Titel: Der Bankrott des russischen Staats-Kommunismus
AutorIn: Rocker, Rudolf
Datum: 1921
Bemerkungen: Erschienen: 1921. Verlag: Der Syndikalist, Fritz Kater, Berlin O. 34, Kopernikusstraße 25.

Rußland steht seit den letzten Monaten im Zeichen einer inneren Krise, deren unvermeidliche Folgen für seine nächste Zukunft von ausschlaggebender Bedeutung sein dürften und zwar mehr als alle früheren Erschütterungen, die im Laufe der Revolution das Land durchzitterten. Die wirtschaftlichen Kompromisse der russischen Regierung mit dem ausländischen Kapitalismus, der Aufstand von Kronstadt, die offene Kriegserklärung Lenins gegen die Anarchisten und Syndikalisten auf dem zehnten Kongreß der Kommunistischen Partei, die grimmigen Verfolgungen aller nichtbolschewistischen sozialistischen Parteien und Richtungen und last but not least — der unverkennbare Zersetzungsprozeß innerhalb der Kommunistischen Partei selbst — dies alles sind Erscheinungen, deren Bedeutung nicht zu verkennen ist und deren Wirkungen auf die allgemeine Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder heute noch gar nicht abzusehen sind. Gerade diese außerordentliche Bedeutung der jetzigen Krise für die all, gemeine sozialistische Bewegung ist es, die uns zu einer offenen Stellung drängt.

In diesem Falle ist es nicht die Kritik an und für sich, sondern die Begleiterscheinungen, unter welchen sie geübt wird, die eine klare und unzweideutige Stellung in der Frage so ungemein erschweren. Es handelt sich hier nicht nur um bestimmte Ideengegensätze und verschiedene Auffassungen über die mutmaßlichen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch um Probleme von weltgeschichtlicher Bedeutung, deren Entscheidung in dem einen oder dem anderen Sinne auf die zukünftige Gestaltung Europas und der ganzen übrigen zivilisierten Welt einen mächtigen Einfluß ausüben wird. Gerade aus diesem Grunde sollte jeder aufrichtige Sozialist und Revolutionär mit um so mehr Vorsicht und Selbstkontrolle an diese Probleme herantreten, alle Fragen rein persönlicher Natur aus seinem Gesichtskreise verbannen und versuchen, den eigentlichen Kern, die tiefere Ursache aller in Frage kommenden Erscheinungen zu ergründen. Sogar in diesem Falle wird unser Urteil immer nur eine relative Bedeutung haben und besonders in Dingen von sekundärer Wichtigkeit mancher irrtümlichen Auffassung ausgesetzt sein, allein wir haben so wenigstens die innere Befriedigung, uns vor den blinden Impulsen vorübergehender Augenblicksstimmungen bewahrt zu haben, die bisher stets das unüberwindliche Hemmnis jeder wahren Erkenntnis der Dinge gewesen sind.

In dem großen Kampfe, der jetzt überall in der Arbeiterbewegung für oder gegen Moskau entbrannt ist, merkt man jedoch vorläufig sehr wenig von einer solchen Behandlung der Probleme. Im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob man durch krampfhafte Verzerrung der Tatsachen und blinden Schlagwörterkultus jedes tiefere Eindringen in die Materie unterbinden wolle. Blinde Gehässigkeit und geistloses Phrasentum spielen noch immer die hervorragendste Rolle in einem Kampfe, der für die weitere Entwicklung der sozialistischen Bewegung von schicksalsschwerer Bedeutung ist. Doch es muß hier gleich ausgesprochen werden — die Schuld für diesen trostlosen Zustand fällt fast ausschließlich den Männern in Moskau und den unter ihrer Direktive stehenden kommunistischen Parteien der verschiedenen Länder zur Last. Wir sprechen hier nicht von persönlichen Entgleisungen einzelner, die sich von ihrem Temperament und ihrer politischen Leidenschaft fortreißen lassen. Nein, wir sprechen von einer kaltblütig angewendeten Methode, die vor keiner Gemeinheit halt macht, vor keiner persönlichen Verunglimpfung zurückschreckt, wenn es gilt, einen gewissen Zweck zu erreichen oder einen unbequemen Gegner zur Strecke zu bringen. Ein Blick auf die partei-kommunistische Presse der verschiedenen Länder, besonders in Deutschland, genügt, um zu erkennen, daß unsere Behauptung leider nur zu gut begründet ist. Wer mit den Diktaten und Ideengängen der Moskauer Gewalthaber und ihrer kleinen Gefolgsleute im Ausland nicht blindlings einverstanden ist, wird unwiderruflich zum „Konterrevolutionär" gestempelt und als Verräter an der Arbeiterbewegung gebrandmarkt. Die ganze Polemik dieser Leute ist eingestellt auf moralische Brunnenvergiftung. Es ist bezeichnend, daß dieselben Menschen, die jede ihnen nicht genehme Richtung in der Arbeiterbewegung als „kleinbürgerlich" und im „Interesse der Bourgeoisie" abzutun bestrebt sind, derselben Bourgeoisie ihre berüchtigte Waffe entlehnt haben — die systematische Verdächtigung politischer Gegner.

Als Robespierre und Saint Just die Hinrichtung der Hebertisten vorbereiteten, begann die jakobinische Presse damit, dieselben als „Agenten Pitts" zu verdächtigen. Dieses frevelhafte Spiel hat sich seitdem stets wiederholt. Der letzte Krieg hat uns ja in dieser Hinsicht genugsam gezeigt, wie's gemacht wird. Wer in England, Frankreich usw. es wagte, ein Wort des Protestes gegen den großen Völkermord laut werden zu lassen, wurde von der mordpatriotischen Presse als deutscher Agent in Verruf gebracht. In Deutschland, versteht sich, wurde jeder Kriegsgegner als englischer Spion verschrien. Und diese erbärmliche Methode, die zu benutzen bisher das zweifelhafte Vorrecht der verkommensten bürgerlichen Revolverjournalistik gewesen ist, ist heute die beliebteste Waffe im Arsenal der partei-kommunistischen Presse Rußlands und ihrer öden Ableger im Ausland.

Maria Spiridonowa und die Maximalisten — Konterrevolutionäre! Die Anarchisten — Konterrevolutionäre! Die Syndikalisten — Konterrevolutionäre! Machno — ein Konterrevolutionär! Die Insurgenten von Kronstadt — Konterrevolutionäre! Und wer es nicht glaubt, kann natürlich auch nur ein Konterrevolutionär sein.

Daß diese jesuitische Taktik von den Parteigängern des modernen „Kommunismus" solange und mit soviel Erfolg praktiziert werden konnte, daran tragen die besonderen Verhältnisse schuld, unter denen sich die russische Revolution entwickelt hat. Der Ausbruch der russischen Revolution war das erste Flammenzeichen der wiedererwachten Menschlichkeit in der grauenhaften Monotonie des großen Völkermordens, das Europa in ein großes Menschenschlachthaus verwandelt hatte. Ein großes Aufatmen ging durch die ganze Welt. Der Bann war gebrochen. Die unheimliche Hypnose des roten Wahnsinns, der die Menschheit seit Jahren in einem tollen Reigen von Blut und Trümmern herumgewirbelt hatte, hatte ihre Kraft eingebüßt — man fühlte das Ende herannahen. Wie einst der Unabhängigkeitskampf der amerikanischen Farmer der revolutionären Stimmung im alten Frankreich einen mächtigen Impuls gab, so wirkte die russische Revolution nunmehr auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland und Oesterreich und beschleunigte den Zusammenbruch der Mittelmächte. Die Revolution hatte die Welt vom Fluche des Krieges erlöst, daher die ungeheure Begeisterung, die sie in der gesamten Arbeiterschaft und sogar in solchen Kreisen auslöste, die sonst der revolutionären Sache ganz ferne standen. Man sah den Beginn einer neuen Aera in Europa, und im Schoße der proletarischen Massen regte sich mächtig der Drang nach Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei, besonders nach dem Sturze Kerenskis und der Machtergreifung durch die Bolschewiki.

In den lateinischen Ländern hatte diese ungeteilte Sympathie mit der russischen Revolution noch einen besonderen Unterton. Dort, wo in der Arbeiterbewegung die Traditionen der alten Bakunistischen Bewegung noch lebendig sind in den Massen, war man nur allzu leicht geneigt, den Bolschewismus mit den Ideengängen und Bestrebungen Bakunins zu verwechseln.

Als dann später der Ententeimperialismus gegen Rußland mobil machte und die Gegenrevolution dortselbst entfesselte, als die Horden Koltschaks, Judenitschs, Denikins und Wrangels die Existenz der Sowjetrepublik bedrohten, da war die ungeteilte Sympathie jedes wahren Revolutionärs, einerlei zu welcher Richtung er sich bekannte, auf der Seite von Sowjetrußland, und daß es viele nicht bei einer rein platonischen Sympathie bewenden ließen, trotzdem sie grundsätzliche Gegner der bolschewistischen Theorien waren, das wissen die, welche mit den Verhältnissen näher vertraut sind. Dies war auch die Stellung unserer anarchistischen Kameraden, sowohl in Rußland selbst, als auch in allen übrigen Ländern. Männer, wie Kropotkin, Malatesta, Bertoni, Domela Nieuwenhuis, Sebastian Faure und viele andere, die von Anfang an ausgesprochene Gegner des Bolschewismus gewesen sind, stellten sich, ohne einen Moment zu zögern, auf die Seite des revolutionären Rußland, nicht weil sie mit den Grundsätzen und Richtlinien der Bolschewiki einverstanden waren, sondern einfach, weil sie Revolutionäre waren und als solche Todfeinde aller konterrevolutionären Bestrebungen.

Es war vornehmlich die anarchistische und syndikalistische Presse, welche sich einer großen Zurückhaltung in ihrer Kritik gegen die Ideengänge des Bolschewismus befleißigte, um ja der Gegenrevolution nicht Wasser auf die Mühle zu liefern. Manche Dinge, die uns zu Ohren kamen, manche Maßregel der Sowjetregierung, die unserer Meinung nach für die Entwicklung der Revolution verhängnisvoll sein mußte, blieben unerwähnt, weil man sich sagte, daß jetzt die Zeit zu einer Kritik nicht gegeben sei. Jeder fühlte die ganze Wucht der ungeheuren Schwierigkeiten, die sich in Rußland auftürmten und den Lauf der revolutionären Ereignisse bedrohten. Man sagte sich, daß es leichter sei, Kritik zu üben, als Dinge besser zu machen, und es war gerade dieser Instinkt der Verantwortlichkeit, der vielen von uns den Mund verschloß in einer Zeit, als Rußland, aus tausend Wunden blutend, um sein Schicksal kämpfen mußte. Aber gerade diese schwierige Stellung in die alle nichtbolschewistischen Richtungen der allgemeinen sozialistischen Bewegung durch den eisernen Druck der Verhältnisse hinein gedrängt wurden, gab den skrupellosen Parteigängern des Bolschewismus die Möglichkeit, jeden als Konterrevolutionär in Verruf zu bringen, der andere Wege ging und sich ihrem Diktat nicht beugen wollte.

Doch die Zeiten haben sich seitdem geändert. Rußland selbst ist bei einem Wendepunkt seiner inneren Entwicklung angelangt, der für seine nächste Zukunft entscheidend sein dürfte. Lenins berühmte 21 Punkte und der Versuch der "Dritten Internationale", die gesamte Arbeiterbewegung in das Fahrwasser des Staatskommunismus zu lotsen, zwingen uns zu einer offenen Stellung.

Diejenigen, die da glaubten, daß die russische Regierung durch den unseligen Krieg zu Maßregeln gezwungen worden sei, die ihr innerlich selbst widerstrebten, und daß mit dem Ende des Krieges auch der Kriegszustand im politischen Leben Rußland seinem Ende entgegengehen würde, sind bitter enttäuscht worden. Der Zustand ist nicht besser, sondern einfach unerträglich geworden. Eine furchtbare Reaktion beherrscht heute das Land und erstickt jedes geistige Leben.

Während der letzten Monate hatten wir Gelegenheit, mit Dutzenden von Männern und Frauen zu sprechen, die an den Kongressen der Dritten Internationale und der Roten Gewerkschaftsinternationale in Moskau Anteil genommen hatten und die uns ihre Erlebnisse und Erfahrungen mitteilten. Zwischen ihnen befanden sich Anhänger der verschiedensten sozialistischen Richtungen und Angehörige von acht verschiedenen Nationen. Doch welch ein Unterschied zwischen heute und früher.

Die meisten Leute, die früher aus Rußland zurückkehrten, waren des Lobes voll über alles, was sie gesehen hatten. Alles war, wie es sein mußte, jede Beschränkung der Freiheit wurde in Anbetracht der kritischen Lage, in der sich Rußland befand, als unbedingt notwendig gerechtfertigt, und der leiseste Versuch, daran zu zweifeln, war Hochverrat an der revolutionären Sache. Dabei hatten 90 Proz. der roten Pilgerschar, die nach dem modernen Mekka wallfahrtete, um die revolutionäre Weisheit an der Quelle zu schlürfen, von den eigentlichen Zuständen in Rußland überhaupt nichts kennengelernt. Die meisten von ihnen waren der russischen Sprache nicht mächtig, sie wurden einquartiert im „Hotel Lux" in Moskau oder in anderen bequemen Räumlichkeiten. Eine Schar dienstbeflissene Angestellten — die meisten von ihnen Agenten der „Tscheka" — bekümmerten sich in ausgiebiger Weise um das leibliche und geistige Wohl der Gäste und machte sie mit allen Einzelheiten der kommunistischen Wunderwelt bekannt. Unter ihrer Leitung besuchte man Fabriken, Schulen, Theater usw. und machte in bequem eingerichteten Eisenbahnzügen oder gar im Auto Ausflüge in das Land, stets unter dem wachsamen Auge der Sowjetagenten, die dafür Sorge trugen, daß das vorgeschriebene Programm in keiner Weise gestört wurde. Man zeigte ihnen Potemkinsche Dörfer, und sie gerieten in Entzücken, doch von den eigentlichen Zuständen im Lande sahen die wenigsten etwas. Die meisten ahnten sogar nicht, daß sie einem faulen Theaterzauber zum Opfer gefallen waren. Ueberdies zeigte sich das russische Finanzministerium den Delegierten und Gästen gegenüber in jeder Weise zuvorkommend, was bei vielen natürlich nicht wenig dazu beitrug, die schuldige Begeisterung noch um ein Beträchtliches höher zu schrauben. So kam es denn, daß die Welt seit einigen Jahren mit einer Hochflut von Zeitungsartikeln, Broschüren und Büchern überschwemmt wurde, die alle von Leuten geschrieben wurden, die sechs oder acht Wochen in Rußland gewesen waren, und die sich nun bemüßigt fühlten, den staunenden Zeitgenossen ihre „Erfahrungen" mitzuteilen. Ein Schulbeispiel, wie's gemacht wird, gab uns ja erst neuerdings kein geringerer als Bill Haywood, der die Spalten des Londoner „Daily Herold" mit einem wahren Hymnus auf die Zustände in Sowjetrußland füllte, nachdem er kaum zwei Tage in Moskau angekommen war. Wenn ein Mann wie Haywood vor einer so blöden Bauernfängerei nicht zurückschreckt, ja das Verwerfliche einer solchen Handlungsweise anscheinend gar nicht erfaßt hat, was kann man erst von untergeordneten Geistern dritter und vierter Güte erwarten.

Doch, wie gesagt, ist in dieser Beziehung eine große Aenderung eingetreten. Man fühlt, daß eine große Ernüchterung Platz zu greifen beginnt. Wir haben, wie schon erwähnt wurde, mit Dutzenden von sozialistischen Kameraden der verschiedensten Richtungen gesprochen, die während der letzten Wochen aus Rußland zurückgekommen sind, allein wir fanden nicht einen, der mit derselben Naivität, die man von früher gewöhnt war, sein Urteil abgegeben hätte. Alle, ohne Ausnahme, waren sehr bedrückt — die meisten waren bitter enttäuscht von den Zuständen, die sie in Rußland vorgefunden hatten und gaben ihrer Meinung unverholen Ausdruck. Wir haben Menschen gehört, die als begeisterte und gerades zu fanatische Anhänger des Bolschewismus nach Rußland reisten, und die nun vollständig gebrochen und aller Hoffnungen bar in die Heimat zurückkehrten. Unter den so bitter Enttäuschten befand sich auch ein spanischer Genosse, der noch mit einigen Monaten zurück gegen die deutschen Syndikalisten öffentlich den Vorwurf konterrevolutionärer Gesinnung erhoben hatte, weil sie den verzweifelten Notschrei der russischen Anarcho-Syndikalisten der Welt mitgeteilt hatten und von den russischen Machthabern die Befreiung der gefangenen Revolutionäre forderten.

Es waren keineswegs die furchtbaren wirtschaftlichen Verhältnisse in Rußland, die alle diese Männer und Frauen zu einer Aenderung ihrer früheren Ansichten bewegt hatten, sondern in erster Linie die erstickende Atmosphäre eines unerträglichen Despotismus, der heute wie eine dicke Wolke über Rußland lagert, und dem es vorbehalten blieb, die schlimmsten Auswüchse des alten Zarismus auf die Spitze zu treiben. Die rücksichtslose Unterdrückung jedes freien Gedankens, die Abwesenheit aller Garantien, welche die persönliche Freiheit wenigstens innerhalb gewisser Grenzen gewährleisten, wie dies sogar in kapitalistischen Staaten der Fall ist, die Beraubung der Arbeiter von allen Rechten, die ihnen allein die Möglichkeit gehen, ihre eigenen Ansichten und Meinungen kundzugeben, wie die Versammlungsfreiheit, das Streikrecht usw., die scheußliche Entwicklung eines Polizei- und Spionagesystems, das wohl alles übertrifft, was auf diesem so dunklen Gebiete je geleistet wurde, die Lotterwirtschaft der Kommissare und die blinde Routine einer geistlosen Beamtenhierarchie, die jede selbständige und lebendige Regung in den Massen längst erstickt hat, — dies und vieles andere, was sich heute nicht mehr so kunstvoll verhüllen läßt wie früher, sind die Erscheinungen, die vielen, die Augen geöffnet haben, die früher hoffnungslos der allgemeinen Hypnose unterlegen waren.

Aber noch andere betrübende Erscheinungen machen sich heute bemerkbar, die viele noch mit wenigen Monaten zurück für unmöglich erachtet hätten. Menschen, die noch vor kurzem jeden zum Verräter an der Arbeiterklasse und zum Konterrevolutionär stempelten, der es wagte, die leiseste Kritik an den Methoden und Gepflogenheiten der Moskauer Diktatoren zu üben, sind heute wutentbrannte Gegner derselben. Ein klassisches Beispiel in dieser Hinsicht bietet die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands", deren Führer mit rubellüsternen Blicken nach Moskau spähten und die durch ihren direkt an Gehirnerweichung grenzenden „revolutionären" Phrasenschwall die gnädige Gewogenheit der Moskauer Zentrale auf sich zu lenken versuchten. Es sind kaum drei Monate ins Land gegangen, seit diese Liliputaner des Geistes, die sich nur in der tragischen Heldenpose wohlfühlen und furchtbar in Wut geraten, wenn andere ihr blödes Possenspiel nicht ernst nehmen, noch vor der Dritten Internationale förmlich auf dem Bauche krochen und ihre fähigsten Köpfe preisgaben, um des russischen Rubelsegens teilhaftig zu werden. Heute suchen sich dieselben Leute gegenseitig förmlich zu überbieten in gemeinen Verunglimpfungen der Dritten Internationale und der Sowjetregiernug. — ”Lenin will nicht die Revolution!" — „Die Dritte Internationale ist der größte Schwindel!" — „Politische Schwindler Trotzky, Sinowjew, Radek und alle anderen, die es mitmachen!" — „Die Sowjetregierung wird selbst zum Repräsentanten des Kapitalismus!" — „Die bürgerliche Sowjetregierung ist Sachwalter der Interessen der internationalen Bourgeoisie!" — So klingt es heute aus der kommunistischen Arbeiterzeitung. Wir fürchten, daß sich solche plötzlichen Wandlungen noch öfter wiederholen werden, und daß die Bolschewiki gerade an ihren fanatistischen und ihnen am sklavischsten ergebenen Anhängern noch manche bittere Enttäuschung erleben werden. Die neueste Stellung der K.P.D. und die Affäre Levi und Genossen sind üble Vorzeichen, die tief blicken lassen. Diese Dinge sind unvermeidlich, denn eine Partei, die sich ihre Propagandisten und Vertrauensleute durch schwere und regelmäßige Geldspenden erkaufen muß, schafft sich damit keine wirklichen Freunde, sondern entwickelt um sich einen Sumpf der Korruption, der jeden politischen Abenteurer unwiderstehlich anzieht und ihr früher oder später selbst zum Verhängnis werden muß.

Für den ernsthaften Beobachter spielen natürlich die heutigen Verdammungsurteile der K.P.D.-Führer keine größere Rolle wie die ehemaligen Lobeshymnen dieser Herren. Sie kommen für eine ernsthafte Betrachtung der Vorgänge in Rußland ebenso wenig in Betracht, wie die Anwürfe der bürgerlichen Presse, allein sie sind wichtig als Symptome für den gegenwärtigen Zustand der Dinge.

Was wir in Rußland heute vor sich gehen sehen, ist der Zusammenbruch eines Systems. Es ist die Bankerotterklärung des Staatssozialismus in seiner schlimmsten und abschreckendsten Gestalt. Dabei spielt der persönliche Charakter oder die von vielen behauptete Charakterlosigkeit der handelnden Personen in diesem Drama eine Rolle von untergeordneter Bedeutung. Wenn kein geringerer als Lenin selbst sich bemüßigt sah zu erklären, daß mindestens 50 Prozent der sogenannten Kommissare in Rußland nicht auf den Platz gehören, den sie einnehmen, so würde dies an und für sich noch nicht beweisen, daß sein System falsch ist. Allein, daß er die Geister, die er rief, nicht mehr loswerden kann, daß ihm dieselben über den Kopf gewachsen sind, das ist eine Erscheinung, die im System begründet ist, und die nur durch dieses erklärrt werden kann.

Der große Opportunist Lenin fühlt das sehr gut, obwohl er es nicht offen auszusprechen wagt. Er weiß, daß das bolschewistische Experiment unwiderruflich Schiffbruch gelitten hat und daß keine Macht der Welt imstande ist, das Geschehene ungeschehen zu machen. Aus diesem Grunde ruft er den internationalen Kapitalismus zu Hilfe, da ihm jeder andere Weg verschlossen ist. Der Vorwurf, daß Lenin plötzlich gemäßigt worden sei, und daß in dieser Sinnesänderung die Erklärung für seine jetzige Kompromißpolitik gesucht werden müsse, ist vollständig unbegründet, ja er ist geradezu absurd. Die russische Regierung trifft ihre Abkommen mit dem ausländischen Kapital nicht deshalb, weil Lenin und andere mit ihm in der Tat gemäßigt worden sind, sondern weil ihr kein anderes Mittel mehr geblieben ist. Der Schritt, den sie heute macht, entspringt nicht ihrem Gesinnungswechsel, sondern der eisernen Notwendigkeit der Umstände, die zu schaffen sie selbst am meisten mitgewirkt hat.

Gewiß, sie könnte freiwillig abtreten und den linksstehenden Elementen das Feld räumen, aber das tut eben keine Regierung. Es liegt im Wesen jeder Macht, daß ihre Träger das Monopol ihrer Herrschaft zu halten versuchen um jeden Preis. Für die gegenwärtigen Träger der Sowjetregierung kommt noch ganz besonders in Betracht, daß ein Zurücktreten von der Regierung unter den gegenwärtigen Verhältnissen für sie mit schweren persönlichen Folgen verbunden sein dürfte, daher ergibt sich für sie noch eine größere Notwendigkeit, ihre Herrschaft bis zum äußersten zu behaupten. Die bekannten Worte Lenins: „Wir sind zu jedem Kompromiß auf wirtschaftlichem Gebiete bereit, jedoch zu keinem auf politischem Gebiete", reden in dieser Hinsicht eine beredte Sprache, die nicht leicht mißverstanden werden kann.

Aus diesem Zustand heraus erklären sich auch die in jüngster Zeit mit besonderem Hochdruck betriebenen Verfolgungen der Anarchisten, Syndikalisten, Maximalisten usw. Sie sind just diejenigen, welche dem Kurs nach rechts Hindernisse bereiten könnten, und müssen daher auf die eine oder die andere Weise aus dem Weg geräumt werden, und zwar im Interesse der Staatsraison.

Die Tatsache, daß die russische Regierung sich sogar nicht entblödete, die Druckerei des „Golos Truda" zu schließen, die sich vornehmlich mit der Herausgabe der Werke Kropotkins beschäftigte, ist wohl der beste Beweis, auf welchen Kurs die Bolschewiki die Regierungsmaschine eingestellt haben. Die Fahrt geht mit vollen Segeln nach rechts, und damit sich der Uebergang möglichst glatt und ohne größere Reibungen vollziehen kann, ist die Beseitigung der linksstehenden Elemente im Interesse der gegenwärtigen Regierungspolitik geboten.

In Rußland wiederholt sich heute, was sich in Frankreich im März 1794 vollzogen hat. Als Robespierre und die Handvoll Männer, welche damals die Geschicke Frankreichs in ihrer Hand hielten, ihre Politik nach rechts eins stellten, waren sie gezwungen, die Opposition von links niederzuschlagen. Und so schickten sie die Männer der Kommune, die Hebertisten und die „Enragées" — das heißt die, welche der Girondist Brissot bezeichnenderweise die „Anarchisten" nannte — aufs Schaffott, gerade wie man heute in Rußland die wahren Verteidiger des Sowjetssystems, die Anarchisten, Syndikalisten und Maximalisten in die Gefängnisse sperrt oder sie dem Henker überliefert. Die Politik Robespierres führte Frankreich zum neunten Thermidor und später zur Säbeldiktatur Napoleons. Zu welchen Abgründen wird die jetzige Politik Lenins und seiner Genossen Rußland führen?

