägt und sich nicht schöpferisch auswirken kann. In einer Zeit wie die heutige, wo uns nur unmittelbares Eingreifen in den Lauf der Dinge noch helfen kann, ist jede Erkenntnis, die zum Umlernen anregt, doppelt wertvoll. Rein kritische Betrachtungen über die bestehenden Zustände sind heute völlig wertlos, wenn sie von keinem praktischen Tun begleitet sind. Wer heute etwas leisten will, muss selbst mit Hand anlegen, um das Trümmerfeld zu reinigen, das die Rattenfänger des Dritten Reiches dem deutschen Volke als Erbschaft hinterlassen haben. Auch wir haben keine fertigen Rezepte in der Tasche, die alle Gebrechen heilen können, aber jeder von uns ist imstande, in seiner Weise an dem Wiederaufbau des Landes handelnd Anteil zu nehmen und im Zusammenschluss mit allen, die guten Willens sind, neue Wege einzuschlagen, die uns über den Berg hinweghelfen können, um eine wirkliche Gesundung anzubahnen. Vor allem müssen wir uns davor hüten, Gesamtlösungen vorzuschlagen, die in weiter Ferne liegen und uns keinen Schritt vorwärts bringen können. Man kann ein Volk, das aus tausend Wunden blutet und dem bittersten Elend preisgegeben ist, nicht mit Hypotheken auf die Zukunft abspeisen. Das erkannte schon J. G. Seume, wenn er sagte: „Weist nur die Menschen in den Himmel, wenn Ihr sie um alles Irdische königlich betrügen wollt!" Allgemeine Veränderungen sind nur möglich, wenn sie im einzelnen vorgenommen werden und der Initiative denkender Menschen entspringen, denen das Wohl der Gemeinschaft tiefer am Herzen liegt, als die Sonderinteressen der Parteien, die stets glauben, die allgemeine Entwicklung wie eine Theatervorstellung auf ein bestimmtes Programm festlegen zu können. So natürlich es ist, dass Gleichgesinnte sich im engeren Kreise zusammenfinden, um ihre Anschauungen wirkungsvoller vertreten zu können, so darf man dabei doch nie vergessen, dass jede solcher Vereinigungen doch nur ein Teil der grösseren sozialen Gemeinschaft ist, der wir angehören und mit der wir organisch verwachsen sind. Sogar die grösste Idee ist nicht gross genug, um sich selbst genügen zu können. Wir alle werden aus Quellen gespeist, die wir selbst nicht entdeckt haben. Je tiefer uns diese Erkenntnis zum Bewusstsein kommt, desto bescheidener werden wir zwar in unseren Ansprüchen, aber umso besser begreifen wir auch, dass man das gesamte geistige und soziale Leben niemals auf einen Ton abstimmen kann. Gerade diese Erkenntnis ist uns heute mehr denn je notwendig, denn alle Versuche, die bisher in jener Richtung gemacht wurden, endeten stets mit einem vollständigen Misserfolg. Wie es keine absolute Wahrheit gibt, so gibt es auch keine absolute Vollkommenheit, sondern nur ein Streben nach immer besseren und vollkommeneren Formen unseres sozialen Daseins, das durch stete Erfahrungen erkauft werden muss. Die Reaktion beginnt immer dort, wo man das Leben auf eine bestimmte Norm zu bringen versucht. Das ist die Ursache, weshalb die Revolutionäre von gestern so häufig die Reaktionäre von heute werden. Ich begreife deshalb auch nur zu gut, wenn unsere Genossen in Deutschland heute allen möglichen Anfechtungen ausgesetzt sind, die sich aus der allgemeinen Verworrenheit der Lage leicht erklären lassen. Viele suchen irgend eine Betätigung, und da eine eigene Bewegung nicht länger besteht, so suchen sie bei anderen Anschluss, um überhaupt etwas tun zu können. Dabei kann es natürlich nicht ausbleiben, dass sie häufig in eine schiefe Lage geraten, die ihnen sicher nicht erwünscht ist und mit der sie sich schliesslich abzufinden versuchen, so gut oder so schlecht es eben möglich ist. Das ist, ohne Zweifel, auch die Ursache, weshalb viele meiner alten Freunde aus allen Teilen des Landes an mich herangetreten sind, um meine persönliche Meinung über die heutige Lage zu erfahren. Vielen habe ich bereits persönlich geantwortet, aber da sich dieselben Fragen stets wiederholen, so halte ich es für das beste, meine Gedanken in dieser Form niederzulegen, um sie jedem zugänglich zu machen. Ich komme der Aufforderung der Genossen umso bereitwilliger nach, da mir dadurch die Gelegenheit geboten wird, ihre Aufmerksamkeit auf einige wichtige Fragen zu lenken, von deren Lösung aller Wahrscheinlichkeit nach die nächste Zukunft Deutschlands und ganz Europas abhängen wird. Wäre ich mindestens zehn Jahre jünger, so würde ich mich keinen. Augenblick besinnen und nach Deutschland zurückkehren, um zusammen mit den Kameraden für die Verbreitung unserer Ideen zu wirken. Aber ich bin heute ein Mann von 74 Jahren, und in einem solchen Alter kann man im Leben keine grossen Sprünge mehr machen. Die Natur lässt sich nun einmal nicht betrügen, und obgleich ich noch genug geistige Spannkraft besitze, um noch manche nützliche Arbeit leisten zu können, so wäre ich physisch doch nicht mehr imstande, die heutigen Lebensbedingungen in Deutschland lange zu ertragen. Hier ist mir wenigstens die Gelegenheit geboten, unter bescheidenen Lebensansprüchen ungestört meiner literarischen Arbeit nachgehen zu können. In Deutschland, ganz abgesehen von der nackten Existenzfrage, wäre mir auch dazu. keine Gelegenheit geboten, da mir dort alle notwendigen Hilfsmittel fehlen würden, die ich fortgesetzt für meine Arbeiten benötige. Unter diesen Umständen meinen Lebensabend nutzlos zu vertrödeln, hätte weder für mich noch für andere einen Zweck. Was ich einst durch mündliche Erziehungsarbeit für die Bewegung leisten konnte, dazu fehlen mir heute die körperlichen Kräfte, und was ich heute noch mit der Feder zu leisten vermag, kann ich von hier aus besser tun, als in Deutschland. So weit ich den Genossen in der Heimat in ihrem schweren Kampfe helfen kann, bin ich stets dazu bereit. Meine Person steht ihnen jederzeit zur Verfügung, wo immer meine Hilfe erwünscht ist. Ich habe während der Zeit meines Hierseins acht grössere neue Werke und eine ganze Anzahl kleinerer Schriften vollendet, die fast alle in verschiedenen Sprachen erschienen sind. Ausserdem habe ich noch verschiedene Arbeiten unter der Hand, die der Vollendung harren. Alle diese Ergebnisse meiner literarischen Tätigkeit stehen den Genossen in Deutschland frei zur Verfügung, falls sie dafür Verwendung finden sollten. Wegen der deutschen Ausgabe meines Buches, „Nationalismus und Kultur", ein Band von über sechshundert grossen Seiten, der bis jetzt in sieben verschiedene Sprachen übersetzt wurde, sind bereits Verbindungen mit einem Verleger in Deutschland angeknüpft. So bald diese Verhandlungen zu einem günstigen Abschluss gebracht sind, bin ich gerne bereit, den deutschen Genossen das gesamte Honorar für die Förderung unserer Bewegung zu überlassen. Es ist dies für mich die einzige Gelegenheit, um den Genossen in der Heimat auch materiell etwas, nützlich sein zu können. Das ist alles, was ich heute noch tun kann, und ich bedaure, dass es nicht mehr ist. Und nun will ich versuchen, zu der heutigen Lage in Deutschland Stellung zu nehmen, so weit dies von hier aus geschehen kann. Wie sich die Genossen zu meinen Vorschlägen stellen, bleibt natürlich ihre Sache. Ein Überlegenheitsfimmel, der sich gewöhnlich dort einstellt, wo das Denken in die Brüche gerät, war nie meine schwache Seite. Ausserdem bin ich alt genug und habe genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, dass ich keine unfehlbaren Wahrheiten zu vergeben habe und dass auch die besten Vorschläge erst durch praktische Erfahrung geprüft werden müssen, um Geltungswert beanspruchen zu können. Aber ich lasse mir auch kein X für ein U vormachen und nehme die Dinge nicht einfach hin, wie sie mir geboten werden. Dieses Recht, das ich keinem Menschen bestreite, nehme ich auch für mich in Anspruch, denn es ist das einzige Mittel, die Gedanken in Fluss zu halten und für neue Auffassungen zu befähigen. Das ist der einzige Zweck meiner Ausführungen. Ich will mich mit den alten Kampfgenossen vergangener Jahre kameradschaftlich auseinandersetzen, um, wenn es möglich ist, eine Verständigung zu erreichen, die vielleicht zur Wiederbelebung unserer Bewegung in einer neuen, den Umständen angepassten Form den Anstoss geben könnte. über alles andere müssen die Genossen Bebst entscheiden. Viele Genossen, die nach dem Kriege kein eigenes Betätigungsfeld mehr finden konnten, suchen heute eine Zuflucht in anderen Körperschaften, um dort ihre Anschauungen zur Geltung zu bringen. Da aber die Auswahl gesinnungsverwandter Organisationen nicht gross ist, so haben sich manche entschlossen, der einen oder der anderen der beiden sozialistischen Parteien beizutreten. Dabei glauben nicht wenige, es ihrer Gesinnung schuldig zu sein, der SEP den Vorzug zu geben, weil diese, ihrer Meinung nach, zur Zeit den „linkesten Flügel" der gegenwärtigen deutschen Arbeiterbewegung bildet und ihnen daher grössere Möglichkeiten bietet, ihre eigenen Ideen an den Mann zu bringen. In der Russischen Zone haben, ohne Zweifel, auch noch andere Gründe diesen Entschluss beeinflusst, die ich sehr wohl verstehe, ohne sie deshalb zu befürworten. Es ist mir vollständig klar, dass man von Menschen, die so lange Zeit von der ganzen Welt abgeschlossen waren und so Furchtbares erdulden mussten, nun nicht noch neue Opfer fordern kann, die ihre ohnedies schon schwere persönliche Lage noch mehr gefährden könnte. Ich begreife daher sehr gut, dass manche aus der Not eine Tugend gemacht, weil sie sich wahrscheinlich nicht anders helfen konnten. Deshalb liegt es mir auch gänzlich fern, sie als Abtrünnige zu betrachten oder von ihnen Opfer zu erwarten, die ich selbst nicht tragen helfen kann. Aber wenn es sich darum handelt, geistige Klarheit zu schaffen, die uns heute vor allem nötig ist, um ein neues Beginnen zu ermöglichen, so müssen wir uns vor allen Dingen bemühen, mit alten Schlagwörtern aufzuräumen, die uns heute nicht mehr helfen können, da sie ihren geschichtlichen Wert längst eingebüsst haben. Dazu gehören auch die überlieferten Begriffe von „rechts" und „links", die sich so vollständig verschoben haben, dass sie jeden Sinn verloren haben. Solche Begriffe waren nach der Einführung des modernen politischen Vertretungssystems durchaus gerechtfertigt, da sie in den neugeschaffenen politischen und sozialen Tatsachen ihre Begründung fanden. Die parlamentarischen Regierungen, die sich zunächst in den westlichen Ländern Europas entwickelten, versuchten in der Regel ihrer Politik einen mittleren Kurs zu geben, um allen Ansprüchen zu genügen, die an sie gestellt wurden. Alle Parteien und sozialen Richtungen, die weiter strebten und in die Zukunft dachten, standen links, wobei natürlich die verschiedensten Schattierungen zum Ausdruck kamen, von den sozialen Reformern, die eine weitere Entwicklung der Zustände auf friedlichem Wege erstrebten, bis zu den Sozialrevolutionären, die an einen friedlichen Ausgleich der gesellschaftlichen Gegensätze nicht mehr glaubten. Alle Richtungen, deren Vorstellungen in der Vergangenheit wurzelten und die bestrebt waren, verlorene und von der Zeit überwundene Einrichtungen zurückzuerkämpfen, von den Konservativen aller Gattungen bis zu den ausgesprochenen Reaktionären, standen rechts. Unter solchen Voraussetzungen war eine Verwechslung der Begriffe nicht gut möglich. Jeder, der versuchte, die durch die grossen Volksbewegungen und Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts erkämpften Errungenschaften zu erhalten und weiter auszubauen, fand seinen Platz in irgend einer Richtung der Linken; jeder, der bestrebt war, diese Errungenschaften rückgängig zu machen und das soziale Leben in Formen zu pressen, die einer gewesenen Zeit angehörten, stand im Lager der Rechten und machte in der Regel daraus keinen Hehl. Die Grenzscheide zwischen links und rechts war also ziemlich deutlich gezogen. Die wichtigsten der grossen Errungenschaften, die aus den Umwälzungen des Zeitalters der europäischen Revolutionen hervorgegangen sind, fanden ihren Ausdruck in der Beseitigung aller feudalen Bindungen und Hörigkeitsverhältnisse, die der fürstliche Absolutismus geschaffen hatte, in dem Mitbestimmungsrecht der Völker an der sozialen Verwaltung des Landes, in der Freiheit des öffentlichen Meinungsausdruckes in Wort und Schrift, im Recht der Freizügigkeit, in der Sicherheit der Person durch eine öffentliche Gerichtsbarkeit unter Zuziehung von Schöffen aus allen Bevölkerungsschichten und in der Gleichberechtigung aller Glaubensbekenntnisse. Diese Errungenschaften fanden einen unvergänglichen Niederschlag in der von Thomas Jefferson geschriebenen „Unabhängigkeitserklärung" des amerikanischen Volkes und später in der „Erklärung der Menschenrechte" in der ersten Phase der grossen französischen Revolution, die allen Völkern in ihren Kämpfen für die politische Demokratie als Muster dienten. Gewiss ist es richtig, dass die Verheissungen dieser beiden grossen Kundgebungen eines freien Menschentums bisher nirgends restlos erfüllt, häufig verzerrt oder durch reaktionäre Rückschläge beeinträchtigt wurden. Trotzdem bleibt es nicht weniger wahr, dass die Gedanken, die dort niedergelegt wurden, tief in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen sind und das gesamte geistige und soziale Leben der Völker unseres Kulturkreises neubefruchtet und gefördert haben. Aus diesen neuen Begriffen sind die Unterscheidungsmerkmale von rechts und links hervorgegangen. Alles, was mit der Vorstellungsweise des Absolutismus und seinen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bindungen geistig verkettet war, wurde als eine Tendenz nach rechts empfunden, während es geradezu als ein Vorrecht der Linken galt, den Absolutismus aus seinen letzten Schlupfwinkeln zu vertreiben und der geistigen und sozialen Freiheit des Menschen immer weitere Ziele zu stecken. Allein jene alten Grenzabsteckungen haben heute jeden Geltungswert eingebüsst, denn an den alten Grundsätzen gemessen, steht heute die „äusserste Linke" vollständig auf dem Boden eines neuen Absolutismus, dessen durch und durch reaktionäre Ideologie die Ansprüche des fürstlichen Absolutismus vergangener Jahrhunderte weit in den Schatten stellt. Sogar der verbissenste Tory in England träumt heute nicht mehr davon, die politischen und sozialen Errungenschaften der beiden englischen Revolutionen in Frage zu stellen und eine Rückkehr zum absoluten Regime Karls I. zu befürworten. Die Kommunistischen Parteien und ihre Verbündeten in allen Ländern aber, die heute die „äusserste Linke" repräsentieren, erstreben überall die Diktatur eines, totalen Staates nach russischem Muster, der durch die Entwicklung eines allmächtigen Staatskapitalismus einen Grad der Macht erreicht, die sogar der fürstliche Absolutismus nie erringen konnte. Eine so ungeheuerliche Anhäufung aller öffentlichen Machtbefugnisse kann nur auf Kosten aller revolutionären Errungenschaften der Vergangenheit erzielt werden. Die freie Meinungsäusserung muss vor der Staatsräson die Segel streichen, die, ausser der eigenen, keine andere Meinung duldet und jede Kritik an den Entschliessungen der Regierung als Hochverrat betrachtet. Und da eine solche totale Bevormundung des persönlichen Denkens sich auf gütlichem Wege nie erreichen lässt, so muss ein bis ins Ungemessene entwickelter Polizeiapparat dafür Sorge tragen, dass die richtige Gedankenlinie eingehalten und jede unbequeme Störung systematisch ausgeschaltet wird. Die unvermeidliche Folge eines solchen Systems ist ein Zustand allgemeiner Spionage, die alle Quellen des geistigen und moralischen Lebens vergiftet, so dass keiner dem andern mehr traut und jedes ethische Empfinden vor die Hunde geht. Durch die restlose Unterwerfung aller Zweige der wirtschaftlichen Betätigung, welche die gesamte materielle Existenz des Einzelwesens vom Staate abhängig macht, wird jedes Selbstbestimmungsrecht beseitigt. Das Recht der Freizügigkeit besteht nicht länger; der Mensch wird an die Scholle gebunden und gerät immer tiefer in ein Netz feudaler Bindungen und Hörigkeitsverhältnisse, mit denen die vergangenen Revolutionen längst aufgeräumt hatten und die in diesem Masse sogar im zaristischen Russland nicht mehr bestanden. An dieser unumstösslichen Tatsache können auch die artigen Zirkuskunststücke nichts ändern, die heute von der Linken mit dem Begriff der Demokratie betrieben werden. Sie sind ebenso gegenstandslos wie die bekannten Worte, die der Erzdemagoge Goebbels den Vertretern des preussischen Junkertums entgegenschleuderte: „Vergessen Sie nicht, meine Herren, dass wir links stehen!' - Rechts und links sind heute hohle Worte, die keine Meinung mehr besitzen und die nur dazu dienen, gewesene Begriffe zu verhüllen und die Armen im Geiste mit Dingen auszusöhnen, die zu den überlieferten Vorstellungen passen, wie die Faust aufs Auge. Deshalb sollte man sich von leeren Schlagwörtern nicht länger täuschen lassen, die gerade in Deutschland doppelt gefährlich sind, das kaum der Diktatur des Dritten Reiches entronnen ist und gerade aus diesem Grunde kein Verlangen tragen sollte, einer neuen Diktatur unter verändertem Firmenschild den Weg zu bahnen. Jeder, der heute nach allen Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre noch dem totalen Staat das Wort redet und die Freiheit als „bürgerliches Vorurteil" betrachtet; jeder, der mit Diktaturgelüsten in irgend welcher Form schwanger geht und bereit ist, alle menschlichen Rechte und Freiheiten einer toten Maschine zu opfern, steht im Lager der totalen Reaktion und wurzelt in Vorstellungen, die der Tyrannei vergangener Jahrhunderte entsprungen sind und den Menschen keine neuen Ausblicke eröffnen können. Auch der Gedanke, dass die Diktatur nur ein Übergangsstadium sei, das nach der Überwindung aller Widerstände von selbst verschwinden würde, ist nur eine leere