Rudolf Rocker
Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus
1. Zur Ideologie des Anarchismus
2. Geschichte der anarchistischen Philosophie von Lao-Tse bis Kropotkin
1. Die Ursprünge des Anarcho - Syndikalismus
2. Sozialismus und Anarcho-Syndikalismus in Frankreich
3. Die Rolle der Gewerkschaften aus anarcho-syndikalistischer Sicht
4. Der Kampf in Deutschland und Spanien
5. Der politische Kampf aus anarcho-syndikalistischer Sicht
I
1. Zur Ideologie des Anarchismus
Der Anarchismus ist eine bestimmte intellektuelle Strömung, deren Anhänger die Abschaffung der wirtschaftlichen Monopole und aller politischen und sozialen Zwangsinstitutionen innerhalb der Gesellschaft anstreben. An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wollen die Anarchisten eine freie Vereinigung aller Produktivkräfte stellen, die auf kooperativer Arbeit beruht, und die als alleinigen Zweck die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft haben würde. Anstatt der gegenwärtigen Nationalstaaten mit ihrer leblosen Maschinerie politischer und bürokratischer Institutionen fordern Anarchisten eine Föderation freier Kommunen, die untereinander durch ihre alltäglichen Interessen verbunden sind, und ihre Angelegenheiten durch gegenseitige und freie Verträge regeln.
Jeder, der die ökonomische und politische Entwicklung des gegenwärtigen Systems genauer untersucht, wird erkennen, daß diese Ziele nicht den utopischen Ideen einiger Phantasten entspringen. Sie sind vielmehr das logische Ergebnis einer gründlichen Überprüfung der heutigen miserablen sozialen Verhältnisse, die sich in jeder Phase der gegenwärtigen sozialen Bedingungen immer deutlicher und schädlicher offenbaren. Der moderne Monopolkapitalismus und die totalitären Staaten sind nichts anderes als die letzten Stufen einer Entwicklung, die nirgendwo anders enden konnte.
Die unheilvolle Entwicklung unseres gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems, die zu einer enormen Anhäufung sozialen Reichtums in den Händen privilegierter Minderheiten und zu einer andauernden Unterdrückung der großen Masse des Volkes führte, ebnete den Weg für die heutige politische und soziale Reaktion. Sie erwies sich ihr in jeder Weise als dienlich. Sie opferte die allgemeinen Interessen der Gesellschaft den Privatinteressen einzelner und unterminierte so systematisch echte Beziehungen zwischen den Menschen. Die Menschen vergaßen, daß der Fleiß nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich dem Menschen zur Sicherung seines materiellen Unterhalts dient und ihm die Errungenschaften einer höherstehenden Kultur zugänglich machen soll. Wo Fleiß alles ist, Arbeit ihren ethischen Einfluß verliert und der Mensch nichts ist, beginnt der brutale wirtschaftliche Despotismus. Dessen Auswirkungen sind nicht weniger unheilvoll als die irgendeines politischen Despotismus.
Unser modernes soziales System hat im Innern den sozialen Organismus jedes Landes in zwei feindliche Klassen gespalten. Nach außen hat es den gemeinsamen kulturellen Kreis der verfeindeten Nationen zerbrochen; beide, Klassen und Nationen, stehen sich in offener Feindschaft gegenüber. Bedingt durch ihren unaufhörflichen Kampf unterliegt das soziale Leben fortwährenden Störungen. Zwei Weltkriege innerhalb eines halben Jahrhunderts mit ihren schrecklichen Nachwirkungen, und die latente Gefahr neuer Kriege, die zur Zeit alle Völker beherrscht, sind nur die logischen Konsequenzen dieser unerträglichen Bedingungen, die nur in weitere weltweite Katastrophen führen können. Die bloße Tatsache, daß die meisten Staaten heute verpflichtet sind, einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialprodukts für die sog. nationale Verteidigung und für die Liquidation alter Kriegsschulden auszugeben, ist der Beweis für die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands. Es sollte jedem klar sein, daß der vorgebliche Schutz, den der Staat dem Einzelnen gewährt, zu teuer erkauft wird.
Die ständig wachsende Macht einer seelenlosen politischen Bürokratie, die das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre überwacht und "schützt", wird für die Zusammenarbeit der Menschen zu einem immer größeren Hindernis. Ein System, das mit jeder Handlung das Wohlergehen großer Teile der Menschen, sogar ganzer Nationen, der egoistischen Sucht nach Macht und den ökonomischen Interessen von Minoritäten opfert, muß notwendigerweise die sozialen Bindungen auflösen und zu einem fortwährenden Kampf jeder gegen jeden führen. Dieses System ist lediglich Schrittmacher für die große geistige und soziale Reaktion geworden. Diese findet heute ihren Ausdruck im Faschismus und in der Idee des totalitären Staates, die die Machtbesessenheit der absoluten Monarchie der vergangenen Jahrhunderte weit übertreffen und versuchen, jeden Bereich der menschlichen Aktivität unter die Kontrolle des Staates zu bringen. "Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat!" (Mussolini) wurde das Leitmotiv einer neuen politischen Theologie. Heißt es in den alten Kirchensystemen "Gott ist alles und der Mensch ist nichts", so ist das moderne Glaubensbekenntnis "Der Staat ist alles und der Bürger nichts". Und so wie das Wort "Der Wille Gottes" benutzt wurde, um den Willen der herrschenden Klassen zu rechtfertigen, so verstecken sich heute hinter dem "Willen der Staaten" nur die egoistischen Interessen derer, die sich berufen fühlen, diesen Willen in ihrem Sinne zu interpretieren und den Menschen aufzuzwingen.
Im modernen Anarchismus treffen zwei große Strömungen zusammen, die vor und nach der französischen Revolution einen sehr großen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus. Der moderne Sozialismus entwickelte sich, als immer klarer erkannt wurde, daß politische Einrichtungen und Regierungswechsel niemals an die Wurzel des großen Problems, die Soziale Frage, dringen konnten. Seine Anhänger erkannten, daß eine Anpassung der sozialen und politischen Bedingungen zum Wohl aller trotz der besten Voraussetzungen unmöglich ist. Sie ist nicht möglich, solange die Menschen auf der Basis des Besitzes oder Nicht-Besitzes von Eigentum in Klassen geteilt sind - Klassen, deren bloße Existenz von vornherein jeglichen Gedanken an eine wirkliche Gemeinschaft ausschließen. Deshalb kam man zu der Überzeugung, daß nur durch die Beseitigung der wirtschaftlichen Monopole und den gemeinschaftlichen Besitz an Produktionsmitteln ein Zustand sozialer Gerechtigkeit hergestellt werden könne. Ein Zustand, in der die Gesellschaft eine wirkliche Gemeinschaft wird, und die menschliche Arbeit nicht länger die Ausbeutung zur Folge hat, sondern das Wohlbefinden aller sichert. Aber sobald der Sozialismus organisiert auftrat und zu einer Bewegung wurde, traten auf einmal bestimmte Meinungsunterschiede auf, die von dem Einfluß des sozialen Milieus der verschiedenen Länder herrührten. Es ist eine Tatsache, daß jedes politische Konzept von der Gottesherrschaft bis zum Cäsarismus und zur Diktatur sich auf bestimmte Parteien der sozialistischen Bewegung ausgewirkt hat.
Die zwei großen Strömungen des politischen Denkens nahmen einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung sozialistischer Ideen: der Liberalismus, den fortschrittliche Denker in den angelsächsischen Ländern und teilweise in Holland und Spanien stimuliert hatten; die Demokratie in dem Sinne, wie sie Rousseau in seinem "Gesellschaftsvertrag"[1] dargelegt hatte, und die ihre einflußreichsten Repräsentanten in den Führern der französischen Jakobiner[2] fand. Der Liberalismus ging in seinen sozialen Theorien vom Individuum aus. Er forderte, die Aktivitäten des Staates auf ein Minimum zu beschränken. Demgegenüber beruhte Demokratie auf einem abstrakten kollektiven Konzept, Rousseaus "Allgemeinem Willen", das versuchte, diese Vorstellung im Nationalstaat zu verwirklichen.
Liberalismus und Demokratie waren hervorragende politische Konzepte. Da die meisten Anhänger von Liberalismus und Demokratie kaum die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft betrachteten, konnte die weitere Entwicklung dieser Bedingungen praktisch nicht mit den ursprünglichen Prinzipien der Demokratie versöhnt werden. Noch weniger jedoch mit denen des Liberalismus. Demokratie mit ihrem Motto der "Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz", und der Liberalismus mit seinem "Recht des Menschen auf seine Person" scheiterten beide an den Realitäten der kapitalistischen Wirtschaft.
Solange Millionen von Menschen in jedem Land ihre Arbeitskraft einer kleinen Minorität von Besitzenden verkaufen müssen und in die erbärmlichste ökonomische Lage geraten, wenn sie keinen Käufer finden, bleibt die sogenannte Gleichheit vor dem Gesetz eine Farce, seit die Gesetze von denen gemacht werden, die im Besitz des gesellschaftlichen Reichtums sind. Aber in demselben Zusammenhang kann auch nicht vom Recht des Menschen auf seine Person gesprochen werden, da dieses Recht dort endet, wo jemand gezwungen ist, sich dem ökonomischen Diktat eines anderen zu unterwerfen.
Wie der Liberalismus vertritt auch der Anarchismus die Idee, daß das Glück und die Wohlfahrt des Einzelnen der Maßstab in sämtlichen sozialen Angelegenheiten sein muß. Und wie die bedeutenden Repräsentaten des liberalen Gedankenguts vertritt auch der Anarchismus die Auffassung, daß die Aufgaben der Regierung auf ein Minimum beschränkt werden müssen. Seine Anhänger sind diesem Gedanken bis zur letzten Konsequenz gefolgt und sind bestrebt, jede Institution der politischen Macht aus dem gesellschaftlichen Leben zu eliminieren. Wenn Jefferson[3] das Grundkonzept des Liberalismus in die Worte faßt: "Diejenige Regierung ist am besten, die am wenigsten regiert", sagen die Anarchisten mit Thoreau[4]: "Diejenige Regierung ist am besten, die überhaupt nicht regiert".
Gemeinsam mit den Vätern des Sozialismus fordern die Anarchisten die Abschaffung des wirtschaftlichen Monopols in jeder Form und unterstützen den Gemeinschaftsbesitz an Grund und Boden und den Produktionsmitteln, deren Gebrauch jedem ohne Unterschied zugänglich sein muß; denn persönliche und soziale Freiheit ist nur auf der Basis von gleichen ökonomischen Bedingungen für jedermann denkbar. Innerhalb der sozialistischen Bewegung vertreten die Anarchisten den Standpunkt, daß der Kampf gegen den Kapitalismus gleichzeitig ein Kampf gegen die Zwangsinstitutionen der politischen Macht sein muß, da in der Geschichte die ökonomische Ausbeutung Hand in Hand mit politischer und sozialer Unterdrückung gegangen ist. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Herrschaft des Menschen über den Menschen sind untrennbar und bedingen einander.