II. Ein historischer Trugschluß.

Wir haben früher gesagt, daß die besonderen Verhältnisse, unter denen sich die russische Revolution bisher abgespielt hat, den Bolschewiki bei der Bekämpfung ihrer politischen Gegner sehr zu statten kamen. Die äußerst schwierige Lage, in der sich die Sowjetrepublik während der ersten Phasen des bolschewistischen Regimes befand, als die Horden der Konterrevolution, vom Ausland unterstützt, ihre Existenz bedrohten, brachte es mit sich, daß man jede Zwangsmaßregel der russischen Regierung, jede gewaltsame Unterdrückung der öffentlichen Kritik als eine Art Selbstverständlichkeit hinnahm und sich daran gewöhnte, dieselbe in Anbetracht der furchtbaren Umstände moralisch zu rechtfertigen. So begreiflich uns eine solche Auffassung der Dinge erscheint, birgt sie jedoch die große Gefahr in sich, das kritische Bewußtsein der Menschen so zu trüben, daß es allmählich ganz ausgeschaltet wird. Auf diese Weise verliert der Beobachter, ohne daß er sich dessen bewußt wird, ganz unmerklich jedes eigene Urteil und jegliche Proportion für das, was wirklich ist. Eine bedingte Voraussetzung wird ihm zuletzt zum eisernen Grundsatz, zur fatalistischen Notwendigkeit. So kam es, daß eine ganze Anzahl unserer eigenen anarchistischen Kameraden — und es sind durchaus nicht die schlechtesten — allen Handlungen der Bolschewiki das Wort geredet haben, weil sie dieselben als „historisch notwendig" geboten hielten. Die meisten unserer Kameraden in Rußland selbst unterlagen derselben Hypnose, bis sie endlich durch die grausamen Erfahrungen, die sie machten, eines besseren belehrt wurden.

Man gewöhnte sich daran, alles unbesehen gut zu heißen, was von Rußland kam, und wenn man auch von manchen der dort getroffenen Maßregeln nicht gerade entzückt war, so sagte man sich doch, daß dieselben im Interesse der Revolution unabwendbar seien. Auf diese Weise gelangte man zuletzt so weit, sich mit jedem despotischen Regierungsakt und jeder brutalen Vergewaltigung der elementarsten Menschenrechte abzufinden, auch wenn dieselben gegen ehrliche Revolutionäre gerichtet waren, die der Sache des Sozialismus mindestens ebenso ergehen waren, wie die Befürworter des bolschewistischen Staates.

„Was wollt ihr?" sagte man uns, „Revolutionen werden nicht mit Rosenöl gemacht. In der Zeit, wenn die ganze internationale Reaktion im Kampfe gegen Rußland verbunden ist; ist die Regierung einfach gezwungen, solche Maße regeln zu ergreifen." — Und mit besonderer Vorliebe lenkte man unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte der großen französischen Revolution, um uns an der Hand der geschichtlichen Erfahrung zu überzeugen, daß jede große gesellschaftliche Umwälzung mit ähnlichen Erscheinungen verbunden ist, wie wir sie heute in Rußland beobachten können.

Allein die geschichtliche Erfahrung zeigt uns gerade das. Gegenteil. Die eigentliche „Diktatur" Robespierres und seiner Anhänger und damit die Verfolgungen aller wahrhaft revolutionären Richtungen begann erst, als die Revolution bereits ihr Ende erreicht und der zentrale Staat ihre Erbschaft übernommen hatte. Sogar in der kritischsten Periode, die das revolutionäre Frankreich durchzumachen hatte, verstieg man sich nie dazu, die revolutionäre Presse der verschiedenen Richtungen zu unterdrücken und nur die offiziellen Organe der Regierung bestehen zu lassen. Die extremsten Befürworter der Diktatur wagten es nicht, von ähnlichen Maßregeln zu träumen. Sogar in der furchtbaren Zeit, als die fremden Armeen auf französischem Boden standen, und die Konterrevolution in der Vendée und anderen Landesteilen drohend das Haupt erhob, dachte man nicht daran, jede Versammlungsfreiheit aufzuheben und jede Kritik der öffentlichen Angelegenheiten zu unterbinden, wie dies seit Jahren in Rußland geschieht. Gewiß, die Jakobiner waren stets bestrebt, alle Kräfte der Revolution in der Hand einer starken Zentralregierung zu vereinigen, allein Versuche dieser Art waren nie von Erfolg begleitet, solange die Revolution sich in aufsteigender Linie fortbewegte. Sogar Männer wie Jacques Roux, Leclerc, Varlet Dolivet Chalier und viele andere ultrarevolutionäre Elemente, die Robespierre und seinen Anhängern stets ein Dorn im Auge waren, konnten ihre propagandistische Tätigkeit öffentlich entfalten in Wort und Schrift. Und man glaube ja nicht, daß sich die öffentliche Kritik gegen die Nationalversammlung und später gegen den Konvent in gemäßigten Formen bewegte. Ein Blick auf die revolutionäre Presse jener Zeit genügt, um uns eines besseren zu belehren.

Und diese Freiheit der Meinungsäußerung war notwendig, um die Revolution vorwärts zu treiben und die schöpferische Initiative des Volkes zu entwickeln. Wenn die französische Revolution imstande war, alle Hindernisse, die sich ihr entgegentürmten, zu überwinden und Frankreich und mit ihm Europa von der Tyrannei des absoluten Königstums und vom Joche der Leibeigenschaft zu befreien, so geschah es deshalb, weil die revolutionären Kräfte ihre Selbständigkeit zu wahren verstanden und sich keiner Regierungsdiktatur unterwarfen. Die revolutionären Sektionen in Paris und draußen im Lande, in denen sich die Männer der Aktion zusammenfanden, und die sozusagen das Nervensystem der großen Volksbewegung bildeten, waren ein sicheres Gegengewicht gegen die Allmacht einer Zentralregierung, die nur die Schwungkraft der Revolution hemmen und ihre Ziele vereiteln konnte. Erst später, als sich die aktiven revolutionären Kräfte im Kampfe erschöpft hatten und es den Jakobinern gelungen war, die Sektionen ihrer Selbständigkeit zu berauben und dieselben dem zentralen Regierungsapparat als untergeordnete Organe einzugliedern, beginnt der Abstieg der Revolution. Der Sieg Robespierres war in derselben Zeit der Sieg der Konterrevolution. Der 24. März 1794 und der 9. Thermidor waren die beiden Pfeiler, über welche sich die Brücke der siegreichen Reaktion spannte.

Wenn man daher auf die französische Revolution hinweist, um die Taktik der Bolschewiki in Rußland zu rechtfertigen, so beruht dies auf einer vollständigen Verkennung der historischen Tatsachen. Die Geschichte gibt uns ein ganz anderes Bild. In allen entscheidenden Momenten der französischen Revolution ging die eigentliche Initiative des Handelns direkt vom Volke aus. In dieser schöpferischen Betätigung der Massen liegt das ganze Geheimnis der Revolution verborgen. Gerade dadurch, daß sich die revolutionären Kräfte frei entfalten und jede Richtung im Volke den geeigneten Platz für ihre Wirksamkeit finden konnte, war die Revolution imstande, alle feindlichen Strömungen siegreich niederzuwerfen und das schmachvolle System des Feudalismus von der Erde zu vertilgen. Und gerade, weil es der bolschewistischen Regierung gelungen ist, jede selbständige Regung der Massen lahmzulegen, alle anderen Richtungen mit brutaler Gewalt zu unterdrücken, und dadurch jede wirklich revolutionäre Initiative im Schoße des Volkes systematisch zu ersticken, deshalb ist sie heute gezwungen, zum Kapitalismus zurückzukehren, nachdem ihre Träger selbst eingesehen haben, daß sie aus eigener Kraft die Verwirklichung ihrer ursprünglichen Ziele nicht durchzusetzen imstande sind. Die Sowjets hätten in Rußland dieselbe Rolle spielen können, wie in der Zeit der französischen Revolution die Sektionen, aber nachdem die Zentralgewalt sie ihrer Selbständigkeit beraubt hatte und sie nur dem Namen nach bestehen ließ, mußten sie notwendigerweise jeden fruchtbaren Einfluß auf die weitere Entwicklung der Revolution verlieren und konnten nur als untergeordnete Organe des Staates weiter vegetieren ohne besonderen Zweck.

Die Bolschewiki. waren nie Freunde eines wirklichen Rätesystems. Noch im Jahre 1905 erklärte Lenin dem Vorsitzenden des Petersburger Sowjets, „daß seine Partei sich mit der veralteten Einrichtung des Rätesystems nicht befreunden könne". Allein die ersten Phasen der russischen Revolution entwickelten sich sozusagen auf der Basis des Rätesystems, und so mußten sich die Bolschewiki, als sie die Macht übernahmen, wohl oder übel mit dieser nach ihrer Ansicht sehr zweifelhaften Erbschaft zufrieden geben. Ihre ganze Tätigkeit konzentrierte sich nun darauf, die Sowjets allmählich ihrer ganzen Macht zu entkleiden und sie der Zentralregierung zu unterstellen. Daß ihnen dieses gelungen ist, darin besteht, unserer Meinung nach, die ganze ungeheure Tragödie der russischen Revolution. Indem man systematisch darauf hinarbeitete, alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens der Allmacht einer mit allen Vorrechten bekleideten Regierung zu unterordnen, mußte man notgedrungen bei jener geistlosen Beamtenhierarchie anlangen, die der Entwicklung der russisehen Revolution zum Verhängnis wurde.

Wenn Lenin heute erklärt, daß man sehen müsse, den Kapitalismus ins Fahrwasser des Staatskapitalismus hinüberzuleiten, da sich der Sozialismus nur aus dem Staatskapitalismus entwickeln könne, so ist das nicht mehr wie eine Verlegenheitsphrase, die unter dem schweren Drucke der gegenwärtigen Verhältnisse geboren wurde. Lenin weiß das selbst am besten. Allein es gilt, der sozialistischen Arbeiterschaft den jetzigen Kurs nach rechts mundgerecht zu machen, und da kann man es mit der Wahl der Argumente nicht so ängstlich nehmen.

Wir behaupten aber, daß die grausamen Verfolgungen, denen die Anhänger der verschiedensten sozialistischen Richtungen in Rußland heute ausgesetzt sind — insbesondere alle linksgerichteten Elemente —, und die brutale und systematische Unterdrückung jeder Meinung, die nicht auf die blinde Rechtfertigung des gegenwärtigen Systems eingestellt ist, keineswegs dem Bedürfnis entspringt, die Errungenschaften der Revolution und die Existenz der Sowjetrepublik gegen feindliche Machenschaften schützen zu müssen, sondern lediglich dem blinden Machtdünkel einer kleinen Gruppe, die ihre Herrschergelüste hinter dem prunkvollen Namen „Diktatur des Proletariats" zu verbergen sucht.

III. Die „konterrevolutionäre“ Tätigkeit der russischen Anarchisten.

In der Schlußsitzung des Kongresses der Roten Gewerkschafts-Internationale in Moskau kam es zu einem bezeichnenden Zwischenfall. Bucharin, der dem Kongresse nur als Gast beiwohnte, ergriff zum Erstaunen der ausländischen Delegierten plötzlich das Wort, um eine gehässige Attacke gegen die Anarchisten vom Stapel zu lassen. Die Delegierten hatten wirklich Grund, erstaunt zu sein, waren doch die wenigsten von ihnen in der Lage, die tiefere Ursache dieser peinlichen Episode zu erraten.

Bald nach der Ankunft der ausländischen Delegierten in Moskau bildete sich aus der Mitte derselben eine besondere Kommission, die den Auftrag hatte, bei Lenin und anderen maßgebenden Vertretern der Sowjetregierung wegen der Befreiung der eingekerkerten Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten vorstellig zu werden. Man versprach den Mitgliedern dieser Kommission, zu tun, was in dieser Hinsicht getan werden könne und verpflichtete sie in derselben Zeit, diese leidige Angelegenheit auf dem Kongreß nicht öffentlich zur Sprache zu bringen. Die Kommission hielt sich an das gegebene Versprechen. Während der ganzen Dauer des Kongresses wurde die Frage der gefangenen Revolutionäre mit keiner Silbe erwähnt. Man stelle sich daher die Ueberraschung der Kommissionsmitglieder vor, als Bucharin plötzlich, just vor Toresschluß, in ganz unmotivierter Weise diese Frage vor das Forum des Kongresses zerrte. Allein noch größer war die Ueberraschung, als nach der Rede Bucharins der französische Delegierte Sirolle das Wort erbat, um im Namen der Kommission eine Erklärung abzugeben, und ihm der Vorsitzende des Kongressses, Losowski, das Wort kategorisch verweigerte. Begreiflicherweise versetzte dieses selbstbherrliche Gebahren des Vorsitzenden, der einem Nichtdelegierten das Wort erteilt hatte — dazu noch in einer Sache, die gar nicht auf der Tagesordnung des Kongresses stand —, während er einem Delegierten das Wort zu einer Entgegnung verweigerte, den Kongreß in eine hochgradige Aufregung. Der Sturm, der sich erhob, war so groß, daß er den ganzen Kongreß in einem Chaos auf, zulösen drohte, und Herr Losowski sich endlich doch genötigt sah, dem alle gemeinen Verlangen der Delegierten nachzukommen und Sirolle das Wort zu erteilen. Dies war unbedingt nötig, um einen offenen Bruch zu vermeiden.

Die Absicht Bucharins war nur zu deutlich. Er wollte den Kongreß mit seiner Rede einfach überrumpeln, um der Regierung weitere Auseinandersetzungen in einer für sie höchst unbequemen und äußerst delikaten Frage zu ersparen. Allein für ausländische Delegierte, die mit den russischen Gepflogenheiten noch nicht genügend vertraut waren, war die Regie ein wenig zu plump und verfehlte daher ihren eigentlichen Zweck.

Bucharin versuchte den Delegierten klar zu machen, daß man die russischen Anarchisten um keinen Preis mit den Anarchisten anderer Länder verwechseln dürfe, da es sich in Rußland um eine ganz besondere Abart handele, gegen die sich die Regierung schützen müsse. Die gefangenen Anarchisten seien gewöhnliche Verbrecher, Anhänger des „Banditenhäuptlings" Machno, die man mit den Waffen in der Hand ergriffen habe, ausgesprochene Konterrevolutionäre usw.

Herr Bucharin ist ohne Zweifel ein in seiner Art geschickter Mann, und hätte er seinerzeit die berühmte und berüchtigte Anti-Anarchisten-Konferenz in Rom mit seiner Anwesenheit beglückt, so würde er dieser Körperschaft zweifelsohne zur Zierde gereicht haben. Zum Unglück für Herrn Bucharin kranken die von ihm aufgestellten Behauptungen an dem kleinen Fehler, daß sie mit den wirklichen Tatsachen auf gespanntem Fuße stehen. Es handelt sich in seinem Falle um freie Erfindungen eines Mannes, der mit allen Mitteln bestrebt ist, das gefährdete Prestige seiner Regierung zu retten, sei es auch auf die Kosten der Wahrheit.

Die ungeheure Mehrheit der in Sowjet-Rußland eingekerkerten Anarchisten sind weder Anhänger Machnos, noch hat man sie mit den Waffen in der Hand ergriffen. Der Grund ihrer Verhaftung wurde den Gefangenen überhaupt nicht mitgeteilt. Man steckte sie einfach ihrer Gesinnung halber ins Gefängnis. Einige der vor kurzem verhafteten Kameraden forderten von den Agenten der Außerordentlichen Kommission, daß man ihnen mitteilen solle, was sie getan hätten, um ihre Inhaftierung zu rechtfertigen. — „Nichts", antwortete man ihnen, „allein ihr könntet etwas tun". Man stelle sich vor, welch ein Sturm der Entrüstung sich in einem gewöhnlichen bürgerlichen Staate erheben würde, dessen Polizei sich einer solchen zynischen Offenherzigkeit befleißigen würde.

Wie sieht es nun mit der angeblichen „konterrevolutionären" Tätigkeit der russischen Anarchisten aus? Es genügt, die Rolle der Anarchisten in der russischen Revolution nur etwas in Augenschein zu nehmen, um sich zu überzeugen, daß die von den Bolschewiki gegen sie erhobene Beschuldigung jeder wirklichen Grundlage entbehrt und nur auf böswillige Verleumdung aus politischen Gründen zurückzuführen ist.

Als die Revolution ausbrach, spielten die Anarchisten eine bedeutende Rolle und gehörten mit zu den aktivsten Elementen der allgemeinen revolutionären Bewegung. Sie verfügten damals über eine große Anzahl täglicher Zeitungen, und ihre Propaganda war tief in die Massen eingedrungen. In Kronstadt, Odessa, Jekaterinaburg und vielen anderen bedeutenden Städten hatten sie die ganzen Arbeitermassen hinter sich. Von den verschiedenen Richtungen waren die Kommunistischen Anarchisten und die Anarcho-Syndikalisten die einflußreichsten.

Die Anarchisten waren die ersten, die gegen die Provisorische Regierung Sturm liefen und zwar in einer Zeit, als Lenin und die Bolschewiki noch der Nationalversammlung das Wort redeten. Ebenso hatten sie das Motto: „Alle Macht den Räten"! schon auf ihre Fahne geschrieben, als die Bolschewiki überhaupt noch nicht wußten, welche Stellung sie einnehmen sollten.

Als der offene Kampf gegen die Regierung Kerenski einsetzte, waren die Anarchisten die ersten auf dem Plan, um die Massen in Bewegung zu setzen. Noch ehe der Aufstand in Moskau und Petrograd ausbrach, hatten sich die anarchistischen Arbeiter in Jekaterinburg bereits erhoben. Aber auch in Moskau und Petrograd standen sie mit an der Spitze der Bewegung. Es war der Anarchist Anatol Gregorewitsch Zelesniakow, der an der Spitze der Kronstädter Matrosen in das Parlament eindrang und die Deputierten nach Hause schickte. Zelesniakow, auf dessen Kopf Denikin 400 000 Rubel gesetzt hatte, fiel im Kampf gegen die Weißen Garden im Juli 1919 bei Jekaterinoslaw.

Es ist eine unumstößliche historische Tatsache, daß ohne die tatkräftige Hilfe der Anarchisten die Bolschewiki niemals ans Ruder gekommen wären. Sie kämpften überall an den gefährlichsten Orten. So nahmen sie in Moskau, wo die Weißen Garden sich mit den Mörderbanden der „Schwarzen Hundert" verbunden und im Hotel Metropol verschanzt hatten, dieses Bollwerk im Sturm nach einem blutigen Kampfe, der drei volle Tage währte.

Ein russischer Genosse hat die Ereignisse jener Zeit in der Pariser Zeitschrift „Les Temps Nouveaux" sehr anschaulich beschrieben. Ein kurzer Auszug dieser Beschreibung möge hier Platz finden:

„Lenin beeilte sich, ein Dekret herauszugeben — es war sein erstes —, in dem er erklärte, daß seine Partei sich von nun an „Partei der Kommunisten" nennen würde. Dieses Dekret erschien in der „Iswestia“, die in derselben Zeit auch bekannt machte, daß die Regierung entschlossen "sei, den Kommunismus in ganz Rußland einzuführen. Die Anarchistische Föderation Petrograds forderte darauf von Lenin eine Erklärung, was er unter Kommunismus verstehe, und auf welche Weise er ihn anzuwenden gedenke. Ob er den freien Kommunismus anstrebe oder vielmehr einen besonderen Kommunismus eigener Art, von den Bolschewiki erfunden, um die Massen der Bauern und Arbeiter ins Schlepptau ihrer Partei zu nehmen. Lenin antwortete darauf, daß es sein ernster Wunsch sei, den freien Kommunismus in ganz Rußland einzuführen, doch fügte er hinzu, daß dies nur gradweise geschehen könne und forderte in derselben Zeit die energische Mithilfe aller anarchistischen Gruppen, damit er imstande sei, diese schwere und ungeheuere Aufgabe zu erfüllen. Die Anarchisten waren naiv genug, diese Worte für bare Münze zu nehmen und unterstützten die Bolschewiki in ihrer Arbeit zur Erreichung des gemeinschaftlichen Zieles.

Dies alles geschah in einer Zeit, als die Bolschewiki mit der nächsten Zukunft noch nicht sicher waren, als noch von allen Seiten Gefahren drohten und die gegenrevolutionären Elemente sich in allen Winkeln des Landes ans Werk machten. Speziell in Petrograd schliefen die Träger der Reaktion nicht. Sie versuchten mit allen Mitteln die unwissenden Massen zu Mord und Plünderung anzustacheln, um die neue Regierung zu Fall zu bringen. Jene Spanne Zeit war für die Bolschewiki äußerst kritisch. Doch die Anarchisten erwiesen sich ihnen als eine gute Stütze, und die Bolschewiki zögerten nicht, von dieser Kraft Gebrauch zu machen, so lange sie sich selbst in Gefahr befanden. Im Dezember 1917 war ganz Petrograd von Soldatenhorden, die von der Front zurückkamen, und anderen verdächtigen Elementen heimgesucht. Diese Banden, die bis an die Zähne bewaffnet waren, drangen in die Magazine und Vorratshäuser ein und plünderten nach Herzenslust. Die Bolschewiki schickten Rote Garden nach den bedrohten Orten, um der Plünderungen Herr zu werden. Man versuchte es zuerst mit den Matrosen, zu denen man noch einiges Vertrauen hatte. Doch diese, nachdem sie ein paar schüchterne Versuche gemacht hatten, den Plünderungen Einhalt zu gebieten, gingen zuletzt selbst zu den Plünderern über und machten gemeinsame Sache mit ihnen. In dieser schweren Bedrängnis waren nur die Anarchisten imstande, diesen Horden entgegenzutreten und den Plünderungen ein Ende zu machen. Allerdings mußten sie teuer dafür zahlen, denn eine große Zahl Tote und Verwundete aus ihren Reihen blieben auf dem Kampffeld.

Als die Gefahren überwunden waren, begannen die Bolschewiki mit mißtrauischen Augen auf die anarchistischen Organisationen zu blicken. Sie sahen in ihnen gefährliche Feinde, gefährlicher noch als die Konterrevolutionäre, denn die Anarchisten gewannen täglich mehr Fuß unter den Bauern und Arbeitern und organisierten überall gewerkschaftliche Verbände und Dorfgemeinden in ihrem Sinne. Allein die bolschewistische Regierung wagte es zunächst noch nicht, gegen sie vorzugehen, da sie noch immer auf sehr unsicheren Füßen stand. Doch begann bereits in der bolschewistischen Presse ein versteckter Kampf gegen die Anarchisten. Die Bolschewiki rechneten noch immer darauf, die besten Elemente unter den Anarchisten zu sich herüberziehen zu können, indem sie ihnen offizielle Stellungen in der Regierung anboten. Leider ist ihnen das bei manchen gelungen, die heute noch sehr wichtige Verwaltungsposten bekleiden.

Nach dem Waffenstillstand mit den Deutschen machte sich das Elend unter den Massen sehr stark bemerkbar. Doch die sogenannten Volkskommissare wußten dem Uebel nicht anders zu begegnen, als daß sie Dekrete über Dekrete veröffentlichten, die natürlich keinerlei Wirkung auslösen konnten. Die Anarchisten, ebenso wie alle anderen ernsten Revolutionäre, die nun einsehen mußten, wohin das Treiben der Bolschewiki führte, konnten natürlich nicht gleichgültig bleiben, angesichts des allgemeinen Ruins, der das Land und die ganze Bevölkerung bedrohte. Zusammen mit den linksstehenden Sozialisten-Revolutionären fingen sie an, auf das Treiben der Bolschewiki zu reagieren. Ihr erstes Werk war, Volksküchen und Heimstätten für die hungernde und obdachlose Bevölkerung zu schaffen. Vor allem aber versuchten sie, die Arbeiter der Städte und Dörfer gewerkschaftlich zusammenzufassen und kommunistische Dorfgemeinden ins Leben zu rufen.

Graf von Mirbach, der Vertreter der deutschen Regierung in Moskau, gab Lenin zu verstehen, daß ein Staat, der etwas auf sich halte, das Treiben solcher Leute, wie die Anarchisten unmöglich tolerieren dürfe. Dies gab Lenin den Vorwand, gegen die Anarchisten vorzugehen. Er befahl die Lokale der Anarchisten mit Gewalt zu nehmen und zu besetzen. In der Nacht vom 14. Mai 1918 umzingelte man alle Häuser, wo die Anarchisten zusammenzukommen pflegten. Man fuhr Kanonen und Maschinengewehre auf und setzte sie in Aktion. Das Bombardement dauerte die ganze Nacht und die Schlacht war so heftig, daß man glaubte, eine fremde Armee versuche, die Stadt zu nehmen. Am andern Morgen boten die Stadtviertel, in denen der Kampf gewütet hatte, einen grauenhaften Anblick dar. Die Häuser waren zur Hälfte in Trümmer geschossen. Zwischen zertrümmerten Möbeln und eingestürzten Mauern, in den Höfen und auf dem Pflaster lagen die Leichen herum. Ueberall sah man blutige Stücken zerfetzten Menschenfleisches herumliegen, Köpfe, Arme, Gedärme, Ohren. Das Blut floß in den Straßenrinnen. Die bolschewistische Regierung hatte triumphiert. Bela Kun, der spätere Diktator Ungarns, der das Blutbad leitete, blieb Sieger.

Am nächsten Morgen nach diesem Gewaltstreich war die Aufregung groß. Die ganze Bevölkerung war empört, und so lebhaft war der allgemeine Protest, daß Lenin und Trotzki sich genötigt sahen, sich in den Augen des Volkes zu rehabilitieren. Sie erklärten, daß es nicht ihre Absicht sei, gegen alle Anarchisten vorzugehen, sondern nur gegen jene, die sich der Diktatur nicht unterwerfen wollten. Daraufhin wurden einige Anarchisten, die sich in den Händen der „Tscheka" befanden, wieder freigelassen. Jedoch wurden die anarchistischen Organisationen aufgelöst, ihre Büchereien konfisziert und die Literatur verbrannt . Eine gute Hälfte der anarchistischen Gruppen wurden ausgerottet, ein anderer Teil der Kameraden schmachtet hinter Kerkermauern und der Rest ist über das ganze Land zerstreut, wie ehemals unter dem Regiment des Zaren."

Diese Ausführungen, deren Richtigkeit uns seitdem durch eine ganze Reihe in der internationalen Bewegung gut bekannter russischer Genossen bestätigt wurden, gibt uns ein ziemlich klares Bild über die Entwicklung der Dinge in Rußland. Ueber die allgemeinen Bestrebungen der Anarchisten in jener Zeit gibt uns die am 25. August 1918 auf dem Kongreß der Konföderation der allrussischen Anarchisten-Syndikalisten angenommene Resolution die nötige Auskunft. Der Kongreß beschloß:

  1. Gegen die Mächte des Staates und des Kapitalismus zu kämpfen; die selbständigen Sowjets föderalistisch zusammenzufassen und die Vereinigung der unabhängigen Arbeiter- und Bauernorganisationen zum Zwecke der Produktion anzubahnen.

  2. Den Arbeitern die Bildung von freien Sowjets zu empfehlen und die Institutionen der Räte der Volkskommissare zu bekämpfen, da diese eine Form der Organisation vertreten, die für die Arbeiterklasse verderbliche Folgen nach sich ziehen muß.