Illusion, die durch die grausame Wirklichkeit längst widerlegt wurde. Man schafft keine Freiheit, indem man alle Menschen dem gleichen Zwang unterwirft und die staatliche Bevormundung aller persönlichen und sozialen Lebensäusserungen zum System erhebt. Kein Machtgebilde in der menschlichen Geschichte hat sich bisher selbst aufgehoben, und je grösser die Macht ist. Über die ihre Träger gebieten, desto weniger denken sie daran, sie widerstandslos preiszugeben. Das Wort Proudhons: „Jede provisorische Regierung trägt in sich das unausgesprochene Verlangen, ihre Macht permanent zu machen", enthält eine der tiefsten politischen Weisheiten, die sich durch alle gemachten Erfahrungen stets bestätigt hat. Wer aus diesen Erfahrungen nichts gelernt hat, wird den Kreislauf der Blindheit stets von neuem beginnen und nie aus dem Labyrinth der Wirrungen herauskommen. Die Auffassung der meisten deutschen Genossen, dass unter den heutigen Verhältnissen an eine Neubelebung unserer alten Bewegung nicht gedacht werden kann, ist mir durchaus verständlich. Die syndikalistische Bewegung Deutschlands, die sich in der FAUD zusammengefunden hatte, hat eigentlich nie den praktischen Zweck erfüllt, den wir von ihr erhofft hatten. Sogar in der Blütezeit ihrer Entwicklung, in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, als die FAUD über 150.000 Mitglieder zählte, blieb sie stets eine kleine Minderheit im Vergleich mit den sozialistischen Parteien und den Millionen Arbeitern, die dem Bunde deutscher Gewerkschaften angehörten. An selbstständiges Handeln war unter solchen Umständen wenig zu denken. Wir konnten zwar an den allgemeinen Wirtschaftskämpfen jener Zeit einen Anteil nehmen, was wir auch redlich getan haben, aber zu einer tieferen Beeinflussung der deutschen Arbeiterschaft reichten unsere Kräfte nicht aus. Das war gewiss nicht unsere Schuld, denn wir hätten in Deutschland mit Verhältnissen und Überlieferungen ganz besonderer Art zu kämpfen, wie sie in diesem Umfang in keinem anderen Lande vorhanden waren, und die auch durch die revolutionären Ereignisse nach dem ersten Weltkrieg nicht einfach ausgetilgt werden konnten. Heute aber wären die Aussichten einer Bewegung im Rahmen der FAUD, ohne Zweifel, noch viel geringer, sogar, wenn sie über einen grösseren Anhang gebieten könnte. In dem riesigen Trümmerhaufen eines total zerstörten Landes, dessen wirtschaftliche Existenzmöglichkeiten zum grössten Teil brachgelegt sind und das vor allen anderen Dingen zunächst an einen neuen Aufbau denken muss, um seinen Einwohnern wenigstens einigermassen erträgliche Lebensbedingungen zu verschaffen, hätte eine neue syndikalistische Bewegung zweifellos noch viel weniger Gelegenheit für aktive Betätigung. Worauf es heute vor allem ankommt, ist, neue Lebensmöglichkeiten zu entwickeln und das zu retten, was die alte Bewegung uns an geistigem Gut hinterlassen hat. Denn wenn auch die FAUD in ihren besten Zeiten keine grossen selbständigen Aktionen unternehmen konnte, so hat sie doch viel dazu beigetragen, das geistige Erbe des freiheitlichen Sozialismus zu wahren und zu mehren, was gerade in einem so autoritär eingestellten Lande wie Deutschland als ihr grösstes Verdienst bezeichnet werden muss. Durch ihre Presse, ihre mündliche Erziehungsarbeit, ein gut geleitetes Verlagsunternehmen und durch die Gilde freiheitlicher Bücherfreunde hat sie hunderttausende wertvoller Bücher und kleinerer Schriften ins Volk getragen und auf diese Weise in einem weit grösseren Umfang zur Verbreitung freiheitlicher Ideen beigetragen, als es bis dahin in Deutschland möglich war. Eine solche Kulturarbeit ist heute in Deutschland doppelt notwendig, um Klärung zu schaffen und unsere Anschauungen in breitere Volkskreise zu tragen, wo sie befruchtend beim Wiederaufbau des Landes mitwirken können. Wir stehen heute vor Problemen, die nur noch auf internationalem Wege gelöst werden können und gelöst werden müssen, wenn die Welt nicht einer neuen Katastrophe entgegentreiben soll, deren Folgen überhaupt nicht auszudenken sind. Man spricht heute sehr viel von einer kommenden Weltföderation, was immer der eine oder der andere darunter verstehen mag, denn die Ideen über diese Frage sind noch keineswegs geklärt und müssen erst gründlich verarbeitet werden, um Ergebnisse zustande zu bringen, die allen Völkern in gleicher Weise zugute kommen. Eine internationale Föderation der Völker aber kann sich nur durchsetzen, wenn sie sich in jedem einzelnen Lande die Organe schafft, die sie benötigt, um ihre Absichten ins praktische Leben umzusetzen. Der Föderalismus ist eine Form des politischen und sozialen Zusammenschlusses, der jeder beteiligten Volksgruppe das Recht der Selbstverwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten sichert und alle gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Teile durch freiwillig eingegangene Verträge regelt, welche die Wahrnehmung der Interessen Aller im Auge haben und jedem der Beteiligten die gleichen Rechte garantieren. Es ist ein organischer Aufbau von unten auf, der aus den natürlichen Notwendigkeiten des sozialen Lebens hervorgeht und umso grössere Wirkungen erzielt, je besser seine Aufgaben von jedem einzelnen erkannt werden und in seinem ethischen Bewusstsein einen geistigen Niederschlag finden, der sein Verhalten den Mitmenschen gegenüber bestimmt und fortgesetzt beeinflusst. Ein solcher Zustand aber kann nur der besseren Erkenntnis der Menschen entspringen und ihnen von aussen her nicht verschrieben werden, wie einem Kranken Pillen und andere Medikamente. Die erste Voraussetzung für eine kommende Weltföderation ist daher ein föderiertes Europa, und ein föderiertes Europa wird nur möglich sein, wenn sich in jedem Lande föderalistische Einrichtungen entwickeln, die im kleinen ausführen, was man im grossen erstrebt. Eine Föderation der europäischen Völker ist heute der einzig gangbare Weg, der aus dem allgemeinen Chaos ins Freie führt und uns die Möglichkeit neuer Lebensverhältnisse und neuer Beziehungen zwischen den Völkern erschliessen kann. Die besten Köpfe in jedem Lande begreifen heute, dass nur ein föderiertes Europa den ersten Anstoss zu einer Weltföderation geben kann und nur auf dieser Basis eine Überwindung der alten Machtpolitik der nationalen Staaten möglich ist, die uns bisher von einem Abgrund zum andern geführt hat. An den Bestrebungen für ein föderiertes Europa müssen heute alle sozialen Bewegungen und alle Vorschläge für eine Änderung der heutigen Zustände gemessen werden. Wer sich dieser Notwendigkeit widersetzt und sich bewusst oder unbewusst zum blinden Werkzeug neuer Machtbestrebungen macht, beweist damit nur, dass er aus der grössten aller Weltkatastrophen nichts gelernt hat und die inneren Zusammenhänge der gegenwärtigen Geschehnisse nie erfassen wird, wobei es ganz gleichgültig ist, ob er sich von den falschen Vorspiegelungen der Linken oder der Rechten betören lässt. Ohne die gründliche Beseitigung aller und jeder Machtpolitik, die seit Jahrhunderten dem Bestreben aller Grosstaaten, zugrunde liegt, um die Hegemonie über Europa zu erringen, ist an eine wirkliche Änderung der alten Zustände überhaupt nicht zu denken. Die Entwicklung der grossen Mächte in Europa im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus führte fast überall zu den gleichen Ergebnissen. Sie begann mit der systematischen Austilgung aller lokalen Rechte und Freiheiten im eigenen Lande, um die politische Zentralisation aller Machtbefugnisse in den Händen des Staates zu ermöglichen, wobei der Nationalismus den neuen Machthabern als politische Religion dienen musste, um das neue Machtgebilde mit einem Heiligenschein zu verklären. So bald dieses Ziel erreicht war, versuchte jeder der nationalen Grosstaaten die gewaltsam erworbene Macht auch nach aussen hin zu befestigen und die benachbarten kleineren Völker als Werkzeug seiner immer wachsenden Herrschergelüste zu missbrauchen. Die ganze Geschichte der letzten vierhundert Jahre war ein ununterbrochener Kampf der Grosstaaten um die Hegemonie Europas, der später durch die Entwicklung unseres modernen Wirtschaftssystems und der daraus hervorgehenden Kolonialpolitik auch auf andere Kontinente übergriff. So bald der machtpolitische Einfluss einer dominierenden Grossmacht auf das soziale Leben Europas durch neuere und stärkere Kombinationen der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte gebrochen wurde, wurde sie sofort von einer neuen Macht abgelöst, die das alte Spiel von neuem begann, das immer wieder dieselben unvermeidlichen Ergebnisse zur Folge hatte. Auf diese Weise wurde das europäische Wirtschaftsgebiet immer mehr zerstückelt und durch Tarife, Zölle und hundert andere politische und wirtschaftliche Druckmittel in seiner natürlichen Entwicklung behindert, wobei natürlich die schwächeren Völker zuerst unter die Räder kommen mussten, während durch immer grössere und kostspieligere militärische Rüstungen das nationale Einkommen der Völker in nutzloser Weise vergeudet und die stete Kriegsgefahr zu einem Dauerzustand gemacht wurde. Die beiden Weltkriege und ihre furchtbaren Auswirkungen waren nur das unmittelbare Ergebnis dieser uferlosen Machtpolitik, die jeden vernünftigen Ausgleich verhinderte und durch brutales Faustrecht zu erreichen suchte, was sie auf einem anderen Wege nicht erreichen konnte. Von der einen Seite führte die in immer stärkerem Tempo betriebene Zentralisation auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu einer masslosen Überschätzung aller Regierungsbefugnisse, die folgerichtig in den Absolutismus des totalen Staates ausmündete, während die steigende Vertrustung und Kartellisierung der Wirtschaft einem öden und geistlosen Staatskapitalismus den Weg bahnte, dem jedes Verständnis für die ethische Bedeutung der Arbeit vollständig abgeht und für den der Mensch bloss noch Rohstoff zur Fütterung der Staatswirtschaft ist. In Deutschland, das infolge seiner unglückseligen Geschichte von den grossen Gedankenströmungen des westlichen Liberalismus kaum berührt wurde, fanden diese Tendenzen umso leichtere Verbreitung, weil der aus der Schule von Marx und Lassalle hervorgegangene deutsche Sozialismus in der Zentralisierung aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte die erste Vorbedingung zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft erblickte. Es war daher auch kein blosser Zufall, dass endlich eine Bande gewalttätiger und entschlossener Abenteurer, durch politische und soziale Umstände begünstigt, fast ohne Widerstand zur Macht gelangen und eine so tiefgreifende Umwälzung im Leben eines ganzen Volkes vollbringen konnte, was weder einem Mussolini noch einem Franco so restlos gelungen ist. Ohne bestimmte geistige Voraussetzungen wäre ein so gründlicher Umschwung in wenigen Jahren wohl kaum möglich gewesen. Die inneren Zusammenhänge dem denkenden Teil des deutschen Volkes mit voller Klarheit zum Bewusstsein zu bringen und neue Wege zu finden, die aus dem nebelhaften Gehege toter dogmatischer Vorstellungen herausführen, um ein soziales Beginnen auf neuen Grundlagen zu ermöglichen, ist heute die wichtigste Aufgabe, die uns gestellt ist und an der gerade wir das grösste Interesse nehmen sollten. Denn Theorien allein helfen uns hier nicht weiter; sie haben eigentlich nie geholfen, so lange sie im Leben selbst keinen Ausdruck fanden und die Menschen nicht zur unmittelbaren praktischen Betätigung anregen konnten. – Die alten Wege sind nicht länger gangbar, denn sie haben uns nur von einer Katastrophe zur anderen geführt und können auch weiterhin nichts besseres zustande bringen. Gerade deshalb glaube ich nicht, dass unsere Genossen im Rahmen der alten Parteien eine wirklich fruchtbare Arbeit vollbringen können, die den Anforderungen der Zeit gerecht werden kann. Die SEP, die sich heute mit allem Nachdruck für eine zentralistische deutsche Regierung einsetzt und es dabei nicht verschmäht, alle verschimmelten und wurmstichigen Schlagwörter aus der Rüstkammer des Nationalismus ins Feld zu führen, ist sicher weder geneigt noch geeignet, die Bestrebungen für ein föderiertes Europa zu fördern, sondern muss vielmehr als ein grundsätzlicher Gegner aller föderalistischen Versuche betrachtet werden, umsomehr, als ihre Tätigkeit vom Kreml bestimmt ,wird und von der russischen Regierung vollständig abhängig ist, die heute ganz offenkundig das alte Spiel um die Hegemonie über Europa fortsetzt und ihre im Kriege gewonnene Machtstellung dazu benutzt, um ihre Einflussphäre immer weiter nach Westen auszudehnen und schon aus diesem Grunde dem Gedanken einer europäischen Föderation feindlich gegenübersteht. Aber auch die SPD kann aus ihrer Vergangenheit nicht heraus, und wenn sie auch unter dem Druck der Umstände dem Föderalismus zur Zeit kleine Zugeständnisse macht, so glauben ihre heutigen Führer, dass der wirtschaftliche und soziale Aufbau Deutschlands nur durch eine einheitliche zentrale Regierung erreicht werden kann. Ich halte es daher für völlig ausgeschlossen, dass wir durch unseren Eintritt in solche Körperschaften deren Bestrebungen wesentlich beeinflussen können. Wohl aber liegt die Gefahr nahe, dass das geistige Erbe, das uns aus der alten Bewegung noch verblieben ist, in dieser neuen Umwelt allmählich vollständig verloren geht, auch wenn unsere Genossen von den besten Absichten durchdrungen sind. Zugeständnisse, die auf die Kosten der inneren Überzeugung erkauft werden müssen, führen stets zu einer Verwaschenheit der Gedanken, die wir gerade heute mehr denn je zuvor vermeiden sollten. Aus dieser allmählichen Preisgabe jeder tieferen Erkenntnis und aller ethischen Grundsätze ist ja gerade die trostlose Realpolitik unserer Zeit hervorgegangen, die sich mit den empörendsten Tatsachen abzufinden versuchte und jene Rasse politischer Zyniker erzeugte, die, – um mit Oskar Wilde zu sprechen – den Preis von allem kennt und den Wert von nichts zu schätzen weiss. Aus diesem Grunde bin ich der Überzeugung, dass wir eine eigene Bewegung benötigen, um unsere Anschauungen wirksam vertreten zu können. Eine solche Bewegung aber müsste sich heute viel breitere Aufgaben stellen, als dies früher unter ganz anderen Umständen der Fall sein konnte. Unter den gegebenen Verhältnissen kann es sich für uns nicht lediglich darum handeln, die bereits bestehenden Organisationen um eine neue zu bereichern, bloss um uns die Befriedigung zu gewähren, unter uns zu sein und kritische Betrachtungen über die Arbeit anderer enzustellen. Damit wäre natürlich nichts gewonnen, und wenn wir nichts bessere zustande brächten, so würde sich sogar der Versuch nicht lohnen. Gäbe es heute in Deutschland eine politische oder soziale Richtung mit ausgesprochenen föderalistischen Grundsätzen und innerem Verständnis für die Bestrebungen eines freiheitlichen Sozialismus, in der wir einen Platz finden könnten, ohne unserer Überzeugung Gewalt anzutun, so könnten wir uns die ganze Mühe sparen. Leider ist dies nicht der Fall. Deshalb glaube ich, dass wir mit dem geistigen Kapital, das uns aus der alten Bewegung verblieben ist, haushalten müssen und unsere Kräfte nicht nutzlos verzetteln sollten, um letzten Endes nur Dinge zu fördern, die uns gerade heute am wenigsten anziehen oder auch nur nützlich sein können. Was mir vorschwebt, ist ein Bund freiheitlicher Föderalisten, dem es weniger darauf ankommt, seinen Reihen von Zeit zu Zeit einige Neubekehrte zuzuführen, sondern eine Vereinigung gesinnungsverwandter, von freiheitlichem Geist getragener Menschen, die entschlossen sind, ihrer Betätigung nach aussen hin immer weitere Gebiete zu erschliessen und ihre Anschauungen in neue Kreise zu tragen, wo sie sich fruchtbar auswirken können. Nicht, um uns von der Welt abzuschliessen, sollten wir versuchen, unsere zerstreuten Kräfte zusammenzufassen, sondern um bestimmte Aufgaben zu erfüllen, die ohne einen solchen Zusammenschluss nicht ausführbar sind. Dazu gehört, vor allem eine eigene Literatur und ein Organ, in dem wir unsere Ideen, Vorschläge und Anregungen ungestört zum Ausdruck bringen können, wozu uns anderswo nie die Gelegenheit geboten ist. Gewiss können und sollen wir mit anderen zusammenarbeiten, wo immer eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, denn gerade heute ist ein Zusammenwirken unbedingt notwendig, da es so viele Dinge gibt, an deren Erledigung alle gleichermassen interessiert sind. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Zusammenarbeit und einfacher Verschmelzung mit politischen Parteien, die ganz andere Ziele verfolgen. Bei der Zusammenarbeit behält jede Organisation ihren eigenen Charakter, da es sich hier stets um Zwecke handelt, die den unmittelbaren Anforderungen des praktischen Lebens entspringen und für jeden der Beteiligten die gleiche Bedeutung besitzen, ohne dass dabei eine Preisgabe grundsätzlicher Ideen in Frage kommt; während bei willkürlicher Verschmelzung mit anders gearteten Organisationen auch die ursprüngliche Überzeugung sehr bald in den Schmelztiegel gerät, bis von ihr zuletzt überhaupt nichts mehr übrig bleibt. Was mir heute für die Genossen in Deutschland am geeignesten erscheint, ist eine Vereinigung, ähnlich dem „Bund der Föderalisten", den Kropotkin zusammen mit anderen nach seiner Rückkehr nach Russland in Moskau ins Leben gerufen hatte. Der Bund erstrebte eine Föderation aller russischen Völker auf der Grundlage einer freien sozialistischen Wirtschaft unter Ausschaltung aller staatskapitalistischen Versuche und diktatorischen Massnahmen. Die ganze Tätigkeit dieser Vereinigung war darauf angelegt, nach aussen hin zu wirken und besonders Menschen für ihre Ziele heranzuziehen, die nicht bloss den guten Willen, sondern auch die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten besassen, den Wiederaufbau des Landes auf allen Gebieten des sozialen Lebens zu fördern. Leider wurde dieser fruchtbaren Tätigkeit, wie so vielem anderen, durch den Sieg der bolschewistischen Diktatur ein gewaltsames Ende bereitet, so dass sie über die ersten Ansätze nicht hinauskommen konnte. Aber die Richtung, die Kropotkin und seine Freunde eingeschlagen hatten, war der einzig gangbare Weg, auf dem ein wirklich sozialistischer Aufbau erreicht werden konnte, denn er sicherte jeder Volksgruppe die Möglichkeit, eigene Versuche anzustellen, die den regionalen Bedingen des Landes angemessen waren und allen zugute kommen mussten. Denn auch die besten Zukunftspläne, wie wunderbar sie sich immer in der Theorie ausnehmen mögen, müssen erst durch praktische Versuche und Erfahrungen erprobt werden, bevor sie eine lebensfähige Gestalt annehmen können. Die Diktatur aber ist das letzte Mittel, das eine schöpferische Betätigung im Volke anregen kann, da ihre Träger alle Dinge über denselben Kamm scheren und alle Erscheinungen des sozialen Lebens auf dieselbe Norm festlegen zu können glauben, was schliesslich zu der gewaltsamen Unterdrückung jeder freien Initiative führen muss, die gerade in grossen Übergangsperioden so notwendig ist, da wir nur auf diesem Wege neue Erfahrungen sammeln und fruchtbare Vergleiche anstellen können. Ich verkenne durchaus nicht, dass kleine Bewegungen – und auf grössere Erfolge könnten wir unter den gegebenen Umständen wahrscheinlich kaum rechnen – stets der Gefahr der Inzucht und der Absonderung vom praktischen Leben ausgesetzt sind und leicht den Charakter einer Sekte annehmen. In Deutschland ist diese Gefahr zweifellos noch offenkundiger, da gerade die Deutschen für den Einfluss rein abstrakter Vorstellungen und doktrinärer Begriffe viel empfänglicher sind als die Völker Westeuropas. Diese Schwachheit ist jedoch keineswegs eine besondere Charakteranlage des deutschen Volkes, wie dies heute im Ausland so oft behauptet wird, sondern vielmehr das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, die kaum andere Resultate zeitigen konnte. Die furchtbare Katastrophe des Dreissigjährigen Krieges, durch welche die besten Teile Deutschlands in eine Wüste verwandelt und seine Bevölkerung dezimiert wurde, hatte einen lähmenden Einfluss auf die gesamte geistige und soziale Entwicklung unseres Landes, so dass fast zweihundert Jahre vergehen mussten, bis sich das deutsche Volk von den verheerenden Folgen jener grauenvollen Periode wieder einigermassen erholen konnte.Aber gerade in jenen zweihundert Jahren fand in den westlichen Ländern Europas jener mächtige geistige und soziale Umschwung statt, dem kein fürstlicher Absolutismus mehr Einhalt gebieten konnte. Die Befreiung der Niederlande vom Joche des spanischen Despotismus, die beiden englischen Revolutionen, die kraftvolle Entwicklung der grossen Gedankenströmungen des Liberalismus und der politischen Demokratie, der Freiheitskampf der englischen Kolonien in Nordamerika, dessen politische Folgen bald darauf auf die Entwicklung der welterschütternden Ereignisse, die 1789 die grosse französische Revolution einleiteten, einen so mächtigen Einfluss ausübten, – diese grossen Geburtswehen einer neuen Zeit waren an Deutschland fast spurlos vorübergegangen. Das deutsche Volk, von den grauenhaften Nachwirkungen des langen Krieges physisch und geistig entkräftet, war weder imstande, seinen eigenen Winkeldespoten einen ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen, noch die neuen Ideen zu erfassen, unter deren Einfluss die grossen Umgestaltungen des 17. und 18. Jahrhunderts vollzogen wurden. Auch die neuere geistige Kultur Deutschlands, die in unserer klassischen Philosophie und Literatur ihren Niederschlag fand, konnte diese verlorenen zweihundert Jahre nicht mehr einholen, umsoweniger, als der durch innere und äussere Umstände begünstigte Despotismus mit seinen, feudalen Bindungen sich mittlerweile so stark befestigt hatte, dass er durch Ideen allein nicht mehr aus dem Sattel gehoben werden konnte. Dadurch geschah es, dass die neuen Gedankenströmungen der deutschen Philosophie keine praktischen Anwendungsmöglichkeiten im sozialen Leben des Volkes finden konnten und sich wie in einem Treibhaus entwickelten, wo sie der brutalen Wirklichkeit entrückt und zu einem Sonderdasein verurteilt waren, dem jede tiefere Berührung mit der politischen und sozialen Umwelt fehlte. Ein solcher Zustand aber führt ganz von selbst in das Reich weltfremder Vorstellungen und verstiegener Spekulationen, die umso üppiger gedeihen, je weniger sie aus dem wirklichen Leben schöpfen können. In den luftleeren Räumen abstrakter Begriffe verlor die Vielgestaltigkeit des Lebens jede Bedeutung, da man alle Erscheinungn auf einen „Urgrund" zurückzuführen versuchte, aus dem man alles erklären zu können glaubte. Man dachte bloss noch in Kategorien und bemühte sich, durch Verallgemeinerungen zu ersetzen, was sich im einzelnen nicht zu einem Ganzen fügen wollte. In diesem blutlosen Schattenreich abstrakter Gedankenniederschläge erstarrte jedes Verständnis für die lebendige Wirklichkeit und musste einem toten Doktrinarismus das Feld räumen, für den der Mensch bloss noch Träger bestimmter „historischer Missionen" war, die er zwangsläufig erfüllen musste, und deren Einfluss er sich nicht entziehen konnte. Die Buchstabengläubigkeit Luthers, der sich gegen das Joch der Römischen Kirche auflehnte, aber nur, um das Volk umso rücksichtsloser den Machtgelüsten seiner weltlichen Gewalthaber auszuliefern, legte bereits die Grundlage für diese fatalistische Art des Denkens, die sich, infolge der sozialen Zustände, in Deutschland tiefer eingebürgert hat als in anderen Ländern. Es gibt in unserer philosophischen Literatur eine ganze Reihe bekannter Denker, die mit dieser künstlichen Konstruierung kollektiver Begriffe und willkürlicher Verallgemeinerungen einen schreienden Missbrauch getrieben haben, der sich umso verhängnisvoller auswirken musste, weil er gerade auf die denkenden Teile des Volkes und die studierende deutsche Jugend einen so starken Einfluss ausübte. Fichtes Lehre von der „historischen Sendung der Deutschen", die, seiner Behauptung nach, schon auf Grund ihrer „Ursprache" zu höheren Dingen berufen waren, für die den lateinischen Völkern jedes Verständnis abging, wurde besonders von der Jugend mit gläubiger Inbrunst aufgenommen, die sich, berauscht von ihrer angeblichen Überlegenheit, nach seinem Tode einem hirnlosen Polterer wie Ludwig Jahn in die Arme warf, der die geistige Erbschaft Fichtes in Kleingeld umprägte und so verzerrte, dass sie wie eine Vorausahnung des Dritten Reiches anmutet. Die ganze Lehre Hegels, der auf das philosophische Denken der Deutschen einen so grossen Einfluss hatte, war nichts wie ein Jonglieren mit hohlen Kollektivbegriffen und abstrakten Gedankenkategorien, die wie ein Irrlicht über einer nebelhaften Welt künstlich geschaffener Wortgespenster geisterten und alle Erscheinungen des Lebens auf den ewigen Gleichklang von These, Antithese und Synthese abzustimmen versuchten, bis endlich aus diesem Gewebe dialektischer Akrobatenkunststücke der „Staat als Gott auf Erden" aus der Taufe gehoben werden konnte, neben dessen strahlender Grösse jede erdgeborene Menschlichkeit im Staub versinken musste. Auch die sogenanten Junghegelianer konnten dieser Sackgasse dialektischer Verdorbenheiten nicht entrinnen, wenngleich sie glaubten, sich auf neuen Wegen zu befinden. Auch der Sozialismus von Marx und Lassalle, die beide in der Schule Hegels erzogen wurden, ist über das Denken in Kategorien nie hinausgekommen. Die ganze Auffassung, die in den jeweiligen Produktionsverhältnissen den Schlüssel zur Erklärung aller geistigen, politischen und sozialen Lebenserscheinungn gefunden zu haben wähnte, war letzten Endes nur eine Verschiebung der Rollen willkürlich erdachter Vorgänge, denen der Mensch zwangsläufig unterworfen war. Der „absolute Geist", den Hegel zur Ursache und zum Mittelpunkt alles geschichtlichen Geschehens erhoben hatte, wurde nun auf das eiserne Walten angeblicher Wirtschaftsgesetze übertragen, die sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vollziehen und mit fatalistischer Unabänderlichkeit zur Aufhebung der bestehenden Produktionsbedingungen und damit zum Sozialismus führen müssen. Und wie Hegel jedem Volke eine bestimmte „historische Sendung" zugeschrieben hatte, so wurde nun das Proletariat als Klasse mit der grossen „geschichtlichen Mission" beglückt, zum „Totengräber der kapitalistischen Ordnung" zu werden, damit sich der Sozialismus erfüllen kann. Auf diese Weise wurde einer sozialen Kategorie, die an sich ganz undefinierbar ist und im besten Falle dem Soziologen nur als künstliches Hilfsmittel dienen kann, wie dem Geographen die Einteilung unseres Planeten in Längs- und Breitengrade, bestimmte Eigenschaften angedichtet, die sich nur bei dem Einzelwesen feststellen lassen, die aber hoffungslos versagen, sobald man sie auf Völker, Nationen, Rassen oder Klassen überträgt. Dieser ganze ökonomische Fatalismus, das Führerprinzip Lassalles, das dem Führerkultus des Dritten Reiches bedenklich nahekommt, sein Liebäugeln mit Bismarck und dem Gedanken einer sozialen Monarchie und vieles andere ist der geistigen Garküche Hegels und seiner Vorgänger in der Kunst abstrakter Verallgemeinerungen entsprungen, ebenso wie die Rassenalchimie der Nazis und die unsinnige Idee eines „deutschen Herrenvolkes", an dessen Wesen die ganze Welt genesen sollte. Sogar ein so rebellischer Geist wie Max Stirner, der sich redlich bemühte, den Irrgängen rein metaphysischer Gedankengebilde zu entrinnen, konnte sich den überlieferten Einflüssen nicht entziehen, denn das abstrakte Ich seines von der sozialen Umwelt völlig losgelösten Einzigen ist schliesslich auch nur ein Kunstprodukt aus der Retorte Hegels, dem man im wirklichen Leben kaum begegnet. Dieser Hang, sich in den Regionen rein abstrakter Begriffe und unbeweisbarer Voraussetzungen zu verlieren, ist, wie gesagt, den Deutschen keineswegs angeboren, sondern anerzogen worden. Er ist das Erbe hundertjähriger geschichtlicher Vorgänge, durch die das deutsche Volk verhindert würde, in seine sozialen Geschicke handelnd mit einzugreifen und ihnen eine andere Wendung zu geben. Wir machten eben aus der Not eine Tugend, und da wir praktisch nicht fähig waren, unsrem sozialen Dasein neue Möglichkeiten zu erschliessen, so suchten wir unsre Zuflucht in verstiegenen Theorien und glaubten absolute Wahrheiten gefunden zu haben, während wir in Wirklichkeit immer tiefer in ein Dickicht der Irrungen und Wirrungen hineingerieten, aus dem ein Ausweg schwer zu finden war. Und wie es in solchen Fällen häufig zu geschehen pflegt, so erblickten wir in der Art unseres Denkens allmählich einen Vorzug, den wir anderen Völkern voraus hatten, ohne auch nur zu ahnen, dass unsere eingebildete Überlegenheit in Wahrheit nur ein Produkt unsrer Schwäche war. Die ganze philosophische Schule des englischen Liberalismus von Buchanan, bis Hooker, Hume, Locke und Bentham, ebenso wie die meisten französischen Denker, die der grossen Revolution vorausgingen, suchten ihren Ausgangspunkt in den unmittelbaren Tatsachen des wirklichen Lebens und bemühten sich, durch eine tiefere Erkenntnis dieser Tatsachen neue soziale Lebensmöglichkeiten abzuleiten und bestehende Übel zu beseitigen. Den Deutschen aber erschien ein solches Unterfangen, gewonnene Erkenntnisse unmittelbar auf das praktische Leben anzuwenden, nur als minderwertige Kundgebung einer „Vulgärphilososphie", die über die Oberfläche der Erscheinungen nicht hinauskam und sich zur Erkenntnis und Deutung tieferer metaphysischer Vorgänge nicht aufzuschwingen vermochte. Mit derselben Überheblichkeit behandelte man bei uns auch die grossen Bahnbrecher des englischen und französischen Sozialismus, die man einfach als „Utopisten" abtat, denen der eigentliche Sinn eines angeblich „wissenschaftlichen Sozialismus" nie aufgehen konnte, weil sie nicht aus allen Töpfen der klassischen deutschen Philosophie genascht hatten. Dabei hat dieser ganze blöde Dünkel die deutsche Arbeiterschaft dem Sozialismus nicht nur um keinen Schritt näher gebracht, er konnte sie sogar nicht dazu befähigen, in Deutschland politische und soziale Rechte und Freiheiten durchzuführen, welche der Liberalismus und die bürgerliche Demokratie in den westlichen Ländern seit einem Jahrhundert und länger erkämpft hatten. Der Umstand allein, dass ein Land, das über die stärkste organisierte Arbeiterbewegung der Welt verfügte, es ruhig geschehen liess, dass eine Horde skrupelloser und geistig minderwertiger Buschklepper sich widerstandslos in den Besitz der öffentlichen Macht setzen konnte, ist eine Erscheinung, die in der Geschichte einzig dasteht. In Italien dauerte es immerhin zwei Jahre, bis der Faschismus die letzten Widerstände der Arbeiterschaft überwunden hatte und fest in den Sattel gelangte. In Spanien kämpfte ein Volk noch länger mit heroischer Entschlossenheit gegen die Gewalt, die ihm angetan wurde. Wenn Franco schliesslich dennoch als Sieger aus diesem blutigen Kampfe hervorging, so hatte er dies nicht zuletzt der militärischen Hilfe Deutschlands zu verdanken. Ich bin den Dingen gerade deshalb etwas ausführlicher nachgegangen, weil es mir vor allem darauf ankommt, die inneren Zusammenhänge hervorzuheben, die dem deutschen Volke schliesslich zum Schicksal geworden sind und die man erfassen muss, wenn man wirklich etwas Neues vollbringen will. Wir haben in Deutschland zu lange in abstrakten Vorstellungen geschwelgt, bis wir die Wirklichkeit bloss noch durch gefärbte Gläser zu sehen vermochten. Die bekannte Anekdote von den drei Gelehrten, die den Auftrag erhielten, einen Aufsatz über das Kamel zu schreiben, ist nicht so grotesk, wie es den Anschein hat. Der Engländer begab sich nach der Sahara, um das Kamel in seiner natürlichen Umwelt zu studieren; der Franzose machte sich die Sache etwas bequemer und machte seine Beobachtungen im Zoo; der Deutsche aber blieb zu Hause und grübelte über den Begriff Kamel nach. Wir schleppten uns all die Jahre mit zu viel totem Ballast, von dem wir uns erst befreien müssen, um etwas Brauchbares leisten zu können, das uns wirklich helfen kann, unser Leben neu zu gestalten. Deshalb glaube ich auch nicht, dass der Charakter einer Organisation lediglich durch die Zahl ihrer Anhänger bestimmt wird. Auch grössere Bewegungen können der geistigen Verknöcherung und einem toten Doktrinarismus verfallen, wie wir dies gerade in unserem Lande so häufig gesehen haben. Es ist nicht die Zahl, die hier entscheidet, sondern der Geist, von dem eine Bewegung getragen wird. Auch kleine Bewegungen können sich jung, gesund und lebenskräftig erhalten, wenn sie geistig im Fluss bleiben, rein doktrinären Begriffen keine Zugeständnisse machen und stets versuchen, gewonnene Erkenntnisse ins Leben umzusetzen, während die grösste Bewegung der Gefahr ausgesetzt ist, geistig zu versanden, wenn ihre Träger sich in dem Labyrinth dogmatischer Vorstellungen verlieren und sich dadurch jeden weiteren Ausblick selbst verrammeln. Jeder, der der Vielgestaltigkeit des Lebens bestimmte Gesetze vorschreiben will, jeder, der da glaubt, die Zukunft in einem fertigen System einfangen zu können, ist ein Sektierer, ganz einerlei, ob er einer kleinen oder einer grossen Bewegung angehört. Solche Vermessenheit führt stets ins Netz der Theologie, wobei es ganz gleichgültig ist, ob diese einen kirchlichen, politischen oder sozialen Charakter trägt. Theologie ist das Jonglieren mit toten Formeln, die nur mit den Hülsen gewesener Gedanken zu operieren weiss und deshalb nur Spreu, aber niemals Weizen produzieren kann. Wer sich stets mit Gedankenabfällen nährt, wird niemals einen klaren Gedanken hervorbringen. Je mehr ich über die Dinge nachdenke, desto stärker drängt sich mir die Überzeugung auf, dass gerade heute in Deutschland eine selbstständige freiheitliche Bewegung notwendiger ist, denn je zuvor. Der Erfolg einer solchen Bewegung wird natürlich von unserer eigenen Einsicht abhängen. Denn auch wir müssen in manchen Dingen umlernen und unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen anpassen, wenn wir etwas Erspriessliches leisten wollen. Neue Verhältnisse erheischen neue Methoden der Betätigung. Wer das nicht begreift, sollte erst lieber gar nicht anfangen. Wenn wir nicht mit ganzem Herzen bei der Sache sind, wird nie etwas Gutes herauskommen. Die ganze Lage hat sich heute in Deutschland so gründlich geändert, dass ein neues Beginnen für uns nur einen Zweck erfüllen kann, wenn wir uns die ganze Tragweite der vollzogenen Umwälzung klar vor die Augen führen, um alle Möglichkeiten für unsere zukünftige Arbeit richtig einschätzen zu können. Dass ein Wiederaufbau Deutschlands auf den alten Grundlagen heute nicht mehr möglich ist, dürfte wohl jedem klar sein, der sich ernstlich bemüht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dasselbe gilt auch für andere Länder, und die Versuche, die heute in Frankreich, England, Italien und den östlichen Ländern Europas unternommen werden, um wichtige Teile des Wirtschaftslebens dem Privatinteresse zu entziehen und den Bedürfnissen des ganzen Volkes dienstbar zu machen, zeigen deutlich genug, dass die alten Wege ungangbar geworden sind und zu keinen brauchbaren Ergebnissen mehr führen können. Auch der Vorsitzende des sozialdemokratischen Parteivorstandes in Deutschland, Dr. Kurt Schumacher, sah sich genötigt, auf einer im November in London tagenden Konferenz die Erklärung abzugeben: „Das deutsche Volk ist infolge seiner grossen Armut