Solange sich in der Gesellschaft eine besitzende und nichtbesitzende Schicht in Feindschaft gegenüberstehen, wird der Staat für die besitzende Minderheit unentbehrlich sein, um ihren Besitz zu schützen. Wenn diese Voraussetzung der sozialen Ungerechtigkeit verschwindet, um der Ordnung Platz zu machen, die keine besonderen Rechte anerkennt und als Grundvoraussetzung die Gemeinschaft der sozialen Interessen haben wird, muß die Regierung über Menschen der Verwaltung der ökonomischen und sozialen Angelegenheiten das Feld überlassen, oder, um mit Saint Simon[5] zu sprechen: "Die Zeit wird kommen, in der die Kunst, Menschen zu regieren, verschwinden wird. Eine neue Kunst wird diesen Platz einnehmen, die, Dinge zu verwalten". In dieser Hinsicht muß der Anarchismus als freiwilliger Sozialismus betrachtet werden.
Das bestimmte auch die von Marx und seinen Änhängern aufgestellte Theorie, daß der Staat, in der Form der Diktatur des Proletariats, eine notwendige Übergangsstufe zur klassenlosen Gesellschaft ist, in der der Staat, nach der Eliminierung aller Klassenkonflikte und schließlich der Klassen selbst, sich auflösen wird und verschwindet. Dieses Konzept, daß die reale Natur des Staates und die Bedeutung des Faktors der politischen Macht in der Geschichte völlig verkennt, ist nur das logische Ergebnis des sogenannten ökonomischen Materialismus. Der sieht in allen Erscheinungen der Geschichte lediglich die unvermeidlichen Folgen der Produktionsmethode dieser Zeit. Unter dem Einfluß dieser Theorie betrachteten die Menschen die verschiedenartigen Formen des Staates und all der anderen sozialen Institutionen als einen "rechtlichen und politischen Überbau der ökonomischen Basis". Sie meinten darin den Schlüssel zu jedem historischen Prozeß gefunden zu haben. In Wirklichkeit liefert uns jeder historische Abschnitt Tausende von Beispielen, in denen die ökonomische Entwicklung verschiedener Länder durch den Staat und seine Machtpolitik einen Rückschlag von Jahrzehnten erlitten hat.
Vor dem Aufstieg der klerikalen Monarchie war Spanien, industriell gesehen, das am weitesten entwickelte Land in Europa und hielt den ersten Platz in der Produktion in fast jedem Bereich. Aber ein Jahrhundert nach dem Triumph der klerikalen Monarchie waren die meisten Industriebetriebe verschwunden; was von ihnen übrigblieb, überlebte unter den elendsten Bedingungen. In den meisten Industriezweigen ging man auf die primitivsten Produktionsmethoden zurück. Die Landwirtschaft brach zusammen, Wasserstraßen wurden ruiniert und weite Landflächen in eine Wüste verwandelt. Der fürstliche Absolutismus in Europa, mit seinen törichten "ökonomischen Verordnungen" und seiner "industriellen Gesetzgebung", der jedes Abweichen von den vorgeschriebenen Produktionsmethoden streng bestrafte und keine neuen Erfindungen erlaubte, blockierte den industriellen Fortschritt in den europäischen Ländern für Jahrzehnte und verhinderte seine natürliche Entwicklung. Und selbst nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege erweist sich die Machtpolitik der großen Nationalstaaten als das größte Hindernis für die Wiederherstellung der europäischen Wirtschaft.
In Rußland jedoch, wo die sog. Diktatur des Proletariats herrscht, hat das politische Machtstreben einer einzigen Partei jegliche echte Reorganisation des ökonomischen Lebens verhindert und das Land in die Sklaverei des Staatskapitalismus gezwungen. Die Diktatur des Proletariats, von der Naive glauben, daß sie eine notwendige Übergangsstufe zum wirklichen Sozialismus darstellt, hat sich zu einem schrecklichen Despotismus und zu einem neuen Imperialismus gewandelt, der in nichts hinter der Tyrannei des Faschismus zurückbleibt. Die Behauptung, daß der Staat solange bestehen bleiben muß, bis die Gesellschaft nicht in feindliche Klassen gespalten ist, erscheint, im Lichte aller historischen Erfahrungen, wie ein schlechter Scherz.
Jeder Typus politischer Macht setzt eine besondere Form von menschlicher Sklaverei voraus, für deren Erhaltung die Macht überhaupt ins Leben gerufen worden ist. Nach außen, in Beziehung zu anderen Staaten, muß der Staat einige künstliche Widersprüche schaffen, um seine Existenz zu rechtfertigen. Im Inneren ist die Spaltung der Gesellschaft in Kasten, Stände und Klassen die notwendige Bedingung für sein Fortbestehen. Die Entwicklung der bolschewistischen Bürokratie in Rußland unter der Diktatur des Proletariats - die nichts anderes ist als die Diktatur einer kleinen Clique über das Proletariat und über das ganze russische Volk - ist lediglich ein neues Beispiel einer alten historischen Erfahrung, die sich unzählige Male wiederholt hat. Diese neue herrschende Klasse, die sich heute in eine neue Aristokratie wandelt, hat sich von den großen Massen der russischen Bauern und Arbeiter abgesetzt, genau wie die privilegierten Kasten und Klassen in anderen Ländern von der Masse der Bevölkerung. Und diese Situation wird immer unerträglicher, wenn ein despotischer Staat den niederen Klassen das Recht verweigert, sich gegen die bestehenden Verhältnisse zu wenden, so daß jeder Protest die Gefährdung des Lebens zur Folge hat.
Aber auch ein höherer Grad von ökonomischer Gleichheit als der in Rußland würde noch keine Garantie gegen politische und soziale Unterdrückung bedeuten. Ökonomische Gleichheit allein bedeutet keine soziale Befreiung. Es ist genau dies, was die Schulen des autoritären Sozialismus niemals verstanden haben. Im Gefängnis, im Kloster oder in der Kaserne findet man einen ziemlich hohen Grad von ökonomischer Gleichheit, da alle Insassen mit derselben Unterkunft, derselben Verpflegung, derselben Uniform und denselben Aufgaben versehen sind. Der alte Inka-Staat in Peru und der Jesuitenstaat in Paraguay hatten die gleiche ökonomische Versorgung für alle Einwohner geschaffen. Aber trotzdem herrschte dort der schlimmste Despotismus, und der Mensch war lediglich der Automat eines höheren Willens, auf dessen Entscheidungen er nicht den geringsten Einfluß hatte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Proudhon[6] in einem "Sozialismus" ohne Freiheit die schlimmste Form der Sklaverei sah. Der Drang nach sozialer Gerechtigkeit kann sich nur entwickeln und nur effektiv sein, wenn er vom Sinn für Freiheit und Verantwortlichkeit ausgeht und darauf basiert. Mit anderen Worten, der Sozialismus wird frei, oder er wird nicht sein. Im Erkennen dieser Tatsache liegt die wahre und tiefe Rechtfertigung des Anarchismus.
Institutionen dienen im Leben der Gesellschaft demselben Zweck wie die physischen Organe im Leben der Pflanzen und der Tiere: sie sind die Organe des sozialen Körpers. Organe entwickeln sich nicht willkürlich, sondern verdanken ihren Ursprung bestimmten Notwendigkeiten der physischen und sozialen Umgebung. Veränderte Lebensbedingungen schaffen veränderte Organe. Und ein Organ verschwindet allmählich oder verkümmert, sobald seine Funktion für den Organismus nicht mehr notwendig ist.
Dasselbe gilt für soziale Institutionen. Sie entstehen ebenfalls nicht willkürlich, sondern werden durch besondere soziale Notwendigkeiten bedingt ins Leben gerufen, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Auf diese Weise entwickelte sich der moderne Staat, nachdem Ökonomische Privilegien und damit verbundene Klassenspaltungen im Rahmen der alten sozialen Ordnung immer sichtbarer wurden. Die neu entstandenen besitzenden Klassen benötigten ein politisches Machtinstrument, um ihre ökonomischen und sozialen Privilegien gegenüber den Massen des Volkes zu behaupten.
So entstanden die entsprechenden sozialen Bedingungen für die Entwicklung des modernen Staates als politisches Machtinstrument für die Unterdrückung der nicht-besitzenden Klassen. Diese Aufgabe ist der wichtigste Grund für seine Existenz. Seine äußerlichen Formen haben sich im Laufe der historischen Entwiklung geändert, aber seine Aufgaben sind immer die gleichen geblieben. Sie haben sich sogar konstant in dem Maße ausgebreitet, wie es seinen Anhängern gelang, sich weitere Felder sozialer Aktivitäten dienstbar zu machen. Und so wie man die Funktionen eines physischen Organs nicht willkürlich ändern kann, so kann man auch nicht nach Belieben ein Organ der sozialen Unterdrückung in ein Instrument für die Befreiung der Unterdrückten umwandeln.
Der Anarchismus ist keine Patentlösung für alle menschlichen Probleme, keine Utopie einer perfekten Gesellschaftsordnung (wie er so oft bezeichnet wurde), weil er grundsätzlich alle absoluten Schemata und Konzepte verwirft. Er glaubt nicht an eine absolute Wahrheit oder an bestimmte Endziele der menschlichen Entwicklung. Vielmehr an eine unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit von sozialen Modellen und menschlichen Lebensbedingungen, die sich ständig um höhere Ausdrucksformen bemühen, und denen man, aus diesem Grund, keinen bestimmten Endpunkt und kein festes Ziel zuweisen kann.
Das größte Übel jeder Form von Macht ist, daß sie ständig versucht, die große Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens in bestimmte Formen zu pressen und sie einzelnen Normen anzupassen. Je stärker sich seine Anhänger fühlen, desto umfassender werden sie versuchen, sich jeden Bereich des sozialen Lebens dienstbar zu machen. Ergebnis ist ihr lähmender Einfluß auf die Tätigkeit alle kreativen Kräfte. Hier zeigt sich mit erschreckender Klarheit, zu welcher Ungeheuerlichkeit Hobbes "Leviathan"[7] entwickelt werden kann. Es ist der totale Triumph der politischen Maschine über Geist und Körper, die Rationalisierung des menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens entsprechend den festgesetzten Regeln der Bürokratie und, in letzter Konsequenz, das Ende aller echten intellektuellen Kultur.
Anarchismus anerkennt lediglich die relative Bedeutung von Ideen, Institutionen und sozialen Bedingungen. Er ist deshalb nicht ein bestimmtes, geschlossenes soziales System, sondern eher eine bestimmte Richtung in der historischen Entwicklung der Menschheit. Im Gegensatz zu der intellektuellen Vormundschaft aller klerikalen und Regierungsinstitutionen strebt er nach der freien ungehinderten Entfaltung aller individuellen und sozialen Kräfte im Leben. Auch Freiheit ist nur ein relatives, kein absolutes Ziel, da sie dauernd dazu neigt, ihren Bereich zu erweitern und auf weite Kreise in mannigfaltiger Weise einzuwirken. Für den Anarchisten ist Freiheit nicht ein abstraktes philosophisches Ziel. Vielmehr ist sie die lebenswichtige konkrete Möglichkeit für jedes menschliche Wesen, alle Fähigkeiten und Talente zur vollen Entfaltung zu bringen und sie in einen sozialen Rahmen zu stellen. Je weniger diese natürliche Entwicklung des Menschen durch klerikale und politische Bevormundung gestört wird, desto leistungsfähiger und harmonischer werden die Menschen sein, desto mehr werden sie das Maß der intellektuellen Kultur der Gesellschaft sein, in die sie hineingewachsen sind. Das ist der Grund, warum alle großen kulturellen Perioden in der Geschichte Perioden der politischen Schwäche waren. Denn politische Systeme waren immer auf die mechanische und nicht auf die organische Entwicklung der sozialen Kräfte versessen.