  3. Die militaristische Armee aufzulösen und die Arbeiter und Bauern zu bewaffnen; ihnen gleichzeitig die Hinfälligkeit des Begriffs „sozialistisches Vaterland" klar zu machen, da für die Arbeiter und Bauern nur die Welt das Vaterland sein kann.

  4. Gegen die konterrevolutionären Tschecho-Slowaken und alle anderen Versuche der Imperialisten aufs schärfste anzukämpfen, doch nicht dabei zu vergessen, daß auch die extreme revolutionäre Partei der Bolschewiki stationär und reaktionär geworden ist.

  5. Die Verteilung der Lebensmittel und der anderen Verbrauchsgüter in die Hände der Arbeiter. und Bauernorganisationen direkt überzuführen; die bewaffneten Züge gegen die Bauern einzustellen, da durch diese die Bauern die Feinde der Arbeiter werden, die Solidarität zwischen Arbeitern und Bauern abgeschwächt und die revolutionäre Front in die Hände der Konterrevolution gespielt wird.

Man kann über den theoretischen und praktischen Wert dieser Resolution verschiedener Meinung sein, jedoch wird kein Mensch, der seine gesunden fünf Sinne noch zusammen hat, oder der dabei nicht direkt politisch oder anderswie interessiert ist, zu behaupten wagen, daß solche Bestrebungen als konterrevolutionär bezeichnet werden können.

Im Gegenteil, die weitere Entwicklung der Dinge in Rußland hat uns bewiesen, daß unsere Genossen die Lage durchaus richtig beurteilt haben und das vieles von dem, was sie vorausgesehen hatten, buchstäblich eingetroffen ist. Niemals haben die russischen Anarchisten den Reaktionären Handlangerdienste geleistet oder deren Bestrebungen in irgendeiner Weise gefördert. Sie waren vielmehr stets die ersten auf dem Plan, wenn es galt, den Machenschaften der Konterrevolution entgegenzutreten und zum Schutze der Revolution das Leben einzustellen; sie haben ungeheure Opfer gebracht an Blut und Leben, und sie als Konterrevolutionäre zu bezeichnen, ist eine gewissenlose Infamie, auch wenn sie im Interesse einer „kommunistischen" Regierung oder Partei begangen wird.

Solange die Bolschewisten die Anarchisten notwendig hatten, dachten sie nicht daran, sie als Konterrevolutionäre vor der Welt zu brandmarken. Im Gegenteil, die bolschewistische Presse stellte dieselben sogar einmal ihren eigenen Gesinnungsgenossen als Beispiel revolutionärer Tatkraft und Entschlossenheit vor. Manche ihrer heutigen Parteigrößen hatten es in der Tat nötig, daß ihnen ein solches Beispiel vor Augen gehalten wurde. Es sei hier nur an die keineswegs heldenhafte Rolle von Sinowjew und Kameniew erinnert in jenen denkwürdigen Tagen, die dem Oktober-Aufstand im Jahre 1917 vorausgingen. Damals waren sie die bittersten Gegner jenes Aufstandes, der ihrer Partei die Macht in die Hände spielte, und den sie mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Kein geringerer als Lenin in eigener Person hat sie dafür in einer öffentlichen Anklageschrift der Feigheit und Charakterlosigkeit geziehen und ihnen vorgeworfen, „daß sie alle Grundideen. des Bolschewismus und des revolutionär-proletarischen Internationalismus vergessen hätten". — Allein Sinowjew und Kamenjew haben später in Sack und Asche Buße getan und wurden daher wieder in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen.

Doch diese so beschämenden Erinnerungen halten dieselben Leute durchaus nicht ab, jeden, der nicht gewillt ist, nach ihrer Pfeife zu tanzen, als Konterrevolutionär zu verdächtigen. Dieses Possenspiel wäre zu komisch, wenn es in derselben Zeit nicht so unsäglich traurig wäre.

Man erinnert sich unwillkürlich der Worte, die der famose Pariser Barikadenpräfekt Cossidiére im Jahre 1848 über Bakunin zum besten gab: „Welch ein Mensch! Am ersten Tage der Revolution ist er einfach ein Schatz; am zweiten muß man ihn erschießen."

Dieselbe Politik befolgten die Bolschewiki den Anarchisten gegenüber. Am ersten Tage band man ihnen Lorbeerkränze; am zweiten kreuzigte man sie. — Doch dies ist stets die Gepflogenheit der Macht-Politiker aller Zeiten und Länder gewesen. Die Bolschewiki haben bewiesen, daß sie von dieser Regel keine Ausnahme machen.

IV. Nestor Machno und die Bolschewisten.

Bei dieser Gelegenheit ist es angebracht, ein paar Worte über Machno und seine Bewegung zu sagen, die beide in der bolschewistischen Presse auf das heftigste angegriffen werden. Es ist interessant, zu bemerken, wie man gegen Machno in derselben Weise vorzugehen beliebte, wie gegen die Anarchisten im allgemeinen, das heißt, man lobt oder verdammt ihn, je nachdem man seiner bedarf. Es gab Zeiten, wo Machno als Konterrevolutionär der schlimmsten Gattung in der bolschewistischen Presse verschrieen wurde, als Verbündeter Denikins und Wrangels, und es gab andere Zeiten, wo ihn dieselbe Presse als guten Revolutionär und Alliierten der Sowjetregierung feierte. Dieses Schauspiel hat sich schon verschiedene Male wiederholt. Kein Wunder daher, wenn über die Person Machnos und über die Motive seiner Handlungen die abenteuerlichsten Gerüchte im Umlauf sind.

Ein bekannter Genosse in Moskau, mit dem wir seit langen Jahren befreundet sind, sandte uns die folgende biographische Skizze, die für die Persönlichkeit des ukrainischen Freischarenführers bezeichnend ist:

„Nestor Machno ist ein einfacher Bauer und heute ungefähr dreißig Jahre alt, Seit 1907 nahm er einen aktiven Anteil an der revolutionären Bewegung und war Mitglied einer anarchistisch-terroristischen Gruppe. Nachdem er in der Provinz Jekaterinoslaw einen Polizisten getötet hatte, wurde er zum Tode verurteilt, jedoch seines jugendlichen Alters wegen zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Als er 1917 durch die Revolution befreit wurde, kehrte er in seine Heimat zurück und beteiligte sich an der Organisation der Dorfbevölkerung.

Anfangs 1918 setzte die Reaktion in der Ukraine ein. Die Oesterreicher, Deutschen und der Hetman Skoropadski regierten das Land. Die Bauern, Arbeiter und Revolutionäre wurden auf das heftigste verfolgt und in Massen hingeschlachtet. Machno, zusammen mit noch sechs Kameraden, gründeten eine Kampforganisation und kämpften nun mit eiserner Entschlossenheit gegen die fremden Truppen und die Polizei des Hetmans. Die Erfolge, die sie erzielten, vermehrte schnell die Zahl ihrer Anhänger, und die kleine Gruppe umfaßte bald an die zweihundert Mann.

Nachdem die Ukraine gesäubert war von der fremden Soldateska und den bewaffneten Banden des Hetmans Skoropadski, begann Machno den Kampf mit Petljura. Gegen Ende des Jahres verfügte er schon über eine ganze Armee von Freischärlern.

Als Petljura geschlagen war, besetzten die Bolschewiki die Ukraine. Als Anarchist konnte Machno mit ihnen nicht zusammengehen, trotzdem man ihm glänzende Versprechungen machte. So versprach man ihm, ihn als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte anzuerkennen und forderte nur, daß er sich dem Oberkommando Trotzkis unterstelle. Machno verweigerte dies mit der Begründung, daß es ihm unmöglich sei, mit Leuten zusammenzuarbeiten, welche die Eroberung der Macht erstrebten. Er agitierte nun im Lande und übernahm die Front gegen die neue reaktionäre Armee Denikins. Allein die Bolschewiki erklärten, daß sie den Kampf einer Freischarenarmee nicht zulassen könnten. Da sie sich aber nicht stark genug fühlten, gegen die Machnowzi vorzugehen, so glaubte man den Widerstand Machnos dadurch brechen zu können, daß man ihm die Munition verweigerte. Trotzki erklärte, Machno nur dann Munition liefern zu wollen, wenn dieser sich dem Oberkommando der Roten Armee beugen würde. Machno befand sich in einer gefährlichen Lage. Er stand mit seinen Anhängern zwischen Hammer und Amboß, das heißt zwischen Denikin und der Roten Armee. Er verfügte über ungefähr 50 000 Mann und war fast gänzlich ohne Munition. Als Machno den Kampf gegen den Hetman Skoropadski und Petljura führte, stand er fast allein im Felde, wenn die Rote Armee war in jener Zeit noch äußerst schwach und schlecht organisiert. Aus diesem Grunde versorgten die Bolschewiki die Machnowzi reichlich mit Munition und zwar in ihrem eigenen Interesse. Nun aber versagte man mit einem Male den Machnowzi die Existenzberechtigung, angeblich weil sie Freischärler waren, in der Wirklichkeit, weil Machno sich dem Diktat Trotzkis nicht unterwerfen wollte.

Trotzki glaubte, dadurch, daß er den Machnowzi die Munition verweigerte, diese seinem Willen gefügig machen zu können. Doch als er sah, daß Machno in seiner Stellung verharrte, beschloß er, ihn zu vernichten um jeden Preis. In einer Versammlung in Charkow am 29. April 1919 bezeichnete er Machno als einen gewöhnlichen Banditen und erklärte, daß es vorzuziehen sei, wenn die Ukraine von den Weißen besetzt würde, als daß sie den Machnowzi ausgeliefert werde, denn wenn Denikin das Land in Händen hätte, so würden die Bauern von selbst die Bolschewiki zurückrufen.

So erklärt es sich denn, daß man Machno ohne Waffen ließ und daß die Rote Armee Gewehr bei Fuß stand, als Denikin einen wütenden Angriff auf die waffenlosen Machnowzi machte und ihre Front durchbrach. Allerdings wurde die Rote Armee dadurch auch gezwungen, sich zurückzuziehen, allein der Zweck, den man mit dieser Taktik verfolgte, war erreicht. Machno wurde vollständig geschlagen und war gezwungen, mit dem Rest seiner Leute vom Kampfplatze zu verschwinden. In derselben Zeit führte man in der bolschewistischen Presse den Rückzug der Roten Armee auf den Verrat Machnos zurück und die russische Regierung erklärte denselben für vogelfrei. Als man bald darauf in einem Krankenhause Machnos Bruder entdeckte, glaubte man Machno selbst vor sich zu haben und erschoß ihn.

Durch die Niederlage Machnos hatte Denikin einen ungeheuren Vorteil erreicht. Seine Scharen trieben die Truppen der Roten Armee vor sich her und drangen siegreich in Rußland ein. In dieser kritischen Situation gelang es Machno, seine Freischaren zu reorganisieren und Denikin in den Rücken zu fallen. Durch einen kühnen Handstreich war es ihm gelungen, Denikin die Zufuhr von Munition und Proviant abzuschneiden. Dadurch war die Rote Armee wieder imstande, die Offensive zu ergreifen. In der bolschewistischen Presse wurde nun Machno wieder als Revolutionär anerkannt und die Regierung hob die Aechtung des angeblichen „Banditenführers" wieder auf. Allein nach der endgültigen Niederlage Denikins forderte Trotzki die Entwaffnung der Machnowzi, und als ihm dies nicht gelang, wurde Machno abermals als Bandit erklärt und gesetzlich geächtet. Der heiße Kampf, der nunmehr zwischen Machno und den Bolschewiki entbrannte, nahm sehr oft geradezu furchtbare Formen an, konnte aber nie zu einer definitiven Entscheidung geführt werden, bis endlich das Erscheinen Wrangels abermals eine neue Phase in das Verhältnis der russischen Regierung zu den Machnowzi brachte."

* * *

Diese Ausführungen unseres russischen Gewährsmannes wurden uns seitdem durch zahlreiche neue Informationen aus erster Hand in allen Punkten bestätigt. Vor mir liegt ein Manuskript von 114 Seiten über die Bewegung der Machnowzi, das mir aus Rußland übermittelt wurde und das alle Einzelheiten der oben angeführten allgemeinen Tatsachen dokumentarisch belegt. Durch die Veröffentlichung dieses Materials, die in nächster Zeit erfolgen wird, wird der Leser ein vollständig klares Bild über Machno und seine Bewegung erhalten, das die bolschewistische Legendenbildung über diesen Mann und die Sache, der er dient, gründlich zerstören dürfte.

Anfangs 1920 war Machno gezwungen, den Kampf sowohl gegen Wrangel als auch gegen die Bolschewiki führen zu müssen. Aber mit der Zeit spitzte sich die Lage so zu, daß die Sowjetregierung abermals gezwungen war, die Hilfe Machnos in Anspruch zu nehmen. Die Situation war äußerst kritisch. Der Krieg mit Polen hatte die militärischen Kräfte der russischen Regierung bedenklich erschöpft, und so kam es, daß die Rote Armee den ungestümen Vorstößen Wrangels, der von der Entente mit allen modernen Kriegsgerätschaften in ausgiebigster Weise ausgerüstet war, nicht standhalten konnte. In dieser gefährlichen Notlage, die der Sowjetregierung leicht zum Verhängnis hätte werden können, beschloß man wieder, mit dem „Banditen" Machno in Verbindung zu treten, den die bolschewistische Presse nicht müde wurde, als „Verbündeten des weißen Barons", wie man Wrangel nannte, zu brandmarken.

Am 16. Oktober kam zwischen Machno und der Sowjetregierung der folgende Vertrag zustande:

Vereinbarung

über die provisorische Zusammenarbeit in den militärischen Operationen zwischen der Ukrainischen Sowjetrepublik und der revolutionären Freischaren-Armee der Ukraine (Machnowzi).

  1. Die revolutionäre Freischaren-Armee der Machnowzi schließt sich den Streitkräften der republikanischen Armee als Freischaren-Armee an, die in ihren Operationen dem Oberkommando der Roten Armee untergeordnet ist. Sie behält jedoch ihre bisherige Organisation bei, ohne die Grundlagen und die Organisationsvorschriften der regulären Roten Armee anzunehmen.

  2. Die revolutionäre Freischaren-Armee der Machnowzi, die sich auf dem Gebiete der Sowjets längs oder quer der Front befindet, nimmt in ihren Reihen weder Teile der Roten Armee noch Deserteure der letzteren auf.

Anmerkung: Jene Teile der Roten Armee oder vereinzelte Rote Soldaten, die im Rücken Wrangels mit den Freischaren zusammentreffen, sollen später, wenn sie wieder mit der Roten Armee zusammenstoßen, sich dieser wieder anschließen.

Die Freischaren der Machnowzi, die sich noch im Rücken Wrangels befinden, wie auch jene Teile der Bevölkerung, die sich in diesen Regionen des Landes der Freischaren-Armee angeschlossen haben, bleiben in den Reihen der letzteren, auch wenn sie vorher durch die Rote Armee mobilisiert wurden.

  1. Die Vereinbarung zwischen dem Kommando der Roten Armee und der revolutionären Freischaren-Armee der Machnowzi verfolgt den Zweck, den gemeinsamen Feind, die weiße Armee, zu vernichten. Die Machnowzi erklären sich mit der Aufforderung des Kommandos der Roten Armee einverstanden, die Feindseligkeiten der Bevölkerung gegen die Rote Armee einzustellen. Gleichzeitig veröffentlicht die Sowjetregierung die geschaffenen Vereinbarungen, um den gestellten Aufgaben den größtmöglichsten Erfolg zu sichern.

  2. Die Familien der Soldaten der revolutionären Freischaren-Armee der Machnowzi, die auf dem Gebiete der Sowjetrepublik wohnen, genießen dasselbe Recht wie die Soldaten der Roten Armee und erhalten von der Ukrainischen Sowjetregierung die vereinbarten Vergünstigungen.

Vereinbarung

über die provisorische Zusammenarbeit in den politischen Fragen zwischen der Sowjetregierung der Ukraine und der revolutionären Freischaren-Armee der

Machnowzi.

  1. Die sofortige Befreiung aller inhaftierten Revolutionäre und die Einstellung aller weiteren Verfolgungen auf dem Gebiete der Sowjetrepublik gegen alle Machnowzi und Anarchisten, die nicht mit bewaffneter Hand gegen die Sowjet-regierung gekämpft haben.

  2. Vollständig freie Agitation in Wort und Schrift für alle Machnowzi und Anarchisten und ihrer Ideen und Prinzipien unter Anwendung der militärischen Zensur, insofern militärische Fragen zur Sprache kommen. Die Sowjetregierung stellt den Machnowzi und Anarchisten, die von ihr als revolutionäre Organisationen anerkannt werden, alle zur Herstellung von Drucksachen (Bücher, Zeitschriften und Zeitungen) erforderlichen Materialien zur Verfügung und zwar auf Grund der allgemeinen technischen Regeln, die für Publikationen dieser Art in Frage kommen.

  3. Freie Teilnahme an den Wahlen zu den Sowjets, sowie das Recht der Machnowzi und Anarchisten, Mitglieder der Sowjets sein zu können; außerdem freie Teilnahme an den Vorbereitungen zu dem kommenden fünften Sowjet-Kongreß der Ukraine, der im Dezember 1920 stattfinden soll, wird gewährleistet.

Angenommen von den Vertretern der beiden Parteien auf der Konferenz am 16. Oktober 1920.


Gez.: Bela Kun. Popoff.


* * *

Auf Grund dieser Vereinbarung kämpften die Freischaren Machnos und die Rote Armee Schulter an Schulter gegen Wrangel. Der Erfolg zeigte sich bald. In der dritten Woche des November war der „Weiße Baron“ bereits vollständig geschlagen, und die Trümmer seines Heeres wälzten sich in wilder Flucht, verfolgt von der Roten Armee, nach dem Süden.

Aber was geschah nun? Sobald die Horden Wrangels endgültig geschlagen waren, brach die Sowjetregierung in der schnödesten Weise ihre mit Machno getroffenen Vereinbarungen, und die Rote Armee wandte sich plötzlich gegen ihre früheren Verbündeten, die man in barbarischer Weise niedermachte. Machno, der mit knapper Not sein Leben retten konnte, ist nun abermals von den Bolschewiki zum „Banditen" und „Verräter" gestempelt worden. Alle Anarchisten, die man auf Grund der Vereinbarungen in Freiheit gesetzt hatte, darunter auch Machnos Freunde Tschubenko und Wolin (W. M. Eichenbaum), wurden neuerdings verhaftet und mit ihnen viele andere, die sich bisher der Freiheit noch erfreuen durften.

Das sind die einzelnen Phasen, welche die sogenannte Machno-Bewegung bis jetzt durchlaufen hat. Aus den von uns angeführten nackten Tatsachen geht deutlich hervor, daß Machno ebensowenig ein Verräter als ein Konterrevolutionär ist, und daß alle von den Bolschewisten über ihn und seine Bewegung in die Welt gesetzten Gerüchte glatte Unwahrheiten sind, die im Interesse der bolschewistischen Staatsraison verbreitet werden. Wenn einer über Verrat und zwar über Verrat der schändlichsten Art zu klagen Ursache hat, so ist Machno der Verratene. Es war glatter Verrat, nicht nur an ihm, sondern an der Sache der Revolution, als man ihn im Frühling 1919 ohne Munition und Unterstützung ließ und auf diese Weise Denikin die Möglichkeit gab, seine Freischaren aufzureiben und in alle Winde zu zerstreuen. Und es war Verrat der schlimmsten Art, als die Sowjetregierung ihre mit Machno eingegangenen Vereinbarungen in einer Weise gebrochen hat, die uns unwillkürlich die politischen Methoden des Cesare Borgia in Erinnerung bringt.

Die russische Regierung hat Machno vor der Welt als Konterrevolutionär gebrandmarkt, nachdem sie früher selbst in ihrem Vertrage mit ihm seine Bewegung als eine revolutionäre anerkannt hatte. Sie bezeichnet Machno als einen gewöhnlichen Räuber und Banditen, allein wir fragen, wie kommt es, daß eine Regierung — und noch dazu eine Regierung, die sich „kommunistisch" zu nennen beliebt — mit einem gewöhnlichen Räuber und Banditen Verträge von eminent militärischer und politischer Bedeutung abschließt? Ist Machno ein Bandit, ein gewöhnlicher Halsabschneider, was sind dann jene, die mit diesem Halsabschneider und Wegelagerer Bündnisse eingehen und sich ihm kontraktlich verpflichten? Man sage uns nicht, daß die Sowjetregierung sich in einer außergewöhnlichen Notlage befunden habe, als sie sich zu ihren Vereinbarungen mit Machno bestimmen ließ. Sogar in diesem Falle wäre das keine Rechtfertigung ihres Verhaltens Machno gegenüber. Aber war die Sowjetregierung nicht in derselben Lage, als Denikin ihre Existenz bedrohte und sie trotzdem Machno und die Seinen dem Verderben preisgab? Auch damals wußte sie, daß durch die grausame Preisgebung der Machnowzi die Rote Armee in eine gefährliche Position geraten mußte, was denn auch tatsächlich der Fall war. Allein damals opferte man Machno, weil man sich seiner entledigen wollte.

Nein, die Moskauer Staatsmänner wissen nur zu gut, daß Machno kein Bandit und Wegelagerer ist. Sie wissen, daß dieser Mann für einen Zustand der Dinge streitet, der dem von ihnen geschaffenen in keiner Weise gleicht, ja diesem direkt entgegengesetzt ist. Sie wissen auch, daß der Mann, der Rußland zweimal vor der Katastrophe einer siegreichen Konterrevolution gerettet hat, niemals ein Konterrevolutionär sein kann. Das alles ist den Führern der bolschewistischen Regierung gut bekannt, allein Machno und seine Bewegung lassen sich dem bolschewistischen Staatsgefüge nicht einverleiben und müssen deshalb aus dem Wege geräumt werden um jeden Preis. Und darum ist Machno ein „Bandit", ein „Verräter", ein „Konterrevolutionär". Er muß es schlechterdings sein, ebenso wie die Anarchisten im allgemeinen, ebenso wie alle anderen revolutionären Richtungen, die nicht auf das Credo der Bolschewiki schwören, „Banditen", „Verräter" und „Konterrevolutionäre" sind. Daß diese Behauptungen der Wahrheit nicht entsprechen, ist von geringer Bedeutung. Die Lüge ist stets ein eiserner Bestandteil jeder Diplomatie gewesen. Sie läßt sich auch aus dem Ressort der sogenannten „proletarischen Diplomatie" nicht ausmerzen.

V. Der Aufstand in Kronstadt.

Dieselbe „proletarische Diplomatie" der russischen Machthaber brachte es auch fertig, die Insurrektion von Kronstadt als ein Unternehmen der „Weißen" darzustellen, das von konterrevolutionären Elementen im Ausland sorgfältig und von langer Hand vorbereitet worden sei. Diese offenbare und absichtliche Entstellung der eigentlichen Tatsachen hat seitdem die Runde durch die ganze internationale kommunistische Presse gemacht und sogar Eingang in Kreisen gefunden, die im allgemeinen den bolschewistischen Ideengängen keine übermäßig große Sympathie entgegenbringen.

Heute, wo wir in der Lage sind, die ganzen Ursachen und den wahren Charakter des Kronstädter Aufstandes richtig beurteilen zu können, müssen wir abermals erkennen, daß es mit der konterrevolutionären Gesinnung der KronStädter Matrosen dieselbe Bewandnis hat, wie mit den „konterrevolutionären" Bestrebungen der Anarchisten und Machnowzis. Sogar eine ausgesprochen bolschewistische Zeitung, der in Riga erscheinende „Nowij Put", war unvorsichtig genug, den wahren Charakter der Kronstädter Insurrektion zu verraten. (Wie es scheint, hatte die Redaktion nicht rechtzeitig die nötigen Instruktionen von Moskau erhalten.) In der Nummer vom 19. März entschlüpfte der oben erwähnten Zeitung das folgende interessante Geständnis:

„Die Matrosen von Kronstadt sind in ihrer Allgemeinheit Anarchisten. Sie marschieren nicht rechts, sondern links von den Kommunisten. In ihren letzten Radiogrammen verkünden sie: ,Es lebe die Sowjetmacht!' Nicht ein einziges Mal erklärten sie: ,Es lebe die Nationalversammlung!' Warum empörten sie sich gegen die Sowjetregierung? Weil ihnen diese nicht genug sowjetistisch ist. Sie schrieben dieselbe halb-anarchistische, halb-kommunistische Losung auf ihre Fahne, welche die Bolschewiki selbst vor drei und einem halben Jahre, am Tage nach der Oktober-Revolution verkündet hatten. In ihrem Kampfe gegen die Sowjetregierung gaben die Insurgenten von Kronstadt verschiedentlich ihren tiefen Haß gegen die ‚Bourgeois' und alles was bourgeois ist, kund. Sie erklärten, daß die Sowjetregierung sich verbürgerlicht hätte, daß Sinowjew ,angemästet sei. Wir haben es hier mit einem Aufstand von links und nicht mit einer Erhebung von rechts zu tun."

Diese Charakterisierung des Kronstädter Aufstandes durch das Bolschewistenblatt „Nowij Put" hat sich seitdem in jeder Weise bestätigt. Alle Dokumente und Proklamationen der Aufständigen legen Zeugnis dafür ab. Nicht eine Silbe findet sich in diesen Kundgebungen, die auf konterrevolutionäre Umtriebe schließen ließe. Die ganze Bewegung trug einen rein spontanen Charakter und entwickelte sich aus den örtlichen Verhältnissen.

Die Kronstädter Seeleute gehörten schon immer zu den tatkräftigsten und opferwilligsten Elementen der revolutionären Bewegung in Rußland und spielten bereits in der Revolution von 1905 eine hervorragende Rolle. Als im Jahre 1917 die Revolution ausbrach, waren sie die ersten auf dem Plan und bewiesen eine unbeugsame Entschlossenheit. Unter der Regierung Kerenskis proklamierten sie die Kommune von Kronstadt und bekämpften die Idee einer Nationalversammlung, in der sie eine Gefahr für die Revolution erblickten. Als dann der: Oktober-Aufstand einsetzte, der den Bolschewiki zur Macht verhalf, standen sie wiederum an der Spitze der Bewegung mit der Losung: „Alle Macht den Räten!"