gezwungen, sich auf sozialistischer Basis zu reorganisieren, da ihm kein anderer Weg mehr offen steht." So sehr nun auch alle diese Versuche und Anregungen zu begrüssen sind, die aus dem Wunsche geboren werden, aus den völlig verfahrenen Zuständen der Gegenwart einen Ausweg zu finden, so liegt den meisten doch eine Gefahr inne, über die man sich klar werden muss, wenn man nicht einer neuen Reaktion in die Hände arbeiten will, deren Folgen sich nach allen gemachten Erfahrungen für die Zukunft noch schlimmer auswirken könnten, als die unvermeidlichen Gebresten des alten Systems, das wir zu überwinden suchen. Jeder Versuch, den Sozialismus durch die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft ins Leben umzusetzen, endete bisher mit einem vollständigen Misserfolg und mit der Preisgabe aller persönlichen und sozialen Rechte und Freiheiten, die mit so schweren Opfern erkauft werden mussten. Dort, wo die Verstaatlichung plötzlich oder in kurzen Abständen diktatorisch vollzogen wurde, wie in Russland, folgte ihr die totale Reaktion auf dem Fusse, wie wir dies auch heute wieder in den östlichen Ländern Europas, besonders in Bulgarien und Jugoslavien, deutlich beobachten können, die nach dem Kriege völlig in die Machtsphäre des russischen Staates geraten sind. Aber auch dort, wo man heute versucht, den Prozess der Verstaatlichung allmählich und in längeren Zwischenstufen durchzuführen, wie dies zur Zeit in England, Frankreich und Italien geschieht, werden überall dieselben Gefahren heraufbeschworen, die mit dieser Methode unwiderruflich verbunden sind. Wie sich die Dinge in Frankreich und Italien gestalten werden, ist schwer vorauszusagen, da die Errichtung einer Diktatur, die in beiden Ländern von den kommunistischen Parteien und ihren Verbündeten erstrebt wird, mit unvergleichlich grösseren Widerständen zu rechnen hat, als dies in Bulgarien oder Jugoslavien der Fall sein konnte. Aber die Gefahr besteht und lässt sich mit leeren Redensarten nicht aus der Welt schaffen. England ist zur Zeit das einzige Land, das von einer solchen Gefahr weniger bedroht wird, weil die alten liberalen Überlieferungen dort zu tief Wurzel im Volke geschlagen haben und nicht ohne schwere Erschütterungen beseitigt werden könnten. Dazu besteht in der Britischen Arbeiter-Partei selbst eine ganze Richtung, welche die Gefahr erkannt hat und bestrebt ist, Mittel und Wege zu finden, um den unvermeidlichen Folgen eines allmächtigen Staatskapitalismus zu entgehen. Die politische und gesellschaftliche Zentralisation, die sich während der letzten hundert Jahre in immer rascherem Tempo vollzogen hat, um schliesslich in die Diktatur des totalen Staates auszumünden, hat die Gefahr eines kommenden Staatskapitalismus noch wesentlich vergrössert, indem sie die Menschen förmlich dafür vorbereitet. Jeder Mensch mit etwas politischer Einsicht, dem durch die Schallplatten der Parteien das Gehirn noch nicht völlig benebelt wurde, muss heute erkennen, dass hier ein Prokustesbett geschaffen wurde, dem man nicht bloss den Körper, sondern auch den Geist und die Seele des Menschen ausgeliefert hat. Um den zentralen Musterstaat möglichst plangemäss einzurichten, musste man den Langgeratenen so viel von den Beinen abschneiden, dass sie bloss noch an Krücken durchs Leben humpeln konnten, während man die Kurzgeratenen so in die Länge dehnte, dass ihnen dabei Hören und Sehen verging, bis alle in das gleiche Bett hineinpassten, aus dem der Modellbürger hervorgehen sollte, der stets an der Strippe gehalten werden konnte und sieh keine Seitensprünge mehr gestatten durfte. Wäre es nicht endlich Zeit aus dieser öden Wiederholung derselben Vorgänge, die stets zu denselben Ergebnissen führte, etwas zu lernen und angesichts der furchtbaren Katastrophe, die über die Menschheit gegangen ist, zu begreifen, dass man nicht alle Betätigungen des sozialen Lebens auf die Dauer in die Zwangsjacke ausgeklügelter Systeme spannen kann, wenn man dem Leben selbst nicht Gewalt antun und seine natürliche Entwicklung lähmen will? Doch die meisten Sozialisten scheinen aus den tragischen Ereignissen unserer Zeit nichts gelernt und nichts vergessen zu haben und sind nach wie vor bereit, den Sozialismus heute derselben Prozedur zu unterwerfen, die letzten Endes nur dazu führen kann, alle Menschen über denselben Leisten zu schlagen und sie im Namen einer fiktiven Gleichheit der letzten Freiheit zu berauben, die andere einst für sie erkämpft hatten. Die sozialistische Arbeiterschaft Deutschlands hat schon einmal eine seltene Gelegenheit verpasst, als nach dem ersten Weltkrieg das Reich Bismarcks in Trümmer fiel und allen die Möglichkeit zu einem neuen Beginnen geboten wurde. Solche Gelegenheiten kommen in der Geschichte eines Volkes nicht häufig vor und wer sie nicht zu erfassen weiss, dem wird es später mit Zins und Zinses Zinsen heimgezahlt. Die deutsche Arbeiterschaft hatte damals ihre grosse Stunde verfehlt und in wahnwitziger Verblendung dem zentralen Staat den Sozialismus geopfert, bis ihr endlich die Männer des Dritten Reiches für ihre Unterlassungssünde die Quittung pünktlich ausstellten. Was damals so gründlich versäumt wurde, wurde zur Ursache des heutigen Zusammenbruchs. Wer das noch immer nicht begreift, dem kann kaum noch geholfen werden. Die braune Barbarei die den Namen Deutschlands vor allen Völkern geschändet und eine ganze Welt ins Unglück gestürzt hat, war das Ergebnis unserer Unfähigkeit, für die wir heute so schwer bezahlen müssen. „Gebt mir zehn Jahre und Ihr werdet sehen, was ich aus Deutschland machen werde!“ – Dieses Wort Hitlers hat sich heute in einer Weise erfüllt, die kein Prophet vorausahnen konnte. Mehr konnte man aus Deutschland wirklich nicht machen. Dass aber die deutsche Arbeiterschaft nach dem Zusammenbruch des alten kaiserlichen Regimes so kläglich versagte und ein Hitler das Erbe antreten konnte, mit dem die Sozialisten nichts anzufangen wussten, daran war nicht zum wenigsten die eiserne Zentralisation ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen verantwortlich, die sie dem alten Militärstaat abgelauscht hatten. In dem starren Räderwerk dieser Maschine verröchelte jeder selbstständige Gedanke, jede persönliche Initiative, jedes geistige Interesse. Die Organisation wurde zum Selbstzweck, deshalb fehlte der ganzen Bewegung der lebendige Geist des Sozialismus, der ihr gerade damals so notwendig gewesen wäre. Aus diesem „Steppensozialismus", wie es Max Nettlau nannte, konnte leider kein schöpferischer Gedanke mehr hervorgehen. Wenn der Sozialismus überhaupt durchführbar ist, so kann dies bloss von unten auf geschehen durch eine Föderation freier Gemeinden, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und die Grundlagen für eine neue soziale Ordnung legen, die alle Beziehungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens mit ethischen Grundsätzen durchgeistigt, die in der Freiheit des Menschen, in der solidarischen Betätigung gegenseitiger Hilfe und einer sozialen Gerechtigkeit für alle ihren Ausdruck finden. Ein solcher Gemeindesozialismus ist das einzige Mittel, politische Machtanhäufungen in den Händen kleiner Minderheiten zu verhindern und jeder Machtpolitik nach innen und nach aussen hin das Wasser abzugraben. Er ersetzt die tote Mechanik der zentralen Organisation durch die Assoziation, das heisst durch das organische Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte und zerstört durch praktisches und schöpferisches Handeln die öde Uniformität des Lebens, die allen künstlich ausgedachten sozialen Systemen zugrunde liegt. Indem jede Gemeinde die volle Möglichkeit besitzt, ihr soziales Leben den besonderen Umständen ihrer regionalen Umgebung anzupassen, begünstigt sie alle neuen Versuche und schafft die Gelegenheit, begangene Fehler auszumerzen und durch bessere Methoden zu ersetzen, die allen zugute kommen. Durch die föderative Verbundenheit der Gemeinden ist jedem Gemeinwesen die Gelegenheit geboten, aus den Erfahrungen der anderen Nutzen zu ziehen und sie für seine eigenen Zwecke praktisch zu verwenden. Auf diese Weise können die vorgeschrittenen Gemeinden den anderen als Vorbild dienen und einen befruchtenden, Einfluss ausüben, was bei der zentralistischen Zusammenschweissung aller sozialen Lebensäusserungen ganz ausgeschlossen ist, weil dort gerade die zurückgebliebensten Teile des Landes allen anderen zum ewigen Hemmschuh werden müssen und sie verhindern, Dinge in die Wirklichkeit umzusetzen, von deren Richtigkeit sie längst überzeugt sind. Denn es ist ja gerade die starre Uniformität, die allen zentralistischen Bestrebungen als Vorbild vorschwebt, welche der natürlichen Entwicklung der Dinge stets neue Schranken setzt, die in der Regel nur durch schwere und mühevolle Kämpfe überwunden werden müssen und fortgesetzt neue Opfer erheischen, die viel nutzbarer für die Aufgaben des sozialen Aufbaus verwendet werden könnten. Gerade heute bietet sich dem deutschen Volk noch einmal eine Gelegenheit, in die Gestaltung seiner zukünftigen Geschicke handelnd einzugreifen, wenn auch die Umstände ungleich schwerer sind, als nach dem ersten Weltkrieg. Damals war das Land nicht völlig verheert, seine Rohstoffgebiete und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Wiederaufbau waren noch in günstiger Verfassung, was heute nicht mehr der Fall ist. Allein wie schwer die Verhältnisse immer sind, so kann Deutschland nicht immer eine Wüste bleiben und Versuche müssen gemacht werden, um seinen Bewohnern möglichst bald einigermassen erträgliche Lebensbedingungen zu sichern. Was geschehen ist, kann durch müssige Betrachtungen nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Wir müssen eben dort anfangen, wo wir heute stehen und vor allem dafür Sorge tragen, dass der Neuaufbau auf Grundlagen vollzogen wird, die den Menschen wirklich eine bessere Zukunft erschliessen können. Eine eigene Regierung, in deren Händen alle Fäden der staatlichen Betätigung zusammenlaufen, besteht heute in Deutschland nicht mehr. Sogar wenn die Mächte, die heute Deutschland militärisch besetzt halten, ihre gegenseitigen Differenzen ausgleichen und das deutsche Volk mit einer neuen Regierung beglücken sollten, so wäre diese auf lange Zeit hinaus nur zu einem Schattendasein verurteilt, da ihre Entschliessungen in allen wichtigen Punkten von der Zustimmung der Sieger abhängig sind und eine Fortsetzung der alten Machtpolitik ganz unmöglich wäre. Die ganze soziale Verwaltung des Landes liegt heute fast ausschliesslich in den Händen der Gemeinden, denen unter den neuen Verhältnissen Aufgaben gestellt sind, die früher nur der Obhut der zentralen Regierungen anvertraut waren. Der ganze Wiederaufbau des Landes ist heute im wesentlichen von den Gemeinden abhängig, da sie am besten bestimmen können, was ihnen unter den örtlichen Verhältnissen am zweckdienlichsten und notwendigsten ist. Es ist dies ein ganz neuer Zustand, der für die zukünftige Entwicklung Deutschlands und im weiteren Sinne von ganz Europa von der grössten Bedeutung sein kann, wenn er richtig erfasst wird, um die Menschen zu einer Neugestaltung ihres sozialen Lebens auf gänzlich veränderten Grundlagen anzuregen. Das Verständnis für diese neue Lage in möglichst breite Schichten des Volkes zu tragen und ihnen die volle Bedeutung des gegenwärtigen Zustandes zum Bewusstsein zu bringen, sollte, meiner Meinung nach, heute die wichtigste Aufgabe sein, die sich unsre Genossen stellen können. Nach meiner Überzeugung kann das am besten geschehen, wenn unsere Genossen an dein administrativen Arbeiten der Gemeinden vollen Anteil nehmen und versuchen, die Gedankengänge eines freiheitlichen und föderativen Sozialismus praktisch zur Geltung zu bringen, so weit dies unter den jeweiligen örtlichen Verhältnissen immer möglich ist. Wir haben stets den Standpunkt vertreten, dass der Sozialismus eines Landes nicht durch Staatsdekrete und Regierungsbeschlüsse willkürlich in Bausch und Bogen aufgezwungen werden kann, sondern sich organisch aus den Gemeinden entwickeln muss, um lebensfähig zu sein. Man kann durch diktatorische Massnahmen einen Gegner niederschlagen und unbequeme Widerstände gewaltsam beseitigen, aber man kann damit keine Gedanken erzeugen und die Menschen zum schöpferischen Tun anregen. Was durch brutale Gewalt errichtet wird, kann durch brutale Gewalt wieder zerstört werden. Bestand hat nur das, was sich im Volke selbst formt, langsam ausreift und ins praktische Leben übergeht. Diese Erkenntnis, die unserer Bewegung ihren eigentlichen Charakter gegeben hat, sollte uns daher heute umsomehr veranlassen, eine Gelegenheit auszunützen, die uns durch die neuen Umstände geboten wird. Mit Reden allein kommt man nicht weiter; man muss praktisch mit Hand anlegen, wenn man etwas Erspriessliches erreichen will. So lange die Gemeinden dem Staate völlig unterworfen waren, war die Lage eine ganz andere. Heute aber, wo dieses Hindernis verschwunden und jede Gemeinde gezwungen ist, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, um überhaupt weiter bestehen zu können, glaube ich, dass sich uns hier ein fruchtbares Feld bietet, auf dem viel Wertvolles und Notwendiges geleistet werden kann und geleistet werden muss, wenn wir aus dem Chaos der Zeit herauskommen und zu einem wirklichen Aufstieg den Grund legen wollen. Durch unsere positive Mitarbeit helfen wir nicht bloss dem neuen Aufbau, von dem unser Schicksal gleichermassen abhängt, wir erwerben uns damit auch das Recht, gehört zu werden und unsere Ansichten zur Geltung zu bringen. Denn ein solches Recht steht schliesslich nur dem zu, der freiwillig bestimmte Pflichten auf sich nimmt und seinen Teil beiträgt zur Bewältigung der Aufgaben, die uns allen gestellt sind. Wir können nun einmal nicht aus dieser Welt herausfallen, wie Grabbe sagte, und sind durch tausend Fäden mit der Gemeinschaft verwoben, in der wir leben und die wir nicht willkürlich lösen können. Die besten Ratschläge verhallen wie eine Stimme in der Wüste, wenn sie nicht der festen Absicht entspringen, durch persönliches Handeln die Dinge besser zu machen. Mit Theorien allein kann man die Welt nicht umkrempeln, besonders heute nicht; man kann sie damit bloss noch mehr auf den Hund bringen, wie dies leider so häufig geschehen ist. Jeder Fortschritt muss durch mühevolle und zähe Arbeit errungen werden, und wenn wir nicht selbst zugreifen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns die anderen sagen, dass sie unsere Weisheit entbehren können. Ich verkenne durchaus nicht, dass die Gemeinden, die jahrhundertelang vom Staate bevormundet und in ihrer natürlichen Entwicklung aufgehalten wurden, sich nicht über Nacht in ideale Körperschaften verwandeln lassen, die allen Anforderungen entsprechen, welche ihnen heute durch den Wandel der Umstände gestellt werden. Sogar Revolutionen können ein solches Wunder nicht vollbringen und aus sieh selbst heraus schaffen. Sie können nur die gröbsten Hindernisse beseitigen, die einer Neugestaltung des Lebens im Wege stehen; doch in welchen Formen sich die Umgestaltung vollzieht und welches Tempo sie einschlägt, hängt ganz von der geistigen Reife der Menschen ab und ihrem Willen, gewonnene Erkenntnisse in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Glaube an eine vollständige Zerstörung aller bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen, aus deren Trümmern eine ganz neue Welt erstehen wird, wie der Vogel Phönix aus der eigenen Asche, ist nur ein Messiasglaube, und wer sich von ihm beeinflussen lässt, wird zwar von Taten träumen, aber nie eine Tat vollbringen. Es .gibt in der ganzen Geschichte keine einzige Periode, in der ein vollständiger Bruch mit überlieferten Einrichtungen vollzogen wurde. Sogar in den bewegtesten Epochen des geschichtlichen Geschehens lässt sich stets eine innere Verwachsenheit zwischen alten und neuen Vorstellungen und Einrichtungen unschwer feststellen, die zu Übergängen von kürzerer oder längerer Dauer führen, aus denen sich allmählich neue geistige und soziale Lebensbedingungen herauskristallisieren, in denen alte und neue Auffassungen auf das innigste mit einander verschmolzen sind. Das erkannte auch Gustav Landauer, wenn er sagte: „Wer den Sozialismus nicht als einen Weitergang langer und schwerer Geschichte erfasst, weiss nichts von ihm.