Staat und Kultur sind unversöhnliche Gegensätze. Nietzsche, der kein Anarchist war, erkannte dies sehr deutlich, als er schrieb: "Niemand kann schließlich mehr ausgeben, als er besitzt. Das gilt für Einzelpersonen; das gilt für das Volk. Wenn einer sich in der Hohen Politik, in der Landwirtschaft, im Handel, Parlamentarismus, in militärischen Interessen erschöpft - wenn einer diese Summe von Vernunft, Eifer, Willen und Gewalt über sich selber weggibt, die sein eigenes Ich ausmacht, wird er es nicht für andere Sachen haben. Kultur und der Staat - darüber sollte sich niemand täuschen - sind Gegner: der Kulturstaat ist lediglich eine moderne Idee. Das Eine lebt gegen das Andere, das Eine entwickelt sich auf Kosten des Anderen. Alle großen Kulturepochen sind Perioden des politischen Niedergangs. Was im kulturellen Sinn bedeutend ist, ist unpolitisch, ist sogar antipolitisch."
Wo der Einfluß der politischen Macht auf die kreativen Kräfte in der Gesellschaft auf ein Minimum reduziert ist, gedeiht die Kultur am besten, da politische Herrschaft ständig nach Uniformität strebt und den Hang hat, jeden Aspekt des sozialen Lebens seiner Vormundschaft unterzuordnen. Die politische Herrschaft findet sich in einem unentrinnbaren Widerspruch zu den kreativen Bestrebungen kultureller Entwicklung, die immer auf der Suche ist nach neuen Formen und Feldern der sozialen Aktivität. Für sie sind die Freiheit der Meinungsäußerung, die Vielfältigkeit und der unaufhörliche Wechsel von Dingen genauso lebensnotwendig wie rigide Formen, tote Vorschriften und die gewaltsame Unterdrückung für die Erhaltung der politischen Macht. Jedes erfolgreiche Stück Arbeit verstärkt den Wunsch nach größerer Perfektion und tieferer Inspiration; jede neue Form wird der Vorbote für neue Entwicklungsmöglichkeiten. Aber die Macht versucht die Dinge zu bewahren, verankert in Stereotypen. Das war der Grund für alle Revolutionen in der Geschichte. Macht wirkt nur destruktiv, ist ständig darauf bedacht, jede Manifestation des sozialen Lebens in die Zwangsjacke seiner Vorschriften zu zwingen. Ihre intellektuelle Sprache ist ein totes Dogma, ihre physische Form rohe Gewalt. Und diese Ausdrucksformen drücken auch ihren Repräsentanten ihren Stempel auf und machen sie oft einfältig und brutal.
Das ist der Grund für die Entstehung des modernen Anarchismus. Daraus schöpft er seine moralische Kraft. Nur Freiheit kann die Menschheit zu großen Dingen inspirieren und intellektuelle und soziale Veränderungen herbeiführen. Die Kunst, Menschen zu regieren war nie die Kunst, sie zu einer neuen Lebensform zu erziehen und zu begeistern. Lebloser Drill ist der Ausdruck von Zwang, der jegliche vitale Initiative von Anfang an erstickt und nur Untertanen hervorbringt, aber keinen freien Menschen. Freiheit ist das höchste Gut im Leben, die treibende Kraft in jeder intellektuellen und sozialen Entwicklung, die Schöpferin jeder neuen Zielsetzung für die Zukunft der Menschheit. Die Befreiung des Menschen von der ökonomischen Ausbeutung und von der intellektuellen, sozialen und politischen Unterdrückung, die ihren höchsten Ausdruck in der Philosophie des Anarchismus findet, ist die erste Voraussetzung für die Entwicklung einer höheren sozialen Kultur und einer neuen Humanität.
2. Geschichte der anarchistischen Philosophie von Lao-Tse bis Kropotkin
Anarchistische Ideen sind in fast jeder Periode der bekannten Geschichte anzutreffen. Wir begegnen ihnen in dem chinesischen Weisen Lao-tse, in den griechischen Philosophen, den Hedonisten und Zynikern und anderen Verfechtern des sogenannten Naturrechts, in Zeno, dem Gründer der Stoiker-Schule und Opponenten Platons. Sie fanden Ausdruck in den Lehren der gnostischen Carpokraten in Alexandria. Ferner besaßen sie einen unverkennbaren Einfluß auf bestimmte christliche Sekten im Mittelalter in Frankreich, Deutschland, Italien, Holland und England. Die meisten von ihnen wurden Opfer grausamster Verfolgungen. In der Geschichte der böhmischen Revolution fanden sie einen machtvollen Verteidiger in Peter Chelcicky, der in seinem Werk "Das Netz des Glaubens" dieselben Urteile über die Kirche und den Staat fällte, wie es Tolstoi Jahrhunderte später tat. Unter den großen Humanisten war es Rabelais, der in seiner Beschreibung der glücklichen Abtei von Theleme[8] ein Bild des von allen autoritären Zwängen befreiten Lebens zeichnete. Von den anderen Pionieren des libertären Denkens sollen hier nur La Boetie, Sylvain Marechal, und vor allem Diderot erwähnt werden, in dessen umfangreichen Schriften man immer wieder die Äußerungen eines wirklich großen Geistes findet, der sich von jedem autoritären Vorurteil freigemacht hat.
Mittlerweile ist es der neueren Geschichte vorbehalten, der anarchistischen Lebenskonzeption eine deutliche Form zu geben und sie mit dem unmittelbaren Prozeß der sozialen Evolution zu verbinden. Das wurde zum erstenmal von William Godwin (1756-1836) in seinem Werk "Eine Untersuchung über das Wesen der politischen Gerechtigkeit und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück" (London 1793) vollzogen. Godwins Werk war, so kann man sagen, die reife Frucht jener langen Entwicklung des politischen und sozialen Radikalismus in England, ausgehend von George Buchanan über Richard Hooker, Gerard Winstently, Alge Enon Sydney, John Locke, Robert Wallace und John Bellers zu Jeremy Bentham, Joseph Priestley, Richard Price und Thomas Price. Godwin erkannte sehr deutlich, daß der Grund für das soziale Elend nicht in der Form des Staates, sondern in seiner bloßen Existenz zu suchen ist. Aber er erkannte auch, daß die Menschen nur frei und natürlich miteinander leben können, wenn die geeigneten ökonomischen Bedingungen dafür gegeben sind, und das Individuum nicht länger das Opfer von Ausbeutung durch andere ist. Das war eine Überlegung, die die meisten Repräsentanten des reinen politischen Radikalismus zumeist gänzlich übersehen haben. Daher waren sie später gezwungen, dem Staat ständig größere Zugeständnisse zu machen, die sie eigentlich auf ein Minimum beschränken wollten. Godwins Idee einer staatenlosen Gesellschaft setzte die Sozialisierung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel sowie die Fortführung des wirtschaftlichen Lebens in Form von freien Kooperativen der Produzenten voraus. Sein Werk hatte starken Einfluß auf die fortschrittlichen Kreise der englischen Arbeitschaft und auf die aufgeklärtesten Teile der liberalen Intelligenz. Was jedoch am allerwichtigsten war: er trug zur jungen sozialistischen Bewegung in England, die ihre reifsten Vertreter in Robert Owen[9], John Gray und William Thompson fand, den unverkennbaren libertären Charakter bei, den sie sehr lange besaß. In Deutschland und vielen anderen Ländern konnte man das dagegen nicht voraussetzen. Auch der französische Sozialist Charles Fourier (1722-1832) mit seiner Theorie von der attraktiven Arbeit muß hier als einer der Pioniere der libertären Ideen erwähnt werden.
Aber einen weit größeren Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Theorie besaß Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), einer der talentiertesten und vielseitigsten Schriftsteller des modernen Sozialismus. Proudhon war im geistigen und sozialen Leben seiner Zeit vollständig verwurzelt, und dies beeinflußte seine Haltung zu jeder Frage, mit der er sich beschäftigte. Deshalb kann man ihn nicht nach den speziellen praktischen Vorschlägen beurteilen, die den Notwendigkeiten der Zeit entsprachen, wie es viele Kritiker taten. Unter den zahllosen sozialistischen Denkern war er derjenige, der die Ursachen der miserablen sozialen Lage am gründlichsten verstand, und der überdies visionäre Fähigkeiten besaß. Er war der freimütige Gegner aller künstlichen sozialen Systeme und sah in der sozialen Entwicklung den immerwährenden Drang nach neueren und höheren Formen des geistigen und sozialen Lebens. Er war davon überzeugt, daß diese Entwicklung nicht an irgendwelche bestimmte abstrakte Formeln gebunden werden könnte.
Proudhon bekämpfte den Einfluß der jakobinischen Tradition, die das Denken der französischen Demokraten und der meisten Sozialisten jener Zeit dominierte, mit der gleichen Entschlossenheit wie den Eingriff des Zentralstaates und des ökonomischen Monopols in den natürlichen sozialen Prozeß. Für ihn war es die große Aufgabe der Revolution des 19. Jahrhunderts, die Gesellschaft von diesen krebsartigen Gewächsen zu befreien. Proudhon war kein Kommunist. Er verurteilte Eigentum als bloßes Privileg der Ausbeutung. Er anerkannte aber den Besitz an Produktionsmitteln für alle, benutzt von industriellen Gruppen, die durch freie Vereinbarung verbunden sein sollten. Aber nur solange, wie dieses Recht nicht dazu mißbraucht würde, andere auszubeuten, und solange gesichert ist, daß das gesamte Produkt der individuellen Arbeit jedem Mitglied der Gesellschaft zugute kommt. Diese Verbindung, die auf Gegenseitigkeit beruht, garantiert den Genuß gleicher Rechte durch alle im Austausch für soziale Dienste. Die durchschnittliche Arbeitszeit, die die Fertigstellung irgendeines Produktes fordert, wird das Maß ihres Wertes. Auf diese Weise wird das Kapital - seiner akkumulierenden Macht beraubt - an die Verrichtung der Arbeit gebunden. Wenn es jedem nützt, hört es auf, ein Instrument der Ausbeutung zu sein. Solch eine Wirtschaftsform macht jeden politischen Zwangsapparat überflüssig. Die Gesellschaft wird ein Bund freier Gemeinwesen, die ihre Angelegenheiten entsprechend dem Bedürfnis verrichten, allein oder in Verbindung mit anderen. In dieser Gesellschaft ist die persönliche Freiheit die Freiheit des anderen und nicht deren Begrenzung, sondern deren Sicherheit und Bestätigung. "Je freier, unabhängiger und unternehmungslustiger das Individuum ist, desto besser ist es für die Gesellschaft." (Proudhon)
Die Organisation des Föderalismus, in der Proudhon die unmittelbare Zukunft der Menschheit sah, erlegt den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten keinerlei Beschränkungen auf und bietet jeder individuellen und gesellschaftlichen Aktivität den größtmöglichen Spielraum. Vom Standpunkt des Föderalismus ausgehend, bekämpfte Proudhon gleichfalls die Bestrebungen des in dieser Zeit erwachenden Nationalismus nach politischer und nationaler Einheit, der seine energischsten Vertreter in Mazzini, Garibaldi, Lelewel und anderen fand. In dieser Hinsicht erkannte er die reale Natur des Nationalismus viel klarer als die meisten seiner Zeitgenossen. Proudhon übte starken Einfluß auf den Sozialismus aus, der besonders in romanischen Ländern zu spüren ist.