In den blutigen Kämpfen mit Judenitsch waren die Kronstädter Matrosen der festeste Wall, an dem die Versuche der Konterrevolution zerschellten. Die anarchistischen Ideengänge der Seeleute von Kronstadt brachten es mit sich, daß sie ihre Selbständigkeit mit aller Energie zu wahren versuchten, als die Zentralregierung in Moskau sich anschickte, die ursprünglichen Rechte der Sowjets mehr und mehr zu beschränken. Alle Versuche Trotzkis, die Matrosen von Kronstadt denselben Bestimmungen zu unterwerfen, die man nach und nach der Armee aufgezwungen hatte, blieben zum großen Teil erfolglos. Und solange er alle Kräfte auf den Krieg mit den feindlichen Armeen der Konterrevolutionäre zu konzentrieren gezwungen war, mußte er sich wohl oder übel mit diesem Zustand der Dinge abfinden. Daß aber die fortgesetzten Versuche dieser Art nicht dazu beitragen konnten, die Stimmung der Matrosen der Regierung gegenüber günstig zu gestalten, ist leicht zu verstehen, besonders als sie nach der Beendigung des Krieges in verschärftem Maße wiederholt und dadurch das Mißtrauen der Seeleute aufs höchste gesteigert wurde.

Im Februar dieses Jahres setzten unter der Arbeiterschaft Petrograds große Unruhen ein, die durch die Neueinteilung in der Verteilung der Lebensmittel hervorgerufen wurden. Die Arbeiter traten in Streik. Viele von ihnen wurden verhaftet, was natürlich die Stimmung noch bitterer machen mußte.

Dies war der Zustand der Dinge, als die Seeleute von Kronstadt eine Delegation nach Petrograd schickten, um die Situation an Ort und Stelle zu studieren und womöglich eine gemeinschaftliche Aktion mit den Arbeitern zu vereinbaren.

Am 1. März fand in Kronstadt eine allgemeine Versammlung der Mannschaften der Linienschiffe statt, in welcher die Delegierten Bericht erstatteten. Das Resultat war, daß folgende Resolution einstimmig angenommen wurde:

„Nachdem wir den Bericht der von der Vollversammlung der Schiffsmannschaften erwählten Delegation entgegengenommen haben, entscheidet sich die Versammlung, für folgende Forderungen einzutreten:

  1. In Anbetracht, daß die heute bestehenden Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum Ausdruck bringen, fordern wir sofortige Ausschreibung von Neuwahlen für die Sowjets mit geheimer Abstimmung und vor den Wahlen vollständige Freiheit der Propaganda für alle Bauern und Arbeiter.

  2. Versammlungsfreiheit für die Gewerkschaften und Bauernorganisationen.

  3. Rede, und Preßfreiheit für die Bauern und Arbeiter, für die Anarchisten und den linken Flügel der Sozialisten-Revolutionäre.

  4. Die Einberufung einer parteilosen Konferenz der Arbeiter, der Soldaten der Roten Armee und der Matrosen von Kronstadt, Petrograd und der Petrograder Region vor dem 10. März 1921.

  5. Die Freilassung der politischen Gefangenen aller sozialistischen Parteien und aller Arbeiter, Bauern, Soldaten der Roten Armee und Matrosen, die wegen der Aufstände der Bauern und Arbeiter inhaftiert wurden.

  6. Wahl einer besonderen Kommission, um die Prozesse der in den Gefängnissen und Konzentrationslagern untergebrachten Häftlinge einer Revision zu unterziehen.

  7. Abschaffung aller besonderen „politischen Abteilungen", da keine Partei ein spezielles Vorrecht für ihre Propaganda haben und dafür noch vom Staate unterstützt werden soll. (Gemeint sind in diesem Falle die Organisationen innerhalb aller in Rußland bestehenden Zivil, und Militärinstitutionen, die speziell zum Zwecke deren Ueberwachung geschaffen wurden, und zu denen nur Mitglieder der Kommunistischen Partei gelangen können.) Diese Körperschaften sollen ersetzt werden durch besondere Kommissionen für den Unterricht und die Erziehung, deren Ausgaben vom Staate zu bestreiten sind.

  8. Abschaffung jeder Schlagbaum-Kontrolle. (Gemeint sind die militärischen Abteilungen, die in den Bahnhöfen postiert sind, um das Eintreffen solcher Lebensmittel zu verhindern, die nicht vom Staate gekauft oder verkauft werden.)

  9. Gleiche Rationen für alle Arbeiter mit Ausnahme derjenigen, die in gesundheitsschädlichen Industrien beschäftigt sind.

  10. Abschaffung der kommunistischen Abteilungen in allen militärischen Körperschaften und der kommunistischen Posten in den Fabriken und Betrieben. Falls sich für diese ein Bedürfnis einstellen sollte, sollen dieselben direkt durch .die Kompagnien selbst und durch die Arbeiter innerhalb der Betriebe und Werkstätten ernannt werden.

  11. Vollständige Freiheit der Bauern, über ihr Getreide verfügen zu können und Vieh besitzen zu dürfen, solange sie keine Lohnarbeiter beschäftigen.

  12. Wir appellieren an alle militärischen Körperschaften und an die Kameraden in den Militärschulen, sich unserer Bewegung anzuschließen.

  13. Wir bitten, unseren Resolutionen möglichst weite Verbreitung zu geben.

  14. Ein Büro für die Straßenkontrolle soll ernannt werden.

  15. Freiheit der Hausarbeit, solange kein bezahltes Personal beschäftigt wird.

Dieselbe Resolution wurde einer Versammlung der Kronstädter Bürger, die von 16 000 Menschen besucht war, vorgelegt und einstimmig angenommen. Am 2. März kamen die Delegierten der Schiffe, der militärischen Körperschaften, der Betriebe und der Gewerkschaften — im ganzen ungefähr 300 Mann — zusammen. Ein „Provisorischer Revolutions-Ausschuß" wurde ernannt, der die Wahlen für den Sowjet vorbereiten sollte. Der Ausschuß gab ein tägliches Mitteilungsblatt heraus, die „Iswestia", das über die einzelnen Phasen der Bewegung Bericht gab. Unser russischer Kamerad Isdin hat in den Pariser „Temps Nouveaux" mehrere Auszüge aus der Kronstädter Izwestia veröffentlicht, die für den Geist und Charakter dieser so schmählich verleumdeten Bewegung ein beredtes Zeugnis ablegen.

So heißt es in einem „Warum kämpfen wir?" überschriebenen Artikel:

„Die Geduld der Arbeiter geht zu Ende. Schon zeigte sich da und dort im Lande der erste Schimmer des Widerstands gegen ein System der Unterdrückung und Gewalt. Die Arbeiter traten in den Streik; allein die bolschewistischen Gendarmen waren auf der Hut und ergriffen alle Maßregeln, um die unvermeidliche dritte Revolution im Keime zu ersticken. Doch sie ist trotzdem gekommen und es sind die Arbeiter, die sie in Szene setzten. . . .

Hier in Kronstadt wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die der Sache des Sozialismus eine weite Bahn eröffnen wird. Diese Revolution soll die Arbeitermassen des Ostens und Westens überzeugen, daß das, was bisher bei uns vorging, mit dem Sozialismus überhaupt nichts zu tun hatte.…

Die Arbeiter und Bauern marschieren vorwärts und lassen sowohl die Nationalversammlung mit ihrem bourgeoisen Regime, wie auch die Diktatur der Kornmunistischen Partei mit ihrer „Außerordentlichen Kommission" und ihrem Staatskapitalismus hinter sich, die wie die Schlinge des Henkers das werktätige Volk erdrosselt.

Die jetzige Revolution gibt den Arbeitern die Möglichkeit, ihre Sowjets frei wählen zu können, ohne den Druck irgendeiner Partei befürchten zu müssen. und, sie ermöglicht den bürokratisierten Gewerkschaften, sich in freie Vereinigungen der Hand- und Kopfarbeiter umzuformen."

In einem anderen Artikel „Die Etappen der Revolution" betitelt, der in der Nummer vom 12. März erschienen ist, lesen wir:

„Die Kommunistische Partei hat die öffentliche Macht an sich gerissen, indem sie die Bauern und Arbeiter beiseite stieß, in deren Namen sie handelte… Eine neue Leibeigenschaft, die sich „kommunistisch" nennt, ist ins Leben getreten. Der Bauer wurde in einen gewöhnlichen Tagelöhner, der Arbeiter in einen Lohnsklaven des Staatsbetriebes verwandelt. Der Kopfarbeiter zu nichts degradiert... Jetzt ist die Zeit gekommen, wo es gilt, die Kommissarokratie zu stürzen. Kronstadt, die wachsame Hüterin der Revolution, schlief nicht. Kronstadt stand im März und Oktober mit an der Spitze, und es erhebt heute wieder als erster die Fahne der Empörung für die dritte Revolution der Arbeiter.

Die Autokratie ist gefallen. Die Konstituante ist eine Sache der Vergangenheit. Die Kommissarokratie wird auch fallen. Die Zeit ist gekommen, für eine wirkliche Arbeitermacht, für die Macht der Sowjets!"

Und in einem „Appell an die Arbeiter, Rote Soldaten und Matrosen", der in der Nummer vom 13. März erschienen ist, wird die Beschuldigung der Sowjetregierung, daß die weißen Generäle und Popen an der Spitze der Bewegung ständen, mit zorniger Entrüstung zurückgewiesen. Es heißt dort:

„Wir haben uns hier in Kronstadt am 2. März gegen das fluchwürdige Joch der Kommunisten erhoben und das rote Banner der dritten Revolution der Arbeiter entfaltet.

Rote Soldaten, Matrosen, Arbeiter, das revolutionäre Kronstadt appelliert an euch!

Wir wissen, daß man euch täuscht, daß man euch die Wahrheit verschweigt über das, was bei uns vorgeht, verschweigt, daß wir bereit sind, für die heilige Sache der Befreiung der Arbeiter und Bauern unser Leben einzusetzen. Man sucht euch einzureden, daß sich weiße Generäle und Popen an der Spitze des Revolutions-Ausschusses befinden. Um diesen Lügen ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, nennen wir euch hier die Namen sämtlicher Mitglieder des Revolutions-Ausschusses: 1. Petritschenko, angestellt im Büro des Linienschiffes Petropawlowsk; 2. Jakowenko, Telephonist im Dienste der Fernsprechstelle von Kronstadt; 3. Ossosow, Maschinist auf dem Linienschiff Sewastopo 1; 4. Perepelkin, Elektriker an Bord der Sewastopo 1; 5. Archipow, erster Maschinist; 6. Patruschew, erster Elektriker des Petropalowsk; 7. Kupolow, Hilfsarzt; 8. Werschinin, Matrose auf der Sewastopol; 9. Tukin, Arbeiter im elektrischen Betriebe; 10. Romanenko, Geschäftsführer der Reparaturwerft; 11. Oreschin, Aufseher in der dritten Arbeitsschule; 12. Pawlow, Munitionsarbeiter; 13. Baikow, Verwalter des rollenden Materials der Festung; 14. Walk, Werkführer in einer Schneidemühle; 15. Kilgast, Lotse."

Geradezu ergreifend ist der „Appell an das Proletariat der ganzen Welt", in der Nummer vom 13. März, in dem es heißt:

„Seit zwölf Tagen hat eine Handvoll wahrhafter Helden. Arbeiter, Matrosen und Soldaten der Roten Armee — abgeschlossen von der ganzen Welt, alle Angriffe der kommunistischen Henker zu erdulden. Wir stehen fest zu der Sache, die wir zur unseren gemacht haben — das Volk zu befreien von dem Joche, das ihm durch den Fanatismus einer Partei auferlegt wurde, und wir sterben mit dem Rufe: Es leben die freierwählten Sowjets! Möge das Proletariat der ganzen Welt es wissen! Kameraden! Wir benötigen eure moralische Hilfe. — Protestiert gegen die Gewalttaten der kommunistischen Autokraten."

Dieser letzte Aufschrei der Kronstädter Rebellen angesichts des drohenden Todes verhallte wie ein Ruf in der Wüste. Niemand hörte sie. Niemand erkannte die Größe der Sache, für die sie ihr Leben einsetzten. Ja man wußte es kaum, als sie tausendweise von einer entmenschten Soldateska dahingeschlachtet wurden, wie weiland die Männer und Frauen der Pariser Kommune von den vertierten Horden eines Gallifet zum Tode befördert wurden. Doch die Männer der Kommune haben ihren Platz gefunden im Riesenherzen des Weltproletariats, jene aber, deren Blut das Pflaster Kronstadts rötete, wurden von ihrer eigenen Klasse als Verräter und Konterrevolutionäre gebranntmarkt. Sie wurden verurteilt, ohne daß man ihre Sache kannte, und ihr Todesschrei verhallte ungehört. Und doch kämpften diese Männer für eine Sache, die einstmals auch die Sache ihrer Henker gewesen ist. Dieselben Devisen, welche die Rebellen von Kronstadt auf ihre Fahne geschrieben hatten, dienten den Bolschewiki als Motto, als sie den Oktober.Aufstand 1917 vorbereiteten und die Regierung Kerenskis stürzten. Wer hätte sich damals träumen lassen, daß die sogenannte „Diktatur des Proletariats" sich wenige Jahre später gegen die Befürworter derselben Ideen richten würde, die einst den Diktatoren als Aushängeschild dienen mußten, als sie sich anschickten, die politische Macht zu erobern! Doch diese blutige Satire der Geschichte wird heute noch wenig verstanden, allein die Zeit wird kommen, wo man den tiefen Sinn derselben verstehen wird. Dann wird man auch die Rebellen von Kronstadt anders einschätzen und die Sache, für die sie gekämpft und geblutet haben.

Man hat als Hauptargument gegen die Aufständigen von Kronstadt die Sympathie der konterrevolutionären Presse mit der Erhebung ins Feld geführt. In einem Artikel, der in der Nummer vom 20. April in der „Revue Hebdomadaire de la Presse Russe" erschienen ist, versuchte Radek diesen Umstand nach Kräften auszunutzen und glaubt, dadurch seinen Lesern den Beweis für den konterrevolutionären Charakter des Kronstädter Aufstands erbracht zu haben. Das Lesepublikum der kommunistischen Presse ist bekanntlich sehr genügsam, und so nimmt es nicht weiter Wunder, wenn der von Radek mit der Logik eines Staatsanwalts angefertigte Artikel seitdem in den kommunistischen Blättern der verschiedenen Länder die Runde gemacht hat. Nur wenigen ist es bisher eingefallen, den eigentlichen Wert dieses famosen Arguments ernsthaft zu prüfen. Es genügt eben, daß es von Moskau kommt. In Wahrheit beweist dieses Argument gar nichts. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Reaktionäre aller Schattierrungen bisher stets versucht haben, an jedem Feuer ihre Suppe zu kochen. Wenn zum Beispiel die spanische Regierung die anarchistische und syndikalistische Presse seit Jahren unterdrückt, während das Organ der Kommunistischen Partei unbehelligt in Madrid erscheinen kann, so geschieht dies nicht deshalb, weil die Regierung eine besondere Vorliebe für „El Comunista" hat, sondern lediglich deshalb, weil man durch diese Taktik die Arbeiterbewegung spalten und dadurch ihren Einfluß abschwächen zu können glaubt. Und wenn die Regierung des alten kaiserlichen Deutschland Lenin und seinen Freunden während des Krieges erlaubt hat, im verschlossenem Eisenbahnzuge von der Schweiz durch Deutschland nach Rußland zu fahren, so geschah dies nicht, weil sie besondere Sympathie für den Bolschewismus empfand, sondern einfach deshalb, weil es nach ihrer Meinung im Interesse ihrer Politik lag. Aus solchen Dingen Schlüsse ziehen zu wollen, wie Radek und mit ihm so viele anderen in bezug auf den Kronstädter Aufstand getan haben, ist ebenso infam, als es absurd ist.

Tatsache ist, daß die Rebellen von Kronstadt jede Unterstützung der Reaktion mit Verachtung zurückgewiesen haben. Als die Kunde des Aufstandes nach Paris kam, ließen die dort wohnenden russischen Kapitalisten den Insurgenten 500000 Frank anbieten. Die Aufständischen haben dieses Angebot energisch zurückgewiesen.

Und als eine Anzahl konterrevolutionärer Offiziere in Paris den Kronstädtern in einem Radiogramm ihre Dienste anbot, so antworteten diese ihnen auf demselben Wege:

„Bleibt, wo ihr seid! Wir haben keine Verwendung für euresgleichen.“

Ist das die Sprache von Konterrevolutionären? Sicher nicht. Die Moskauer Gewalthaber wissen das selbst am besten. Aber gerade die Wahrheit über die Vorgänge in Kronstadt muß ihnen besonders gefährlich erscheinen, daher die krampfhaften Bemühungen, die wahren Beweggründe des Aufstandes unter einem Berg von systematischen Entstellungen und offenbaren Unwahrheiten zu verbergen. In Rußland selbst ist man sich über die Ursachen und den Charakter der Kronstädter Bewegung längst im klaren. Die Zeit ist nicht ferne, wo man auch im Ausland darüber ins klare kommen wird.

VI. Der Ursprung und die Bedeutung der Räteidee.

Es wäre jedoch grundverkehrt, die Verantwortlichkeit für alle diese schmähliehen Ereignisse einzelnen Personen aufbürden zu wollen. Diese sind nur insofern verantwortlich, soweit sie als Träger einer bestimmten Ideenrichtung in Betracht kommen. Nein, die Ursachen dieser tragischen Erscheinungen liegen tiefer. Hier wirkt sich ein System aus, das mit logischer Folgerichtigkeit einen solchen Zustand der Dinge auslösen mußte.

Wenn das bisher so wenig verstanden wurde, so läßt sich das hauptsächlich darauf zurückführen, daß man in allen Betrachtungen über die russische Revolution zwei Dinge zu vereinen bestrebt war, die sich schlechterdings nicht vereinen lassen — den Rätegedanken und die sogenannte „Diktatur des Proletariats". Die Diktatur steht mit der konstruktiven Idee des Rätesystems im elementarsten Widerspruch und eine gewaltsame Verbindung der beiden mußte notwendigerweise zu jener verzweifelten Mißgeburt der heutigen bolschewistischen Kommissarokratie führen, die der russischen Revolution zum Verhängnis geworden ist. Das konnte nicht anders sein. Das Rätesystem verträgt eben keine Diktatur, da es von ganz andern Voraussetzungen ausgeht. In dem Rätesystem verkörpert sich der Willen von unten, die schöpferische Energie des Volkes. In der Diktatur verkörpert sich der Zwang von oben, die blinde Unterwerfung unter das geistlose Schema eines Diktats. Beide können nicht nebeneinander bestehen. In Rußland siegte die Diktatur, darum gibt es dort heute keine Sowjets mehr. Was davon noch existiert, ist nicht mehr wie eine grausame Karikatur des Sowjetgedankens, ein jämmerliches Spottgebilde.

Der Rätegedanke ist der bestimmteste Ausdruck dessen, was wir unter einer sozialen Revolution verstehen und umfaßt die ganze konstruktive Seite des Sozialismus. Die Idee der Diktatur ist rein bürgerlichen Ursprungs und hat mit dem Sozialismus überhaupt nichts gemein. Der Rätegedanke ist durchaus keine neue Idee, die uns, wie manche glauben, erst durch die russische Revolution vermittelt wurde. Er entwickelte sich im Schoße des fortgeschrittensten Flügels der europäischen Arbeiterbewegung, als die organisierte Arbeiterklasse sich anschickte, die Schlacken und Eierschalen des bürgerlichen Radikalismus abzustreifen und sich auf eigene Füße zu stellen. Das geschah, als die „Internationale Arbeiter-Association" den großen Versuch machte, die Proletarier der verschiedenen Länder in einem Bunde zu vereinen, um die Befreiung derselben vom Joche der Lohnsklaverei anzubahnen und herbeizuführen.

Obwohl die Internationale vorwiegend den Charakter einer großen Gewerkschaftsorganisation hatte, so waren ihre Statuten derart abgefaßt, daß alle sozialistischen Richtungen der damaligen Zeit in ihren Reihen Platz finden konnten, sofern sie sich mit dem Endziel des Bundes einverstanden erklärten. Daß die Ideengänge der großen Vereinigung in der Klarheit des Erkennens und der Bestimmtheit des Ausdrucks zunächst noch viel zu wünschen übrig ließen, war nur natürlich und kam auf den Kongressen von Genf (1866) und Lausanne (1867) deutlich genug zum Ausdruck. Aber je mehr die Internationale innerlich heranreifte und sich als Kampforganisation auswuchs, desto schneller klärten sich die Anschauungen ihrer Anhänger. Die praktische Betätigung im alltäglichen Kampfe zwischen Kapital und Arbeit führten ganz von selbst zu einem tieferen Erfassen der gesellschaftlichen Probleme.

Auf dem Kongreß in Basel, im Jahre 1869, erreichte die innere Entwicklung des großen Arbeiterbundes ihren geistigen Höhepunkt. Außer der Grund- und Bodenfrage, die den Kongreß nochmals beschäftigte, war es hauptsächlich die Gewerkschaftsfrage, welche das meiste Interesse hervorrief. In dem Bericht, den der Belgier Hins und seine Freunde den Delegierten vorlegten, wurde die Frage über die eigentlichen Aufgaben und die Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisationen zum erstenmal von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus entwickelt, der eine gewisse Aehnlichkeit mit den Ideengängen Robert Owens hatte, als er in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts seine „Grand National Consoldated Trades Union" ins Leben rief. In Basel wurde klar und deutlich ausgesprochen, daß die Gewerkschaft kein gewöhnliches Provisorium sei, das nur innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft eine Existenzberechtigung habe und zusammen mit dieser verschwinden müsse. Der Standpunkt der Staatssozialisten, demzufolge die Tätigkeit der Gewerkschaften sich lediglich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Rahmen des Lohnsystems beschränken könne, und daß in dieser Arbeit ihre Aufgabe erschöpft sei, erfuhr eine gründliche Korrektur. In dem Bericht von Hins und Genossen wurde erklärt, daß die wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter als die Zellen der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft zu betrachten seien, und daß es die Aufgabe der Internationale sei, die Gewerkschaften für diesen Zweck heranzubilden. In diesem Sinne nahm der Kongreß die folgende Resolution an:

„Der Kongreß erklärt, daß alle Arbeiter die Gründung von Widerstandskassen in den verschiedenen Berufen anstreben sollen. Sobald eine Gewerkschaft gebildet wird, sind die Vereine des nämlichen Berufes davon zu unterrichten, damit die Bildung nationaler Industrieverbände ins Werk gesetzt werden kann. Diese Verbände sollen beauftragt werden, alles ihre Industrie betreffende Material zu sammeln, die gemeinschaftlich zu ergreifenden Maßregeln zu beraten und auf die Durchführung derselben hinzuarbeiten, damit das heutige Lohnsystem durch die Föderation der freien Produzenten ersetzt werden kann. Der Kongreß beauftragt den Generalrat, die Verbindung der Gewerkschaften aller Länder zu vermitteln."

In der Begründung der von der Kommission vorgeschlagenen Resolution erklärte Hins, daß „aus dieser doppelten Organisationsform der lokalen Arbeitervereinigungen und der allgemeinen Industrieverbände sich einerseits die politische Verwaltung der Gemeinde und andererseits die allgemeine Vertretung der Arbeit und zwar regional, national und international ergeben würde. Die Räte der Berufs- und Industrieorganisationen werden die heutige Regierung ersetzen, und diese Vertretung der Arbeit wird eins für allemal die alten politischen Systeme der Vergangenheit ablösen."

Dieser neue und fruchtbare Gedanke entsprang der Erkenntnis, daß jede neue wirtschaftliche Form der gesellschaftlichen Organisation auch eine neue Form der politischen Organisation nach sich ziehen müsse, ja sich nur im Rahmen dieser verwirklichen lasse. Aus diesem Grunde mußte auch der Sozialismus eine besondere politische Ausdrucksform erstreben, innerhalb derer er ins Leben treten konnte, und man glaubte diese Form im Rätesystem der Arbeit gefunden zu haben.

Die Arbeiter der romanischen Länder, in denen die Internationale ihren Hauptrückhalt fand, entwickelten ihre Bewegung auf der Basis der wirtschaftlichen Kampforganisation und der sozialistischen Propagandagruppen und wirkten im Sinne der Baseler Beschlüsse. Da sie im Staate den politischen Agenten und Verteidiger der besitzenden Klassen erkannten, so erstrebten sie keineswegs die Eroberung der politischen Macht, sondern die Ueberwindung des Staates und die Abschaffung der politischen Macht in jeder Form, in der sie mit sicherem Instinkt die Vorbedingung jeder Tyrannei und Ausbeutung erkannten. Aus diesem Grunde dachten sie nicht daran, die Bourgeoisie nachzuahmen, eine politische Partei zu gründen und damit einer neuen Klasse von Berufspolitikern den Weg zu ebnen. Ihr Ziel war die Eroberung der Werkstätte, des Betriebes, des Grund und Bodens, und sie erkannten wohl, daß dieses Ziel sie grundsätzlich von dem Politikantentum der radikalen Bourgeoisie unterschied, dessen ganze Tätigkeit auf die Eroberung der Regierungsgewalt eingestellt war. Sie begriffen, daß mit dem Monopol des Besitzes auch das Monopol der Macht fallen müsse, daß das ganze gesellschaftliche Leben auf neuen Grundlagen aufzubauen sei. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen ihre Zeit gehabt habe, suchten sie sich mit dem Gedanken an die Verwaltung der Dinge vertraut zu machen. So setzte man der Staatspolitik der Parteien die Wirtschaftspolitik der Arbeit entgegen. Man begriff, daß in den Betrieben und Industrien die Reorganisation der Gesellschaft im sozialistischen Sinne vorgenommen werden müsse, und aus dieser Erkenntnis heraus wurde der Rätegedanke geboren. In den Versammlungen, in der Presse, in der Broschürenliteratur des freiheitlichen Flügels der Internationale, der sich um Bakunin und seine Freunde scharte, fanden diese Ideen ihre Klärung und Vertiefung. In besonders klarer Weise wurde sie auf den Kongressen der spanischen Föderation entwickelt, wo auch schon die Bezeichnung „Juntas y Consejos del Trabajo" (Arbeitsgemeinden und Arbeitsräte) angewendet wurde.