“ – Es gibt in der Geschichte in der Tat nur einen Weitergang, aber niemals einen vollständigen Bruch mit dem Überlieferten. Deshalb sollten wir auch begreifen, dass es unvermeidlich ist, wenn die Gemeinden von heute noch mit den Schlacken der Vergangenheit behaftet sind, die nur mit dem wachsenden Verständnis für ihre heutigen Aufgaben allmählich abgeschliffen werden können. Wie der Mensch nicht als vollendetes Wesen fix und fertig geboren wird, sondern sich seine geistigen und kulturellen Fähigkeiten, erst langsam im Laufe seines Lebens erwerben muss, so treten auch gesellschaftliche Einrichtungen nicht in voller Vollendung plötzlich in die Erscheinung, da sie ja nur das Werk des Menschen sind und daher immer nur den geistigen Zustand zum Ausdruck bringen, den der Mensch in einer gewissen Periode seines sozialen Daseins erreicht hat. Und wie die geistige Entwicklung des Menschen am besten gedeiht, je weniger sie dem äusseren Zwang einer steten Bevormundung unterworfen ist, so gedeihen auch die gesellschaftlichen Einrichtungen, die er schafft, am besten, je weniger sie durch künstliche Eingriffe gehemmt und ihrer natürlichen Entwicklung von oben her Schranken gezogen werden. Die Aufgabe, die wir uns stellen, wird sicher keine leichte sein, umsoweniger, als wir vorläufig nur über beschränkte Kräfte verfügen und zunächst auf keine allzugrossen Erfolge rechnen dürfen. Übrigens kommt es auch gar nicht darauf an, was wir dabei an Prestige für unsere eigene Bewegung gewinnen, sondern wie weit unsere Mitarbeit dem Interesse des Ganzen förderlich ist. Das Wesentliche ist, dass die Gemeinden zur Zeit die eigentlichen Zellen sind, aus denen eine wirkliche Umgestaltung der sozialen Zustände hervorgehen kann und dies aller Voraussicht nach auch in der Zukunft bleiben werden. Nur in den Gemeinden kann sich ein neues Verhältnis zwischen den Menschen entwickeln, das bisher durch die Eingriffe des Staates in alle sozialen Angelegenheiten verhindert wurde. Anstatt alle Menschen nach demselben Schema zu behandeln und ihnen ihr Tun und Lassen durch eine zentrale Regierung vorzuschreiben, nehmen die Menschen in der Gemeinde ihr Schicksal in die eigene Hand und versuchen durch gegenseitige Verständigung und gemeinschaftliches Handeln die Dinge zur Ausführung zu bringen, die den örtlichen Verhältnissen am besten entsprechen und allen gleichermassen zugute kommen. Die Kunst des Regierens wird, wie Saint Simon voraussah, durch die Verwaltung der Dinge abgelöst werden. Auf diese Weise wird ein neuer politischer und sozialer Zustand geschaffen, der auf Grund der gleichen Verantwortung allen dieselben Rechte sichert. Verantwortung aber ist nur dort möglich, wo die Freiheit der Betätigung besteht und der Mensch nicht fortgesetzt mit der Fuchtel bedroht wird. Denn Freiheit und Verantwortlichkeit sind ethische Begriffe, die dem gleichen Empfinden entspringen und nicht von einander getrennt werden können. Da unter den heutigen Zuständen in Deutschland der Wiederaufbau des Landes vollständig von den Gemeinden abhängt und alle an der Arbeit, die hier geleistet werden muss, unmittelbar interessiert sind, so lässt sich in den einzelnen Gemeinwesen auch viel leichter ein Verständnis erreichen, weil hier die örtlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, die leicht zu überblicken sind. Es kommt dabei noch ein ganz besonderer Umstand in Betracht, dessen moralische Tragweite man nicht unterschätzen darf, da er für die allgemeine Wohlfahrt von entscheidender Bedeutung ist. In der Gemeinde ist jeder Einwohner mit auch nur durchschnittlichen Geistesgaben imstande, alle Arbeiten übersehen zu können und sich darüber ein eigenes Urteil zu bilden, was bei dem zentralen Vertretungssystem der heutigen Nationalstaaten den meisten ganz unmöglich ist, weil hier alle Beziehungen so verwickelt sind, dass sie den breiten Schichten der Bevölkerung unverständlich bleiben müssen. Das ist ja gerade die Ursache der bleiernen Gleichgültigkeit den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber, die heute in allen Ländern so unangenhm in die Erscheinung tritt. Was man nicht versteht, dafür lässt sich schwerlich ein Interesse erwecken. Aus diesem Grunde bleibt die Erledigung aller Dinge den Berufspolitikern überlassen, die in jedem Lande eine besondere Kaste bilden und dabei nicht schlecht fahren. Das erkannte bereits Abraham Lincoln, der grosse Vorkämpfer des amerikanischen Liberalismus, wenn er sagte: „Politiker sind eine besondere Klasse Menschen, die neben den Interessen des Volkes stets noch Privatinteressen verfolgen. Das beste, was sich von ihnen als Gesamtheit sagen lässt, ist, dass sie einen langen Schritt von ehrbaren Menschen entfernt sind." Dort, wo das Wohl und Wehe eines ganzen Volkes einer zentralen Behörde anvertraut ist, kann nie etwas richtiges gedeihen, da solche Körperschaften stets geneigt sind, alles über denselben Leisten zu schlagen und durch öde Routine zu ersetzen, was ihnen an schöpferischen Fähigkeiten abgeht. Ein wirklicher Gemeingeist kann sich daher nur in kleineren Gemeinwesen entwickeln, wo jeder Gelegenheit findet, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar bekannt zu machen und sich durch eigenes Denken eine klare Meinung zu bilden. Auf diese Art entwickelt sich eine gesunde öffentliche Meinung, die auf alle Arbeiten der Gemeinde einen heilsamen Einfluss ausübt, der ihr so notwendig ist, wie die Luft, die wir atmen. Man lernt nur etwas, wenn man seine Erfahrungen selbst macht und sie nicht aus zweiter oder dritter Hand bezieht, die dazu nicht immer reinlich ist. Was heute als öffentliche Meinung bezeichnet wird, ist in der Regel nur ein gräuliches Gemisch hohler Schlagworte, die verirrten Massen durch den Nürnberger Trichter der Parteien beigebracht werden, und die man so lange gedankenlos nachplappert, bis sie durch andere ersetzt werden, die womöglich noch dümmer sind. Was auf diesem Gebiete heute geleistet wird, darüber hat uns die kommunistische Propaganda der letzten zwanzig Jahre einen Anschauungsunterricht gegeben, den man gerade in Deutschland wohl beherzigen sollte, wenn man nicht vom Regen in die Traufe kommen will. Dinge, die noch gestern in den siebenten Himmel gehoben wurden, werden heute mit derselben Selbstverständlichkeit in die tiefste Hölle verdammt, ohne dass eine blinde Anhängerschaft darüber auch nur die geringsten Gewissensbeschwerden empfindet, weil ihr geistiges Gepäck, genau besehen, nur aus den beiden Worten „Hoch!" und „Nieder!" besteht, die man je nach Bedarf skrupellos verwenden kann. Dass sich mit einem solchen Ungeist nichts Neues vollbringen lässt, sollte eigentlich jedem klar sein, auch wenn er an das Denkvermögen der Menschen noch so geringe Ansprüche stellt. Eine Masse, die in einer solchen Schule erzogen wird, kann zwar, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bietet, ein altes Joch abwerfen, aber nur, um sich ein neues und schwereres mit gläubiger Inbrunst auf den Nicken zu laden. Mit Hoch und Nieder schafft man keine neue Welt, am allerwenigsten eine sozialistische Welt. Auch nicht mit blindem Hass und ewiger Selbstzerfleischung oder mit Realpolitik und Selbstentmannung. – „Sozialismus ist", wie Gustav Landauer mit tiefer Erkenntnis sagte, „die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideales willen Neues zu schaffen." – Ideale aber werden nicht diktiert. Sie wachsen aus der Tiefe unserer seelischen und geistigen Erkenntnis empor und können nur dann schöpferisch ins Leben eingreifen, wenn sie unserem persönlichen Handeln Kompass und Leitstern werden. Deutschland befindet sich heute in einer Lage, wo man alte Risse im Bau nicht länger verkleistern kann, weil kein Bau mehr besteht und alles neu geschaffen werden muss. Es ist dies ein Fall, wie er in der Geschichte nur selten vorkommt. Aber gerade weil wir ganz neu anfangen müssen, sollten wir dafür Sorge tragen, dass die Fundamente, die wir legen, gesund sind und nicht durch Pfuscharbeit verdorben werden. Was wir heute unter den schwersten Umständen vollbringen müssen, wird unsere ganze nächste Zukunft bestimmen. Der harten Arbeit des Wiederaufbaus kann sich niemand entziehen, da unser aller Schicksal damit verbunden ist; umsomehr wird es darauf ankommen, in welchem Geiste wir uns dieser Aufgabe unterziehen und von welchen Gesichtspunkten wir uns leiten lassen. Gerade darüber müssen sich unsere Genossen vollständig klar werden, wenn sie überhaupt etwas tun wollen. Unter den eigenartigen Zuständen, die sich in Deutschland infolge der politischen Ergebnisse des verlorenen Krieges entwickelt haben, wird uns durch unsere Mitwirkung in der Aufbauarbeit der Gemeinden nicht bloss die Gewähr geboten, etwas Nützliches und Wertvolles im Interesse aller zu vollbringen, wir werden damit auch viel besser imstande sein, der Gefahr einer staatskapitalistischen Diktatur entgegenzuarbeiten, was gerade heute eine unserer wichtigsten Aufgaben sein sollte. Eine solche Gelegenheit ungenützt vorübergehen zu lassen, wäre sicher das Schlimmste, was wir gegenwärtig überhaupt tun könnten. Wir würden uns damit zu einem blossen Schattendasein verurteilen, das weder für uns noch für andere den geringsten Zweck mehr hätte. Man könnte vielleicht einwenden, dass wir sogar dort, wo wir schon die Möglichkeit hätten, an der Verwaltung der Gemeinden teilzunehmen, schon auf Grund unserer kleinen Zahl keine nennenswerten Erfolge erzielen könnten. Allein dieser Einwand sollte gerade für uns am wenigsten stichhaltig sein. Sogar kleinere Bewegungen wie die unsere haben nicht selten sehr fruchtbare Leistungen vollbracht. Die Zahl allein macht es wahrlich nicht. Wenn es nur darauf ankäme, könnten wir besser gleich im ganzen einpacken, denn unser numerisches Verhältnis der Gesellschaft als Ganzes gegenüber ist noch bedeutend ungünstiger, als dies innerhalb einer Gemeinde der Fall sein könnte. Und übrigens hat unsere zahlenmässige Schwäche uns ja auch früher nicht verhindert, unsere Kräfte in der alten FAUD zusammenzufassen und für unsere Überzeugung in die Schranken zu treten, wo immer sich uns die Gelegenheit dazu geboten hatte. Neue Ideen finden nur in seltenen Fällen von Anfang an eine grosse Nachfolgerschaft. Aber sie deshalb aufgeben, würde jede weitere gesellschaftliche Entwicklung überhaupt unmöglich machen. Gerade in einem kleineren Kreise, wie die Gemeinde, sollte es meiner Meinung nach viel leichter möglich sein, Gehör und Verständnis zu finden, vorausgesetzt, dass wir uns an ihren Arbeiten praktisch beteiligen und ihr die Verantwortung tragen helfen. Nicht auf unsere Zahl kommt es heute an, sondern auf das, was wir zu sagen haben, auf unser praktisches Können und unseren Willen, mit andern zusammenzuarbeiten, die vielleicht unsere Ansichten nicht immer teilen, aber schliesslich doch von derselben Absicht getragen sind, das Gedeihen der Gemeinschaft zu fördern. Man muss eben andere verstehen lernen, wenn man selbst verstanden sein will. Jede gesellschaftlich notwendige Zusammenarbeit, die zur Sicherung und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt unternommen wird, erzieht die Menschen zur Duldsamkeit und zum gegenseitigen Verständnis. Je besser wir imstande sind, anderen Meinungen gerecht zu werden, desto mehr Anrecht besitzen wir, dass auch unsere Meinung von anderen redlich gewürdigt und eingeschätzt wird. Sogar in der freisten Gesellschaft wird es immer verschiedene Meinungen geben, weil die Menschen selbst verschiedenartig veranlagt sind und nicht alle über denselben Kamm geschoren werden können. Deshalb müssen durch freie Vereinbarung Ausgleiche geschaffen werden, ohne die ein gesellschaftliches Zusammenarbeiten überhaupt nicht möglich wäre. Dabei sind gegenseitige Zugeständnisse unvermeidlich, um erspriessliche Ergebnisse zu erzielen, und je sachlicher und verständnisvoller solche Ausgleiche getroffen werden, desto besser steht sich jeder dabei. Sogar Menschen, die derselben Überzeugung huldigen und der gleichen Bewegung angehören, sind niemals alle der gleichen Meinung, aber da ihren Bestrebungen das gleiche Ziel zugrunde liegt, müssen sie versuchen, durch gegenseitiges Abkommen Ausgleiche zu schaffen, wenn sie die gemeinschaftliche Aufgabe nicht gefährden wollen. Leben und leben lassen ist die natürliche Basis jeder gesellschaftlichen Moral; wer sich an diesem Grundsatz versündigt, endet stets bei der Tyrannei. Das ist es, was die Anhänger der Diktatur und des künstlichen Mechanisierens, trotz aller Erfahrungen, nie begriffen haben. Indem sie glauben, Menschen wie tote Figuren auf einem Schachbrett behandeln zu können, zerstören sie jedes Gefühl menschlicher Würde, jeden schöpferischen Drang und die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens, die aus tausend Quellen sprudelt und stets nach neuer Gestaltung ringt. Wer keine vornehmere Aufgabe im Leben sieht, als die Rolle des Prügelpädagogen in der Geschichte spielen zu müssen, ist stets gezwungen, seine Anleihen bei dem schlimmsten Despotismus zu machen, um seine Ziele ins Leben umsetzen zu können. Menschen dieser Gattung kennen ausser dem Staat überhaupt keine anderen gesellschaftlichen Bindungen, und je besser es ihnen gelingt, alle sozialen Lebensäusserungen auf den Rhythmus der Staatsmaschine einzustellen, desto mehr verunstalten sie das Leben und berauben es jeder geistigen Kraft und aller sittlichen Werte. Aus Machtbesessenheit und blödem Vormundsdünkel fliesst die trübe Quelle jeder geistigen und sozialen Reaktion, wobei es ganz gleichgültig ist, ob ihren Trägern die Verteidigung „ewiger Wahrheiten" oder die „soziale Befreiung der Massen" als Vorwand dienen muss. Es liegt ein tiefer Sinn in den Worten Jeffersons: „Nur der Irrtum benötigt die Unterstützung der Regierungen; die Wahrheit kann auf eigenen Füssen stehen." Schöpferische Gestaltungskraft, sozialer Betätigungsdrang und solidarisches Handeln sind stets die Ergebnisse der persönlichen Erfahrungen, die wir im Leben machen und gedeihen am besten, wenn sie nicht von der Wiege bis zum Grabe einer steten Bevormundung ausgesetzt sind. Das Leben ist nie frei von Irrtümern, – es irrt der Mensch, so lang er strebt – aber auch der Irrtum kann befruchtend wirken, wo die Möglichkeit besteht,begangene Fehler verbessern, anstatt sie durch starre Satzungen zu verewigen. Dazu ist in der Gemeinde viel mehr Gelegenheit geboten als in zentralen Staatswesen, die grundsätzlich auf vorgeschriebene Muster angelegt sind und jede Abweichung von der Regel schon deshalb verdammen, weil sie den Gleichlauf der Regierungsmaschine stören könnte. Je mehr die Gemeinde sich lediglich mit der Erledigung der sozialen Angelegenheiten beschäftigt und dafür Sorge trägt, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit jedem ihrer Mitglieder in gleicher Weise zugute kommen, im übrigen aber jeden nach seiner Fasson selig werden lässt und seinen Gedanken und Neigungen keine Schranken setzt, desto bessere Resultate wird sie erzielen, desto reibungsloser werden sich die gegenseitigen Beziehungen der Menschen untereinander abspielen. Denn die Freiheit des Einzelnen, wie Proudhon sehr richtig erkannte, findet in der Freiheit der Anderen keine Grenze, sondern nur ihre Bestätigung. Aber werden die Gemeinden, denen durch den Wandel der politischen Zustände in Deutschland solche neuen Aufgaben gestellt wurden, die gebotene Gelegenheit wahrzunehmen verstehen und ihre geschichtliche Bedeutung im vollen Umfang erfassen? Ein solches Wunder zu erwarten, wäre wirklich zu viel verlangt. Die autoritären Überlieferungen vieler Jahrzehnte lassen sich nicht mit einem Schlage beseitigen und werden erst allmählich einer besseren Erkenntnis weichen, die durch praktische Erfahrungen erkauft werden muss. Hier ist gerade der Punkt, wo, meiner Meinung nach, die Arbeit unserer Genossen einsetzen müsste. Unsere ganze Aufgabe sollte heute darin bestehen, durch unermüdliche Erziehungsarbeit und praktisches Beispiel den Menschen die volle Bedeutung der heutigen Lage und die Aussichten eines föderativen Gemeindesozialismus zum inneren Bewusstsein zu bringen, um sie für die Rolle vorzubereiten, die ihnen durch die veränderten Verhältnisse bestimmt wurde. Gerade heute, wo grosse Teile unseres Geburtslandes in Schutt und Trümmer liegen und die Ruinen, die uns der Krieg hinterlassen hat, erst mühsam abgetragen werden müssen, sollten wir ihnen zeigen, dass man Vergangenes nicht wieder aufleben kann und ein neues Beginnen aus dem Schosse der Gemeinden hervorgehen muss. Alten Machtsystemen wieder neuen Einfluss zu verschaffen, dafür ist gerade Deutschland heute der ungeeignetste Platz. Wir müssen deshalb versuchen, aus den gegebenen Verhältnissen das Beste zu machen und das können wir nur, indem wir unsere gegenwärtige politische Schwäche in ein Mittel für unsere soziale Befreiung umformen, denn alle Erfahrungen der Geschichte haben uns bisher gezeigt, dass jede neue soziale Kultur gerade dort am besten Wurzel schlägt, wo die Macht des Staates auf ein Minimum begrenzt ist. Alle Machtsysteme, von der Theokratie bis zur sogenanten proletarischen Diktatur, führten bisher zu denselben Ergebnissen. Indem sie versuchten, durch äusseren Zwang zu erreichen, was sich nur durch organisches Werden von innen heraus gestalten kann, veränderten sie nur die Formen der Sklaverei, ohne ihre eigentlichen Ursachen anzutasten. Und dieser Wahn wirkt sich umso verderblicher aus, je mehr er von der Illusion geschürt wird, dass die Diktatur, das heisst die eiserne Konzentration aller Machttbefugnisse, die erste Vorbedingung ist, durch welche die Sklaverei überwunden werden kann. Ein harmonisches Zusammenarbeiten aller gesellschaftlichen Kräfte auf der Grundlage friedlicher Arbeit, aus deren Erträgnissen alle den gleichen Nutzen ziehen, lässt sich nur in einem Bunde föderierter Gemeinden durchführen, die durch dieselben Lebensansprüche zusammengehalten und in ihrem inneren Wachstum gleichermassen begünstigt werden. Dazu gehört nicht nur guter Wille, sondern auch technisches Können, das nur aus den praktischen Erfahrungen des Leben; gewonnen werden kann. Gerade dieser Seite der Frage sollten wir heute unsere ganze Aufmerksamheit zuwenden. Wer Neues bauen will, muss lernen, und wenn wir dabei, durch neue Umstände gedrängt, in manchem umlernen müssen, umso besser, denn nichts ist dem Sozialismus gefährlicher wie uniformiertes Denken und starre Dogmengläubigkeit, die nur Gesamtlösungen sucht und für die Verschiedenartigkeit des Lebens kein Augenmass besitzt. Ein Sozialismus föderierter Gemeinden wird nicht überall die gleichen Formen annehmen, sondern in jedem Gemeinwesen das zu erreichen versuchen, was unter den obwaltenden Verhältnissen möglich ist und den Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner am besten entspricht. Auf dieser Basis wird er weiterbauen und das Gebiet seiner Betätigung stets erweitern können, ohne durch äussere Eingriffe in seinen Verwaltungskreis beengt zu sein. Gerade diese Bewegungsfreiheit des Handelns gibt ihm sein besonderes Gepräge und unterscheidet ihn von allen geistlosen Schematisierungen, die