Ideen, ähnlich den ökonomischen und politischen Konzeptionen Proudhons, wurden von den Anhängern des sogenannten Individualistischen Anarchismus in Amerika propagiert. Seine fähigsten Vertreter waren Männer wie Josiah Warren, Stephen Perl Andrews, William B. Greene, Lysander Spooner, Benjamin R. Tucker, Ezra Heywood, Francis D. Tandy und viele andere. Aber keiner von ihnen konnte Proudhons Weitblick erreichen. Charakteristisch für diese Schule des libertären Denkens ist die Tatsache, daß die meisten ihrer Repräsentanten ihre politischen Vorstellungen nicht von Proudhon übernahmen, sondern von den Traditionen des amerikanischen Liberalismus, so daß Tucker behaupten konnte, daß "Anarchisten durchweg Jeffersonsche Demokraten seien".
Eine einzigartige Darstellung libertärer Ideen findet man in Max Stirners (Johann Kaspar Schmidt, 1806-1856) Buch "Der Einzige und sein Eigentum", das schnell in Vergessenheit geraten ist und keinen Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Bewegung nahm. Stirners Buch ist vorwiegend ein philosophisches Werk, das die menschliche Abhängigkeit von sogenannten höheren Mächten auf all ihren abgelegenen Wegen verfolgt, und sich nicht scheut, Folgerungen aus diesem Wissen zu ziehen. Es ist das Buch eines bewußten und vorsätzlichen Aufrührers, das keine Verehrung für eine Autorität offenbart, wenn sie auch noch so erhaben ist, und deshalb eindrucksvoll an unabhängiges Denken appelliert.
Der Anarchismus fand einen revolutionären Kämpfer in Michael Bakunin (1814-1876). Dieser baute seine Vorstellungen auf den Lehren Proudhons auf. Er dehnte sie aber auf den ökonomischen Sektor aus, als er mit dem föderalistischen Flügel der 1. Internationale den Kollektivbesitz von Grund und Boden und allen Produktionsmitteln forderte, und das Recht auf Privatbesitz lediglich auf die Produkte der individuellen Arbeit eingeschränkt sehen wollte. Bakunin war auch ein Gegner des Kommunismus, der zu seiner Zeit einen vollkommen autoritären Charakter besaß, wie er auch heute Ausdruck des Bolschewismus ist. Bakunin: "Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist und weil ich mir nichts Menschliches ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus alle Kräfte der Gesellschaft auf den Staat lenkt und in diesem absorbiert; weil er notwendig zur Zentralisierung des Eigentums in den Händen des Staates führt, während ich die Abschaffung des Staates will - die radikale Auslöschung des Prinzips der Autorität und Vormundschaft des Staates, das die Menschen unter dem Vorwand, sie moralischer und zivilisierter zu machen, ausgebeutet und verdorben hat."
Bakunin war ein Revolutionär, der nicht an einen partnerschaftlichen Ausgleich der existierenden Konflikte in der Gesellschaft glaubte. Er erkannte, daß die herrschenden Klassen blind und halsstarrig alle Moglichkeiten für größere soziale Reformen bekämpfen. Dementsprechend sah er die einzige Rettung in einer internationalen sozialen Revolution, die alle Institutionen der politischen Macht und ökonomischen Ausbeutung abschaffen und an ihre Stelle eine freie Föderation von Produzenten und Konsumenten setzen würde, um die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Seit er, wie so viele seiner Zeitgenossen, an die unmittelbar bevorstehende Revolution glaubte, setzte er seine gesamte Energie daran, alle aufrichtigen revolutionären und libertären Elemente innerhalb und außerhalb der Internationale zu vereinigen, um diese Revolution gegen jede Diktatur oder jeden Rückschritt zu sichern. So wurde er in einem bestimmten Sinne der Schöpfer der modernen anarchistischen Bewegung.
Der Anarchismus fand einen weiteren bedeutenden Vertreter in Peter Kropotkin (1842-1921). Dieser stellte sich die Aufgabe, die Leistungen der modernen Naturwissenschaft für die Entwicklung des soziologischen Konzeptes des Anarchismus nutzbar zu machen. In seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" tritt er gegen den sogenannten "Sozialdarwinismus" auf. Dessen Exponenten versuchten, die Unvermeidlichkeit der herrschenden sozialen Bedingungen von der darwinistischen Theorie des "Kampfes ums Überleben" her zu beweisen, indem sie dem Kampf der Starken gegen die Schwachen den Status eines ehernen Naturgesetzes verliehen, dem auch der Mensch Untertan sei. In Wirklichkeit war diese Konzeption stark beeinflußt von der Malthus'schen Doktrin, nach der der "Tisch des Lebens" nicht für alle gedeckt ist, und daß die "Nichtsnutze" sich mit dieser Tatsache anfreunden müssen. Kropotkin zeigt, daß diese Konzeption, die Natur als Feld der uneingeschränkten Kriegsführung zu sehen, nur eine Karikatur des wirklichen Lebens darstellt. Neben dem brutalen Existenzkampf existiere in der Natur auch eine andere Tendenz, die sich ausdrückt in der sozialen Verbindung der schwächeren Arten und der Rassenerhaltung durch die Entwicklung des sozialen Instinkts und der gegenseitigen Hilfe. In diesem Sinne ist der Mensch nicht der Schöpfer der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft der Schöpfer des Menschen, da er von den Arten, die ihm vorausgingen, den sozialen Instinkt erbte. Dieser allein befähigte ihn, sich in seiner Umgebung gegen die physische Überlegenheit anderer Arten zu behaupten, und sich einer ungeahnten Entwicklung zu vergewissern.
Nach Kropotkin bleibt die Tatsache, daß die meisten persönlichen Verbindungen auch unter schrecklichstem Despotismus durch soziale Gewohnheiten, freie und gegenseitige Vereinbarungen arrangiert werden, ohne die kein soziales Leben möglich wäre. Falls dies nicht der Fall wäre, würde selbst die brutalste Zwangsmaschinerie des Staates nicht in der Lage sein, die soziale Ordnung für eine gewisse Zeit aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich sind diese natürlichen Verhaltensweisen, die der tiefsten menschlichen Natur entspringen, heute ständig gestört und gelähmt durch die Auswirkungen der ökonomischen Ausbeutung und der staatlichen Bevormundung. Diese sind die schlimmsten Formen des Existenzkampfes in der menschlichen Gesellschaft, die durch die Form der gegenseitigen Hilfe und der freien Kooperation überwunden werden müssen. Das Bewußtsein von persönlicher Verantwortung und die Fähigheit zur gegenseitigen Zuneigung, die die gesamte Moral und alle Ideen von sozialer Gerechtigkeit ausmachen, entwickeln sich am besten in Freiheit.
Wie Bakunin war auch Kropotkin ein Revolutionär. Aber er sah wie Elisee Reclus[10] und andere, in der Revolution nur eine spezielle Phase des evolutionären Prozesses. Sie ergibt sich wenn neue soziale Hoffnungen in ihrer natürlichen Entwicklung dermaßen eingeschränkt werden, daß sie mit Gewalt die alte Schale zerstören müssen, bevor sie als neue Faktoren im menschlichen Leben in Funktion treten können.
Im Gegensatz zu Proudhons Mutualismus und Bakunins Kollektivismus, befürwortete Kropotkin nicht nur das Gemeineigentum an Produktionsmitteln, sondern auch der Erzeugnisse: Seiner Meinung nach ist bei dem damaligen Stand der Technologie ein exaktes Maß für den Wert individueller Arbeit nicht möglich. Auf der anderen Seite sei es aber möglich, jedem Menschen bei rationaler Lenkung der modernen Arbeitsmethoden einen relativen Wohlstand zu sichern. Der kommunistische Anarchismus, der vor Kropotkin schon von Joseph Dejacque, Elisee Reclus, Carlos Cafiero[11] und anderen gefordert worden war, und der heute von der großen Mehrzahl der Anarchisten anerkannt wird, fand in ihm seinen hervorragenden Vertreter. Hier muß auch Leo Tolstoi (1828-1910) erwähnt werden, der, ausgehend vom Ur-Christentum und von der Basis der ethischen Prinzipien, die in der christlichen Lehre niedergelegt sind, zu der Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Herrschaft gelangte.
Alle Anarchisten haben den Willen, die Gesellschaft von allen politischen und sozialen Zwangsinstitutionen zu befreien, die der Entwicklung einer freien Menschheit im Wege stehen. In diesem Sinn sind Mutualismus, Kollektivismus und Kommunismus nicht als geschlossene ökonomische Systeme anzusehen, die keine weitere Entwicklung erlauben, sondern als ökonomische Voraussetzungen, um eine freie Gemeinschaft zu sichern. Vermutlich werden sogar in jeder Form einer zukünftigen freien Gesellschaft verschiedene Formen ökonomischer Kooperation nebeneinander existieren. Denn jeder soziale Fortschritt muß mit freien Experimenten und praktischen Tests neuer Methoden verbunden sein, für die in einer freien Gesellschaft von freien Gemeinschaften jede Möglichkeit bestehen wird.
Dasselbe gilt für die verschiedenen Methoden des Anarchismus. Das Werk seiner Anhänger ist vorrangig ein Erziehungswerk, um die Menschen intellektuell und psychisch auf die Aufgaben ihrer sozialen Befreiung vorzubereiten. Jeder Versuch, den Einfluß des ökonomischen Monopols und die Macht des Staates einzuschränken, ist ein Schritt weiter in Richtung der Verwirklichung dieses Ziels. Jede Entwicklung der freiwilligen Organisation in den verschiedenen sozialen Bereichen in Richtung persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vertieft das Bewußtsein der Menschen und stärkt ihre soziale Verantwortung, ohne die kein Wechsel im sozialen Leben erreicht werden kann. Die meisten Anarchisten unserer Zeit sind überzeugt, daß eine solche Gesellschaftsumwandlung Jahre konstruktiver Arbeit und Erziehung benötigt, und nicht zustande gebracht werden kann ohne revolutionäre Erschütterungen, die bis heute jeden Fortschritt im sozialen Leben erreicht haben. Der Charakter dieser Erschütterungen hängt natürlich von der Stärke des Widerstandes ab, den die herrschende Klasse gegen die Verwirklichung der neuen Idee zu mobilisieren in der Lage ist. Je größer die Kreise sind, die von der Idee der Reorganisation der Gesellschaft im Geist der Freiheit und des Sozialismus beseelt sind, desto leichter werden die Geburtswehen neuer sozialer Änderungen in der Zukunft sein. Sogar Revolutionäre können nur Ideen entwickeln und zur Reife gelangen lassen, die existieren und schon in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen sind. Sie können aber keine neuen Ideen oder neue Welten aus dem Nichts entwickeln.
Vor dem Aufkommen der totalitären Staaten in Rußland, Italien, Deutschland und später in Spanien und Portugal und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, gab es anarchistische Organisationen und Bewegungen in fast jedem Land. Aber wie alle anderen sozialistischen Bewegungen in dieser Zeit wurden sie Opfer der faschistischen Tyrannei und konnten nur im Untergrund existieren.