Die freiheitliche Richtung innerhalb der Internationale begriff vollkommen, daß der Sozialismus von keiner Regierung diktiert werden könne, daß er sich vielmehr organisch von unten nach oben aus dem Schoße des werktätigen Volkes entwickeln müsse, und daß die Arbeiter selbst die Verwaltung der Produktion und der Verteilung in ihre Hände nehmen müßten. Diese Idee war es, die sie dem Staatssozialismus der sozialistischen Parteipolitiker entgegenstellten. Und diese inneren Gegensätze zwischen Zentralismus und Föderalismus, diese verschiedenen Auffassungen über die Rolle des Staates als Uebergangsfaktor zum Sozialismus bildeten auch den Mittelpunkt des Streites zwischen Bakunin und seinen Freunden mit Marx und dem Londoner Generalrat, welcher zur Spaltung des großen Arbeiterbundes führte. Es handelte sich in diesem Kampfe nicht umpersönliche Gegensätze, wiewohl Marx und Engels gegen die Bakunisten fast ausschließlich die gehässigsten persönlichen Verdächtigungen ins Feld führten, sondern um zwei verschiedene Auffassungen des Sozialismus und ganz besonders um zwei verschiedene Wege, die zum Sozialismus führen sollten. Marx und Bakunin waren lediglich die hervorragendsten Vertreter in diesem Kampfe um fundamentale Prinzipien; allein die Auseinandersetzungen wären auch gekommen ohne sie. Es war nicht der Gegensatz zwischen zwei Personen, in dem sich die Frage erschöpfte, sondern der Gegensatz zwischen zwei Ideenströmungen, der ihm seine Bedeutung gab und heute noch gibt.

Während der grausamen Verfolgungen der Arbeiterbewegung in den romanischen Ländern, die nach der Niederlage der Pariser Kommune zuerst in Frankreich einsetzte und sich in den folgenden Jahren über Spanien und Italien verbreitete, wurde der Rätegedanke stark in den Hintergrund gedrängt, da jede öffentliche Propaganda verboten war und die Arbeiter in ihren geheimen Gruppen alle Kräfte auf die Abwehr der Reaktion und auf die Unterstützung ihrer Opfer konzentrieren mußten. Allein mit der Entwicklung des revolutionären Syndikalismus erwachte auch der Rätegedanke zu neuem Leben. Besonders in der großen Aktionsepoche der französischen Syndikalisten von 1900 bis 1907 wurde die Räteidee aufs klarste und bestimmteste ausgebildet. Ein Blick auf die Schriften von Pelloutier, Pouget, Griffuelhes, Monatte, Yvetot und vieler anderen — von reinen Theoretikern wie Lagardelle rede ich hier überhaupt nicht, da sie an der praktischen Bewegung niemals einen aktiven Anteil genommen haben — genügt, um sich zu überzeugen, daß weder in Rußland noch in irgend einem anderen Lande die Idee des Rätesystems durch irgend einen neuen Gedanken bereichert wurde, den die Propagandisten des revolutionären Syndikalismus nicht schon vor 15 oder 20 Jahren entwickelt hätten.

Damals wollte man allerdings im Lager der sozialistischen Arbeiterparteien vom Rätesystem nichts wissen, und die große Mehrheit derjenigen, die sich heute — vornehmlich in Deutschland — als ausgesprochene Anhänger der Räteidee gerieren, blickten in jener Zeit mit verächtlicher Geringschätzung auf diesen „neuesten" Utopismus herab. Die Bolschewiki machten von dieser allgemeinen Regel durchaus keine Ausnahme. Wenn man heute gezwungen ist, dem Rätegedanken der freiheitlichen Sozialisten und Syndikalisten Reverenz zu erweisen, so ist das ein bedeutendes Zeichen der Zeit und ein neuer Ausgangspunkt der internationalen Arbeiterbewegung. Die „Utopie" hat sich als stärker erwiesen als die „Wissenschaft".

VII. Diktatur und Revolution.

Wenn es nun unbestreitbar ist, daß der Rätegedanke ein natürliches Ergebnis des freiheitlichen Sozialismus ist, der sich nach und nach im Schoße der revolutionären Arbeiterbewegung entwickelt hat und zwar als Gegensatz zu allen Ueberlieferungen der bürgerlichen Ideologie und ihrer Auffassung vom Staate, so läßt sich dasselbe von der Diktatur durchaus nicht behaupten.

Der Gedanke der Diktatur ist nicht der sozialistischen Ideenwelt entsprungen. Er ist kein Ergebnis der Arbeiterbewegung, sondern eine verhängnisvolle Erbschaft der Bourgeoisie, mit der man das Proletariat beglückt hat. Er ist eng verbunden mit dem Streben nach der politischen Macht, das gleichfalls partei-bürgerlichen Ursprungs ist.

Die Diktatur ist eine gewisse Form der Staatsgewalt, es ist der Staat unter der Herrschaft des Belagerungszustandes. Wie alle anderen Anhänger der Staatsidee, gehen auch die Befürworter der Diktatur von der Voraussetzung aus, daß man das angeblich Gute und zeitlich Notwendige dem Volke von oben her diktieren und aufzwingen könne. Diese Voraussetzung allein macht die Diktatur zum ausgesprochenen Hindernis der sozialen Revolution, deren eigentliches Lebenselement die direkte Initiative und die konstruktive Betätigung der Massen ist. Die Diktatur ist die Negation des organischen Werdens, des natürlichen Aufbaues von unten nach oben, die Unmündigkeitserklärung des Volkes, die gewaltsame Bevormundung der Massen durch eine kleine Minderheit. Ihre Anhänger mögen von den besten Absichten beseelt sein, die eiserne Logik der Tatsachen wird sie stets zwingen, im Lager des extremsten Despotismus zu landen.

Das hatte Bakunin schon sehr richtig erkannt, als er schrieb: „Der Hauptgrund, warum alle revolutionären Staatsautoritäten der Welt die Revolution immer so wenig gefördert haben, ist darin zu suchen, daß sie dieselbe stets durch ihre eigene Autorität und kraft ihrer eigenen Macht fördern wollten, wodurch sie natürlich nur zwei Ergebnisse erzielen konnten: erstens waren sie gezwungen, die revolutionäre Aktion auf das äußerste zu begrenzen, da es selbst für die intelligentesten, tatkräftigsten und aufrichtigsten revolutionären Machthaber unmöglich ist, alle Fragen und Interessen auf einmal zu überblicken, und da jede Diktatur — möge es nun die Diktatur einer Person oder eines revolutionären Ausschusses sein — notwendigerweise sehr beschränkt und verblendet sein muß, da sie weder imstande ist, auf den Grund des Volkslebens zu dringen, noch dessen ganze Weite zu umfassen, gleichwie das mächtigste Schiff nicht imstande ist, die ganze Breite und Tiefe des Meeres zu ermessen. Und zweitens, weil jede Handlung, die dem Volke durch eine offizielle Macht von oben gesetzlich aufgezwungen wird, in den Massen notwendigerweise ein Gefühl der Empörung und der Reaktion auslösen muß."

Es macht einen geradezu komischen Eindruck, wenn Lenin und seine Anhänger nicht müde werden, alle ihnen nicht genehme sozialistischen Richtungen als „kleinbürgerlich" abzutun. Dieselben Leute, die selbst bis über die Ohren in der politischen Ideologie des Kleinbürgertums hoffnungslos stecken geblieben sind! Es war die kleinbürgerliche Partei der Jakobiner, von der unsere Staatssozialisten die Idee der Diktatur übernommen haben. Dieselbe Partei, die jeden Streik der Arbeiter zu einem Verbrechen stempelte und die gewerkschaftlichen Organisationen unter Androhung der Todesstrafe verboten hatte. Saint Just und Couthon waren ihre energischsten Fürsprecher, und Robespierre handelte unter ihrem Einfluß, nachdem er den Gedanken eine Zeitlang zurückgewiesen hatte und zwar aus Furcht, daß Brissot Diktator werden könnte. Sogar Marat liebäugelte stark mit dem Gedanken der Diktatur, obwohl er die Gefahr derselben nicht verkannte und daher einen Diktator „mit einer Kugel am Beine" forderte.

Die falsche und einseitige Darstellung der großen Revolution durch die radikalen bürgerlichen Historiker, die auch die meisten Sozialisten stark beeinflußt hat, hat viel dazu beigetragen, der „Diktatur der Jakobiner" einen unverdienten Nimbus zu verleihen, der noch durch die Hinrichtung ihrer bedeutendsten Führer verstärkt wurde. Sind doch die meisten Menschen nur allzu geneigt, einem Märtyrerkultus zu verfallen, der sie unfähig macht, den Maßstab der Kritik an Personen und Handlungen zu legen. Es war vornehmlich Louis Blanc, der mit seinem großen Geschichtswerk wohl das meiste zu dieser kritiklosen Glorifizierung des Jakobinertums mit beigesteuert hat.

Man sah die großen Errungenschaften der Revolution, die Abschaffung des Feudalsystems und der absoluten Monarchie, und da die Geschichtsschreiber dies alles als das Werk der Jakobiner und des „Revolutionären Convents" hinzustellen beliebten, so entstand im Laufe der Zeit eine total falsche Auffassung der Revolutionsgeschichte. Heute wissen wir, daß die landläufige Beschreibung der großen französischen Revolution auf einer vollständigen Verkennung der historischen Tatsachen beruht, daß die wirklichen und unvergänglichen Errungenschaften der Revolution ausschließlich durch die revolutionäre Aktion der Bauern und Stadtproletarier und zwar gegen den Willen der Nationalversammlung und später gegen den des Convents ertrotzt wurden. Die Jakobiner und der Convent sträubten sich stets aufs heftigste gegen radikale Neuerungen, bis sie vor vollendeten Tatsachen standen und sich nicht länger sträuben durften. So ist die Abschaffung des Feudalsystems ausschließlich auf die fortgesetzten Aufstände der Bauern zurückzuführen, die von den politischen Parteien in Acht und Bann erklärt und aufs schärfste verfolgt wurden. Noch im Jahre 1792 bestätigte die Nationalversammlung das Feudalsystem und erst 1793, als sich die Bauern ihre Rechte bereits erkämpft hatten, sanktionierte der Convent die Abschaffung der Feudalrechte. Ebenso verhielt es sich mit der Abschaffung der Monarchie.

Die ersten Begründer einer sozialistischen Volksbewegung in Frankreich waren aus dem Lager des Jakobinertums hervorgegangen, und es war nur natürlich, daß sie noch mit den Eierschalen ihrer Vergangenheit behaftet waren. Als Babeuf, Darthé, Buonarotti usw. die „Verschwörung der Gleichen" ins Leben riefen, hatten sie die Absicht, mittels einer revolutionären Diktatur Frankreich in einen kommunistischen Agrarstaat zu verwandeln. Als Kommunisten erkannten sie, daß die Ideale der großen Revolution, wie sie dieselben verstanden, nur durch die Lösung der wirtschaftlichen Frage verwirklicht werden könnten. Als Jakobiner aber glaubten sie, dieses Ziel nur mit Hilfe einer mit außerordentlichen Vollmachten versehenen Regierung durchsetzen zu können. Der Glaube an die Allmacht des Staates, der im Jakobinertum seine extremste Form erreicht hatte, war ihnen zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie einen anderen Weg hätten sehen können.

Babeuf und seine Kameraden gingen für ihre Ueberzeugungen in den Tod, ihre Ideen aber lebten weiter im Volke und fanden in den geheimen Gesellschaften der Babouvisten unter der Regierung Louis Philipps eine Heimstätte. Männer wie Barbès und Blanqui wirkten in ihrem Sinne und erstrebten die „Diktatur des Proletariats“, um ihre staatskommunistischen Ziele in die Wirklichkeit umzusetzen.

Von diesen Männern haben Marx und Engels die Idee von der Diktatur des Proletariats übernommen, der sie im „Kommunistischen Manifest" Ausdruck gegeben haben. Auch sie verstanden unter dieser Bezeichnung nichts anderes, als die Einsetzung einer starken zentralen Regierungsgewalt, deren Aufgabe es sein sollte, durch tief einschneidende Zwangsgesetze die Herrschaft der Bourgeoisie endgültig zu brechen und die Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne vorzubereiten und durchzuführen.

Diese Männer kamen ebenfalls aus dem Lager der bürgerlichen Demokratie zum Sozialismus und waren vollständig durchdrungen von den Traditionen des Jakobinertums. Außerdem war die sozialistische Bewegung jener Zeit — mit der Ausnahme Proudhons und seiner Freunde — noch nicht entwickelt genug, sich einen eigenen Weg zu schaffen und war daher mehr oder weniger auf bürgerliche Ueberlieferungen angewiesen. Erst mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Zeit der Internationale war der Moment gekommen, wo die Sozialisten imstande waren, die letzten Ueberreste bürgerlicher Traditionen abzustreifen, um sich vollständig auf eigene Füße zu stellen.

Der Rätegedanke war die praktische Ueberwindung der Staatsidee und Machtpolitik in jeder Form und steht als solcher im direkten Gegensatz zu jeder Diktatur, die ja nicht nur das Machtinstrument der besitzenden Klassen, den Staat, aufrechterhalten will, sondern sogar die höchste Machtentfaltung desselben anstrebt.

Die Pioniere des Rätesystems erkannten sehr wohl, daß mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auch die Beherrschung des Menschen über den Menschen verschwinden müsse. Sie wußten auch, daß der Staat — diese Verkörperung der organisierten Gewalt der besitzenden Klassen — niemals in ein Befreiungsinstrument für die Arbeiter umgewandelt werden könne. Daher waren sie der Ansicht, daß die Zerstörung des alten Machtapparates die wichtigste Aufgabe der sozialen Revolution sein müsse, um jede neue Form der Ausbeutung unmöglich zu machen. Auf dem berüchtigten Haager Kongreß (1872) hat James Guillaume, als Wortführer der föderalistischen Minorität, diesem Gedanken klaren Ausdruck gegeben, indem er der Eroberung der politischen Macht die Vernichtung derselben als grundsätzliche Forderung gegenüberstellte.

Man wende uns nicht ein, daß es sich bei der Diktatur des Proletariats um etwas ganz besonderes handle, daß man dieselbe mit keiner anderen Diktatur vergleichen könne, da man es hier mit der Diktatur einer Klasse zu tun habe. Diese sophistische Deutung ist nur ein spitzfindiges Mittel, um Einfaltspinsel über den wahren Charakter der Sache hinwegzutäuschen. So etwas wie die Diktatur einer Klasse ist überhaupt undenkbar, da es sich letzten Endes nur um die Diktatur einer bestimmten Partei handelt, die sich anmaßt, im Namen einer Klasse zu sprechen; ebenso wie die Bourgeoisie noch jede despotische Handlung im „Namen des Volkes" gerechtfertigt hat.

Und gerade bei solchen Parteien, die nie zuvor im Besitz der Macht gewesen sind, ist der Unfehlbarkeitsdünkel der einzelnen noch stärker entwickelt und mit noch unheilvolleren Konsequenzen verbunden. Der Parvenü der Macht ist in der Regel noch abstoßender und gefährlicher als der Parvenü des Besitzes.

Rußland bietet uns in dieser Hinsicht ein Schulbeispiel. Dort kann man sogar schon nicht mehr reden von der Diktatur einer Partei, sondern höchstens von der Diktatur einer Handvoll Männer, auf welche auch die Partei keinerlei Einfluß mehr hat. Die ungeheure Majorität des russischen Volkes ist gegen die Herrschaft dieser Oligarchie, die sogar bei der großen Mehrheit der russischen Arbeiterschaft schon längst jede Sympathie verloren hat. Wenn die Arbeiter Rußlands — von den Bauern rede ich jetzt absichtlich nicht, da ihre feindliche Stellung der Sowjetregierung gegenüber allgemein bekannt ist — heute in der Lage wäre, die Wahlen zu den Sowjets frei vornehmen zu können, so würde die ganze bolschewistische Herrschaft in wenigen Stunden zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Es ist nicht der Wille einer Klasse, der in der famosen „Diktatur des Proletariats" heute in Rußland seinen Ausdruck findet, sondern lediglich die Macht der Bajonette. Unter der „Diktatur des Proletariats" verwandelte sich Rußland in einen Riesenkerker, in dem jede Spur von Freiheit systematisch ausgetilgt wurde, ohne daß man dadurch dem ursprünglichen Ziele der Revolution nähergekommen wäre. Im Gegenteil, man entfernte sich immer mehr davon und zwar in dem Grade, als die neue Autokratie an Stärke zunahm und die revolutionäre Initiative des Volkes erstickte. Heute ist man endlich soweit gekommen, die prätendierten Ziele von anno dazumal endgültig aufzugeben und mit Sack und Pack ins kapitalistische Lager zurückzukehren. Gewiß, man gibt sich alle Mühe, den großen Rückzug durch allerhand dialektische Finessen zu verbergen — welcher geschlagene General hat bisher nicht dasselbe getan? — allein die artigsten sophistischen Kunststückchen Lenins und Radeks sind heute nicht mehr imstande, über die nackten Tatsachen hinwegzutäuschen. Die berühmte „Diktatur des Proletariats" hat den russischen Arbeiter nicht nur zum geknechtetsten aller Sklaven gemacht, sie hat auch die Brücke geschlagen zu einer neuen Herrschaft der Bourgeoisie.

VIII. Ueber das Wesen des Staates.

Einige Monate vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 schrieb Lenin sein bekanntes Werk „Staat und Revolution", das eine sonderbare Mischung marxistischer und anscheinend anarchistischer Ideengänge enthält. Er sucht dort an der Hand eines sorgfältig ausgewählten Beweismaterials festzustellen, daß Marx und Engels stets für die Beseitigung des Staates eingetreten seien und sich der Regierungsmaschinerie nur während der revolutionären Uebergangsperiode bedienen wollten, in welcher die Gesellschaft vom Kapitalismus in den Sozialismus hinübergleitet. In derselben Zeit greift er in seiner Schrift Kautsky, Plechanow und die sogenannten „Opportunisten" des modernen marxistischen Sozialismus aufs schärfste an und wirft ihnen vor, daß sie die Lehre der beiden Meister mit Absicht verfälscht hätten, indem sie den Arbeitern deren Anschauungen über den Staat und dessen Rolle in der Zeit der proletarischen Diktatur vorenthielten. Unsere Aufgabe ist jetzt nicht, diese Behauptung Lenins einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Bemerken wollen wir nur, daß viele seiner Argumente geradezu an den Haaren herbeigezogen sind. Es wäre durchaus nicht schwer, seinem Zitatenschatz aus den Schriften von Marx und Engels mindestens ebensoviel andere Zitate entgegenzustellen, die gerade das Gegenteil von dem beweisen, was zu beweisen er die Absicht hatte. Solche Kommentationen sind in der Regel von geringerer Bedeutung, da es letzten Endes ja ganz gleichgültig ist, was Marx oder irgend ein anderer in irgend einer Periode ihres Lebens gesagt und geschrieben haben, sondern nur auf das, was durch die praktische Erfahrung bestätigt oder widerlegt wurde. Darauf und nur darauf kommt es an, alles andere hat im Grunde genommen denselben Wert, wie die famosen Kommentare, die spitzfindige Theologen an die Offenbarung Johannis knüpften.

In seiner früher erwähnten Schrift erklärte Lenin ausdrücklich, „daß der Gegensatz zwischen Marxisten und Anarchisten darin bestehe, daß die erstgenannten sich die völlige Beseitigung des Staates zum Ziele setzten, was ihres Erachtens jedoch erst nach der Beseitigung der Klassen durch die sozialistische Revolution als Resultat der Einführung des Sozialismus, der zum Absterben des Staates führt, erfolgen könne; während die letztgenannten die völlige Beseitigung des Staates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für die Verwirklichung der Beseitigung zu erfassen, verlangten."

Diese Erklärung veranlaßte eine ganze Anzahl von Anarchisten in ihm und seiner Partei engere Bundesgenossen zu erblicken. Viele derselben bequemten sich sogar dazu, die famose „Diktatur des Proletariats" mit in Kauf zu nehmen, da es sich ja angeblich nur um eine Uebergangsperiode handelte, die „im Interesse der Revolution" nun einmal nicht umgangen werden konnte. Man wollte oder konnte einfach nicht verstehen, daß gerade in dem Gedanken, der die Notwendigkeit der Diktatur als unvermeidliches Uebergangsstadium anerkennt, die große Gefahr verborgen liegt.

Es gehört wirklich eine Logik ganz besonderer Art dazu, um die Behauptung aufzustellen, daß der Staat solange notwendig sei, bis man die Klassen beseitigt hätte. Als ob der Staat nicht stets der Schöpfer neuer Klassen gewesen wäre, ja seinem ganzen inneren Wesen nach die Verewigung der Klassenunterschiede geradezu verkörpert. Diese unumstößliche Wahrheit, die im Verlauf der Geschichte immer wieder ihre Bestätigung gefunden hat, ist durch das bolschewistische Experiment in Rußland erst jetzt wieder in einer Weise in Erfüllung gegangen, daß man mit unheilbarer Blindheit geschlagen sein muß, um die ungeheure Bedeutung dieser neuesten Lehre zu verkennen. Unter der „Diktatur des Proletariats" hat sich in Rußland eine neue Klasse entwickelt, die Kommissarrokratie, die von der breiten Masse heute geradeso als Unterdrücker empfunden wird, wie ehemals die Vertreter des alten Regimes. Und diese neue Klasse fristet ihr nutzloses, parasitisches Dasein auf dieselbe Weise wie ihre Vorgänger unter der Herrschaft des Zaren. Sie haben die besten Wohnungen monopolisiert und sind mit allem reichlich versorgt, während die große Masse des Volkes in Hunger und furchtbarem Elend dahinsiecht. Dabei hat diese neue Klasse alle tyrannischen Gepflogenheiten der alten Machthaber auf die Spitze getrieben und lastet wie ein Alpdruck auf der Masse des Volkes. In der Sprache des Volkes hat sich ein neues Wort entwickelt, das für den gegenwärtigen Zustand in Lenins Reich sehr bezeichnend ist: „Sowjetbourgeois". Diese Bezeichnung, die heute in russischen Arbeiterkreisen gang und gäbe ist, zeigt klar und deutlich, wie das Volk das Joch dieser neuen Herrscherkaste empfindet, die in seinem Namen ihre Herrschaft ausübt.

Angesichts dieser grausamen Tatsachen klingt die Behauptung Lenins, daß der Staat solange bestehen müsse, bis die Klassen beseitigt wären, geradezu wie ein schlechter Witz. Nein, die Sache liegt ganz anders. Der Machtapparat des Staates ist nur imstande, neue Privilegien zu schaffen und alte zu beschützen. Darin besteht seine Eigenart, der ganze Inhalt seines Daseins, möge er seine Wirksamkeit nun unter dem Banner des Zarismus oder unter der „Diktatur des Proletariats" entfalten. Man kann von Disteln keine Weintrauben lesen, ebensowenig, wie man ein Machtinstrument der Klassenherrschaft und des Monopols in ein Befreiungsinstrument des Volkes umwandeln kann.

In seinem glänzenden Essai über den modernen Staat macht Kropotkin die folgende tiefsinnige Bemerkung:

„Wer von einer Einrichtung, die ein historisches Gebilde darstellt, verlangt, sie solle dazu dienen, die Privilegien zu zerstören, die sie selber zur Entwicklung gebracht hatte, der erkennt damit seine Unfähigkeit an, zu begreifen, was ein historisches Gebilde im Leben der Gesellschaften vorstellt. Der verkennt damit die Grundregel der ganzen organischen Natur: daß neue Funktionen neue Organe verlangen und daß sie sich selbst dieselben ausbilden müssen. Der erkennt damit an, daß er zu faulen und zaghaften Geistes ist, um in einer neuen Richtung zu denken, wie sie von einer neuen Entwicklung geboten wird."

Diese Worte enthalten eine der tiefsten Wahrheiten unserer Zeit und sie berühren in derselben Zeit eines der tiefsten geistigen Gebrechen, an denen die heutige Kulturmenschheit krankt.

Institutionen nehmen im Leben der Gesellschaft denselben Platz ein, wie die Organe am Körper des Tieres oder der Pflanze. Sie sind die Organe des Gesellschaftskörpers. Organe erstehen nicht willkürlich, sondern durch bestimmte Notwendigkeiten des Milieus. Das Auge eines Tiefseefisches ist anders gestaltet als das Auge eines Landsäugetieres, da es ganz anderen Anforderungen genügen muß. Veränderte Lebensbedingungen schaffen veränderte Organe. Aber immer erfüllt ein Organ nur eine bestimmte Funktion, für deren Zweck es sich entwickelt hat und stirbt allmählich wieder ab, wird rudimentär, wenn der Organismus die Betätigung dieser Funktion nicht mehr fordert. Nie aber übernimmt ein Organ eine andere Funktion, die seinem eigenen Wesen nicht entspricht.

Dasselbe ist der Fall mit gesellschaftlichen Institutionen. Auch sie entstehen nicht willkürlich, sondern werden durch bestimmte soziale Notwendigkeiten ins Leben gerufen, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. So entwickelte sich der moderne Staat, als im Schoße der alten Gesellschaftsordnung die Klassenteilung und die Monopolwirtschaft immer größere Fortschritte machten. Die neuerstandenen besitzenden Klassen benötigten eines Machtinstrumentes, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Vorrechte über die breiten Massen des Volkes aufrechtzuerhalten. So entstand und entwickelte sich allmählich der moderne Staat und zwar als Organ der privilegierten Klassen zur gewaltsamen Niederhaltung und Unterdrückung der Massen. Diese Aufgabe bildete seinen Wesensinhalt, die einzige Ursache seiner Existenz. Und dieser Aufgabe ist er stets treu geblieben, mußte er treu bleiben, weil er nicht aus seiner Haut herauskonnte. Seine Formen haben sich verändert im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, doch seine Aufgabe ist immer dieselbe geblieben, sie hat sich sogar fortgesetzt erweitert und zwar in dem Maße, als er immer mehr Zweige des gesellschaftlichen Lebens seiner Macht unterwarf. Ob er sich nun Republik oder Monarchie nennt, ob er auf dem Boden einer Verfassung oder auf der Basis der Autokratie organisiert ist, seine historische Mission bleibt immer dieselbe. Und ebensowenig wie man die Funktionen eines Organes am Körper des Tieres oder der Pflanze willkürlich verändern kann, ebensowenig man nach Wunsch mit dem Auge hören und mit dem Ohre sehen kann, ebensowenig ist es möglich, ein Organ der Unterdrückung in ein Befreiungsorgan für die Unterdrückten umzubilden. Der Staat kann nur sein, was er ist, der Verteidiger des Privilegiums und der Massenausbeutung, der Schöpfer neuer Klassen und neuer Monopole. Wer diese Rolle des Staates verkennt, begreift das Wesen der heutigen Gesellschaftsordnung überhaupt nicht und ist unfähig, der Menschheit neue Horizonte ihrer Entwicklung zu zeigen.