jeder Verstaatlichung zugrunde liegen. Er wird vielgestaltig sein, wie das Leben selbst, denn nichts kann ihm ferner liegen als der unselige Drang, alle Dinge unter einen Hut zu bringen und mit demselben Masstab zu messen. Indem er versucht, das soziale Leben den natürlichen Bedingungen der örtlichen Umwelt anzupassen, entwickelt er fortgesetzt neue Anregungen, die seinem Gedeihen förderlich sind und schafft damit eine Einheit des Strebens, die gerade durch die reiche Verschiedenartigkeit seiner Betätigung erzielt wird. In Deutschland, wo den Menschen durch blöden Kommiss- und Parteidrill die Sucht des Reglementierens so lange eingebläut wurde, bis sie ihnen in Fleisch und Blut überging, ist gerade in dieser Schicksalsstunde eine Abkehr von der toten Mechanisierung aller sozialen Angelegenheiten die erste Vorbedingung einer wirklichen Neugestaltung. Unsere Genossen sollten daher kein Mittel unversucht lassen, um dem lähmenden Einfluss alter Gewohnheiten entgegenzuarbeiten, die einem Wiederaufbau auf neuen Grundlagen nur hinderlich sein können. Nur wenn die Menschen nicht länger dem demütigenden Gefühl der Unmündigkeit ausgesetzt sind, das ihnen durch blöden Zwang fortgesetzt beigebracht wird, werden sie lernen, auf eigenen Füssen zu stehen und ihres Schicksals Schmied zu werden. Sie werden dabei Fehler machen und oft nur Halbheiten zustande bringen, die später durch bessere Erkenntnisse beseitigt werden müssen, aber sie werden dabei lernen und durch Erfahrung klüger werden. Das ist der Lauf jeder Entwicklung, dem sich sogar die Wissenschaft nicht entziehen kann, denn auch auf diesem Gebiet muss jede neue Entdeckung erst durch eine Menge verfehlter Experimente mühsam erkauft werden. Besonders in der Periode des Übergangs werden sich Missgriffe nicht vermeiden lassen, die sich erst da zum offenen. Missbrauch entwickeln, wo keine Gelegenheit geboten ist, begangene Fehler zu verbessern, was stets der Fall sein wird, so lange die Menschen ihre Geschicke einer Kaste hirnloser Bureaukraten anvertrauen, die in ihrem wahnwitzigen Unfehlbarkeitsdünkel glauben, jeden gemachten Irrtum sanktionieren zu müssen, um ihrem Prestige keinen Abbruch zu tun. In der Neugestaltung des Wirtschaftslebens wird Altes und Neues aller Wahrscheinlichkeit nach auf längere oder kürzere Zeit hinaus nebeneinander bestehen oder die mannigfachsten Verbindungen eingehen, bis die Erfahrung bessere Ausgleiche schaffen kann. überall wird man gezwungen sein, mit den Mitteln zu wirtschaften, die gerade zur Verfügung stehen und daraus das Beste machen müssen, was sich damit erzielen lässt. Deshalb ist die Bedarfswirtschaft in Deutschland das erste Gebot, dem jede Gemeinde Rechnung tragen muss, um ihre Einwohner – so weit dies unter den gegebenen Bedingungen immer möglich ist – mit den notwendigsten Dingen zu versorgen, die durch örtliche Arbeit erzeugt werden können und dafür Sorge tragen, sie durch eine gerechte Verteilung jedem zugänglich zu machen. In den ländlichen Gemeinden lässt sich dies am besten durch die Wiederbelebung bereits vorhandener und durch die Einführung neuer Kleinindustrien erreichen, die den örtlichen Bedingungen und Bedürfnissen am besten angepasst sind. In den grossen Rohstoffgebieten und Knotenpunkten grösserer und mit einander verwachsener Industrien werden sich die Gemeinden auf einer breiteren Grundlage zusammenschliessen müssen, um die Arbeit und die Verwaltung der Wirtschaft nach regionalen Gesichtspunkten durchzuführen. Aber auch dort muss die industrielle Erzeugung vor allem auf die Bedürfnisse des eigenen Landes angelegt werden und die Ausfuhr von Kohle, Erzen und Rohprodukten anderer Art lediglich dem Zwecke dienen, Materialien einzutauschen, die wir selbst nicht besitzen und Dinge, die wir vorläufig noch nicht in genügender Menge für den eigenen Bedarf herstellen können. Dazu kommt natürlich noch die Begleichung der Deutschland auferlegten Reparationen, die ein Problem für sich bilden, das sich erst nach und nach lösen lässt, und mit dem wir uns vorläufig abfinden müssen, so gut wir können. Die Bedarfswirtschaft aber ist nicht bloss eine Frage der Gegenwart, die sich heute einem Lande wie Deutschland – aber auch vielen anderen Ländern – unter dem Druck verzweifelter Umstände ganz von selbst aufdrängt; sie ist und bleibt auch das grosse Problem der Zukunft, da mit der industriellen Entwicklung in allen Weltteilen, der sogenannte Weltmarkt fortgesetzt mehr einschrumpft und die Völker immer grössere Teile ihrer Arbeitserzeugnisse im eigenen Lande verwenden müssen, da kein anderer Absatz dafür mehr vorhanden ist. Durch den offensichtlichen Niedergang des alten Imperialismus und die nicht mehr aufzuhaltende Befreiung der sogenanten Kolonialvölker wird dieser Prozess noch wesentlich beschleunigt. Damit aber geht das Prinzip der vielgepriesenen Arbeitsteilung, in dem bürgerliche, aber auch viele sozialistische Ökonomisten so lange das Heil der Welt erblickten, immer mehr in die Brüche, um der Arbeitsergänzung in Landwirtschaft und Industrie das Feld zu räumen, die es jedem Volke ermöglicht, durch eine verbesserte, nach wissenschaftlichen Grundsätzen geleitete intensive Bodenkultur und dezentralisierte Industrien den weitaus grössten Teil ihres Bedarfs selbst herzustellen. Für den Sozialismus, besonders aber für den Gemeindesozialismus, ist diese immer stärker hervortretende Tendenz im modernen Wirtschaftsleben von geradezu entscheidender Bedeutung, was Peter Kropotkin bereits vor nahezu fünfzig Jahren mit grossem Scharfsinn erkannte, wenn er sagte: „Aber wir behaupten auch, dass jeder sozialistische Versuch, die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit umzugestalten, ein Fehlschlag sein wird, wenn er nicht den oben angeführten Gedanken über die gegenseitige Ergänzung der Arbeit mit in Rechnung zieht. Nach unserer Ansicht hat dieser Gedanke bei den verschiedenen sozialistischen Schulen noch nicht die gebührende Beachtung gefunden, die er nichtsdestoweniger finden muss. Eine gewandelte Gesellschaft wird den Irrtum aufgeben müssen, nach dem die einzelnem Völker nur landwirtschaftliche oder industrielle Erzeugnisse herstellen müssten. Sie wird sich in der Erzeugung von Nahrungsmitteln und vielen, wenn nicht der meisten Rohmaterialien auf sich selbst verlassen müssen. Sie muss die besten Mittel und Wege finden, die Landwirtschaft mit der industriellen Erzeugung, die Feldarbeit mit einer dezentralisierten Industrie zu verbinden. Deshalb wird sie für eine den Umständen entsprechende ergänzende Erziehung Sorge tragen müssen, denn diese allein, die von frühster Jugend an zugleich in Wissenschaft und Handwerk unterrichtet, kann der Gesellschaft die Männer und Frauen geben, die sie braucht." Diese Worte sollten sich unsere deutschen Genossen in der jetzigen Lage besonders zu Herzen nehmen. Dabei könnte ihnen bei einer eventuellen Mitarbeit in den Arbeiten der Gemeinden ein erneutes und gründliches Studium eines so vortrefflichen und grundlegenden Werkes wie Kropotkins „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk" ausgezeichnete Dienste leisten, da hier das Problem der gesellschaftlichen Produktion von ganz neuen Gesichtspunkten behandelt und die Bedarfswirtschaft in den Mittelpunkt aller wirtschaftlichen Betätigung gestellt wird. In England, wo vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges von je drei Personen zwei mit eingeführten landwirtschaftlichen Erzeugnissen genährt werden mussten, hat die Befolgung von Kropotkins Vorschlägen der Regierung während der schlimmsten Jahre des letzten Krieges unschätzbare Dienste geleistet. Dieselben Anregungen, die einem gründlichen Studium der modernen Wirtschaftsvorgänge entsprungen sind, könnten sich heute auch in Deutschland bewähren. Kropotkins Buch ist vollständig auf die Bedürfnisse einer Gemeindewirtschaft angelegt, so dass Gustav Landauer, der erste deutsche übersetzer von Kropotkins Arbeit, mit Recht sagen durfte: „Kropotkin also zeigt uns, dass die Entwicklung der Industrie und der technischen Wissenschaften zusammen mit der Dichtigkeit der Bevölkerung dahin führen werden, dass die Völker in intensiver Arbeit, in einer Verbindung von Wissenschaft und Tätigkeit, von Landwirtschaft und Industrie ihre Bedürfnisse herstellen werden, dass die Umwege über Export und Profit in Zukunft vermieden werden, dass an Stelle der wahnsinnig gewordenen Arbeitsteilung die Arbeitsvereinigung treten wird." Mit solchen und anderen in derselben Richtung liegenden Studien sollten sich unsere Genossen heute grundsätzlich beschäftigen, wenn sie sich nutzbar betätigen wollen. Deshalb sollte man sich auch nicht von den falschen Vorspiegelungen unserer heutigen Exportdenker betören lassen, die sich so angelegentlich bemühen, die Dringlichkeit einer zu schaffenden deutschen Zentralregierung aus der Ausfuhr abzuleiten. Diese Leute leben noch immer in den Gedankengängen der älteren Nationalökonomen. die da glaubten, dass jedem Volke von der Natur selbst eine besondere wirtschaftliche Betätigung bestimmt sei, – den einen die Industrie, den andern die Landwirtschaft – und dass das ganze Geheimnis der Wirtschaft sich in Profit und Ausfuhr erschöpfe. Mit diesem geistigen Gerümpel lässt sich heute nichts mehr anfangen, besonders nicht, wenn es sich um einen Aufbau handelt, wo alle Möglichkeiten vorsichtig eingeschätzt werden müssen, wenn man gesunde Ergebnisse erreichen will. Der Glaube an bestimmte Wirtschaftsmissionen der Völker ist ebenso weit von der Wirklichkeit entfernt, wie der Afterglaube an die historischen Missionen von Nationen, Rassen und Klassen und führt nur zu einer verstiegenen Wirtschaftsmetaphysik, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann. Auch das Dogma von einer nationalen Einheitswirtschaft ist nur ein hohles Schlagwort, das heute besonders freigebig von allen Fürsprechern der Verstaatlichung gebraucht wird. Eine solche Einheit hat auch unter dem Kapitalismus nie existiert, und wo man sie durch Vertrustung oder Kartellierung der Wirtschaft erreichen wollte, führte das stets zu den schlimmsten Ergebnissen. Das sollte man gerade in Deutschland beherzigen, wo die Trustwirtschaft – so unglaublich es heute klingt – seiner Zeit sogar von den Gewerkschaften befürwortet wurde und später Hitler nicht wenig geholfen hat, seine Rüstungen zum Kriege zu beschleunigen, für die wir heute so schwer bezahlen müssen. Die totale Wirtschaft und der totale Staat sind Zwillingsbrüder, die aus denselben Bestrebungen geboren wurden, und wo immer sie ins Leben treten, dort ist ein Golgatha, wo der Mensch ans Kreuz geschlagen wird. Was der Sozialismus wirtschaftlich erstrebt, ist nicht die mechanische Reglementierung des ökonomischen und sozialen Lebens nach einem bestimmten Einheitsmuster, sondern die freie Arbeitsbetätigung, die sich aus den örtlichen Verhältnissen von selbst ergibt, sich gegenseitig ergänzt und die mannigfachsten Bindungen eingeht, um alle wirtschaftlichen Mögliche keiten dem Menschen dienstbar zu machen. Indem er durch die Beseitigung aller Monopole und jeder Profitwirtschaft die gerechte Verteilung der Arbeitserzeugnisse zum Ausgangspunkt aller wirtschaftlichen Bestrebungen erhebt, gibt er der Arbeit ihre ethische Bedeutung wieder und macht die Menschen nicht länger zum Sklaven, sondern zum Träger der Wirtschaft. Wer den Sozialismus anders versteht, hat ihn überhaupt nicht verstanden, am allerwenigsten, wenn er glaubt, ihn durch Staatsplanung und Zwangsarbeit erreichen zu können. Unsere Genossen in Deutschland haben in den Schreckenstagen der braunen Barbarei, trotz ihrer kleinen Zahl, mutig ihren Mann gestanden und ihrer freiheitlichen Gesinnung schwere und oft furchtbare Opfer gebracht, auf die sie mit Recht stolz sein dürfen. Sie haben gezeigt, dass auch eine kleine Bewegung selbst unter den schlimmsten Umständen etwas vollbringen kann, wenn ihre Anhänger von einer grossen Idee getragen sind, die ihnen geistige Ausdauer und sittlichen Halt gibt. Das wird man auch im Ausland anerkennen, wenn erst die Einzelheiten jener barbarischen Verfolgungen im vollen Umfang bekannt werden. Gerade deshalb aber sollten wir uns auch jetzt nicht durch die beschränkte Zahl unserer Anhänger entmutigen lassen, ja heute erst recht nicht, wo so vieles zu sagen ist, das nur von uns gesagt werden kann. Wenn die Genossen finden, – und dies scheint fast allgemein der Fall zu sein – dass die alte Form unserer Bewegung den neuen Umständen nicht länger angemessen ist, so müssen sie eben versuchen, ihr eine neue Gestalt zu geben, die den heutigen Verhältnissen besser angepasst ist. Aber etwas erreichen können wir nur, wenn wir auf eigenen Füssen stehen und nicht in anderen Bewegungen einfach aufgehen, nur um eine Betätigung zu finden. Man betätigt sich nicht, indem man geistig Selbstmord begeht. Wir sollen und müssen mit anderen zusammenarbeiten, um Aufgaben zu erfüllen, für die wir allein zu schwach sind und die für alle dieselbe Wichtigkeit besitzen. Doch darf dies nie auf die Kosten unserer Überzeugung geschehen. In der Zusammenarbeit mit anderen können wir gewiss nicht alles erreichen, was wir wollen; aber wir müssen uns stets die Möglichkeit wahren, unsere Bemühungen fortzusetzen und weitere Zugeständnisse zu erringen, die einer besseren Einsicht entspringen. Dazu aber werden wir nie imstande sein, wenn wir uns Parteien anschliessen, deren Bestrebungen mit unseren Anschauungen grundsätzlich nichts gemein haben. Wir verlieren bei solchen Verschmelzungen nicht bloss das eigene Gesicht, sondern übernehmen damit auch Verantwortungen, die für uns nicht tragbar sind, denn es handelt sich dabei nicht bloss um Meinungsverschiedenheiten in rein technischen Dingen, sondern vielfach auch um Gewissensfragen, die durch Mehrheitsbeschlüsse nicht entschieden werden können. Unterwirft man sich ihnen trotzdem, so gibt man sich eben selbst auf. Ich glaube daher, dass wir eine eigene Bewegung nicht entbehren können. Wir benötigen sie nicht nur zur Ausführung unserer mündlichen und schriftlichen Propaganda und besonders für die Erziehungsarbeit, die nur durch eine eigene Presse und die regelmässige Herausgabe guter Bücher und kleinerer Schriften zu erzielen ist, sondern auch als geistigen Sammelpunkt zur Klärung unserer Ideen und zum Austausch unserer gemachten Erfahrungen. Vor allem aber sollte uns eine eigene Bewegung als Stützpunkt dienen, um uns in der Zusammenarbeit mit anderen einen grösseren Geltungswert zu verschaffen. Durch Absonderung vom allgemeinen Leben lässt sich heute nichts ausrichten; denn durch Inzucht seine eigenen Kräfte langsam zu verzehren, bringt uns nicht weiter, als wie durch wahllose Verschmelzung jedes Eigenleben aufzugeben und uns für Bestrebungen missbrauchen lassen, die dem freiheitlichen Sozialismus nur gefährlich sein können. Dazu ist unter den heutigen schweren Verhältnissen weder Zeit noch Platz, Wir müssen deshalb als Bewegung Anschluss suchen, wo immer wir ihn finden können und wo uns die Gelegenheit geboten ist, unsere Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen. Wenn ich daher der Meinung bin, dass unsere Genossen an dem Aufbau in den Gemeinden tätigen Anteil nehmen sollten, so ist es deshalb, weil uns hier ein vortreffliches Betätigungsfeld geboten wird, durch praktische Mitarbeit den Ideen des Föderalismus und Sozialismus Form und Gestalt zu geben und mitzuhelfen, eine Entwicklung des sozialen Lebens anzubahnen, deren Tragweite sich vorläufig kaum übersehen lässt. Vieles wird dabei von unserer eigenen Einsicht, unserem Verantwortungsgefühl und unseren praktischen Fähigkeiten abhängen. Wir dürfen, wie bereits gesagt wurde, keine plötzlichen Wunder erwarten; es genügt, wenn wir im Verband mit anderen wirklich neue Wege beschreiten, auf denen in absehbarer Zeit etwas erzielt werden kann. Noch einmal sei es gesagt: es kommt vor allem heute auf den Weg an, den wir einschlagen, denn davon wird es abhängen, wie sich unsere nächste Zukunft gestalten wird. Aber mit der Arbeit in den Gemeinden ist unsere Aufgabe keineswegs erschöpft. Wir müssen auch Anschluss an alle Bewegungen suchen, die aus dem Prinzip der Selbsthilfe hervorgehen und deshalb dem Werk des Wiederaufbaus nur förderlich sein können. Dazu gehört vor allem die Gewerkschaftsbewegung, der heute ebenfalls ganz neue Aufgaben gestellt sind. Dass wir als gewesene Mitglieder der FAUD an den Arbeiten der Gewerkschaften teilnehmen müssen, braucht wohl nicht erst betont zu werden. Dabei kommt uns besonders der Umstand zustatten, dass auch die Gewerkschaften in Deutschland heute wieder neu beginnen müssen und aus diesem Grunde für neue Ideen leichter empfänglich sind. Nicht nur die Verhältnisse haben sich geändert, sondern auch die Menschen mit ihnen. Viele der alten Führer, die vor der Erstehung des Dritten Reiches den Ton in den Gewerkschaften angaben, sind nicht mehr am Leben oder bereits zu alt, um sich der neuen Arbeit zu unterziehen. Ihre Plätze werden daher vielfach von neuen und jüngeren Kräften eingenommen, die noch grössere Spannkraft besitzen und wahrscheinlich auch aus den bitteren Erfahrungen der letzten Vergangenheit etwas gelernt haben. Sie müssen heute von neuem beginnen und unter Verhältnissen, die ganz von selbst zu neuen Betrachtungen anregen. Mit reiner Lohnpolitik lässt sich heute in Deutschland nicht viel ausführen, denn wo nichts mehr zu holen ist, dort hat selbst der Kaiser sein Recht verloren. Umsomehr werden sich daher die neuen Gewerkschaften mit der Frage des Wiederaufbaus beschäftigen müssen, zu der sie als Organisation der Produzenten von selbst berufen sind. Deshalb glaube ich, dass unsere Genossen sich heute viel leichter Gehör verschaffen