II
1. Die Ursprünge des Anarcho - Syndikalismus
Viele Anarchisten widmeten den größten Teil ihrer Aktivitäten der Arbeiterbewegung, vor allem in den lateinischen Ländern, wo die Bewegung des Anarcho-Syndikalismus ihren Ausgang nahm. Seine Theorien basieren auf den Lehren des libertären und anarchistischen Sozialismus, seine Organisationsform auf der Bewegung des revolutionären Syndikalismus, der in den Jahren von 1895 bis 1910 einen merklichen Aufschwung erfuhr, vor allem in Frankreich, Italien und Spanien. Aber seine Ideen und Methoden waren nicht neu. Sie hatten bereits in den Reihen der 1. Internationale große Resonanz gefunden, als diese den Höhepunkt ihrer theoretischen Entwicklung erreicht hatte. Das zeigte sich deutlich in den Debatten auf ihrem 4. Kongreß 1869 in Basel, der sich mit der Bedeutung der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter beschäftigte. In dem Referat über diese Frage, das Eugene Eins dem Kongreß im Namen der belgischen Föderation vorlegte, wurde zum erstenmal ein völlig neuer Gesichtspunkt angeschnitten, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit bestimmten Ideen von Robert Owen und der englischen Arbeiterbewegung der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts aufwies.
Um eine korrekte Bewertung dieses Tatbestandes zu geben, muß man sich daran erinnern, daß zu jener Zeit die verschiedenen Schulen des Staatssozialismus keinen, oder im besten Fall einen geringen Einfluß auf die Gewerkschaften besaßen. Die französischen Blanquisten sahen in diesen Organisationen lediglich eine Reformbewegung, mit einer sozialistischen Diktatur als unmittelbarem Ziel. Ferdinand Lassalle und seine Anhänger richteten alle Aktivitäten darauf, die Arbeiter in einer politischen Partei zusammenzufassen; sie waren ausgesprochene Gegner aller gewerkschaftlichen Kämpfe, in denen sie lediglich ein Hindernis für die politische Entwicklung der Arbeiterklasse sahen. Marx und seine Anhänger erkannten die Notwendigkeit der Gewerkschaften für die Erreichung bestimmter Verbesserungen innerhalb des kapitalistischen Systems. Sie aber glaubten, daß die Rolle der Gewerkschaften sich damit erschöpfen würde, und daß sie zusammen mit dem Kapitalismus verschwänden, da der Übergang zum Sozialismus nur durch die "Diktatur der Proletariats" erreicht werden könne.
In Basel wurde dieser Gedanke zum erstenmal einer gründlichen und kritischen Prüfung unterzogen. Die Ansichten, die in dem Referat von Eins zum Ausdruck kamen, und die von den Delegierten Spaniens, des Schweizer Juras und dem größten Teil der französischen Sektionen geteilt wurden, basierten auf der Prämisse, daß die gegenwärtigen Ökonomischen Organisationen nicht nur eine Notwendigkeit innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft seien. Darüber hinaus werden sie als der soziale Kern einer kommenden sozialistischen Wirtschaft angesehen. Aus diesem Grund sei es die Pflicht der Internationale, die Arbeiter für diese Aufgabe zu erziehen. In Übereinstimmung damit nahm der Kongreß folgende Resolution an: "Der Kongreß erklärt, daß alle Arbeiter sich bemühen sollten, in den verschiedenen Branchen Vereinigungen für den Widerstand einzurichten. Sobald eine Gewerkschaft aufgebaut ist, müssen die Vereinigungen derselben Branche informiert werden, so daß der Aufbau der nationalen Allianzen in der Industrie beginnen kann. Diese Allianzen werden beauftragt, alles Material ihren Industriezweig betreffend zu sammeln, mit der Beratung über Maßnahmen, die gemeinsam durchgeführt werden können, und mit deren Überwachung, und der Ersetzung des gegenwärtigen Lohnsystems durch eine Föderation der freien Produzenten. Der Kongreß beauftragt den Generalrat, für die Allianz der Gewerkschaften aller Länder zu sorgen."
In seiner Argumentation für die vom Komitee eingebrachte Resolution erklärte Eins: "Bei dieser doppelten Form der Organisation von lokalen Arbeiter-Assoziationen und allgemeinen Allianzen für jeden Industriezweig auf der einen und der politischen Administration der Arbeiterräte auf der anderen Seite, wird für die umfassende Vertretung der Arbeit, regional, national und international, gesorgt sein. Die Räte der Branchen und industriellen Organisationen werden den Platz der gegenwärtigen Regierung einnehmen, und die Vertretung der Arbeit wird ein für allemal die Regierung der Vergangenheit beseitigen." Diese neue Vorstellung entsprang der Erkenntnis, daß jede neue ökonomische Gesellschaftsform von einer neuen politischen Form des sozialen Organismus begleitet sein muß und nur in ihr seinen praktischen Ausdruck finden kann.
Ihre Anhänger sahen im Nationalstaat lediglich den politischen Agenten und Verteidiger der besitzenden Klassen. Aus diesem Grunde kämpften sie nicht um die Eroberung der Macht, sondern um die Abschaffung jedes Machtsystems innerhalb der Gesellschaft, in dem sie die notwendige Bedingung für alle Tyrannei und Ausbeutung sahen. Sie meinten, daß mit dem Monopol des Eigentums auch das Machtmonopol verschwinden müsse. Ausgehend von dieser Erkenntnis, daß die Tage der Herrschaft des Menschen über den Menschen gezählt sind, versuchten sie, sich mit der Verwaltung von Sachen vertraut zu machen. Oder, wie Bakunin, einer der großen Vorläufer des Anarcho-Syndikalismus es ausdrückte: "Seit die Organisation der Internationale nicht mehr die Errichtung neuer Staaten oder die Einsetzung von Despoten zum Ziel hat, sondern die radikale Beseitigung jeder selbständigen Gewalt, muß sie einen wesentlich anderen Charakter als die Staatsorganisation besitzen. In dem Maße, wie letztere autoritär, künstlich und gewalttätig, fremd und feindlich der natürlichen Entwicklung der Interessen und Gefühle der Menschen gegenübersteht, muß die Organisation der Internationale frei, natürlich und in jeder Beziehung in Übereinstimmung mit jenen Interessen und Gefühlen stehen. Aber welcher Art ist die natürliche Organisation der Massen? Sie basiert auf der tagtäglichen Beschäftigung, gewerkschaftliche Organisation. Wenn alle Industriezweige, einschließlich der verschiedenen Zweige der Landwirtschaft, in der Internationale vertreten sind, wird die Organisation der arbeitenden Massen abgeschlossen sein."
Oder bei einer anderen Gelegenheit: "Das praktische und grundlegende Studium der Gesellschaftswissenschaft durch die Arbeiter selbst in ihren Sektionen und ihren Arbeiterkammern wird - oder hat schon - in ihnen die einmütige, wohlüberlegte, theoretisch und praktisch fundierte Überzeugung hervorgerufen, daß die ernsthafte, vollständige Befreiung der Arbeiter nur unter einer Bedingung möglich ist: durch die Aneignung von Kapital, d. h. von Rohstoffen und allen Maschinen, inklusive Land, durch die Gesamtheit der Arbeiter. . . Die Organisation der einzelnen Sektionen, ihr Zusammenschluß in der Internationale, und ihre Vertretung durch die Arbeiterkammern schaffen nicht nur eine große Bildungsstätte, in der die Arbeiter der Internationale, Theorie und Praxis verbindend, die Wirtschaftswissenschaft studieren müssen; Sie tragen auch die lebenden Keime der neuen sozialen Ordnung in sich, die die bürgerliche Welt ersetzen wird. Sie bringen nicht nur die Theorien hervor, sondern auch die zukünfigen Tatsachen..." Nach dem Niedergang der Internationale und dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), durch den sich das Zentrum der sozialistischen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlagerte, dessen Arbeiter weder eine revolutionäre Tradition noch jene reiche Erfahrung aufzuweisen hatten, die die Sozialisten in den anderen westlichen Ländern besaßen, wurden diese Ideen allmählich vergessen. Nach der Niederlage der Pariser Kommune (1871) und der revolutionären Erhebungen in Spanien und Italien[12] waren die Sektionen der Internationale dieser Länder gezwungen, für viele Jahre ihre Existenz im Untergrund fortzuführen. Nur durch das Erwachen des revolutionären Syndikalismus in Frankreich wurden die Ideen und Theorien der 1. Internationale vor der Vergessenheit bewahrt und begeisterten noch einmal größere Sektionen der Arbeiterbewegung.
2. Sozialismus und Anarcho-Syndikalismus in Frankreich
Der moderne Anarcho-Syndikalismus ist eine direkte Fortsetzung jener sozialen Bestrebungen, die in der 1. Internationale Gestalt annahmen und die am besten durch den libertären Flügel der großen Arbeiterallianz vertreten wurden. Seine Entwicklung war die direkte Reaktion auf die Konzepte und Vorgehensweisen des politischen Sozialismus. Eine Reaktion, die sich bereits in dem großen Aufschwung der syndikalistischen Arbeiterbewegung in Frankreich, Italien und besonders in Spanien manifestierte, wo die große Mehrheit der organisierten Arbeiter den Lehren des libertären Flügels der Internationale treu geblieben war.
In Frankreich fand die Opposition gegen die Theorien und Praktiken der modernen Arbeiterparteien ihren klaren Ausdruck in den Theorien und im Vorgehen des revolutionären Syndikalismus. Der unmittelbare Grund für die Entwicklung dieser neuen Tendenzen in der französischen Arbeiterbegung war die fortwährende Zersplitterung der sozialistischen Parteien dieses Landes. Alle diese Parteien sahen in den Gewerkschaften lediglich Rekrutierungsschulen für ihre politischen Ziele und besaßen keinerlei Verständnis für ihre wirklichen Funktionen. Die ständigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen sozialistischen Splitterparteien wurden auch in die Gewerkschaften hineingetragen. Es kam häufig vor, daß, wenn die Gewerkschaften einer Splitterpartei streikten, die Gewerkschaften der anderen Splitterparteien sich als Streikbrecher betätigten. Diese unhaltbare Situation öffnete den Arbeitern allmählich die Augen. So beauftragte der Gewerkschaftskongreß von Nantes (1894) einen Sonderausschuß mit der Aufgabe, Wege zu finden, um eine Verständigung unter allen Gewerkschaften zu erreichen. Das Resultat war 1895 die Gründung der CGT (Confederation Generale du Travail, Allgemeine Vereinigung der Arbeit) auf dem Kongreß in Limoges, die sich von allen politischen Parteien unabhängig erklärte. Von dem Zeitpunkt an existierten in Frankreich zwei große Gewerkschaftsgruppen, die CGT und die "Föderation der Arbeiterbörsen". 1902, auf dem Kongreß in Montpellier, vereinigte sich letztere mit der CGT.