Die Bolschewiki, indem sie die „Diktatur des Proletariats" in Rußland einführten, haben nicht nur den Staatsapparat der alten Gesellschaft übernommen, sie haben ihn auch mit Machtvollkommenheiten ausgestattet, die keine andere Regierung der Welt aufzuweisen hat. Sie haben alle Zweige des öffentlichen Lebens seiner Gewalt ausgeliefert und ihm die ganze Organisation der Wirtschaft übertragen. Sie haben alles, was ihnen im Wege stand, rücksichtslos unterdrückt, jedes eigene Denken und Fühlen der Massen ausgeschaltet und so die furchtbarste Bürokratie geschaffen, welche die Welt je gesehen hat. Die berühmten Worte des Jakobiners Saint Just, daß es die Aufgabe des Gesetzgebers sei, das Privatgewissen auszuschalten und den Bürger im Sinne der Staatsraison denken zu lehren, sind nie zuvor bis zu einem solchen Grade in die Wirklichkeit umgesetzt worden als wie in Rußland unter der „Diktatur des Proletariats". Jede Meinung, die den Diktatoren nicht genehm ist, wird schon seit Jahren im Grunde erstickt, da ihr die technischen Möglichkeiten fehlen, einen Ausdruck zu finden. Nur was im Sinne der bolschewistischen Staatsraison geschrieben ist, wird durch die Staatspresse dem Volke vorgesetzt.

In seinen bekannten Leitsätzen über „Bürgerliche Demokratie und proletarischer Diktatur" versucht Lenin die Unterdrückung der Versammlungsfreiheit in Rußland durch den Hinweis auf die Revolutionen in England und Frankreich zu rechtfertigen, wo man den monarchistischen Elementen auch nicht erlaubt habe, sich öffentlich zu versammeln und ihrer Meinung Ausdruck zu geben. Allein dieser Hinweis ist nicht mehr wie eine sophistische Verschleierung der eigentlichen Tatsachen. In England sowohl als in Frankreich kämpfte die junge Republik auf Leben und Tod gegen ihre monarchistischen Widersacher. Daß sie in diesem Kampfe, wo es sich um Sein oder Nichtsein handelte, ihre offenkundigsten Feinde mit allen Mitteln niederhalten mußte, ist leicht zu verstehen und in jeder Hinsicht gerechtfertigt, da es sich in diesem Falle um ein Gebot elementarster Selbstverteidigung handelte. Aber in Rußland unterdrückt man nicht bloß die Anhänger des alten Regimes, sondern auch alle revolutionären und sozialistischen Richtungen, die mitgeholfen haben, die Autokratie zu stürzen und die stets Blut und Leben einstellten, wenn es galt, den Versuchen der Konterrevolution entgegenzutreten. Das ist der große Unterschied, den Lenin absichtlich verschweigt, um seine Anhänger außerhalb der russischen Grenzpfähle nicht zu verstimmen. (Soweit sie keine Deutschen sind, denn bei diesen ist, infolge ihres anerzogenen militärischen „Ordnungssinnes" eine Verstimmung schwer zu befürchten.)

Dasselbe gilt auch für alles, was Lenin in bezug auf die Freiheit der Presse zu sagen weiß. Wenn er in seiner oben erwähnten Kundgebung erklärt: „daß die sogenannte Preßfreiheit in den demokratischen Staaten nur ein Betrug sei, solange die besten Druckereien und die größten Vorräte an Papier sich in den Händer Kapitalisten befinden", so heißt das an der Sache, auf die es ankommt, vorbeireden. Was Lenin über die Preßfreiheit in den kapitalistischen Staaten sagt, sind Binsenwahrheiten, die jeder Sozialist längst begriffen hat. Allein er verschweigt, daß in Sowjet-Rußland die Bedingungen für die revolutionäre und sozialistische Presse tausendmal schlimmer sind als in irgend einem kapitalistischen Staate. In anderen Ländern verfügen die Kapitalisten, wie Lenin sehr richtig bemerkt, über die besten Druckereien und die größten Vorräte an Papier, im „kommunistischen" Rußland jedoch verfügt der Staat über alle Druckereien und alles Papier und ist infolgedessen imstande, jede Meinung zu unterdrücken, nicht nur die Meinung der Reaktionäre, sondern auch jede wahrhaft revolutionäre und sozialistische Meinung, die seinen Trägern nicht genehm ist. Hier liegt der Hund begraben. In der Zeit der englischen und französischen Revolution unterdrückte man die mündlichen und schriftlichen Kundgebungen der Monarchisten, allein man unterband nicht jeden Meinungsausdruck der verschiedenen revolutionären Richtungen, obwohl dieselben der Regierung sehr oft durchaus nicht erwünscht waren. Aus diesem Grunde sind die Ausführungen Lenins durchaus irreführend, indem sie den Kern der Frage umgehen und just das verschweigen, auf was es ankommt.

In kapitalistischen Staaten ist der freie Meinungsausdruck in Wort und Schrift naturgemäß sehr beschränkt; in Rußland aber, unter der sogenannten „Diktatur des Proletariats", besteht er überhaupt nicht. Das ist der Unterschied. Und des Ergebnis des Ganzen? Ein vollständiges Versagen der Diktatur, soweit die Anbahnung. und Verwirklichung des Sozialismus in Frage kommt — eine hoffnungslose Kapitulation vor demselben Kapitalismus, den man angeblich vernichten wollte.

IX. Das Wesen der Volksrevolution: Freiheit und Sozialismus

Man hat des öfteren erklärt, daß der unselige Krieg, der Rußland lange Jahre nicht zur Ruhe kommen ließ, sehr viel dazu beigetragen habe, die innere Lage des Landes so hoffnungslos zu gestalten. Es ist kein Zweifel, daß dieser Behauttung ein gut Teil Wahrheit zugrunde liegt. Auch Kropotkin hat darauf hingewiesen in seiner „Botschaft an die westeuropäischen Arbeiter". Die Anerkenneng dieser Tatsache darf uns jedoch nicht dazu verleiten, die tiefere Ursache der Dinge zu verkennen. Wenn nicht der Krieg, wären die Bolschewisten wohl schwerlich imstande gewesen, ihren diktatorischen Gelüsten so üppig die Zügel schießen zu lassen. Sie hätten zweifellos mehr Widerstand im Volke gefunden. Außerdem wäre ihnen die Möglichkeit genommen gewesen, jede neue Beschränkung der Freiheit im Hinblick auf die furchtbare Lage des Landes moralisch rechtfertigen zu können. Allein ihre Politik wäre auch in diesem Falle eine stets Gefahr für die Revolution gewesen, da sie von Voraussetzungen ausgingen, die mit dem eigentlichen Wesen einer sozialen Revolution im elementarsten Widerspruch stehen.

Die Bolschewiki, diese verspäteten Nachkommen des Jakobinertums, gehen von dem Standpunkt aus, daß man jede gesellschaftliche Neuerung den Massen von oben her aufzwingen muß. Und da sie keinerlei Vertrauen in die konstruktiven Kräfte und Fähigkeiten des Volkes haben, so ist es von ihrem Standpunkt aus ganz erklärlich, daß sie jeder Initiative von unten her feindlich gegenüberstehen, die nicht den Stempel ihrer besonderen Parteipolitik trägt. Aus demselben Grunde müssen ihnen auch alle Institutionen und Vereinigungen, die direkt aus den Massen der Bauern und Arbeiter herausgewachsen sind, ein Dorn im Auge sein, und man kann verstehen, daß sie ihr ganzes Dichten und Trachten darauf einstellten, die Selbständigkeit solcher Organisationen mehr und mehr zu beschränken, um dieselben bei der ersten Gelegenheit ihrer Parteizentrale unterzuordnen. Das ist mit den Sowjets der Fall gewesen. Dies war auch der Fall mit den Gewerkschaften. Andere Organisationen, wie die Kooperativgenossenschaften, haben sie gänzlich zerstört. Heute suchen sie dieselben wieder aufzubauen, natürlich unter der Direktive des Staates, damit sie, wie Lenin selbst erklärt, „die Beziehungen zwischen dem Staate und dem Kapitalismus erleichtern und eine bessere Kontrolle ermöglichen sollen".

Aus diesem tief eingefleischten Mißtrauen der Bolschewiki gegen alle Bestrebungen von unten her erklärt sich auch ihre geradezu fanatische Vorliebe für Dekrete. Das Dekret ist der Fetisch der bolschewistischen Staatskunst; es vernimmt bei ihren Trägern den Platz der vom Volke selbst vollzogenen revolutionären Tatsachen. So entstand jene ungeheuerliche Epidemie der „revolutionären" Erlasse und Verordnungen, die selbst dem geriebensten Juristen Herzbeklemmungen bereiten muß, und die so ungemein charakteristisch für den gegenwärtigen Zustand der Dinge in Rußland ist. In diesem ungeheuren Wust von Dekreten wurde die Revolution förmlich erstickt. Und trotzdem man weiß, daß 99 Prozent aller Verordnungen schon auf dem Wege durch die unzähligen Büros ihr Grab finden, wächst die papierne Flut mit jedem Tage. Nie hat eine Regierung eine solche Unmasse von Dekreten und Verordnungen in die Welt geschleudert, als die bolschewistische. Könnte man mit Dekreten die Welt erlösen, so gäbe es längst in Rußland keine Probleme mehr.[1] Man erinnert sich unwillkürlich der wunderbaren Worte Bakunins:

„Ich bin vor allem ein ausgesprochener Feind einer mit Dekreten vollzogenen Revolution, die ja nur eine Folge und eine Anwendung der Idee des „revolutionären Staates” ist, das heißt der Reaktion, die sich unter der Maske der Revolution verbirgt. Der Methode der revolutionären Dekrete stelle ich die Methode der revolutionären Tatsachen entgegen, die einzig wirksame, logische und wahre. Die autoritäre Methode, die dem Menschen die Freiheit und Gleichheit von oben her aufzwingen will, zerstört dieselben. Die anarchistische Methode der Aktion ruft Taten hervor und erweckt dieselben auf unfehlbare Weise, außerhalb der Einmischung irgendeiner offiziellen und autoritären Gewalt. Die erste Methode, die des „revolutionären Staates", führt notwendigerweise zum schließlichen Triumph der offenen Reaktion. Die zweite Methode vollbringt auf natürlicher und unerschütterlicher Basis die Revolution."

Ob wohl Bakunin geahnt hat, daß ihm die Geschichte in einer so tragischen Weise Recht geben würde? Wohl schwerlich.

Nur ein Mann, der die schöpferischen Kräfte, die im Volke verborgen liegen, so total verkennt, wie Lenin, konnte die Freiheit als ein „bürgerliches Vorurteil" bezeichnen. Die marxistische Manie, in allen Revolutionen der Vergangenheit lediglich Kundgebungen des Bürgertums zu erblicken, mußte ihn natürlich zu einer solchen Auffassung führen. Aber diese Anschauung ist durchaus irreführend. Sowohl in der englischen als auch in der großen französischen Revolution lassen sich deutlich zwei Strömungen unterscheiden: die Volksrevolution und die revolutionäre Bewegung des Bürgertums. In den großen Ereignissen der Revolution gehen diese beiden Strömungen oft zusammen, aber nichtsdestoweniger verfolgt jede von ihnen ihre besonderen Ziele. Ohne die Volksrevolution, das heißt, ohne jene grandiose Bewegung der Bauern und der proletarischen Stadtbevölkerung wären in Frankreich das Feudalsystem und die absolute Monarchie nie gestürzt worden. Das ursprüngliche Ziel der Bourgeoisie war eine konstitutionelle Monarchie wie die englische und eine bescheidene Erleichterung der Feudallasten. Sie wäre vollständig zufrieden gewesen, sich mit der Aristokratie in die Herrschaft zu teilen. Alle weiteren Ziele lagen ihr vollkommen fern, und die bekannten Worte Camille Demoulins „Vor 1789 gab es kein Dutzend Republikaner in Paris", bezeichnen treffend den Stand der Dinge. Aber es waren die Aufstände der Bauern und Stadtproletarier, welche die Revolution vorwärtstrieben und die von dem Bürgertum aufs schärfste bekämpft wurden. Die Volksrevolution war es, welche das Feudalsystem abschaffte und die absolute Monarchie in Trümmer schlug, trotz des Widerstandes, den ihr das Bürgertum entgegensetzte. Wenn die Bourgeoisie letzten Endes den Sieg davontrug und die Macht in ihre Hände nehmen konnte, so beweist das durchaus nicht, daß die Revolution als solche einen rein bürgerlichen Charakter hatte. Es genügt, auf die Bewegung der Enragées und auf die Verschwörung Babeufs hinzuweisen, um sich zu überzeugen, daß in der Tiefe des Volkes Kräfte am Werk gewesen sind, die man sicherlich nicht als bürgerlich bezeichnen kann.

Durch die Revolution der Massen und im Kampfe mit ihr war die Bourgeoisie gezwungen, ihre Ziele weiter zu stecken, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte und in ihrer Gesetzgebung der Allgemeinheit gewisse Rechte und Freiheften zu garantieren, die sie aus eigenem Empfinden freiwillig nie gewährt hätte. Wir wissen, daß ihre Vertreter immer wieder versucht haben und noch stets versuchen, diese Rechte durch spitzfindige Auslegung, und wenn es notwendig ist, durch direkte Vergewaltigung der Gesetze zu beschränken oder zeitweise ganz illusorisch zu machen. Es ist auch bekannt, welche schweren Kämpfe die Arbeiter in allen Ländern zu führen hatten und noch immer führen müssen, um sich das Koalitionsrecht, das Streikrecht, das Versammlungsrecht, das Recht der freien Meinungsäußerung zu erkämpfen. Alle diese Kechte, nie wir heute in kapitalistischen Staaten genießen, sind keineswegs dem guten Willen der Bourgeoisie entsprungen, sondern im steten Kampfe mit ihr ertrotzt worden. Sie sind das Ergebnis großer revolutionärer Kämpfe, in denen nie Massen mehr wie einmal Blut und Leben in die Schanze schlagen mußten. Sie nun als gewöhnliche „bürgerliche Vorurteile" abtun zu wollen, heißt dem Despotismus vergangener Zeiten das Wort reden.

Wir täuschen uns durchaus nicht über die wahre Bedeutung dieser Rechte; wir wissen sehr gut, daß dieselben sogar in den sogenannten „freiesten Ländern", soweit die Arbeiter in Betracht kommen, äußerst begrenzt und nur von bedingtem Werte sind. Lenin sagt uns in dieser Beziehung durchaus nichts Neues. Allein das ändert nichts an der Tatsache, daß die Arbeiter der kapitalistischen Staaten sich ihrer, wenn auch nur bis zu einem bestimmten Grade, erfreuen dürfen, während sie für die russische Arbeiterschaft, unter der Diktatur der Bolschewiki, überhaupt nicht vorhanden sind.

Bei jeder großen Umwälzung machen sich im Schoße der Massen zwei Bestrebungen deutlich bemerkbar, die oft unbestimmt und verworren zum Ausdruck kommen, jedoch stets klar zu erkennen sind: das Bedürfnis nach sozialer Gleichheit und vor allem die Sehnsucht nach einer Erweiterung der persönlichen Freiheit. Man kann sogar behaupten, daß das Freiheitsbedürfnis im Menschen bisher stets die treibende Kraft jeder Revolution gewesen ist. Es waren nicht immer Brot- und Butterfragen, welche die Massen in Bewegung gesetzt haben. Je höher bei ihnen das Gefühl ihrer Menschenwürde entwickelt gewesen ist, desto klarer traten in ihren Kämpfen die sogenannten ideellen Forderungen ans Tageslicht. Das ist immer so gewesen, und ein Blick auf die kleinen Tageskämpfe unserer Zeit zeigt uns, daß unzählige Streiks tagtäglich ausgefochten werden, nicht um materieller Vorteile wegen, sondern um der Maßregelung eines Kameraden zu begegnen, um die Entlassung eines Werkführers zu erzwingen, der die persönliche Würde der Arbeiter nicht genügend respektierte usw. Und in der Regel gestalten sich diese Kämpfe gerade am hartnäckigsten.

Wer dieses Sehnen der Menschen nach persönlicher Freiheit ignoriert, der beweist nur, daß er das Wirken einer der elementarsten Kräfte in der Geschichte der menschlichen Entwicklung nicht begriffen hat. Bei den Bolschewiki ist das tatsächlich der Fall. Der Bolschewismus ist seinem ganzen Wesen nach freiheitsfeindlich, daher sein fanatischer Haß gegen alle anderen sozialistischen Richtungen, die der freien Betätigung der Massen das Wort reden. Seine prominentesten Vertreter können sich den Sozialismus nur im Rahmen der Kaserne oder des Zuchthauses vorstellen.

Als passende Illustration zu dieser Behauptung lese man — um nur ein Beispiel zwischen Hunderten anzuführen — die folgenden Worte Bucharins:

„Proletarischer Zwang, beginnend mit summarischen Hinrichtungen und endend mit Zwangsarbeit, das ist, wie paradox es immer klingen mag, die Methode, um das Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche in die kommunistische Menschheit umzuformen."

Man greift sich an den Kopf und fragt sich, ob der Mann, der diese Worte gesprochen hat, dem Tollhause entsprungen ist. Leider scheint Herr Bucharin nicht zu verstehen, daß er und seine Freunde ebenfalls dem „Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche" angehören und daß gerade bei ihm und seinesgleichen eine Umformung in „die kommunistische Menschheit" angebracht wäre. Seinen eigenen Worten nach zu schließen, sogar sehr dringend.

Man erinnert sich unwillkürlich an die düstere Gestalt Torquemadas, der seine Opfer tränenden Auges zum Scheiterhaufen begleitet, und der auch der Meinung war, daß das Menschenmaterial seiner Zeit nur durch die läuternden Flammen in tugendhafte Diener der heiligen Kirche umgeformt werden könne. Das Ziel Torquemadas war der Triumph der „Heiligen Kirche", das Ziel Bucharins ist die „kommunistische Menschheit", doch ihre Methoden entspringen derselben Geistesrichtung.

Die Worte Bucharins können leider nicht als die Kundgebung eines degenerierten Gehirns aufgefaßt werden, bei dem der Wunsch der Vater des Gedankens ist, sie sind vielmehr der Ausdruck einer trostlosen Wirklichkeit. Unter der Herrschaft der Bolschewiki ist die Arbeit in Rußland vollständig militarisiert worden und steht unter dem Zeichen einer eisernen militärischen Disziplin. So schreibt z. B. ein kommunistischer Arbeiter in Nummer 13 des „Metalist":

„Eine vollständige Unterordnung unter die Anweisungen des Direktors ist auf den Plowerken in Kostama eingeführt worden. Weder Einmischungen noch Widerreden der Arbeiter sind erlaubt. Die vom Arbeiterausschuß erteilten Weisungen stimmen mit denjenigen der Oberleitung überein. Abwesenheit ohne Erlaubnis des Vorgesetzten bedeuten auf unserem Arbeitsplatz Vorenthaltungen der Extrarationen. Weigerung, Ueberstunden zu machen, bedeutet gleichfalls Vorenthaltung der Extrarationen. Auf fortgesetzte Weigerung erfolgt Arrest. Für zu spätes Erscheinen bei der Arbeit wird eine Buße verhängt in der Höhe eines Zweiwochengehaltes."

In einer Unzahl von Dekreten suchte die Sowjetregierung den Arbeitern plausibel zu machen, daß es im Interesse des Landes notwendig sei, in den Fabriken dieselbe absolute Disziplin einzuführen, wie in der Armee. Allein die Arbeiter konnten sich zu einer solchen Auffassung der Dinge durchaus nicht bequemen. Im Jahre 1920 setzte eine ungeheure Streikbewegung ein, die fast alle Industriezentren des Landes ergriff, und die sich in erster Linie, ja fast ausschließlich gegen diese Militarisierung der Arbeit richtete. Ueber den Umfang dieser Bewegung geben die Tabellen des Statistischen Zentralkomitees des Arbeitssekretariats Auskunft. Danach wurde folgendes festgestellt:

1. Streiks brachen aus in 77 Prozent der großen und mittleren Betriebe; 2. in den nationalisierten Unternehmungen wird fortwährend gestreikt, und 90 Prozent der Streiks entfallen auf solche Fabriken und Betriebe; 3. in einigen Fabriken fanden nur drei bis vier Streiks während des ganzen Zeitraumes statt: 4. gestreikt wurde am häufigsten in Petrograd, am wenigsten in Kasan.

Aus einem Manifest der Petrograder Arbeiter in der Zeit der großen Streik-Bewegung, kurz vor dem Aufstand in Kronstadt, geht die Stimmung der Streikennen deutlich genug hervor. Es heißt dort: „Es ist uns, als ob man uns zu Zwangsarbeit verurteilt hätte, wo alles, die Nahrung ausgenommen, vorschriftsmäßig vor sich gehen muß. Wir sind keine freien Männer mehr, wir sind Sklaven."

In dem Bericht der Bauern- und Arbeitersinspektion zur Revision der Moskauer Gefängnisse vom Juli 1920 wird mitgeteilt: „Im Butirki-Gefängnis in Moskau befinden sich 152 Arbeiter der Brianski-Werke in Haft. Sie wurden verhaftet, weil sie am 1. März an einem Streik teilgenommen hatten, sind aber noch nicht verhört worden."

Alle diese Streiks wurden von der bolschewistischen Regierung mit der größten Brutalität unterdrückt, wobei Arbeiter sogar standrechtlich erschossen wurden. In allen Werkstätten und Fabriken befinden sich Spione der Kommunistischen Partei, um die Stimmung der Arbeiter auszukundschaften. Jeder, der es wagt, seinem Unwillen über die gegenwärtigen Zustände Ausdruck zu geben, ist der Verhaftung ausgesetzt. Auf diese Weise terrorisiert man die Arbeiterschaft und unterdrückt jede Spur einer freien Willenskundgebung. Und diese schmachvolle Tyrannei erscheint Bucharin und seinen Parteifreunden als die einzige Methode, um „das Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche in die kommunistische Menschheit umzuformen."

Wir müssen gestehen, daß uns eine solche Methode niemals zu imponieren vermochte, da sie unserer Meinung nach stets nur das Gegenteil von dem erzielen muß, was ihre Befürworter durch sie erstreben. Und die bittere Erfahrung hat uns recht gegeben. Die Methode der Bolschewiki hat uns der „kommunistischen Menschheit" nicht näher gebracht, im Gegenteil, sie hat den Kommunismus heillos kompromittiert und seine Verwirklichung weiter ins Feld gerückt wie je zuvor. Anstatt zu der „kommunistischen Menschheit" zu gelangen, ist man heute wieder glücklich beim Kapitalismus angekommen. Unter diesen Umständen ist wohl wenig Hoffnung vorhanden, das „Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche" im Sinne Bucharins und seiner Freunde „umformen" zu können.

Die „Diktatur des Proletariats" ist zwar imstande gewesen, eine neue Herrscherklasse ins Leben zu rufen und Rußland in das geknechtetste Land der Welt zu verwandeln, allein sie versagte kläglich in der Reorganisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Ohne Zweifel standen der wirtschaftlichen Reorganisation ungeheuere Hindernisse im Wege. Die furchtbaren Folgen eines nahezu siebenjährigen Krieges, der Mangel an Rohstoffen, Werkzeugen und geeigneten Bahnverbindungen, das alles sind Faktoren von gewaltiger Bedeutung, für welche die Bolschewiki selbstverständlich nicht verantwortlich sind. Daß ein Wiederaufbau des gesamten Wirtschaftslebens auf neuen Grundlagen unter diesen Verhältnissen eine ungeheuere Aufgabe war, wird wohl kein einsichtiger Mensch bestreiten. Aber diese Aufgabe mußte gelöst werden, mußte unter allen Umständen gelöst werden, da von ihrer Lösung die ganze Zukunft der Revolution abhing.

Was wir den Bolschewiki zum Vorwurf machen, ist, daß sie durch ihre Gewaltmethoden jede Möglichkeit zu einer Lösung dieser wichtigsten und entscheidensten Aufgabe systematisch ausgeschaltet haben und dadurch das ganze Wirtschaftsleben in einen Trümmerhaufen verwandelten. Indem sie jeder Initiative, die vom Volke selbst kam, feindlich gegenüberstanden, zerstörten sie die konstruktiven Kräfte der Revolution, die aus der Tiefe der Massen hervorquellen. Dadurch mußte notwendigerweise jene ungeheuerliche Bürokratie entstehen, in deren verstaubten Schreibstuben die letzten Funken revolutionären Wollens elend erstickten. Um nur ein Beispiel zwischen Tausenden anzuführen:

Als getreue Anhänger Marxens versuchten die Bolschewiki zunächst die gesamte Industrie auf den Großbetrieb einzustellen und vernachlässigten die kleineren Betriebe fast gänzlich, da sie ihren Zentralisationsbestrebungen nur hinderlich waren. Nun weiß jeder, daß Großbetriebe nur dann rentabel sind, wenn sie einer vorzüglichen Leitung unterstehen. In einem Lande wie Rußland war dies ganz besonders schwer, weil die organisatorischen Kräfte, die große Arbeitskomplexe zu überblicken imstande sind, dort nicht in beliebiger Zahl vorhanden sind. Dazu erschwerten die bürokratischen Gepflogenheiten der Bolschewiki die Aufgabe noch mehr, indem sie Fachleute unwissenden Kornmissaren unterstellten, deren einziges Verdienst darin bestand, daß sie Mitglieder der Kommunistischen Partei waren. Dadurch wurde jede ernste persönliche Initiative von vornhinein ausgeschaltet und die ganze Arbeit einem toten Schema unterworfen. Das Fiasko mußte denn auch um so größer sein, als es sich um Großbetriebe handelte.

Als der rapide Niedergang der kleinen und mittleren Betriebe immer offenkundiger wurde, machten die russischen Genossenschaften der Regierung den Vorschlag, daß man ihnen die Leitung der kleinen Betriebe überlassen solle. Man sollte glauben, daß eine Regierung, welche ihren eigenen Erklärungen nach den Kommunismus anbahnen wollte, einen solchen Vorschlag mit Freuden angenommen hätte. Erstens waren die Genossenschaften ein hervorragendes organisatorisches Element mit guten Verwaltungskenntnissen, und zweitens waren sie durch ihre zahlreichen Mitglieder in den Dörfern ein ausgezeichnetes Vermittlungsorgan zwischen Stadt und Land geworden. Aber gerade das wollte die Regierung nicht. Eine direkte Verbindung zwischen Bauern und Arbeitern ohne die Vermittlung der Kommissare, mußte ihr als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen, die allen Gesetzen der Bürokratie widersprach, und so wurde der Vorschlag der Genossenschaften kurzerhand abgelehnt. Heute aber gibt man den kapitalistischen Eigentümern, die vor der Revolution weniger als dreihundert Arbeiter beschäftigten, ihre früheren Betriebe zurück und zwar deshalb, weil man auf diese Weise die produktive Tätigkeit der Kleinbetriebe neu beleben und ihre Ergebnisse wieder dem Lande zuführen will. Was man den Genossenschaften seinerzeit versagte, damit beauftragt man heute die Kapitalisten, indem man sie gleichzeitig wieder in ihre alten Rechte einsetzt.