können, als dies früher der Fall sein konnte, weil sie von den Verhältnissen selbst begünstigt werden. Gerade der konstruktive Gedanke über die wirtschaftliche Bedeutung der Gewerkschaften als Organe für die Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion, ein Gedanke, der unseren Kameraden durch ihre frühere Tätigkeit in der alten FAUD bereits vermittelt wurde, kann ihnen hier die besten Dienste leisten, wenn er zweckmässig und den neuen Verhältnissen entsprechend entwickelt wird. Auch die Einrichtung der Ärbeiterräte als Vertreter der einzelnen Industrien und Produktionszweige könnte sich hier fruchtbar auswirken, vorausgesetzt, dass sie sich lediglich mit der Erfüllung ihrer technischen Aufgaben beschäftigen und sich nicht durch Parteiklüngeleien für Sonderzwecke missbrauchen lassen. Das sollten wir bei jeder Gelegenheit immer wieder betonen und den Menschen klarmachen, um ein erspriessliches Zusammenarbeiten zu ermöglichen. Ideen und Ansichten sind zollfrei und man sollte ihnen stets freien Lauf lassen, weil dies der einzige Weg ist, um Meinungsverschiedenheiten sachlich auszutragen. Aber wenn es sich um die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten handelt, muss die allgemeine Wohlfahrt das erste Prinzip sein, dem alle anderen Dinge untergeordnet werden müssen, wenn das Ganze gedeihen soll. Gewerkschaften und Arbeitsräte, denen natürlich auch. Techniker, Agronomen und andere Vertreter einer sachgemässen Betriebsführung angegliedert sein müssen, als notwendige Bestandteile der Gemeindewirtschaft und darüber hinaus als föderative Organe, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden herzustellen, – dies dürfte wahrscheinlich die zweckmässigste Form einer auf neuen Grundlagen aufgebauten Bedarfswirtschaft sein. Doch sollte man sich auch hier auf kein bestimmtes Schema festlegen und immer nur das verwenden, was sich durch praktische Erfahrung bewährt hat. Wir sollten eben nie vergessen, dass auch die besten Zukunftspläne immer nur relativen Geltungswert besitzen und erst durch praktische Anwendung erprobt werden müssen. Auch der genossenschaftlichen Bewegung sollten unsere Kameraden in der Zukunft viel mehr Aufmerksamkeit schenken, als dies bisher geschehen ist. Auch diese Bewegung, die heute über Millionen Anhänger in allen Ländern verfügt, internationale Verbindungen unterhält und sich den Schutz der Verbraucher zur Aufgabe stellte, ist aus den praktischen Bedürfnissen des sozialen Lebens hervorgegangen und auf dem Prinzip der Selbsthilfe begründet. Sie hat sich durch langjährige und vielseitige Erfahrungen eine Menge praktischer Kenntnisse und administrativer Fähigkeiten auf dem Gebiete der Verbrauchswirtschaft erworben, die uns beim Wiederaufbau unschätzbare Dienste leisten können. Denn auf solche Kenntnisse und praktisches Wissen kommt heute alles an. Je mehr geschulte Kräfte uns zur Verfügung stehen, desto bessere Arbeit werden wir leisten können, desto leichter werden wir imstande sein, Irrtümer zu vermeiden und dauerhafte Grundlagen für die Zukunft zu schaffen. Mit billigen Agitationsphrasen lässt sich ein solches Werk nicht vollbringen. Alle Dinge müssen heute auf ihren richtigen Wert geprüft werden und dazu gehören Kenntnisse, Verantwortlichkeitsgefühl und gesunde Überlegung, ohne die man nicht weiterkommt. Man hat vielfach die nützliche Arbeit der Genossenschaften nur deshalb so gering eingeschätzt, weil sie der kapitalistischen Umwelt angepasst war, in der sie vollzogen werden musste. Dieser Grund ist aber durchaus nicht stichhaltig, denn dasselbe lässt sich von jeder sozialen Bewegung sagen, auch von dem Syndikalismus. Sogar die revolutionärste Gewerkschaftsbewegung kann sich den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihrer heutigen Umwelt nicht willkürlich entziehen. Ihre revolutionäre Bedeutung liegt in ihren Zukunftsbestrebungen, aber in ihren praktischen Kämpfen ums tägliche Brot oder für die Verteidigung ihrer menschlichen Rechte ist auch sie gezwungen, sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen, da sie sich eben nicht anders helfen kann. Sogar die erfolgreichsten Lohnkämpfe können die kapitalistische Gesellschaft nicht aus dem Sattel heben, aber sie sind notwendig, um den Arbeitern bessere Lebensbedingungen zu verschaffen und zwar innerhalb der heutigen Welt, in der sie nun einmal zu leben gezwungen sind. Der Charakter jeder Bewegung wird lediglich durch die Ziele bestimmt, die sie sich stellt und durch die inneren Entwicklungsmöglichkeiten, die sie in sich trägt, um diesen Zielen näher zu kommen und sie ins Leben umzusetzen. Auch die Aufgabe der Genossenschaften erschöpft sich nicht in ihrer Gegenwartsarbeit. Was sie erstreben, ist die Beseitigung jeder Profitwirtschaft und eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage einer gerechten Verteilung der Arbeitserzeugnisse. Dafür legt die ganze umfangreiche Literatur der genossenschaftlichen Bewegung in allen Sprachen Zeugnis ab. Man braucht bloss ein so vortreffliches Werk, wie „Co-operative Democracy" (New York, 1927) von J. P. Warbasse, dem Präsidenten des Bildungsausschusses der amerikanischen Genossenschaften zur Hand zu nehmen, der sich, nebenbei gesagt, zu den Ideengängen des mutualistischen Anarchismus[1] bekennt, um sich davon zu überzeugen. Unsere Genossen sollten daher, anstatt ihre Kräfte in alten Parteibildungen nutzlos zu vergeuden, gerade bei solchen Bewegungen Anschluss suchen, aus denen wirklich etwas Schöpferisches hervorgehen kann, dass für die Entwicklung eines freiheitlichen Sozialismus auf föderalistischer Grundlage Bedeutung hat. In einer Artikelserie, die sich mit der zukünftigen Entwicklung des Munizipalsozialismus, der Gewerkschaften und der genossenschaftlichen Organisationen in England beschäftigte, erklärte Peter Kropotkin bereits vor achtundvierzig Jahren (Freedom, 1899), dass durch ein gemeinschaftliches Zusammenwirken dieser drei Bewegungen in einer kritischen Situation die Möglichkeit geboten sei, eine soziale Umgestaltung in die Wege zu leiten, ohne dabei auf diktatorische Massnahmen oder staatliche Eingriffe anderer Art angewiesen zu sein, da eine solche Zusammenarbeit aus sich selbst heraus die Grundlagen einer sozialistischen Wirtschaft zu legen imstande ist, die nur in Freiheit gedeihen kann und wie jede andere Wirtschaft verkümmern müsste, wenn sie durch äusseren Zwang in bestimmte Formen gepresst wird. In einer so diktaturlüsternen, mit staatskapitalistischen Illusionen geschwängerten Zeit wie die heutige, wo Millionen Menschen, niedergedrückt durch das Gefühl ihrer eigenen Ohnmacht, in törichter Verblendung nach den grossen Männern Ausschau halten, die allen dieselben Ketten anlegen, sollte man diese Mahnung Kropotkins umsomehr beherzigen, um die Gefahren zu bannen, die uns heute von allen Seiten umlauern. Manchen mag es vielleicht befremdlich erscheinen, dass Kropotkin die Ausführung derselben Aufgabe auf drei verschiedene Bewegungen verteilt, und die Fanatiker der Einheit um jeden Preis werden sicher darüber die Nase rümpfen, da sie sich eben die Zusammenarbeit verschiedener Richtungen für ein gewisses Ziel überhaupt nicht vorstellen können und glauben mit der Dampfwalze alle Dinge auf dieselbe Norm bringen zu können, während sie in der Wirklichkeit nur alles Organische zerstören und zu einem farblosen Brei zermalmen. Sogenante Einheitsorganisationen wirken sich immer schädlich aus und man sollte ihnen das Schicksal der Menschen ebensowenig anvertrauen, wie Regierungen, wenn man nicht teuer dafür bezahlen will. Wo verschiedene Organisationen sich durch föderatives Abkommen einer gemeinschaftlichen Aufgabe unterziehen, ergänzen sie sich nicht nur gegenseitig; sie schaffen damit auch die beste Gewähr gegen Übergriffe und blinde Anmassungsgelüste, die für alle gleich verderblich sind. Keine Bewegung kann es vermeiden, dass, wenn sie grösser wird, eine Menge Anhänger sich in ihre Reihen verirren, die von ihren Gedankengängen nur flüchtig berührt werden und daher leicht umgestimmt und für Sonderzwecke missbraucht werden können. Das Schicksal einer so glänzenden Bewegung wie die französische C. G. T., die einst so mächtig zu einer geistigen Neubelebung breiter Schichten der internationalen Arbeiterbewegung beigetragen hat, heute aber vollständig unter die Herrschaft der Kommunistischen Partei geraten ist, sollte uns wirklich etwas zu denken geben und uns den Gedanken nahelegen, dass nur durch eine Verteilung der Aufgaben eine Sicherung gegen solche Vorgänge möglich ist. Denn auch für uns gilt das Wort Jeffersons: „Stete Wachsamkeit ist der Preis, den wir für unsere Freiheit bezahlen müssen." Deshalb sollten unsere Genossen in Deutschland heute jede Gelegenheit ergreifen, um mit anderen zusammenzuarbeiten, die guten Willen haben und ehrlich bestrebt sind, das Gemeinwohl über die Sonderintressen der Partei zu stellen. Man soll das Gute nehmen, von welcher Seite es immer kommt, und da wir selbst keine Machtansprüche erheben, so werden wir bei allen einsichtigen Menschen besseres Verständnis finden, so weit sie nicht vollständig dem Wahn der Diktatur verfallen sind. Es wird eine schwere Aufgabe sein, die Deutschland zu leisten hat, eine Aufgabe, der sich niemand entziehen kann, auch wir nicht. Nicht nur wird die innere Zerissenheit, die jahrzehntelang durch ewigen Parteihader geschürt wurde, ein grosses Hindernis sein; auch die militärische Besetzung des Landes, deren Ende vorläufig gar nicht abzusehen ist, wird viele Schranken schaffen, die nur allmählich durch gegenseitige Verständigung abgetragen werden können. Mit diesen Dingen muss man sich abfinden, so gut man kann; sie lassen sich nun einmal nicht ändern, am allerwenigsten durch blödes nationalistisches Gepolter, das die Lage bloss verschlimmern, im übrigen aber keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken kann. Nach der brutalen und barbarischen Unterdrückung, die viele Länder Europas jahrelang unter dem Naziregime über sich ergehen lassen mussten, kann man nicht erwarten, dass man uns plötzlich liebend In die Arme schliesst und ruchlose Verbrechen vergisst, die sich zu grauenvoll in das Gedächtnis der Menschen eingegraben haben, als dass man sie so leicht überwinden könnte. Auch die verzweifelte materielle Lage der deutschen Bevölkerung kann uns die Arbeit gewiss nicht erleichtern und muss zuerst überwunden werden, damit die innere Besinnung eintreten kann. Das Wort Heines: „Im hungrigen Magen Eingang finden nur Suppenlogik mit Knödelgründen", ist nun einmal eine Wahrheit die sich mit salbungsvollen Reden nicht aus der Welt schaffen lässt. Diese Erkenntnisbricht sich auch im Ausland langsam Bahn, was nur zu begrüssen ist. Aber auch hier kann ein Wandel nur allmählich eintreten, und was man heute in Deutschland selbst tun kann, um dem schlimmsten Mangel abzuhelfen, muss eben getan werden, wo immer die Möglichkeit dazu geboten ist. Es ist eben nicht bloss das deutsche Volk, das diesem Schicksal ausgesetzt ist. Fast alle Völker im Osten Europas, aber auch in Italien und Frankreich sind den schlimmsten Entbehrungen unterworfen, da es heute nur wenige Länder gibt, die helfend eingreifen können. Sogar in England war man bisher nicht imstande, die Rationierung von Nahrungsmitteln und den wichtigsten Gebrauchsgegenständen aufzuheben, da es buchstäblich an allem mangelt. Von den asiatischen Völkern soll hier gar nicht gesprochen werden, weil dort die Zustände noch viel schlimmer sind als in Europa und grosse Gebiete in China und Indien von offener Hungersnot heimgesucht werden. Ich weiss sehr gut, dass dies für Menschen, die seit Jahren die schwersten Entbehrungen über sich ergehen lassen müssen, kein Trost ist, aber die Tatsache besteht nun einmal, dass eine halbe Welt in Trümmern liegt, Millionen von Haus und Heim vertrieben wurden, auf den Landstrassen liegen und das bitterste Elend bis auf die Neige erdulden müssen. Die furchtbaren Nachwirkungen einer so grausigen Katastrophe lassen sich eben nicht im Handumdrehen beseitigen. Man kann in wenigen Wochen zerstören, was nur in vielen Jahren aufgebaut werden kann. Darüber haben sich allerdings die gewissenlosen Verbrecher des Dritten Reiches nicht den Kopf zerbrochen, als sie den Krieg in so frevelhafter Weise vom Zaun brachen, ganze Länder bis aufs Hemd ausplünderten und Tod und Vernichtung in alle Zonen trugen. Das grosse Leid, das heute über Deutschland gekommen ist, ist nur die unvermeidliche Folge des noch viel grösseren Leides, das seine Gewalthaber über die ganze Welt gebracht haben. Ich bin überzeugt, dass man selbst heute in Deutschland nur einen kleinen Bruchteil der furchtbaren Verbrechen kennt, die von einer elenden Rotte politischer Sadisten im Ausland begangen wurden. Aber sogar, was man schon kennt, sollte genügen. Die Gaskammern und Folterstätten, die mit kaltem Blut ausgeführten Geiselmorde in allen Ländern, die Verschleppung grosser Teile der Zivilbevölkerung nach Deutschland, die durch Zwangsarbeit den Nachfahren Attilas ihr frevelhaftes Spiel erleichtern mussten, die planmässige Abschlachtung von sechs Millionen Juden eines finsteren Wahnes wegen, die Verwendung wehrloser Gefangener als Versuchskaninchen einer sogenannten Wissenschaft, deren Vertreter jedes Gefühl der Menschlichkeit mit Füssen traten, – dieses und hundert andere Geschehnisse sprechen eine Sprache, die in ihrer brutalen Eindeutigkeit nicht missverstanden werden kann. Wenn sich daher in Deutschland noch immer Menschen finden, die versuchen aus der Notlage des Volkes Kapital zu schlagen, um anderen die Schuld aufzubürden, für die die Kannibalen des Dritten Reiches allein verantwortlich sind, so sollte man ihnen diese blutigen Wahrheiten so lange in die verstockten Ohren schreien, bis ihnen Hören und Sehen vergeht. Sogar die Galgen von Nürnberg können diese ungeheure Schuld nicht begleichen. Sie kann nur abgetragen werden, wenn das deutsche Volk die Wahrheit in ihrem vollen Umfang verstehen lernt und aus eigener Erkenntnis neue Wege einschlägt, um die Furcht zu beseitigen, dass Deutschland vielleicht noch einmal der Ausgangspunkt einer neuen und schlimmeren Weltkatastrophe werden könnte. Diese Furcht ist leider nicht unbegründet, denn die ganze Geschichte des deutschen Einheitsstaates unter der Führung Preussens war auf Katastrophen angelegt, die nicht bloss dem deutschen Volk, sondern auch allen anderen Völkern zum Verhängnis werden mussten. Der Ungeist von Potsdam vergiftete alle Quellen des deutschen Lebens und zerstörte in seiner seelenlosen Machtbesessenheit eine ganze Kultur, um die sich die Besten unseres Volkes bemüht hatten. Diesen seelenlosen Charakter des neuen Gewaltregimes erkannte bereits Bakunin bald nach der Gründung des Bismarckschen Reiches und nannte es die „mächtige und wissenschaftliche Verleugnung der Menschheit". Das war sie in der Tat, nur bis zu welchem Grade der Unmenschlichkeit sie gelangen würde, das konnte auch Bakunin nicht voraussehen. Der preussische Staat war ein ganz besonderes Gewächs. Künstlich gezüchtet durch die absolute Monarchie in Frankreich einerseits und den russischen Despotismus andererseits, um die Macht Österreichs und der Dynastie Habsburg zu schwächen, überboten sich seine ersten Vertreter in Lakaienhaftigkeit und schamloser Kriecherei ihren Brotgebern gegenüber, während sie die breite Masse ihrer Untertanen mit rücksichtsloser Härte zu Boden drückten. Treulos, verschlagen, gewalttätig und skrupellos bis zum äussersten – dies waren bereits die Wesensmerkmale des preussischen Staates, als er noch als gehorsamer Vasall die Geschäfte des Zarismus und der französischen Feudalmonarchie in Europa besorgte. Auch als er später, durch die Umstände begünstigt, das Vasallverhältnis abwerfen konnte, blieb er seinem innersten Wesen treu und entwickelte es immer mehr zum System. Die Entwicklung Preussens war die Entwicklung eines Raubstaates par excellence. Jedes Blatt seiner unheilvollen Geschichte legt Zeugnis dafür ab. Seine „grossen Könige" waren durch die Bank brutale, geistig minderwertige Despoten, denen jedes Kulturgefühl abging. Der „alte Fritz", in geistiger Hinsicht fast die einzige Ausnahme in dieser Galerie des preussischen Despotismus, erkannte diesen Zug sehr wohl, als er in jüngeren Jahren seinen „Anti-Machiavelli" schrieb, aber als er selbst zur Macht gelangte, änderte sich das Bild und er wurde jener kalte Zyniker und Menschenverächter, der dem militärischen Regime erst die richtige Weihe gab. Denn der preussische Militarismus war von besonderer Art. Seine Träger waren in jeder Periode seiner Geschichte die unverfälschten Vertreter jeder Reaktion. Es gibt, in der Tat, in ganz Europa keine rohere, geistesärmere und reaktionärere Kaste wie das preussische Junkertum, dessen eigentliche Schule die Kaserne war. Und da die ganze Staatskunst Preussens auf den Militarismus zugeschnitten war, so wurde der militärische Geist in alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens verpflanzt und sorgfältig kultiviert und grossgezogen. Im Lande des Korporalstocks und des Parademarsches war kein Platz für persönliches Denken. Hier konnten nur Philister gedeihen als Träger des „beschränkten Untertanenverstandes". Das Wort Ibsens: „Preussen ist ein Staat von Kellnern und der Kellner ist der beste Soldat", hatte einen tiefen Sinn. Und in diesem Sinne war Preussen wirklich ein. Musterstaat in des Wortes schlimmster Bedeutung und für die kulturelle Entwicklung des deutschen Volkes ein spanischer Stiefel. 1848 träumte man davon, Preussen germanisieren zu können, aber die deutsche Revolution scheiterte am preussischen Militarismus. 