Man begegnet häufig der weit verbreiteten Meinung, die besonders von Werner Sombart[13] genährt wurde, daß der revolutionäre Syndikalismus in Frankreich seinen Ursprung Intellektuellen, wie Georges Sorel[14], E. Berth und H. Lagardelle verdankt, die in der 1899 gegründeten Zeitschrift "Die Sozialistische Bewegung" auf ihre Weise die intelektuellen Ergebnisse der neuen Bewegung herausarbeiteten. Das ist völlig falsch. Keine dieser Personen gehörte zu dieser Bewegung. Sie hatten auch keinen spürbaren Einfluß auf die interne Entwicklung. Darüber hinaus war die CGT nicht ausschließlich aus revolutionären Syndikaten zusammengesetzt. Rund die Hälfte ihrer Mitglieder tendierte zum Reformismus und hatte sich der CGT nur deshalb angeschlossen, weil sie erkannten, daß die Abhängigkeit der Gewerkschaften von den politischen Parteien ein großes Unglück für die Bewegung bedeutete. Aber der revolutionäre Flügel, der sowohl die tatkräftigsten und aktivsten Elemente der organisierten Arbeiter als auch die brilliantesten intelektuellen Kräfte auf seiner Seite gehabt hatte, drückte der CGT seinen charakteristischen Stempel auf. Es waren diejenigen Kräfte, die die Ideenentwicklung des revolutionären Syndikalismus bestimmten. Viele kamen aus den Reihen der Anarchisten, wie Fernand Pelloutier, der hochintelligente Sekretär der Föderation der Arbeiterbörsen, Emile Pouget, der Herausgeber des offiziellen Organs der CGT "Die Stimme des Volkes", P. Delesalle, G. Yvetot und viele andere. Vorwiegend unter dem Einfluß des radikalen Flügels der CGT entwickelte sich die neue Bewegung und fand ihren Ausdruck in der Charta von Amiens (1906), in der die Grundsätze und die Taktik der Bewegung niedergelegt wurden.
Diese neue Bewegung in Frankreich fand ein starkes Echo unter den romanischen Arbeitern und drang auch in andere Länder vor. Der Einfluß des französischen Syndikalismus auf größere und kleinere Sektionen der internationalen Arbeiterbewegung zu jener Zeit wurde in hohem Maß gefördert durch die interne Krise, die fast alle sozialistischen Arbeiterparteien Europas heimsuchte. Der Kampf zwischen den sog. Revisionisten und den orthodoxen Marxisten, und besonders die Tatsache, daß ihre parlamentarischen Aktivitäten die heftigsten Kritiker der Revisionisten von der Notwendigkeit überzeugte, den Pfad des Revisionismus zu beschreiten, bewog viele nachdenkliche Kräfte, ihre Lage ernsthaft zu überdenken. Sie stellten fest, daß die Teilhabe an der Politik der Nationalstaaten der Arbeiterbewegung kein bißchen näher zum Sozialismus brachte, sondern in großem Maße geholfen hatte, den Glauben an die Notwendigkeit von konstruktiven sozialistischen Aktivitäten zu zerstören. Was aber am allerschlimmsten ist: sie beraubte die Menschen ihrer Initiative, indem sie ihnen vortäuschte, daß das Heil immer von oben kommt.
Unter diesen Umständen verlor der Sozialismus mehr und mehr den Charakter eines kulturellen Ideals, das die Arbeiter auf die Vernichtung des gegenwärtigen kapitalistischen Systems vorbereiten sollte. Er konnte aus diesem Grund nicht von den künstlichen Grenzen der Nationalstaaten aufgehalten werden. Im Sinne der Führer der modernen Arbeiterparteien wurden die vermeintlichen Ziele der Bewegung mehr und mehr mit den Interessen der Nationalstaaten vermischt, bis sie zum Schluß unfähig wurden, bestimmte Grenzen wahrzunehmen, die zwischen ihnen bestehen. Es würde ein Fehler sein, hierin einen beabsichtigten Verrat der Führer zu sehen, wie es so oft behauptet wird. Die Wahrheit ist, daß wir es hier mit einer allmählichen Angleichung an die Gedankengänge und die Normen der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun haben, die notwendigerweise die geistige Haltung der Führer der verschiedenen Arbeiterparteien in jedem Land in Mitleidenschaft ziehen müssen. Diese Parteien, die sich einst aufgemacht hatten, die politische Macht unter der Flagge des Sozialismus zu erobern, sahen sich durch die eherne Logik der Bedingungen gezwungen, ihre sozialistischen Überzeugungen der Politik der Nationalstaaten zu opfern. Die politische Macht, die sie erobern wollten, hatte allmählich ihren Sozialismus erobert, bis kaum mehr übrigblieb als der Name.
3. Die Rolle der Gewerkschaften aus anarcho-syndikalistischer Sicht
Dies waren die Überlegungen, die zur Entwicklung des revolutionären Syndikalismus oder Anarcho-Syndikalismus, wie er später genannt wurde, in Frankreich und anderen Ländern führten. Der Begriff Arbeitersyndikat bedeutete zuerst lediglich eine Organisation der Produzenten für die unmittelbare Verbesserung ihres ökonomischen und sozialen Status. Aber der Aufstieg des revolutionären Syndikalismus vermittelte dieser ursprünglichen Bedeutung ein wesentlich größeres Gewicht. Die Partei ist eine Organisation mit bestimmten politischen Aufgaben innerhalb der modernen Verfassungsstaaten, die die gegenwärtige Gesellschaftsordnung in der einen oder anderen Form aufrechtzuerhalten sucht. Dagegen sind aus syndikalistischer Sicht die Gewerkschaften die vereinigte Arbeiterorganisation; sie haben die Verteidigung der Produzenten in der existierenden Gesellschaft und die Vorbereitung sowie die praktische Durchführung der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Lebens in Richtung Sozialismus zum Ziel. Die Gewerkschaften haben deshalb eine doppelte Aufgabe:
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Den Forderungen der Produzenten nach Sicherung und Anhebung des Lebensstandards Geltung zu verschaffen;
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Die Arbeiter mit dem technischen Management der Produktion und des ökonomischen Lebens allgemein vertraut zu machen und sie darauf vorzubereiten, den sozio-ökonomischen Organismus in ihre Hände zu nehmen und nach sozialistischen Prinzipien zu gestalten.
Die Anarcho-Syndikalisten sind der Meinung, daß die politischen Parteien nicht in der Lage sind, auch nur eine von diesen beiden Aufgaben zu verrichten. Nach ihren Vorstellungen sollen die Gewerkschaften die Speerspitze der Arbeiterbewegung sein, durch tägliche Kämpfe erprobt und von sozialistischem Geist durchdrungen. Denn nur im Ökonomischen Bereich sind die Arbeiter in der Lage, ihre volle Macht auszuspielen; ihre Produzentenfunktion ist es, die die gesamte soziale Struktur aufrechterhält und damit die Existenz der Gesellschaft garantiert. Nur als Produzent und Erzeuger gesellschaftlichen Reichtums kann der Arbeiter sich seiner Stärke bewußt werden. In solidarischem Zusammenschluß kann er militante Aktionen, die vom Geist der Freiheit und vom Ideal der sozialen Gerechtigkeit durchdrungen sind, durchführen. Für die Anarchosyndikalisten sind die Arbeitersyndikate die fruchtbare Keimzelle der zukünftigen Gesellschaft, die elementare Schule des Sozialismus allgemein. Jede neue soziale Struktur schafft für sich Organe im Körper des alten Organismus; ohne diese Voraussetzung ist jede soziale Evolution undenkbar. Für die Anarchosyndikalisten bedeutet sozialistische Erziehung nicht Teilnahme an der politischen Macht des Nationalstaates. Vielmehr ist es die Aufgabe der Anarchosyndikalisten, den Arbeitern die wesentlichen sozialen Probleme klarzumachen. Die Arbeiter müssen auf ihre Rolle als Umgestalter des wirtschaflichen Lebens vorbereitet werden, damit sie diese Aufgabe bewältigen können. Kein sozialer Körper ist besser für diesen Zweck geeignet als die ökonomische Kampforganisation der Arbeiter; sie gibt den sozialen Aktivitäten ein bestimmtes Ziel und stärkt die Widerstandskraft im unmittelbaren Kampf für die täglichen Bedürfnisse und die Verteidigung der Menschenrechte. Gleichzeitig entwickelt er moralische Stärke, ohne die jegliche soziale Transformation unmöglich ist: lebensnotwendige Solidarität der Betroffenen und moralische Verantwortlichkeit für alle Aktionen.
Gerade weil die Erziehungsarbeit der Anarchosyndikalisten auf die Entwicklung unabhängigen Denkens und Handelns gerichtet ist, sind sie ausgesprochene Gegner aller zentralistischen Tendenzen, die für die meisten der existierenden Arbeiterparteien charakteristisch sind. Das System des Zentralismus das von oben nach unten funktioniert, das die Verwaltungsangelegenheiten einer kleinen Minderheit überträgt, ist immer von unproduktiver bürokratischer Routine begleitet; sie tötet jegliche individuelle Initiative durch leblose Disziplin und bürokratische Verknöcherung. Für den Staat ist der Zentralismus die geeignete Organisationsform, seit er die größtmögliche Uniformität des sozialen Lebens für die Erhaltung des politischen und sozialen Gleichgewichts anstrebt. Aber für eine Bewegung, deren gesamte Existenz von der prompten Reaktion in jedem beliebigen Moment und von den unabhängigen Gedankengängen seiner Anhänger abhängt, ist der Zentralismus ein Unglück. Er schwächt ihre Entscheidungskraft und unterdrückt systematisch jede spontane Initiative.
Die Organisation des Anarcho-Syndikalismus basiert auf den Prinzipien des Föderalismus, auf der freien Vereinigung von unten. Sie stellt das Recht auf Selbstbestimmung jeder Gruppe über alles und erkennt nur die Zustimmung aller an der Basis an. Die Organisation der Anarchosyndikalisten ist dementsprechend auf folgender Basis organisiert: Die Arbeiter in jedem Ort schließen sich ihren Berufszweigen an. Die Gewerkschaften einer Stadt oder eines ländlichen Distrikts vereinigen sich in Arbeiterkammern, die die Zentren für die lokale Propaganda und Schulung gründen; sie formieren die Arbeiter, um dem Aufkommen eines beschränkten Parteigeistes vorzubeugen. In Zeiten von lokalen Arbeitskämpfen sorgen sie für die Zusammenarbeit aller betroffenen Gruppen. Alle Arbeiterkammern sind gemäß den Distrikten und Regionen gruppiert, um die Nationalföderation der Arbeiterkammern zu bilden. Diese hält ständige Verbindung zwischen den lokalen Körpern und arrangiert die freie Vereinbarung der produktiven Arbeit der Mitglieder der verschiedenen Organisationen nach kooperativen Prinzipien. Weiterhin sorgt sie für die notwendige Zusammenarbeit in der Schulungsarbeit und steht den lokalen Gruppen mit Rat und Tat beiseite.
Jede Gewerkschaft ist darüber hinaus mit allen Organisationen derselben Branche verbunden. Diese wiederum der Reihe nach mit allen verwandten Branchen, so daß alle in allgemeinen industriellen und landwirtschaftlichen Verbindungen vereinigt sind. Es ist ihre Aufgabe, Forderungen des täglichen Kampfes zwischen Kapital und Arbeit aufzustellen und alle Kräfte für die gemeinsame Aktion zu vereinheitlichen. So schaffen die Föderationen der Arbeiterkammern und die industriellen Föderationen die zwei Pole, um die sich das gesamte Leben der Arbeitersyndikate dreht.