Dieses Beispiel ist typisch. Es beleuchtet grell die ganze Ungeheuerlichkeit einer geistlosen Methode, die nach der Meinung ihrer ebenso geistlosen Befürworter die einzige ist, die den Kommunismus bringen kann. Dieselbe Methode ist auch schuld daran, daß bei den Arbeitern jedes Interesse für ihre Beschäftigung erloschen ist. Indem man sie zu gewöhnlichen Galeerensklaven degradierte, die keinerlei eigene Kontrolle über ihre Arbeit haben und sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten ohne Widerspruch unterwerfen müssen, ertötete man in ihnen jedes Gefühl der Verantwortlichkeit, jedes Bewußtsein der gemeinschaftlichen Interessen. Zwangsarbeit ist nun einmal kein Mittel, im Menschen die Lust und Liebe zur Arbeit anzuregen. Dies ist nur möglich durch das Gefühl der Freiheit und die Entwicklung der persönlichen Verantwortlichkeit, das den einzelnen mit den Interessen der Allgemeinheit verbindet. Charles Fouriers wunderbare Lehre von der „Attraktiven Arbeit" ist an den kommunistischen Jakobinern der Sowjetrepublik spurlos vorübergegangen. Mit Recht sagte deshalb Kropotkin in seiner „Botschaft an die westeuropäischen Arbeiter":

„Wir sehen an Rußland, auf welche Weise der Kommunismus nicht eingeführt werden kann, obgleich die Bevölkerung, des alten Regimes überdrüssig, dem Experiment der neuen Regierung keinen aktiven Widerstand entgegensetzte. Die Idee der Räte, die das politische und wirtschaftliche Leben des Landes kontrollieren, ist an sich außerordentlich bedeutungsvoll. . . Doch so lange das Land von der Diktatur einer Partei beherrscht wird, verlieren die Arbeiter- und Bauernräte naturgemäß ihre Bedeutung. Sie sind dazu herabgewürdigt, dieselbe passive Rolle zu spielen, die früher einmal die ständischen Vertretungen und Parlamente gespielt haben, als sie vom König einberufen wurden und gegen einen allmächtigen Kronrat ankämpfen mußten. Ein Arbeiterrat hört auf, ein freier und wertvoller Ratgeber zu sein, wenn im Lande keine freie Presse besteht, wie dies bei uns jetzt schon über zwei Jahre der Fall ist. Man entschuldigte es mit dem Kriegszustand. Und mehr noch, die Arbeiter- und Bauernräte verlieren ihre ganze Bedeutung, wenn keine Wahlagitation ihrer Wahl vorausgeht, und dieselben unter dem Druck der Parteidiktatur durchgeführt werden. Natürlich ist die übliche Entschuldigung, daß eine diktatorische Regierung als Kampfmittel gegen das alte Regime unvermeidlich sei. Jedoch eine derartige Räteregierung bedeutet einen Schritt zurück, sobald die Revolution zur Errichtung einer neuen Gesellschaft auf neuer wirtschaftlicher Basis fortschreitet; sie wird zum toten Prinzip auf einer neuen Grundlage."

Heute wissen wir, daß die sogenannte „Diktatur des Proletariats" in allen Punkten versagt hat, wo es sich wirklich um die Ausführung sozialistischer Forderungen handelte, dafür aber erstickte sie die Revolution und trieb die Tyrannei aller früheren despotischen Systeme auf die Spitze. Und darin besteht ihre tragische Bedeutung für die kommende Geschichte.

X. Die dritte Internationale als Organ der bolschewistischen Staatspolitik.

Man darf übrigens nicht glauben, daß nur wir es sind, welche die Dinge in Rußland so erblicken, wie wir sie geschildert haben. Durchaus nicht. Die Führer der verschiedenen kommunistischen Parteien Europas, soweit sie nicht hirnlose Grammophone der Moskauer Diktatoren sind und sich noch etwas eigenes Urteil gewahrt haben, wissen ganz genau, wie die Dinge in Sowjetrußland aussehen. Leider haben die meisten von ihnen nicht den moralischen Mut, mit der Wahrheit an die Oeffentlichkeit zu treten aus Gründen der Parteiräson. Erst wenn es zu einem Bruch kommt, erfährt man das eine oder das andere.

Es ist allgemein bekannt, daß die Sozialistische Partei Italiens die erste gewesen ist, die dem Bolschewismus bedingungslos huldigte. Der „Avanti", das Zentralorgan der Partei, feierte Lenin in den überschwänglichsten Worten und die Partei trat fast geschlossen für Moskau ein. Allein nachdem einige italienischen Delegationen aus Rußland zurückkehrten, hörte man unter der Hand gewisse Dinge, aus denen hervorging, daß die Begeisterung von manchem bedenklich herabgestimmt wurde, nachdem er das Paradies des „Kommunismus" persönlich in Augenschein genommen hatte. In der Oeffentlichkeit sagte man natürlich nichts; im Gegenteil, die sozialistische Presse sang das Hohelied des Bolschewismus in allen Tonarten weiter. Allein etwas von dem, was einzelne in Rußland gesehen und erfahren hatten, war doch allmählich durchgesickert. So kam es, daß auch die bürgerliche Presse manches zu Ohren bekam und in Enthüllungen machte. Es war hauptsächlich diese Indiskretion, welche die Männer von Moskau dazu bewog, von den Italienern eine gründliche „Reinigung" ihrer Partei zu fordern. Der Streit, der daraus entstand, führte später zu einer offenen Spaltung der Partei. Im Verlaufe dieses Bruderzwistes erteilte Serrati, der Chef-Redakteur des „Avanti", und bis dahin eine der gefeiertsten Persönlichkeiten in Moskau und der Dritten Internationale, Lenin die folgende charakteristische Antwort:

„Ich will nicht streiten über Ihren Vorschlag, die alten Führer in allen proletarischen Organisationen, und zwar nicht nur in den politischen, sondern auch in den gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen usw., durch neue kommunistische zu ersetzen. Ich weiß nur, daß dies in Italien einige Schwierigkeiten hätte, denn es fehlt uns an passenden Männern. Es kann sein, daß sich manche unter den Zuletztgekommenen als radikalste Kommunisten ausgeben, um die Macht an sich zu reißen, und das wird eine große Gefahr sein. Sie kennen diese Gefahr, denn sie ist eine der schmerzlichsten, die ihre Republik durchdringt. Seit der Oktoberrevolution haben sich die Mitglieder ihrer Partei verzehnfacht, aber es ist mit der wachsenden Zahl, trotz ihrer sehr scharfen Disziplin und trotz der periodischen Reinigungen nicht viel gewonnen. Das ganze Bedientenpack ist zu Ihnen gekommen, weil Sie stark sind. Das Verdienst an der Revolution gebührt Ihnen, aber an den Fehlern und Gemeinheiten sind jene schuld, die man als die Haifische der Revolution bezeichnen sollte. Das sind dieselben, die diese blöde und furchtbare Bürokratie begründet haben, die sich neue Privilegien schaffen wollen in der Sowjetrepublik, während die Masse der Arbeiter und Bauern geduldig und resigniert, die ganze Wucht der Revolution empfinden und gegen alle Vorrechte ist. Das sind die Neugekommenen, die Revolutionäre von gestern, welche, alles übertreibend, Schrecken verbreiteten, damit er für sie ein Mittel zum Zweck werden mußte. Das sind diejenigen, welche über die Leiden der Massen hinweg aus der proletarischen Revolution ein Werkzeug des Genießens und der Herrschaft gemacht haben. Von nun an, belehrt durch unsere Erfahrung und die Eure, wollen wir es uns zweimal überlegen, bevor wir irgendeinen annehmen als reinste Perle, der sich uns als funkelnagelneuer Kommunist vorstellt, um ihm die Leitung unserer Bewegung anzuvertrauen und besonders dann, wenn er gestern noch Anhänger des Krieges, der Heiligen Union und der Teilnehmer an der Regierung war."

Diese Worte Serratis sind in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Sie zeigen uns zunächst, daß man sich sogar in kommunistischen Kreisen — und Serrati stand noch fest auf Moskaus Seite, als er dies schrieb — durchaus keiner Täuschung hingibt über den wahren Zustand der Dinge in Rußland. Daß man diese Dinge verschweigt, oder, was noch schlimmer ist, daß man gegen besseres Wissen und Gewissen fortgesetzt Dinge berichtet, von denen man weiß, daß sie der Wahrheit direkt ins Gesicht schlagen, das ist, unserer Meinung nach, das schlimmste Verbrechen, das je an der Arbeiterklasse begangen wurde. Bei den meisten geschieht dies aus moralischer Feigheit. Man zittert, in den Verdacht eines „Konterrevolutionärs" zu kommen. Das wird natürlich nicht verhindern, daß man gerade von dieser Seite, wenn die Stunde einmal kommen wird, die dicksten Steine auf die Bolschewiki werfen wird. Bei anderen aber geschieht es aus kaltblütiger Berechnung — Geheimdiplomatie im Interesse der Parteiräson.

Natürlich wurde Serrati mit dem Banne belegt und als „Konterrevolutionär" gebührend gekennzeichnet. Allein an solche Kleinigkeiten gewöhnt man sich allmählich und nimmt sie nicht weiter tragisch. Weiß man doch heute, daß Lob und Tadel in Moskau ebenso durch Angebot und Nachfrage reguliert werden, wie alle anderen Dinge. Ich erinnere nur an den Fall Däumig in Deutschland. Ernst Däumig wurde von Lenin in eigener Person als „feiger Spießer" und „Reaktionär" gebranntmarkt. Das änderte sich jedoch sofort, als Däumig zur Kommunistischen Partei übertrat und dort sofort, trotz der schönen Eigenschaften, die ihm Lenin beilegte, in das Zentralkomitee gewählt wurde.

Aber Serrati berührte auch einen anderen Punkt von höchster Wichtigkeit: den Einfluß des Bolschewismus auf die internationale Arbeiterbewegung. Durch die Gründung der Dritten Internationale hat sich die Sowjetregierung ein Organ geschaffen, um die Richtlinien ihrer Politik unter der Arbeiterschaft der verschiedenen Länder zur Geltung zu bringen. Anfänglich war man sich über die eigentlichen Ziele und Bestrebungen dieser Organisation überhaupt nicht recht klar. Der Bankerott der sogenannten Zweiten Internationale beim Ausbruch des Weltkrieges und der große Einfluß, den die russische Revolution auf die Arbeiterschaft der ganzen Welt ausübte, erweckte überall im Proletariat den Wunsch nach einer neuen internationalen Vereinigung, der sich um so stärker bemerkbar machte, als die allgemeine Lage, die der Krieg geschaffen hatte, eine sehr revolutionäre war. So kam es, daß die Gründung der Dritten Internationale mit allgemeiner Sympathie begrüßt wurde. Und da man, wie schon bemerkt, in der ersten Zeit überhaupt nichts klares über die Ziele und Methoden der neuen Vereinigung wußte, so nimmt es nicht Wunder, daß alle möglichen Richtungen sich bereit erklärten, der Dritten Internationale beizutreten. Durchaus gemäßigte Richtungen, wie die Sozialistische Partei Spaniens oder die Independent Labour Party Englands, von der allgemeinen Stimmung ergriffen, gaben öffentliche Sympathiekundgebungen ab und auch syndikalistische und sogar anarchistische Organisationen ließen sich von der allgemeinen Strömung mit fortreißen und erklärten ihren Beitritt. Und doch hätte man gerade von diesen etwas mehr Reserve erwarten dürfen.

Wie immer, so hatte unser alter Freund und Vorkämpfer Errico Malatesta den Kern der Sache sehr schnell und richtig erfaßt, als er in der „Umanita Nova" die folgenden beherzigenswerten Worte schrieb:

„Was für eine Körperschaft ist denn diese Dritte Internationale, deren Existenz uns noch sehr mystisch anmutet, und die ihr Prestige vorläufig nur der Tatsache verdankt, daß uns ihre Ankündigung aus Rußland kommt, das sich im Zustand der Revolution befindet, aber die nichtsdestoweniger noch immer vom Nebel der Legende umhüllt ist? Hat sie bereits ein bestimmtes Programm, das von allen Richtungen, die sich ihr anzuschließen wünschen ,angenommen werden kann? Oder wird ihr Programm erst auf ihrem ersten Kongreß vorgeschlagen, diskutiert und formuliert werden? Wenn letzteres der Fall ist, welchen Standpunkt wird der Kongreß einnehmen? Wird er bereit sein, Delegierte aller Arbeiterorganisationen und aller revolutionären Parteien zu empfangen und allen gleiche Rechte garantieren? Wird er insbesondere die Anarchisten einladen und zu den Verhandlungen zulassen? Wenn die Dritte Internationale nur den Zweck verfolgt, eine parteisozialistische Organisation zu sein, deren Ziel die Eroberung der politischen Macht und die Etablierung der sogenannten Diktatur des Proletariats ist, um auf diese Weise die Errichtung eines autoritär-kommunistischen Staates zu bewirken, so ist es augenscheinlich, daß wir in ihren Reihen nichts zu suchen haben. Eine wahre Internationale des werktätigen Volkes müßte in ihren Reihen alle Arbeiter vereinigen, die zum Bewußtsein ihrer Klasseninteressen gekommen sind, alle Arbeiter, die sich unter dem Joche der Ausbeutung winden und demselben zu entgehen wünschen, alle Arbeiter, die entschlossen sind, den Kapitalismus zu bekämpfen und zwar jede Richtung mit den Mitteln, die ihr am geeignetsten erscheinen. In einer solchen Internationale könnten sich alle vereinigen, Anarchisten, Sozialisten, Syndikalisten, ohne daß eine Richtung auf ihre besonderen Ziele und Methoden Verzicht leisten müßte. Hier würde jeder ein Feld für seine eigene Propaganda finden und in derselben Zeit einen mächtigen Hebel, der die Masse zum entscheidenden Kampfe drängen würde. Auf diese Stunde hoffen wir."

Heute sind wir über die Ziele und Bestrebungen der Dritten Internationale vollständig unterrichtet, und die Erfahrung hat uns gezeigt, wie recht Malatesta hatte, als er den Genossen empfahl, etwas weniger voreilig in ihren Entschlüssen zu sein.

Die berühmten und berüchtigten 21 Punkte des zweiten Kongresses der Dritten Internationale dürften wohl jedem, der das Denken noch nicht verlernt hat, die Augen geöffnet haben. Dieser bis auf die Spitze getriebene Zentralismus ist die Negation jeder Spur von Freiheit, die Ausschaltung jeder persönlichen Initiative, die Degradierung der Arbeiterbewegung zu einer Hammelherde, die sich den Weisungen von oben blindlings zu unterwerfen hat. Ebenso wie man in Rußfand jede selbständige Regung im Keime erstickte und mittels Maschinengewehre und Zuchthäuser jede Opposition zum Schweigen brachte, so versucht man jetzt, die ganze internationale Arbeiterbewegung unter ein Kaudinisches Joch zu beugen. Der Triumph dieses Versuches wäre der Untergang jeder wahrhaft sozialistischen Bewegung, die hoffnungslose Verknöcherung der Ideen, der Tod aller entwicklungskräftigen Keime und Lebensformen in der Richtung zum Sozialismus. Sogar die Politik der römisch-katholischen Kirche wagte es bisher nicht, ihren Anhängern einen ähnlichen Kodex der Unfreiheit und der zum Prinzip erhobenen geistigen Verknechtung aufzuoktroieren, wie er in diesen famosen 21 Punkten verkörpert ist. Der Gedanke, eine sich über alle Länder erstreckende Bewegung, die an jedem Orte besonderen Verhältnissen unterworfen ist, dem eisernen Machtgebot einer in Moskau thronenden Zentrale zu unterordnen, ist an und für sich so ungeheuerlich, daß er nur in einem Gehirn entstehen konnte, das von der fixen Idee befallen ist, die Menschen wie die Figuren eines Marionettentheaters hin und her dirigieren zu können. In der Tat eine grandiose Idee, die einem Ludendorff alle Ehre machen würde.

Das Tollste ist, daß man tatsächlich versucht hat, diese wahnsinnigen Grundsätze in die praktische Wirklichkeit umzusetzen. So war die ganze blutige und für die Arbeiterschaft so unheilvolle Tragödie der letzten Märzaktion in Deutschland das direkte Ergebnis dieser verhängnisvollen Politik. Man hetzte die Arbeiter Mitteldeutschlands in einen Aufstand hinein, von dem jeder Mensch, der nicht dem Irrenhause entsprungen war, im Voraus wissen mußte, daß er nur mit einem furchtbaren Fiasko enden mußte, da in jener Zeit nicht die kleinste Voraussetzung für eine allgemeine Erhebung der Massen gegeben war. Es war ein Aufstand auf Bestellung, das Ergebnis eines Diktats. Durch das Pronunziamento Dr. Paul Levis und die durch dasselbe hervorgerufenen Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunistischen Partei Deutschlands bekam man einen Einblick in diese dunkle Affäre. Daraus geht für jeden, der nicht mit unheilbarer Blindheit geschlagen ist, deutlich hervor, daß wie Dr. Levi sagte, „der erste Anstoß zu dieser Aktion in der Form, wie sie erfolgte, nicht von deutscher Seite kam". Da aber außer Moskau niemand anders Interesse an der Sache haben konnte, so ist es klar, daß der Anstoß dazu von der Moskauer Zentrale kam. Die russische Regierung befand sich zu jener Zeit in einer schwierigen Lage. Die Streiks in Petrograd, der Aufstand in Kronstadt, die allgemeine Not hatten in Rußland eine Stimmung erzeugt, die der Regierung gefährlich zu werden drohte. Daher war eine Ablenkung durchaus angebracht. Der verunglückte Aufstand in Mitteldeutschland brachte diese Ablenkung. Die kommunistische Regierungspresse Rußlands veröffentlichte die wahnsinnigsten Berichte über die „neue Revolution" in Deutschland, über den „Vormarsch der Weltrevolution" und brandmarkte jeden als Konterrevolutionär, der in diesem entscheidenden Moment der Sowjetregierung in den Rücken fiel. Und während die Standgerichte die Kronstädter Matrosen zur Strecke brachten und die „Tscheka" die Jagd auf Anarchisten und Syndikalisten organisierte, wurden deutsche Arebiter in eine Katastrophe hineingetrieben, die den russischen Gewalthabern als Blitzableiter dienen mußte. Dabei bediente man sich der verwerflichsten Mittel, um die kommunistischen Arbeiter Mitteldeutschlands, die im offenen Kampfe standen, in gewissenloser Weise über den wahren Stand der Dinge im Lande zu täuschen. Man redete ihnen vor, daß Berlin in Flammen stehe, daß die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet sich wie ein Mann erhoben hätte und dergleichen Tartarennachrichten mehr, während in der Wirklichkeit die mitteldeutsche Bewegung fast nirgends im Lande ein Echo auslöste.

Hunderte von braven Arbeitern wurden auf diese Weise in den Tod oder ins Zuchthaus getrieben als Opfer einer partei-kommunistischen Geheimdiplomatie. Die geistlosen Tröpfe, die an der Spitze der kommunistischen Zentrale in Berlin standen und deren ganze Fähigkeit darin besteht, vor den Moskauer Diktatoren, in Ehrfurcht ersterbend, auf dem Bauche zu kriechen, müssen sich nun gefallen lassen, daß sie zum Dank für ihren sklavischen Gehorsam den Weisungen der Moskauer Zentrale gegenüber, von Trotzki und Lenin öffentlich gestäupt werden. In der Wirklichkeit geschieht dies nur, um die Spuren zu verwischen, die von Mitteldeutschland nach Moskau führen. Es ist nicht mehr wie eine neue Einlage derselben machiavellistischen Taktik, die man in Moskau so meisterlich zu handhaben versteht.

XI. Der Einfluß des Bolschewismus auf die internationale Arbeiterbewegung.

Wer den unheilvollen Einfluß des Bolschewismus auf die geistesverwandten Parteien in den übrigen Ländern kennen lernen will, der lese das bekannte Rundschreiben, das die Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands im Mai 1921 an ihre verschiedenen Ortsgruppen verschickt hat. Es wird dort besonders Wert gelegt auf die sogenannte „Nachrichtensammlung" und jedes Mitglied verpflichtet, an einem weitverzweigten Spionagesystem der Partei aktiv teilzunehmen. Unter anderen schönen Ergüssen liest man dort:

,,Die Nachrichtensammlung besteht in der genauen Ausforschung aller politisch und militärisch wichtigen Ereignisse, die in den Häusern vorkommen. Der Genosse muß in seinem Tätigkeitsgebiet wissen, wieviel revolutionäre Kräfte vorhanden sind, wieviel Mitglieder der K.P.D., der U.S.P.D., der S.P.D. usw., wieviel Parteilose; er muß wissen, wieviel konterrevolutionäre Kräfte vorhanden sind; von diesen wiederum wieviele indifferent bei ernsten Auseinandersetzungen beiseite stehen, wieviel aktive Konterrevolutionäre, die gegen uns im Kampfe stehen werden. Er muß auskundschaften, ob in diesen Häusern die Bewohner über Waffen verfügen, ob Waffenlager sich in diesen Häusern befinden, ob Mitglieder der Orgesch, der Selbstschutzorganisationen vorhanden sind, ob geheime Sitzungen der konterrevolutionären Organisationen abgehalten werden, und er hat die regelmäßige Bearbeitung aller dieser Bewohner vorzunehmen unter besonderer Berücksichtigung der Reichswehrsoldaten, der Sicherheitssoldaten, der indifferenten Arbeiter usw. Er muß also in seinem Tätigkeitsgebiet jeden einzelnen Menschen kennen und muß wissen, welche Stellung jeder dem revolutionären Proletariat jetzt und bei den kommenden Auseinandersetzungen gegenüber einnimmt."

Auf diese Weise erzieht man Arbeiter direkt zu Spionen und korrumpiert ihren Charakter Die berüchtigste Institution des bolschewistischen Rußland, die „Tscheka", wirft so bereits ihren Schatten in Deutschland, und es ist leider sehr wahrscheinlich, daß man auch in anderen Ländern, soweit die kommunistischen Parteien in Betracht kommen, diesem Beispiel folgen wird. Welcher Abgrund von Mißtrauen und gegenseitiger Gehässigkeit dadurch in proletarischen Kreisen geschaffen wird, läßt sich kaum ausdenken. Die Früchte einer solchen Taktik zeigen sich schon heute überall. Nie zuvor war die Arbeiterschaft innerlich so zerklüftet wie heute. Nie zuvor hat eine Organisation einer Vereinigung der revolutionären Kräfte soviel Hindernisse in den Weg gelegt als die Bolschewiki und ihr Organ, die Dritte Internationale.

Dabei soll durchaus nicht verkannt werden, daß bei der Mehrheit der kommunistisch eingestellten Arbeiter die besten Absichten vorhanden sind, daß sie von der Vorzüglichkeit und Zweckmäßigkeit der Methoden, die man ihnen tagtäglich als den Stein der Weisen gepriesen hat, ehrlich überzeugt sind. Dies ist auch die Ursache, warum gerade in kommunistischen Kreisen der Ruf nach der „Einheitsfront des Proletariats" so häufig und immer wieder erhoben wird. Man fühlt die Notwendigkeit einer Vereinigung und glaubt, dieselbe am besten durch eine eiserne zentralistische Organisationsform erreichen zu können, daher der Glaube, daß gerade die Dritte Internationale dazu berufen sei, die erträumte Einheitsfront herzustellen. Wenn die Einheit einer Bewegung nichts anderes wäre als ein rein mechanisches Zusammenfassen der Kräfte nach militärischem Muster, so wären die famosen 21 Punkte des zweiten Moskauer Kongresses vielleicht das Mittel, den Traum zu verwirklichen, und zwar schon deshalb, weil sie durch ihre bis auf die Spitze getriebene zentralistische Fassung alles überbieten, was bisher auf diesem Gebiete geleistet wurde. Diese mechanistische Auffassung der Dinge, die das charakteristische Merkmal jeder militaristisch eingestellten Denkart ist, zeugt aber von einer ungeheuren Verkennung der lebendigen Tatsachen, die letzten Endes noch jedem Napoleon zum Verhängnis geworden ist. Angewendet auf die sozialistische Bewegung müßte sie die gewaltsame Erdrosselung aller freiheitlichen und wahrhaft sozialistischen Bestrebungen und Grundsätze zur Folge haben.

Man spricht von der Einheit der Arbeiterbewegung, aber man kann sich dieselbe nur in den engen Grenzen einer Partei und eines festen in sich abgegeschlossenen Programms vorstellen. Allein der Sozialismus, der die Seele der Arbeiterbewegung sein muß, der ihr allein die belebende Kraft eines neuen gesellschaftlichen Werdens einhauchen kann, ist kein in sich abgeschlossenes Gebilde mit starren, unbeweglichen Grenzen, sondern ein in fortwährender Entwicklung begriffenes Erkennen und Erfassen der mannigfachen Erscheinungen des sozialen Lebens, das zum toten Dogma erstarren muß, wenn er dieses, sein innerstes Wesen vergißt und sich selber aufgibt. Gerade aus diesem Grunde hat jede seiner verschiedenen Richtungen ihre besondere Existenzberechtigung, weil sie dem Ganzen neue Aspekte und Perspektiven abgewinnt. Wer diese tiefe und grundlegende Wahrheit nicht zu erkennen vermag, wird die ersehnte Einheit stets nur rein mechanisch, aber nie organisch erfassen.

Die alte Internationale konnte nur deshalb einen so machtvollen Einfluß auf die Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung ausüben, weil ihre Begründer die tiefe Bedeutung dieses elementaren Prinzips erkannt hatten und dasselbe als wesentliche Voraussetzung der inneren Organisation des großen Arbeiterbundes festlegten. Solange man dieser Voraussetzung treu blieb, entwickelte sich die Internationale mit ungeahnter Kraft und befruchtete die Arbeiterbewegung mit ihren schöpferischen Ideen. Sie hatte ein gemeinschaftliches Grundprinzip, bindend für jede Richtung in ihren Reihen: die Abschaffung der Lohnsklaverei und die Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis der gemeinschaftlichen Arbeit, die keiner Ausbeutung irgend welcher Art unterworfen ist. Sie verkündete den Arbeitern, daß dieses große Ziel der sozialen Befreiung das Werk der Arbeiter selbst sein müsse. Aber sie erkannte gleichzeitig, daß jede Richtung, die dem Bunde angehörte, das unveräußerliche Recht habe, dieses gemeinsame Ziel mit den Mitteln anzustreben, die ihr am besten und geeignetsten erschienen und die Art ihrer Propaganda nach ihrem eigenen Ermessen zu gestalten.