1866 aber wurde die alte Frage: Soll Preussen germanisiert oder Deutschland preussianisiert werden? mit Blut und Eisen gelöst und zwar zugunsten Preussens. Beginnt mit 1866 die langsame Verpreussung Deutschlands, so bestimmte die preussische Gewaltpolitik 1870 die Entwicklungsrichtung Europas für die nächsten fünfzig Jahre. Die grosse französische Revolution hatte der europäischen Menschheit ungeahnte Ausblicke für eine neue gesellschaftliche Entwicklung eröffnet. Sie hatte das alte Europa zu Grabe geläutet und den Weg frei gemacht für die grossen Gedankenströmungen einer neuen Zeit, die mutig vorwärtsstrebte und Lösungen suchte für die verwickelten Probleme auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Alle modernen sozialen Bewegungen und der Sozialismus selbst sind aus dieser glänzenden Entwicklungsperiode hervorgegangen, denn es war nur selbstverständlich, dass nachdem die Bollwerke des fürstlichen Absolutismus gefallen waren, auch die wirtschaftliche Frage ihre Lösung finden musste. Sogar der Staatsstreich Bonapartes konnte dieser Entwicklung der Dinge in der Richtung zum Sozialismus keinen Abbruch mehr tun. Das kurze Zwischenspiel des politischen Abenteurers konnte sie etwas verzögern, aber es konnte ihr keinen Einhalt mehr gebieten. Schon in den sechziger Jahren begann der Stern des dritten Napoleon stark zu erbleichen und man fühlte allgemein, dass das Ende der Herrlichkeit nicht mehr lange auf sich warten liess. Durch den unseligen Krieg von 1870–71, den Bismarck seit langem geplant und der preussische Generalstab in allen Enzelheiten vorbereitet hatte, bis er endlich durch die Fälschung der Emser Depesche zur genehmen Zeit vom Zaune gebrochen werden konnte, wurde diese fruchtbare soziale Entwicklung mit einem Mal jäh unterbrochen und immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die verhängnisvolle Annexion von Olsass-Lothringen und die Furcht, dass Bismarck Frankreich das Schicksal Polens bereiten könnte, trieb im Laufe der Jahre immer mehr der fähigsten Kräfte jenseits des Rheins ins nationalistische Lager, die unter anderen Umständen dem Werke der sozialen Neugestaltung wertvolle Dienste leisten konnten. So führte der Sieg der preussischen Armeen nicht etwa zur Befreiung Deutschlands, die man den deutschen Völkern vorgegaukelt hatte; er gestaltete sich vielmehr zu einem Sieg der sozialen Reaktion über den Geist der französischen Revolution und des Sozialismus. War Berlin bis dahin bloss der Mittelpunkt der deutschen Reaktion, so wurde es nunmehr zum Mittelpunkt einer neuen europäischen Reaktion, die immer weitere Kreise zog und folgerichtig in die Katastrophe des ersten Weltkrieges ausmündete. Die militärischen Rüstungen des neuen deutschen Kaiserreiches gaben der ganzen Entwicklung Europas eine andere Wendung. Um der Gefahr zu begegnen, die ihnen von Berlin drohte, waren alle übrigen Nationen gezwungen, an diesem Wettrüsten teilzunehmen und dadurch die Militarisierung von ganz Europa herbeizuführen. Der ganze Kontinent entwickelte sich immer mehr zu einem bewaffneten Heerlager, dem jedes Volk den grössten Teil seines nationalen Einkommens opfern musste. Für diesen Zustand der Dinge war Preussen und nur Preussen allein verantwortlich. Es war der „Geist von Potsdam", welcher der sozialen Entwicklung Europas in die Speichen fiel und jeden Fortschritt auf viele Jahrzehnte hinaus zurückschraubte. Um diesen Stand der Dinge moralisch zu rechtfertigen, erfand man die hohle Phrase, dass nur durch den „bewaffneten Frieden" der Krieg verhindert werden könnte. Und man nahm diese Lüge für bare Münze und fand sich damit ab. Wohin das führte und führen musste, wissen wir heute, aber viele scheinen es noch immer nicht zu begreifen und manche wollen es nicht begreifen. Es fehlte auch damals schon in Deutschland nicht an Männern, welche das Verhängnisvolle dieser Entwicklung dem Abgrund zu klar erkannt hatten. Aber leider war ihre Zahl dünn gesät und ihre Stimmen verhallten in dem allgemeinen Taumel wie ein Ruf in der Wüste. Zu ihnen gehörte vor allem der süddeutsche Föderalist Konstantin Frantz, der grosse Gegenspieler Bismarcks und einer der tiefsten politischen Denker, die Deutschland hervorbrachte. Frantz erfasste von Anfang an die grosse Tragödie der deutschen Einheit unter preussischer Bevormundung und sagte die kommende Katastrophe mit dem Seherblick eines Propheten voraus: „So hat man, im Reichstage die Äusserung gehört, dass dann erst der Friede Europas gesichert sein würde, nachdem Deutschland stark genug geworden, um jeden Krieg verbieten zu können. Erinnere ich mich recht, so waren das Worte des Kriegsministers von Roon, aber wer es auch sonst gesagt hätte, – es war eine echte Soldatenansicht. Auch im Grunde nichts weiter als nur eine neue Variation des alten römischen Satzes: si vis pacem para bellum. (Wenn Du den Frieden willst bereite Dich auf den Krieg vor.) Wonach dann freilich nichts weiter übrig bliebe als Rüsten und immer wieder Rüsten. Ich frage nur : wann wohl das Ziel erreicht wäre, dass Deutschland diese gewünschte Stärke erreicht hätte, und was dafür als Zeichen gelten sollte? Wahrscheinlich doch, dass Deutschland zuvor alle seine Nachbarn daniedergeworfen und in ganz Europa als der Gebieter dastände, sonst scheint man kaum zu begreifen, wie es den Krieg zu verbieten vermöchte, wenn es nicht überhaupt die Herrschaft besässe. Eben so wahrscheinlich wäre es aber, dass die übrigen Mächte nicht ruhig ansehen würden, dass Deutschland zu solcher Herrschaft gelangte, sondern sie würden darin ihrerseits vielmehr die grösste Gefahr für den europäischen Frieden erblicken, und darum einem solchen Anwachsen der deutschen Macht beizeiten durch eine Koalition entgegenzutreten suchen. Das parare beilum würde ja also eine buchstäbliche Wehrheit, da nun Krieg auf Krieg folgte, immer in grösserem Masstabe, bis erst die allgemeine Erschöpfung wieder einige Aussicht auf einen dauerhaften Frieden gäbe. Nein, in solcher Weise soll Deutschland nicht für den europäischen Frieden sorgen, dass es durch sein Streben nach Macht auch rings herum dasselbe Machtstreben hervorruft, sondern auf die Erhaltung und Kräftigung des allgemeinen Rechtssinnes soll es sein Streben richten, als der inneren und allernotwendigsten Bedingung eines europäischen Friedenssystems. Deutschland selbst soll der Stützpunkt des europäischen Rechtes sein, und also zunächst doch wohl durch sein eigenes Beispiel der Rechtsachtung. Denn dass inmitten Europas ein vielgliedriger Körper besteht, in welchem das schwache Glied sich ebenso gesichert fühlt wie das starke, ist von höchster Wichtigkeit für die Erhaltung des allgemeinen Rechtssinnes, wie umgekehrt nichts so zerstörend auf das ganze europäische Rechtssystem wirken muss, als wenn gerade in Deutschland das Beispiel der Vergewaltigung des Schwachen gegeben und durch die Tat selbst das Machtsystem proklamiert wird. So unleugbar auch die daraus entsprungene Steigerung der äusseren Machtmittel wäre, und somit auch der äusseren Schutzmittel des Friedensstandes, – in sehr viel höherem Masse haben sich umgekehrt die inneren Bürgschaften des Friedens vermindert, die auf der Bewahrung des Rechtes beruhen. Si vis pacem tuere justitiam[2], sage ich, das ist die unerlässlichste Bedingung für die Sicherung des Friedens und nicht das parare bellum, worin die Kasernenphilosophie ihr ein und alles findet." Das waren prophetische Worte. Dass man sie so schnöde missachtete, wurde dem deutschen Volke zum furchtbaren Verhängnis und trieb uns der Katastrophe zu, die eine halbe Welt mit in den Abgrund stürzte und namenloses Unglück über alle Völker brachte. Den Gewalthabern aller Länder klingen sie noch heute fremd und unbegreiflich und werden ihnen wohl immer unbegreiflich bleiben. Erst wenn die Menschen lernen auf eignen Füssen zu stehen, ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen und sich entschlossen von einer Vergangenheit abwenden, die ihnen so viel Blut und Tränen brachte, wird der Aufstieg zu einem neuen Menschentum beginnen können. Nein, der „bewaffnete Friede", den Bismarck verteidigte, hat den Krieg nicht aus der Welt geschafft. Er hat nur das Rechtsbewusstsein der Völker zerstört und durch stete Machtansprüche die Möglichkeit jeder Verständigung untergraben. Und während er Europa in eine Kaserne verwandelte, begann für das geeinte Deutschland eine Aera der brutalsten Knechtschaft und Unterdrückung. Zwölf Jahre Ausnahmegesetz raubten der deutschen Arbeiterschaft jedes bürgerliche Recht. Ein elendes Polizeisystem lähmte jede Initiative des Volkes und erzeugte jenen ekelhaften Servilismus, der die öffentliche Moral verpestete und Rückgratlosigkeit und Charakterprostitution in alle Schichten der Gesellschaft trug. Schleppenträger und perverse Heuchler umgaben den Thron eines grössenwahnsinnigen Toren, der in Caesarträumen schwelgte und sich berufen fühlte, das Schicksal der Welt zu entscheiden. In Preussen-Deutschland wurde das Wort geprägt, dass der Mensch erst beim Leutnant anfange, und es war leider nicht bloss eine humoristische Phrase. Eine lächerliche Selbstüberhebung anderen Völkern gegenüber machte sich überall breit, bis tief hinein in die Reihen der organisierten Arbeiterschaft. Man verlor überhaupt die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen anderer Völker hineinzuversetzen. Nur so war es möglich, dass es am 1. August 1914 „keine Parteien mehr" in Deutschland gab und die breiten Massen von einem Taumel ergriffen wurden, der an Wahnsinn grenzte, nein, der wirklich Wahnsinn war. Als dann das Reich Bismarcks auf denselben Schlachtfeldern zusammenbrach, wo es einst gegründet wurde, war dem deutschen Volke die seltene Gelegenheit geboten, mit dem Regime des preussischen Junkertums und seiner Verbündeten, der Schlotbarone, gründlich aufzuräumen und eine wirkliche Neugestaltung anzubahnen. Statt dessen spielte man in unglaublicher Verblendung den alten Trägern der Reaktion, die so viel Unheil über Deutschland gebracht hatten, die militärische Macht wieder in die Hände, die ihnen gerade aus der Hand gefallen war und gab ihnen die Möglichkeit mit ihren Prätorianerhorden alle Widerstände im Volke mit brutaler Faust niederzuschlagen und den Weg zu ebnen, der schliesslich zum Portal des Dritten Reiches führte. Auch in anderen Ländern sind schon Revolutionen verspielt worden. In Deutschland aber begann die Gegenrevolution gleich von Anfang an und erstickte die schwachen Keime, aus denen etwas Neues hervorgehen konnte, so dass ein bürgerlich-demokratisches Blatt wie die „Frankfurter Zeitung" mit Recht behaupten durfte, dass die Geschichte der europäischen Völker bisher keine Revolution erlebt habe, die so arm an neuen Gedanken und so schwach an revolutionärer Tatkraft gewesen sei. Man hat dieses hoffnungslose Versagen der deutschen Novemberrevolution häufig auf einen Verrat der sozialistischen Führer zurückgeführt. Doch damit ist gar nichts erklärt, denn die Ursachen liegen viel tiefer. Führer und Massen hatten sich so tief in die Ideengänge des alten Militärstaates eingelebt, dass sie zu keinen grossen Entschlüssen mehr fähig waren, als ihre Stunde schlug, mit der sie nichts anzufangen wussten. Der „Geist von Potsdam", der in Gustav Noske einen so typischen Vertreter fand, war auch ihnen zum Verhängnis geworden, für das sie später, wie alle anderen, so schwer bezahlen mussten. Ein föderalistisches Deutschland hätte damals zum Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung werden können, aber die zentrale Einheitsidee, von der alle Parteien gleichermassen verblendet waren, liess einen solchen Gedanken nur bei wenigen aufkommen, und es war gerade diese wahnwitzige Verblendung, die der Gegenrevolution die beste Waffe lieferte. So liess man dies alte Maschine unangetastet, die Hitler später nur auf einen neuen Takt einzustellen brauchte, um damit ins Dritte Reich zu gelangen. Erst wenn man sich über die inneren Zusammenhänge unserer neueren Geschichte, die mit dem Reiche Bismarcks begann, vollständig klar ist, kann eine wirkliche Besinnung eintreten, die uns ermöglicht aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit eine Lehre zu ziehen, die wir so dringend nötig haben. Was Deutschland braucht, kann ihm durch keine politische Zentralisation gegeben werden, die stets neuen Machtansprüchen Vorschub leistete. Davon haben wir mehr als genug gehabt und müssen heute die Zeche dafür begleichen. Was uns Not tut ist politische Dezentralisation, ein sozialer Aufbau von unten nach oben durch die schöpferische Kraft föderierter, von sozialistischem Geiste durchdrungener Gemeinden, die allein eine innere kulturelle Verbundenheit herstellen können, die kein zentraler Staat zu schaffen imstande ist, weil ihm die ersten Voraussetzungen dazu fehlen: innere Einsicht und freiheitliches Empfinden. Föderalismus ist weder Separatismus noch Partikularismus, wie böswillige oder unwissende Gegner so oft behaupten; es ist die organische Zusammenfassung aller sozialen Kräfte, die jedem Teil ein freies Ausleben ermöglicht, das die allgemeine Wohlfahrt nur fördern und anregen, aber ihr nie zur Gefahr werden kann. Wie durch das ungehemmte Funktionieren der einzelnen Organe der ganze Körper am besten gedeiht, so ist auch der Gesundheit des sozialen Körpers am besten gedient, wenn seine einzelnen Teile sich frei entfalten können und nicht durch ewige Eingriffe der Verkümmerung ausgesetzt werden, die wie eine schleichende Seuche die Wohlfahrt des Ganzen untergräbt und fortgesetzten Krisen aussetzt. Der Gedanke einer europäischen Föderation, der trotz aller Hindernisse immer mehr Anhänger gewinnt, bricht sich immer stärker Bahn, weil man immer klarer erkennt, dass hier der einzige Weg liegt, der uns aus dem Chaos herausführen kann, in das wir hineingeraten sind. In einem föderierten Europa aber bildet Deutschland als „Land der Mitte", wie Konstantin Frantz es nannte, den wichtigsten Bestandteil. Ein föderiertes Deutschland ist daher der Grundstein für eine Föderation europäischer Völker und darüber hinaus einer Weltföderation, in deren Rahmen jeder Menschengruppe ihr Eigenleben gesichert und durch gleiche Rechte und gleiche Interessen gewährleistet werden. Ich glaube, dass ein solches Ziel des Strebens der Besten wert ist; aber man darf es nicht in die Zukunft verschieben, sondern muss schon heute dort beginnen, wo ein Beginnen möglich ist. Durch banges Zaudern und ewiges Verschieben wird nichts erreicht und heute erst recht nicht. Man versäumt damit nur Gelegenheiten, die nicht leicht wiederkehren, wie man dies gerade bei uns so häufig getan hat. Wir müssen einen neuen Weg einschlagen. Das Reich Bismarcks hat Deutschland und Europa nur gegeben, was allen zum Unheil ausgeschlagen ist; es hat mit brutaler Gewalt einer fruchtbaren Entwicklung Schranken gesetzt und ganz Europa auf einen Weg gezwungen, der nur zum Abgrund führen konnte. Überall weiss man das heute und liebt uns deshalb nicht. Die Kleinen fürchten uns, die Grossen betrachten uns mit Misstrauen. Aus einem solchen Zustand kann nichts Erspriessliches gedeihen. Wäre es nicht an der Zeit, dass endlich auch aus Deutschland einmal etwas Neues hervorgeht, das uns selbst und allen anderen zum Heil gereicht? Es ist dies der einzige Weg, um Wunden zu heilen, die noch lange bluten werden. Dazu aber ist Einkehr nötig, die man uns nicht von aussen beibringen kann, sondern die uns von innen kommen muss, um Wandel zu schaffen. Wir müssen uns befreien von den Schlacken unsrer Vergangenheit, von unfruchtbarer Überheblichkeit und toten überlieferungen. Um Grosses zu erfassen muss man sich im Kleinen finden. Jeder Glaube an Gesamtlösungen ist nur ein Trugbild, das uns den Blick für die Wirklichkeit des Lebens verstellt. Man muss im einzelnen beginnen, um im allgemeinen etwas leisten zu können. – „Allgemeine Begriffe und grosser Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurichten", sagte schon Goethe. Und an beiden hat es in Deutschland wahrlich nicht gefehlt. Wir leben in einer Zeit, in der Altes und Neues bunt durcheinander wirbelt, einer Zeit, die sich häufig wie ein Alpdruck auf die Seele senkt, aber dennoch einer Zeit, die mit grossen Dingen schwanger geht. Was wir heute versäumen, kann uns keine Ewigkeit zurückgeben. Wer den Augenblick verpasst, wird um die Zukunft betrogen. Deshalb muss man den Hafer von der Spreu scheiden und tun, was die Stunde gebietet. Dem Neuen Bahn brechen, ihm Form und Gestalt zu geben, wo immer es möglich ist, – dieses sollte heute die Aufgabe aller sein, die aus den Sünden der Vergangenheit etwas gelernt und den festen Willen haben, Wege zu betreten, die der Menschheit eine bessere Zukunft erschliessen können. Und an diesem grossen Werk müssen auch wir teilnehmen, als eigene Bewegung und im Bund mit anderen, wenn wir der Aufgabe gerecht werden wollen, von der unser aller Schicksal abhängt. Denn auf jeden Mann kommt es heute an. Keiner kann beiseite stehen, wenn eine ganze Welt in Wehen liegt und in banger Erwartung kommenden Dingen entgegenblickt. Die Stunde aller ist auch unsere Stunde, und es hängt an uns, dass wir sie nicht verpassen. Das ist es, was ich den alten Freunden und Kameraden in der Heimat zu sagen habe. Wer eine neue Welt erkämpfen will, muss Hirn und Arme regen, damit das Haus, das wir bauen und zu bauen gezwungen sind, sich zu keiner neuen Zuchtstätte entwickelt, sondern sich zu einem Tempel des Rechts und der Freiheit gestalte, der vom Frühlicht einer neuen Zeit umstrahlt ist. Allen Kameraden Gruss und Hand! Crompond, N. Y., im Januar 1947. Rudolf Rocker. [1] Mutualismus : Lehre von der Gegenseitigkeit der Interessen; die Grundlage des Sozialismus bei Proudhon. [2] Wenn Du den Frieden willst, schütze die Gerechtigkeit.