Eine solche Form der Organisation gibt den Arbeitern nicht nur die Mögllchkeit zur direkten Aktion im Kampf für die täglichen Bedürfnisse, sondern befähigt sie auch, die notwendigen Kenntnisse für die Reorganisation der Gesellschaft zu erwerben, um diese ohne fremde Intervention im Falle einer revolutionären Krise in Gang zu setzen. Die Anarchosyndikalisten sind der Überzeugung, daß eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Dekrete und Gesetze irgendeiner Regierung geschaffen werden kann, sondern nur durch die uneingeschränkte Zusammenarbeit der Arbeiter, Techniker und Bauern. Nur so kann die Produktion und die Verteilung durch ihre eigene Verwaltung im Interesse der Allgemeinheit auf der Basis gegenseitiger Vereinbarungen gewährleistet werden. In einer solchen Situation würden die Arbeiterkammern die Verwaltung des existierenden gesellschaftlichen Kapitals übernehmen, die Bedürfnisse der Bewohner ihres Distrikts festsetzen und den lokalen Konsum organisieren. Die Tätigkeit der Föderation der Arbeiterkammern würde es ermöglichen, die Gesamtbedürfnisse des ganzen Landes zu berechnen und demgemäß die Produktion zu regulieren. Auf der anderen Seite wäre es die Aufgabe der industriellen und landwirtschaftlichen Vereinigungen, die Produktionsmittel, das Transportwesen etc. zu kontrollieren und die verschiedenen Produzentengruppen mit dem zu versorgen, was sie benötigen. Mit einem Wort:
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Organisation der gesamten Produktion eines Landes durch die Föderation der industriellen Vereinigungen und Leitung der Arbeit durch Arbeiterräte, die von den Arbeitern selbst gewählt werden;
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Organisation der gesellschaftlichen Verteilung durch die Föderation der Arbeiterkammern.
Auch in dieser Hinsicht hat die praktische Erfahrung die besten Lehren erteilt. Sie hat gezeigt, daß viele Probleme einer sozialistischen Umformung einer Gesellschaft nicht durch irgendeine Regierung gelöst werden können, auch nicht durch die Diktatur des Proletariats. In Rußland stand die bolschewistische Diktatur nahezu zwei Jahre hilflos vor den ökonomischen Problemen: sie versuchte, ihre Unfähigkeit hinter einer Flut von Dekreten und Verordnungen zu verbergen, von denen die meisten sofort in der Bürokratie untergingen. Wenn die Welt durch Dekrete befreit werden könnte, würde es in Rußland schon lange keine Probleme mehr geben. In seinem fanatischen Machteifer zerstörte der Bolschewismus die wertvollsten Organe einer sozialistischen Ordnung: er unterdrückte die kooperativen Gemeinschaften, die Gewerkschaften brachte er unter staatliche Kontrolle, und die Sowjets (Räte) wurden von Anfang an ihrer Unabhängigkeit beraubt. So bahnte die "Diktatur des Proletariats" nicht den Weg in eine sozialistische Gesellschaft, sondern für den primitivsten Typus eines bürokratischen Staatskapitalismus. Er brachte einen Rückfall in politischen Absolutismus, der in den meisten Ländern schon durch die bürgerliche Revolution abgeschafft worden war. In seiner "Botschaft an die Arbeiter der west europäischen Länder" sagte Kropotkin vollkommen richtig: "An Rußland lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden kann, obwohl die Bevölkerung, die das alte Regime satt hat, dem Experiment der neuen Herrscher nicht aktiven Widerstand leistet. Die zuerst beim Revolutionsversuch von 1905 konzipierte und in der Februarrevolution 1917 unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Zarenregimes verwirklichte Idee der Sowjets, d. h. der das politische und ökonomische Leben des Landes kontrollierenden Arbeiter- und Bauernräte, ist eine großartige Idee... Solange ein Land aber durch eine Parteidiktatur beherrscht wird, büßen die Arbeiter- und Bauernräte offensichtlich ihre Bedeutung ein. Sie spielen dann bloß noch die passive Rolle der ‚Generalstaaten' und Parlamente vergangener Zeiten, die der König einberief, damit sie gegen einen allmächtigen Kronrat opponierten."
4. Der Kampf in Deutschland und Spanien
In Deutschland, wo der gemäßigte Flügel des politischen Sozialismus[15] die Macht errungen hatte, erstarrte der Sozialismus in den langen Jahren routinemäßiger parlamentarischer Tätigkeiten. Er war zu keiner schöpferischen Aktion mehr fähig. Sogar eine bürgerliche Zeitung wie die "Frankfurter Zeitung" stellte fest, daß die "Geschichte der europäischen Völker bisher keine Revolution hervorgebracht hat, die so arm an schöpferischen Vorstellungen war und so wenig revolutionäre Energie besaß". Die bloße Tatsache, daß eine Partei mit einer größeren Mitgliederzahl als jede andere Arbeiterpartei der Welt, die viele Jahre lang die stärkste politische Kraft in Deutschland war, Hitler und seiner Bande das Feld ohne jeglichen Widerstand überlassen mußte, spricht für sich. Dieses Beispiel der Hilflosigkeit und Schwäche ist kaum mißzuverstehen.
Man muß nur die deutsche Situation jener Tage[16] mit der Haltung der anarchosyndikalistischen Arbeitervereinigungen in Spanien und besonders in Katalonien, wo ihr Einfluß am stärksten war, vergleichen, um den beträchtlichen Unterschied zwischen den Arbeiterbewegungen dieser beiden Länder festzustellen. Als die Verschwörung der faschistischen Militärs im Juli 1936 in eine offene Revolte umschlug, war es hauptsächlich der Widerstand der CNT (Nationale Föderation der Arbeit) und der FAI (Anarchistische Föderation Spaniens), der den faschistischen Aufstand in Katalonien in ein paar Tagen niederschlug. Dieser wichtige Teil Spaniens wurde vom Feind befreit und der ursprüngliche Plan der Verschwörer, Barcelona im Handstreich zu nehmen, vereitelt. Die Arbeiter wollten nicht auf halbem Wege stehenbleiben; so folgte die Kollektivierung des Bodens und die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter- und Bauernsyndikate. Diese Bewegung, die durch die Initiative von CNT/FAI in Gang gesetzt wurde, dehnte sich auf Aragonien, die Levante und andere Gebiete des Landes aus. Ein großer Teil der Sozialistischen Partei und der sozialistischen Gewerkschaft UGT (Allgemeine Union der Arbeit) konnte dieser revolutionären Bewegung nicht widerstehen.
Dieses Ereignis offenbarte, daß die anarchosyndikalistischen Arbeiter Spaniens nicht nur in der Lage waren zu kämpfen, sondern darüber hinaus konstruktive Vorstellungen besaßen, die in der Zeit einer realen Krise so eminent wichtig sind. Das ist das große Verdienst des libertären Sozialismus in Spanien, der die spanischen Arbeiter seit der Zeit der 1. Internationale in jenem Geist erzog, der Freiheit über alles andere stellt und die geistige Unabhängigkeit seiner Anhänger als die Basis seiner Existenz betrachtet. Es war die passive Haltung der organisierten Arbeiter in den anderen Ländern, die sich mit der Politik der Nicht-Intervention ihrer Regierungen abfanden, die zur Niederlage der spanischen Arbeiter und Bauern nach einem heroischen Kampf von mehr als zweieinhalb Jahren führte.
5. Der politische Kampf aus anarcho-syndikalistischer Sicht
Es ist dem Anarcho-Syndikalismus oftmals vorgeworfen worden, daß seine Anhänger kein Interesse an der politischen Struktur der verschiedenen Länder und konsequenterweise kein Interesse an den tagespolitischen Kämpfen besäßen. Diese Vorstellung ist gänzlich falsch und entspringt entweder völliger Ignoranz oder vorsätzlicher Verdrehung der Tatsachen. Es ist nicht der politische Kampf als solcher, der die Anarchosyndikalisten von den modernen Arbeiterparteien grundsätzlich und taktisch unterscheidet, sondern die Form des Kampfes und die Ziele, die er anstrebt. Anarchosyndikalisten verfolgen dieselbe Taktik in ihrem Kampf gegen politische Unterdrückung wie gegen ökonomische Ausbeutung. Aber sie sind überzeugt, daß mit dem System der Ausbeutung auch dessen politische Schutzeinrichtung, der Staat, verschwinden muß, um der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten auf der Basis der freien Vereinbarung Platz zu machen; dabei übersehen sie keinesfalls die Tatsache, daß die Anstrengungen der organisierten Arbeit innerhalb der existierenden politischen und sozialen Ordnung ständig gegen jedwede Attacke der Reaktion gerichtet sein müssen; sie übersehen ferner nicht, daß der Bereich dieser Rechte ständig erweitert werden muß, wo immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Der Kampf der CNT gegen den Faschismus ist vielleicht der beste Beweis, daß die vermeintlich unpolitische Haltung des Anarcho-Syndikalismus nichts ist als leeres Gerede. Aber gemäß ihrer Auffassung wird der Zeitpunkt ihres Vorgehens im politischen Kampf nicht von der Legislative bestimmt, sondern von den Menschen selbst.
Politische Rechte entstehen nicht in den Parlamenten, sie sind außerhalb entstanden. Und sogar die Gesetzesfassung war lange Zeit keine Garantie für die Anwendung dieser Gesetze. Sie existieren nicht schon deshalb, weil sie legal niedergelegt sind, sondern erst dann, wenn sie zur gewachsenen Gewohnheit der Menschen geworden sind, und wenn jeder Versuch sie zu beeinträchtigen auf den heftigen Widerstand der Bevölkerung stoßen wird. Wo das nicht der Fall ist, helfen keine parlamentarische Opposition oder irgendwelche platonischen Appelle an die Verfassung. Man erzwingt Respekt vom Anderen, wenn man weiß, wie man seine Würde als menschliches Wesen verteidigt. Das trifft nicht nur für das Privatleben zu; es gilt auch im politischen Leben.
Alle politische Rechte und Freiheiten, die die Menschen heute genießen, verdanken sie nicht dem guten Willen ihrer Regierungen, sondern ihrer eigenen Stärke. Regierungen haben immer versucht, alle ihre Machtmittel einzusetzen, um das Erreichen dieser Ziele zu verhindern. Große Massenbewegungen und ganze Revolutionen waren nötig, sie den herrschenden Klassen zu entreißen. Denn diese hätten sie niemals freiwillig zugestanden. Die gesamte Geschichte der letzten 300 Jahre ist dafür der Beweis. Wichtig ist nicht, daß Regierungen sich entschlossen haben, den Menschen gewisse Rechte zuzugestehen, sondern der Grund warum sie es tun mußten. Wenn man natürlich Lenins zynische Behauptung akzeptiert und die Freiheit als ein "bürgerliches Vorurteil" bezeichnet, dann haben politische Rechte sicherlich keinen Wert für die Arbeiter. Aber dann haben die zahllosen Kämpfe der Vergangenheit, alle Revolten und Revolutionen, denen wir diese Rechte verdanken, ebenfalls keinen Wert. Um dieses Stück Weisheit zu verkünden, war es kaum nötig, den Zarismus zu stürzen, da sogar die Zensur von Nikolaus II. sicherlich keinen Einwand gegen die Bestimmung von Freiheit als einem "bürgerlichen Vorurteil" gehabt hätte.