In dem Augenblick, als der Londoner Generalrat, der vollkommen unter dem geistigen Einfluß von Marx und seiner Freunde stand, jedoch keineswegs den ursprünglichen Geist der Internationale und die eigentlichen Bestrebungen ihrer Föderationen repräsentierte, in dem Augenblick, als der Generalrat den verhängnisvollen Versuch machte, diese grundlegenden Rechte zu zerstören und die Autonomie der Sektionen und Föderationen zu beseitigen, indem er dieselben zur parlamentarischen Tätigkeit obligatorisch verpflichten wollte, in diesem Augenblick war die Einheitsfront des großen Arbeiterbundes gebrochen, und es kam zu jener verhängnisvollen Spaltung, welche der gesamten Arbeiterbewegung zum Verderben gereichte und deren betrübende Folgen sich heute mehr denn je bemerkbar machen. Die alte Internationale war eine große Vereinigung von gewerkschaftlichen Organisationen und sozialistischen Propagandagruppen. Sie erblickte das Schwergewicht ihrer Wirksamkeit nicht in einer bestimmten Parteizugehörigkeit ihrer einzelnen Mitglieder, sondern in deren Eigenschaft als Produzenten, als Bergleute, Matrosen, Feldarbeiter, Techniker usw. und aus diesem Grunde war sie eine Internationale der Arbeiter — die einzige, die diesen Namen bisher wirklich verdiente. Der radikale Flügel ihrer Anhänger, deren bekanntester und einflußreichster Vertreter Bakunin war, sprach den deutschen Arbeitern keineswegs das Recht ab, sich parlamentarisch zu betätigen, obwohl er selbst jede parlamentarische Tätigkeit schroff ablehnte; aber er forderte dasselbe Recht für seine Ueberzeugungen und seine Bestrebungen, und als die berüchtigte Londoner Konferenz (1871) dieses Recht mit Füßen trat, wurde die organische Einheit der Arbeiterklasse, die in dem großen Bunde einen machtvollen Ausdruck gefunden hatte, zu Grabe getragen.

Die sogenannte Zweite Internationale war von Anfang an keine Internationale der Arbeiter, sondern eine Internationale der sozialistischen Arbeiterparteien, die sich auf dem gemeinschaftlichen Boden der parlamentarischen Betätigung zusammengefunden hatten. Indem sie die Anarchisten und alle übrigen Richtungen, welche die Eroberung der politischen Macht als angebliche Vorbedingung zur Verwirklichung des Sozialismus prinzipiell ablehnten, von ihren Kongressen ausschloß, konnte sie ebensowenig Anspruch darauf machen, eine Internationale der Arbeiter, wie eine solche der Sozialisten zu sein, da sie nur eine ganz bestimmte Richtung der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Gedankenwelt vertrat.

Ganz ähnlich ist die Position der Dritten Internationale, von deren praktischer Tätigkeit wir bisher herzlich wenig bemerkt haben, man müßte denn ihre zahlreichen und geräuschvollen Proklamationen als eine solche auffassen. Der ursprüngliche Plan ihrer Begründer — abgesehen von den besonderen Interessen der bolschewistischen Staatspolitik, die dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten — zielte augenscheinlich dahin, einen internationalen Zusammenschluß der linksstehenden Elemente in der politischen Arbeiterbewegung zu schaffen, von denen man hoffte, daß sie der Sauerteig der ersehnten Weltrevolution sein würden. Es handelte sich also auch in diesem Falle nicht um eine wirkliche Internationale der Arbeiter, noch nicht einmal um einen neuen Zusammenschluß der sozialistischen Arbeiterparteien, sondern lediglich um einen verschwindend kleinen Bruchteil dieser Parteien. Lenin selbst scheint das Unzulängliche einer solchen Vereinigung bald erkannt zu haben, daher schlug er vor, auch den Syndikalisten einen Platz in der neuen Internationale offen zu halten, denselben Syndikalisten, die er früher so heftig bekämpft hatte, und denen er nun in Rußland Blutfehde angesagt hat. Der Erfolg war ein sehr mäßiger, und in Moskau dürfte man wohl schwerlich davon erbaut sein.

Selbstverständlich haben auch Bruchteile einer allgemeinen Bewegung ein Recht, sich international zusammenzuschließen und kein vernünftiger Mensch wird ihnen dieses Recht bestreiten wollen. Aber was wir von ihnen fordern müssen, ist, daß sie mit offenem Visier kämpfen und sich nicht wie Diebe in andere Bewegungen hineinschleichen, um dieselben von innen heraus zu zerstören oder der Politik einer bestimmten Richtung dienstbar zu machen. Dieser neueste Jesuitismus im kommunistischen Gewande ist ebenso verwerflich wie die krummen Methoden der „Gesellschaft Jesu", die, um die Interessen der Kirche zu fördern, jedes Mittel heiligt, wenn es gilt, einen bestimmten Zweck zu erreichen. Ist denn die berühmte „Zellenbildung" innerhalb der nicht kommunistischen Arbeiterorganisationen, welche die Dritte Internationale ihren Anhängern auf das angelegentlichste zur Pflicht macht, etwas anders, als eine Neuauflage jesuitischer Grundsätze in der Arbeiterbewegung? Oder was meint es, wenn Lenin in seiner bekannten Schrift: „Der Radikalismus die Kinderkrankhegt des Kommunismus" seinen Genossen die folgende verheißungsvolle Lehre mit auf den Weg gibt:

„Man muß es verstehen, dem allen Widerstand zu leisten, sich zu jeden und allen Opfern zu entschließen und — wenn es nötig ist — sogar List, Schlauheit, illegale Methoden, Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit anwenden, um nur in die Gewerkschaftsverbände einzudringen, in ihnen zu bleiben, in ihnen kommunistische Arbeit durchzuführen."

Welches Vertrauen kann man zu Menschen haben, die solche Grundsätze zum Prinzip erheben und deren praktische Anwendung im Interesse der Parteiräson für geboten halten? Heißt das nicht eine Schar von Lügnern und Intriganten der schlimmsten Art künstlich heranzuzüchten und die Arbeiterbewegung systematisch zu korrumpieren? Ist das nicht eine Drachensaat, die man hier ausstreut, deren furchtbare moralischen Folgen gar nicht zu übersehen sind? Und ist irgendein Zusammenarbeiten mit Organisationen möglich, die solche Grundsätze vertreten?

Wenn man diese Worte Lenins liest, dann begreift man erst das Geheimnis einer Regierungskunst, die einen geschlossenen Vertrag in einer so schmählichen Weise brechen konnte, wie man das Machno gegenüber getan hat. Man begreift dann aber auch, wie man alle aus offiziellen bolschewistischen Quellen stammende Nachrichten zu werten hat.

Wenn man aber erst einmal solche Methoden Andersdenkender gegenüber anwendet, so gibt es keine Grenze mehr, und was man im fremden Hause als gut erachtet, muß im eigenen Hause nur billig erscheinen. So kann es denn nicht Wunder nehmen, wenn dasselbe System in den kommunistischen Parteien selbst seine Anwendung findet, um die Gesinnungstüchtigkeit der einzelnen Mitglieder zu prüfen. Agenten der Dritten Internationale werden von Rußland ausgeschickt, um die Landeszentralen der kommunistischen Parteien in den verschiedenen Ländern zu bespitzeln und ihre Berichte in Moskau abzuliefern. In seiner bekannten Broschüre „Unser Weg" berichtet Paul Levi darüber wie folgt:

„Die offiziöse Aeußerung des Genossen Radek enthüllt aber noch einen weiteren und noch schädlicheren Effekt des Delegiertensystems. Das ist der direkte und geheime Verkehr dieser Delegierten mit der Moskauer Zentrale. Wir glauben, daß ungefähr in allen Ländern, in denen solche Sendboten wirken, die Unzufriedenheit darüber die gleiche ist. Das ist ein System wie die geheime Ferne. Sie arbeiten nie mit, immer hinter und häufig gegen die Zentrale des einzelnen Landes. Sie finden in Moskau Glauben, die anderen nicht. Das ist ein System, das alles Vertrauen zu gegenseitiger Arbeit auf beiden Seiten, bei der Exekutive wie bei den angeschlossenen Parteien untergraben muß. Zu einer politischen Leitung sind diese Genossen zumeist unverwendbar, auch zu wenig vertraut. So ergibt sich der trostlose Zustand: eine politische Leitung vom Zentrum fehlt. Das einzige, was die Exekutive nach dieser Richtung leistet, sind Aufrufe, die zu spät, und Bannstrahlen, die zu früh kommen. Eine solche politische Leitung der Kommunistischen Internationale führt zu nichts oder ins Unglück. Die Exekutive wirkt nicht anders, als eine über die russischen Grenzen hinaus projizierte Tschreswytschaika; ein unmöglicher Zustand. Die bestimmte Forderung, daß das anders werde, und daß unberufene Hände unberufener Delegierter nicht die Leitung in den einzelnen Ländern an sich reißen, der Ruf nach einer politischen Führung und gegen eine Parteipolizei ist nicht die Forderung nach Autonomie".

Es ist klar, daß der Mann, der sich zu einem solchen Proteste aufschwingen konnte, nachdem er ein Jahr früher die 21 Punkte am lautesten verteidigt hatte, mit dem Banne belegt werden mußte. Zieht man nun noch weiter in Betracht, daß die Dritte Internationale auf Grund der russischen Staatssubventionen imstande ist, ihren Agenten, Zeitungen, Propagandisten usw. im Auslande gewaltige Summen zufließen zu lassen, die jeden politischen Abenteurer und Charlatan anziehen müssen wie die Dunggrube die Fliegen, so kann man ermessen, welch unheilvollen Einfluß die bolschewistischen Methoden auf die gesamte Arbeiterbewegung haben müssen.

XII. Der Fluch des Zentralismus.

Aber der Zentralismus, der den Anhängern der meisten sozialistischen Richtungen heute zum Dogma geworden ist, war nicht nur nicht imstande, die von allen ersehnte Einheit in der Arbeiterbewegung herzustellen, er war sogar nicht imstande, die Einheit in der eigenen Partei aufrechtzuerhalten. Und je stärker die zentralistischen Tendenzen bei einer Richtung in den Vordergrund traten, desto größer war der Schiffbruch, den sie gerade in dieser Hinsicht erleben mußte. Eine wunderbare Illustration gibt uns der Zustand der kommunistischen Parteien in den verschiedenen Ländern. Fast überall sind Spaltungen eingetreten, und sogar dort, wo die Parteieinheit mühsam aufrechterhalten wird, erkennt man die innere Brüchigkeit. Am deutlichsten tritt das in Deutschland zutage, wo die Spaltung zum eisernen Ressort der kommunistischen Parteien gehört. Aber man denke ja nicht, daß dieser jämmerliche Zustand die guten Leute zum Nachdenken veranlassen würde. Im Gegenteil, nach jedem Fiasko sucht man den Zentralismus noch schärfer auszugestalten und die Disziplin noch schärfer auszuprägen, bis man zuletzt, wie der Stuttgarter „Kommunist", seinen Lesern verkünden konnte:

„Das Parteimitglied muß bereit sein, sich auf Befehl der Partei zu erschießen. Kurz, jeder Eigenwille hört auf."

Hier hat der Wahnsinn einen Grad erreicht, der schon mehr wie Gehirnerweichung anmutet.

Früher stritt man sich um die beste Form der Kirche. Protestantische und katholische Theologen suchten sich gegenseitig zu überbieten in metaphysischen Spitzfindigkeiten, und die Völker lauschten in ehrfürchtiger Scheu ihren Worten. Die wenigen kühnen, über Jahrhunderte verstreuten Denker, die klar erkannten, daß nicht die Form der Kirche, sondern ihre Existenz die Ursache des Uebels sei, wurden von allen befeindet und von den Zeitgenossen verkannt und verlästert. Später entbrannte der Kampf um die beste Form des Staates. Die verschiedenen politischen Parteien, die in der Machtsphäre des Staates dieselbe Rolle spielen wie die verschiedenen theologischen Schulen in der Machtsphäre der Kirche und im Grunde genommen nichts anderes als Staatstheologien sind, wetteiferten gegenseitig in der Erfindung der besten Staatsform. Doch wie klein war die Zahl derer, die klar erkannten, daß der Streit um die Form des Staates nur eine Verkennung des eigentlichen Problems war, daß nicht die Form, sondern die Existenz des Staates die Grundwurzel des Uebels bildet, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wie wir regiert werden, sondern daß wir regiert werden.

Heute ist es die Idee des Zentralismus, diese ureigenste Erfindung des Staates, welche die Geister gefangen hält. Der Zentralismus ist zum Allheilmittel der Zeit geworden, und wie man sich ehemals um die beste Form der Kirche stritt und sich heute noch um die beste Form des Staates streitet, so sucht man nun alle Mängel und Schäden des zentralistischen Systems in seinen zufälligen Vertretern, nicht im System selbst. Man sagt uns, daß der Zentralismus die Zusammenfassung der Kräfte, die Konzentration der Willenskundgebung des Proletariats auf ein bestimmtes Ziel, mit einem Wort — die Einheit der Aktion bedeute. Und doch ist diese Behauptung eine schmähliche Verkennung der Tatsachen und in vielen Fällen eine bewußte Lüge, die zu gebrauchen man im Parteiinteresse für klug und berechtigt hält. Zentralismus war nie die Vereinheitlichung der Kräfte, sondern die Paralisierung der Kraft. Zentralismus ist die künstliche Einheit von oben nach unten, die ihren Zweck durch die Uniformierung des Willens, durch die Ausschaltung jeder selbständigen Initiative zu erreichen sucht; es ist die Einheit der Aktion in einem Marionettentheater, wo jede Figur tanzt und springt nach dem Willen der Drahtzieher hinter den Kulissen. Aber wenn die Drähte zerreißen, liegt die Marionette am Boden.

Wenn der Staat in der Zentralisation die vollendetste Form der Organisation erblickt, so ist dies selbstverständlich und vom Standpunkte seiner Träger durchaus erstrebenswert. Für den Staat ist die Uniformierung des Denkens und Handelns eine wesentliche Vorbedingung für seine eigene Existenz. Er haßt und bekämpft die persönliche Initiative, den freiwilligen Zusammenschluß der Kräfte, welcher der inneren Solidarität entspringt. Für den Staat ist der einzelne Bürger nur ein totes Rad in einem großen Mechanismus, dessen Platz in der Maschine genau bestimmt ist. Mit einem Worte, für ihn ist die Ertötung der persönlichen Selbständigkeit eine Lebensfrage, die er durch die Zentralisierung der Kräfte zu erreichen trachtet. Seine vornehmste Aufgabe ist es, loyale Untertanen heranzubilden und die geistige Mittelmäßigkeit zum Prinzip zu erheben. Keine Handlung ohne Befehl, kein Entschluß ohne die Inspiration von oben. Trockenes Bürokratentum und geistloses Nachahmen der vorgeschriebenen Formen, das sind die unvermeidlichen Folgen jeder Zentralisation.

Für die revolutionäre Arbeiterbewegung sind ganz andere Voraussetzungen notwendig, wenn sie ihr Ziel erreichen will. Selbständiges Denken, kritisches Erfassen der Dinge, persönlicher Freiheitsdrang und schöpferisches Handeln sind die wichtigsten Voraussetzungen ihres endlichen Sieges. Aus diesem Grunde ist jeder Zentralismus in der Arbeiterbewegung ein reaktionärer Rückschlag, der ihre Existenz bedrohte und ihre eigentlichen Ziele in nebelhafte Fernen rückt. Für eine wahrhaft freiheitliche Bewegung ist der Föderalismus die einzig mögliche Organisationsform. Föderalismus meint nicht Zersplitterung der Kräfte, steht nickt im Gegensatz zum einheitlichen Handeln. Föderalismus ist Einheit der Kräfte, jedoch Einheit, die aus der Ueberzeugung der einzelnen Glieder herauswächst. Einheit, die sich auf das freiwillige Handeln der einzelnen Gruppen, auf die lebendige Solidarität der Allgemeinheit stützt. Für den Föderalismus ist die Selbständigkeit des Denkens und Handelns das Fundament jeder einheitlichen Aktion. Er sucht seine Ziele nicht durch die Uniformität von oben gefaßter Beschlüsse zu erreichen, sondern durch ein planmäßiges und freiwilliges Zusammenfinden aller vorhandenen Kräfte, die nach demselben Ziele streben.

In Rußland hat der Zentralismus, der in der Diktatur seinen vollendetsten Ausdruck fand, die Revolution erstickt, um schließlich wieder beim Kapitalismus zu landen. In Deutschland, wo im November 1918 die politische Macht den sozialistischen Parteien restlos in die Hände fiel, wurde sogar kein ernsthafter Versuch unternommen, das Wirtschaftsleben auf neuen Grundlagen aufzubauen, und man kam über banale Sozialisierungsphrasen nicht hinaus. In Rußland wurde die Revolution durch die Diktatur zu Grabe geleitet, in Deutschland durch die Verfassung. In beiden Fällen strandete der Sozialismus an der Machtpolitik der sozialistischen Parteien. In Deutschland führte uns die Machtpolitik der „gemäßigten" Sozialdemokratie zur Diktatur Noske, in Rußland führte die Machtpolitik der „radikalen" Sozialdemokratie zur Diktatur Lenin-Trotzki. Das Ergebnis war in beiden Fällen dasselbe; die blutige Unterjochung der besitzlosen Klassen und der Triumph der kapitalistischen Reaktion.

Die Aera Noske war die goldene Zeit der Schutzhaft, des Belagerungszustandes und der militärischen Standgerichte. Keine bürgerliche Regierung in diesem Lande hat je gewagt, die Rechte der Arbeiter so mit Füßen zu treten, wie es unter der Herrschaft dieses sozialdemokratischen Despoten geschehen ist. Sogar die düsteren Zeiten der Bismarckschen Sozialistengesetze verblassen, an dem Schreckensregiment Noskes gemessen.

Die Aera Lenin-Trotzki ist die goldene Zeit der Achterklärung gegen alle wahrhaften Sozialisten und Revolutionäre, die Zeit der absoluten Rechtlosigkeit der Arbeiterklasse, die Zeit der „Wetscheka" und der Massenerschießungen. Ihr blieb es vorbehalten, alle Grausamkeiten des zarischen Systems auf die Spitze zu treiben.

Beide haben das Menschenmöglichste geleistet in der rücksichtslosen Unter.drückung jeder Freiheit, in der brutalen Vergewaltigung jeder Menschenwürde. Und beide haben kläglich versagt, wenn es sich darum handelte, wahrhaft sozialistische Forderungen in die Wirklichkeit umzusetzen.

Hoffen wir, daß die Arbeiterschaft aus diesen trostlosen Ergebnissen eine Lehre zieht; daß ihr endlich die Erkenntnis dämmern wird, daß politische Parteien, wie radikal sie immer sich gebärden mögen, überhaupt nicht imstande sind, eine Reorganisation der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus durchzuführen, da ihnen zu dieser Aufgabe alle Voraussetzungen fehlen. Jedes Parteigebilde ist eingestellt auf die Eroberung der politischen Macht, auf das Diktat von oben. Aus diesem Grunde stehen sie jedem organischen Werden, das sich aus den Tiefen des Volkes entwickelt, feindlich gegenüber, da sie schlechterdings kein Verständnis haben für die schöpferischen Kräfte und Fähigkeiten, die im Volke schlummern. Diese Kräfte und Fähigkeiten zu wecken und zur Entfaltung zu bringen, ist vornehmste Aufgabe des Sozialismus. Dies aber kann nur geschehen in den wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse, die allein dazu berufen sind, die sozialistische Einstellung der Gesellschaft anzubahnen und durchzuführen. Hier ist der Ort, wo die Arbeiter für diese große Aufgabe herangebildet werden müssen. Es gilt die inneren Zusammenhänge der Produktion und der Verteilung der Arbeitererzeugnisse zu studieren, den Sinn für die Verwaltung der Betriebe und die natürlichen Beziehungen zwischen Landwirtschaft und Industrie zu erfassen und zu vertiefen, um den Ansprüchen einer revolutionären Situation gewachsen zu sein. Diese Tätigkeit, unterstützt durch praktische Experimente, wo die Möglichkeit dazu geboten ist, ist die einzige und wahre Erziehung zum Sozialismus. Der große Wirtschaftsbund der Kopf- und Handarbeiter, nicht die Partei, ist die Brücke, die uns zur sozialistischen Gesellschaft führen wird. Und diese Brücke muß von den Massen, die heute unter dem Joche der Lohnsklaverei fronden, selbst geschlagen werden.

Gewiß, auch wir wissen, daß Revolutionen nicht mit Rosenöl gemacht werden; auch wir wissen, daß die besitzenden Klassen nicht freiwillig auf ihre Vorrechte verzichten werden. An dem Tage der siegreichen Revolution wird das werktätige Volk den heutigen Besitzern des Grund und Bodens und der Produktionsmittel seinen Willen aufzwingen müssen. Dies aber kann unserer Ansicht nach nur durch die Besitzergreifung des gesellschaftlichen Kapitals geschehen und durch die Abtragung des politischen Gewaltapparates, der bisher das eiserne Bollwerk jeder Ausbeutung der Massen gewesen ist und stets sein wird. Diese Aktion ist für uns ein Befreiungsakt, eine Kundgebung sozialer Gerechtigkeit, sie ist der Wesenskern der sozialen Revolution und hat mit der rein bürgerlichen Idee der Diktatur nichts gemein.

Das Proletariat muß sich frei machen von den bürgerlichen Ideengängen politischer Revolutionen, die stets mit einer Neubesetzung des politischen Machtapparates ihren Abschluß finden. Wer die Macht hat, mißbraucht sie. Deshalb gilt es die Machtergreifung durch Parteien oder einzelne Personen zu verhindern, die immer wieder zu einer neuen Versklavung des Volkes führen muß. Ob dies unter dem Zeichen von Krone und Zepter geschieht oder unter dem Zeichen von Hammer und Sichel vor sich geht, ob man dabei das „Bosche Zarja Njrani" oder die „Internationale" aufspielt, ist im Grunde genommen kein großer Unterschied. Eine wahre Befreiung ist nur möglich, wenn der Machtapparat verschwindet, denn das Monopol der Macht ist nicht minder gefährlich wie das Monopol des Besitzes. Nur auf diese Art wird es möglich sein, alle schlummernden Kräfte im Volke zu wecken und der Revolution dienstbar zu machen. Damit verschwindet aber auch die Möglichkeit, daß eine bestimmte Partei, nur weil es ihr gelungen ist, die Macht zu erschleichen, imstande ist, alle wahrhaft revolutionären Richtungen zu unterdrücken, weil dies angeblich „im Interesse der Revolution" geboten ist, trotzdem man weiß, daß das „Interesse der Revolution" in diesem Falle stets nur das Interesse der Partei oder einer Handvoll skrupelloser und machtlüsterner Politiker bedeutet.

Sowjetismus, nicht Bolschewismus, Freiheit, nicht Diktatur, Sozialismus, nicht Staatskapitalismus! Alles durch die Räte, keine Macht über den Räten! Das ist unser Wahlspruch, welcher zugleich der Wahlspruch der sozialen Revolution sein wird.

[1] Sogar Lenin begreift heute, daß die Zeit der Dekrete vorüber ist, wie seine Ausführungen auf dem 2. Kongreß für politische Aufklärung beweisen: „Jedermann sieht, welch scharfe Schwenkung die Sowjetregierung und die kommunistische Partei durch den Uebergang zur neuen Wirtschaftspolitik voll. zog, die ihrem Wesen nach mehr Altes enthält als unsere bisherige Wirtschaftspolitik. In unserm neuen Wirtschaftssystem tritt an die Stelle der Requisition die Naturalsteuer. Die Konzessionserteilung an ausländische Kapitalisten und kapitalistische Pächter ist gewissermaßen eine Wiederherstellung des Kapitalismus. Es handelt sich nur darum, wem die Bauernschaft folgen wird, dem Proletariat, das den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft erstrebt, oder dem kapitalistischen Leben, das an sich einfacher ist. In diesem Kampf muß die proletarische Regierung eine wirtschaftliche Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung anstreben und sich auf das parallel mit der Wiederherstellung der Industrie wachsende Proletariat stützen. Nun entsteht die Frage: Wird es den Kapitalisten eher gelingen, sich zu organisieren und werden die Kommunisten versagen, oder wird sich die proletarische Regierung, gestützt auf die Bauernschaft, fähig erweisen, die Kapitalisten in gehöriger Distanz zu halten, um einen dem Staat untergeordneten, ihm dienenden Kapitalismus zu schaffen? Dieser Kampf wird schwieriger, rücksichtsloser sein als der gegen Koltschak und Denikin. Jetzt tritt der Feind nicht offen auf, sondern ist unsichtbar in unserer Mitte. Um zu siegen, müssen wir die Kleinbauern organisieren, ihre Produktivkräfte entwickeln und sie mit unserer Macht stützen, oder die Kapitalisten werden die Kleinbauern von sich abhängig machen. Davon hängt der Ausgang des Kampfes ab. In unserm verarmten Lande ist der Kampf zwischen dem kommenden Sozialismus und der kapitalistischen Entwicklung eine Frage auf Leben und Tod, die uns keine Sentimentalitäten gestattet. Die russischen Kapitalisten, die ausländischen Konzessionäre und ihre Pächter werden jetzt 100 Proz. Gewinn einstreichen. Laßt sie sich bereichern, doch lernt von ihnen wirtschaften, denn nur so werdet ihr eine fähige kommunistische Republik errichten. Diese Lehrzeit ist schwer und hart, doch es gibt keinen anderen Ausweg, denn die Technik der Großindustriellen ist übermächtig. Die Zeiten der Manifeste und Dekrete sind vorüber. Nun müssen wir politische Erfahrung erwerben und praktisch arbeiten. Entweder sind die politischen Errungenschaften der Sowjetmacht dem Untergange geweiht, oder wir müssen ihnen eine sichere wirtschaftliche Grundlage geben . Auch müssen wir ein bestimmtes Bildungsniveau erreichen, damit unser Land erfolgreich gegen die traditionellen Uebel Rußlands: Bürokratie und Bestechlichkeit kämpfen kann. Drei Hauptfeinde sind zu bekämpfen: Die kommunistische Eitelkeit, der Glaube, durch bloße Herausgabe kommunistischer Dekrete alles lösen zu können, ohne den Inhalt der Dekrete im Leben je zu verwirklichen; die Unwissenheit und die Bestechlichkeit."