Wenn der Anarcho-Syndikalismus dennoch die Beteiligung an den gegenwärtigen nationalen Parlamenten ablehnt, begründet er es nicht mit dem Mangel an Sympathie für den politischen Kampf im allgemeinen. Aber seine Anhänger sind der Meinung, daß diese Form der Aktivität die schwächste und hilfloseste Form des politischen Kampfes für die Arbeiter ist. Für die besitzenden Klassen ist der Parlamentarismus sicherlich ein angemessenes Instrument für die Beilegung von aufkeimenden Konflikten, weil sie alle daran interessiert sind, die gegenwärtige ökonomische und soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Wo es gemeinsame Interessen gibt, ist die gegenseitige Zustimmung für alle Parteien möglich und nützlich, aber für die Arbeiter ist die Lage ganz anders. Für sie ist die herrschende ökonomische Ordnung die Ursache ihrer Ausbeutung und ihrer sozialen und politischen Unterdrückung. Auch die freieste Wahl kann den offenkundigen Unterschied zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Klassen in der Gesellschaft nicht verwischen. Sie kann lediglich der Unterdrückung der arbeitenden Massen den Stempel der Legalität aufdrücken.
Immer wenn sozialistische Parteien entscheidende polilitische Reformen erreichen wollten, konnten sie es nicht auf parlamentarischem Weg, sondern sie waren gezwungen, sich ganz auf die ökonomische Kampfkraft der Arbeiter zu verlassen. Die politischen Generalstreiks in Belgien (Ende des 19. Jahrhunderts) und Schweden (1902) für die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts sind ein Beweis dafür. Und in Rußland war es der große Generalstreik von 1905, der den Zaren zwang, die neue Verfassung zu unterzeichnen. Diese Erkenntnis veranlaßte die Anarchosyndikalisten, ihre Aktivitäten auf die sozialistische Erziehung der Massen zu konzentrieren und sie auf den Gebrauch ihrer ökonomischen und sozialen Macht vorzubereiten. Ihre Methode ist die Direkte Aktion[17], die Verbindung von ökonomischem und politischem Kampf. Unter direkter Aktion wird der unmittelbare Kampf der Arbeiter gegen ökönomische und politische Unterdrückung verstanden. Unter diesen sind der Streik in allen seinen Abstufungen, vom einfachen Lohnkampf bis zum Generalstreik, der organisierte Boykott und all die anderen zahllosen Mittel, die die Arbeiter als Produzenten in ihren Händen haben, die herausragendsten.
6. Der Generalstreik
Eine der effektivsten Formen der direkten Aktion ist der "soziale Streik", der bisher am meisten in Spanien und teilweise in Frankreich angewendet wurde. Er hat bemerkenswerte und wachsende Verantwortlichkeit der Arbeiter gegenüber der Gesellschaft als ganzer gezeigt. Er beschäftigt sich weniger mit den unmittelbaren Interessen der Produzenten als vielmehr mit dem Schutz der Allgemeinheit vor den schädlichen Auswüchsen des herrschenden Systems. Der soziale Streik will den Unternehmern die Übernahme von gewissen Verantwortlichkeiten gegenüber der Öffentlichkeit aufzwingen. In erster Linie hat er den Schutz der Konsumenten zum Ziel, von denen die Arbeiter selbst den größten Teil bilden. Unter den gegenwärtigen Umständen entwürdigen sich die Arbeiter häufig selbst, indem sie unzählige Dinge tun, die ständig die gesamte Gemeinschaft um den Vorteil der Unternehmer willen beeinträchtigt. Sie sind gezwungen, von minderwertigem und oftmals schädlichem Material für die Herstellung ihrer Produkte Gebrauch machen, schäbige Wohnungen zu bauen, gesundheitsschädliche Lebensmittel zu konsumieren; unzählige Handlungen zu vollziehen, die dazu gedacht sind, den Konsumenten zu betrügen. Hier energisch einzugreifen, ist nach Meinung der Anarchosyndikalisten die große Aufgabe der Arbeitersyndikate. Ein Fortschritt in dieser Richtung würde zur selben Zeit die Stellung der Arbeiter in der Gesellschaft stärken, und auf längere Sicht ihre Position festigen.
Direkte Aktion durch organisierte Arbeit findet ihren stärksten Ausdruck im Generalstreik, in der Niederlegung der Arbeit in jedem Produktionszweig in Fällen, in denen andere Kampfmittel versagen. Er ist die mächtigste Waffe, die die Arbeiter zur Verfügung haben und vermittelt den umfassenden Ausdruck ihrer Stärke als sozialer Faktor. Der Generalstreik ist natürlich kein Mittel, das bei jeder Gelegenheit willkürlich angewandt werden kann. Es sind gewisse soziale Voraussetzungen nötig, um ihm die angemessene moralische Stärke zu verleihen und zu einer Willenserklärung der breiten Massen werden zu lassen. Die lächerliche Forderung, die so oft den Anarchosyndikalisten zugeschrieben wird, daß es nur der Ausrufung des Generalstreiks bedarf, um innerhalb weniger Tage eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren, ist natürlich eine Erfindung von unwissenden Gegnern. Der Generalstreik kann verschiedenen Zwecken dienen. Er kann die letzte Stufe eines Sympathiestreiks sein, wie z. B. 1902 in Barcelona, oder 1903 in Bilbao, der die Minenarbeiter befähigte, das verhaßte Naturallohn-System abzuschaffen und die Unternehmer zwang, sanitäre Anlagen in den Minen einzurichten. Er kann auch ein Mittel sein, um einigen grundlegenden Forderungen Nachdruck zu verleihen, wie z. B. in dem versuchten Generalstreik in dem USA im Jahre 1886, als der Achtstundentag für alle Industriezweige gefordert wurde. Der große Generalstreik der englischen Arbeiter 1926 war die Antwort auf den Versuch der Unternehmer, den allgemeinen Lebensstandard der Arbeiter durch Lohnkürzung zu senken.
Aber der Generalstreik kann auch politische Ziele haben, wie z. B. der Kampf der spanischen Arbeiter 1904 für die Freilassung politischer Gefangener, oder der Generalstreik im Juli 1909 in Katalonien, der die Regierung zwingen sollte, den Krieg in Marokko zu beenden. Auch der Generalstreik der deutschen Arbeiter 1920, der nach dem sog. Kapp-Putsch durchgeführt wurde und die Regierung stürzte, die durch einen Militärputsch die Macht errungen hatte, gehört zu dieser Kategorie. In solch kritischen Situationen nimmt der Generalstreik den Platz ein, der früher den Barrikaden in den politischen Aufständen zukam. Für die Arbeiter ist der Generalstreik die logische Folge des modernen industriellen Systems, dessen Leidtragende sie heute sind; zugleich bietet er ihnen die stärkste Waffe im Kampf für ihre soziale Befreiung, vorausgesetzt sie erkennen ihre eigene Stärke und lernen, diese richtig anzuwenden.
7. Der Anarcho - Syndikalismus seit dem ersten Weltkrieg
Nach dem 1. Weltkrieg sahen sich die Menschen in Europa vor eine neue politisch und sozio-ökonomische Situation gestellt. In Mitteleuropa war das alte monarchistische System zusammengebrochen. Rußland befand sich inmitten einer sozialen Revolution, deren Ende nicht abzusehen war. Die russische Revolution hatte die Arbeiter jedes Landes tief beeindruckt. Sie fühlten, daß Europa mitten in einer Krise steckte, und daß ihre Hoffnungen für viele Jahre zerschlagen würden, falls aus dieser Krise nicht entscheidende neue Anstöße kämen. Aus diesem Grund setzten sie die größten Hoffnungen in die russische Revolution und sahen in ihr den Beginn einer neuen Ära in der europäischen Geschichte.
1919 sandte die bolschewistische Partei, die die Macht in Rußland errungen hatte, einen Appell an alle revolutionären Arbeiterorganisationen und lud sie zu einem Kongreß für das folgende Jahr nach Moskau ein, um eine neue Internationale ins Leben zu rufen. Kommunistische Parteien existierten zu dieser Zeit nur in wenigen Ländern; auf der anderen Seite gab es in Spanien, Portugal, Frankreich, Italien, Holland, Schweden, Deutschland, England und den Ländern von Nord- und Südamerika syndikalistische Organisationen, von denen einige starken Einfluß ausübten. Aus diesem Grund war es das Anliegen von Lenin und seinen Anhängern, diese einzelnen Organisationen für ihre Vorstellungen zu gewinnen. So kam es, daß auf dem Gründungskongreß der 3. Internationale im Sommer 1920 fast alle syndikalistischen Organisationen Europas anwesend waren.
Aber der Eindruck, den die syndikalistischen Delegierten in Rußland gewannen, war nicht geeignet, ihnen eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten als möglich oder wünschenswert erscheinen zu lassen. Die Diktatur des Proletariats zeigte sich schon in ihrem wahren Licht: Die Gefängnisse waren mit Sozialisten der verschiedenen Richtungen gefüllt, unter ihnen viele Anarchisten und Syndikalisten. Aber vor allem wurde deutlich, daß die neue herrschende Kaste in keiner Weise in der Lage war, ein wirklich sozialistisches Leben zu gestalten. Die Gründung der 3. Internationale mit ihrem autoritären Apparat und dessen Bemühungen, die gesamte europäische Arbeiterbewegung zu einem Instrument der Außenpolitik Rußlands zu machen, verdeutlichte den Syndikalisten sehr schnell, daß es für sie keinen Platz in der 3. Internationale geben konnte. Aus diesem Grund beschloß der Kongreß in Moskau, neben der 3. Internationale eine eigenständige revolutionäre Allianz von revolutionären Gewerkschaften aufzubauen, in der die syndikalistischen Organisationen aller Schattierungen einen Platz finden sollten. Die syndikalistischen Delegierten stimmten diesem Plan zu. Als aber die Kommunisten forderten, daß diese neue Organisation der 3. Internationale unterstellt werden sollte, wurde dieses Verlangen von den Syndikalisten einmütig zurückgewiesen.
Im Dezember 1920 wurde eine internationale syndikalistische Konferenz nach Berlin einberufen, um über ihre Position gegenüber dem kommenden Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale, der für 1921 in Moskau vorbereitet wurde, zu beschließen. Die Konferenz verständigte sich auf sieben Punkte, von deren Annahme der Eintritt der Syndikalisten in die Gewerkschaftsinternationale abhängig gemacht wurde. Die Bedeutung dieser sieben Punkte lag in der vollständigen Unabhängigkeit der Bewegung von allen politischen Parteien, und dem Beharren auf dem Standpunkt, daß der sozialistische Aufbau der Gesellschaft nur durch die ökonomischen Organisationen der produzierenden Klassen selbst durchgeführt werden kann.
Auf dem Kongreß in Moskau im folgenden Jahr waren die syndikalistischen Organisationen in der Minderheit. Der Zentralrat der russischen Gewerkschaften beherrschte die ganze Situation und setzte seine sämtlichen Resolutionen durch. Daraufhin wurde im Oktober 1921 in Düsseldorf eine internationale syndikalistische Konferenz durchgeführt, auf der beschlossen wurde, für das folgende Jahr einen internationalen Kongreß einzuberufen. Dieser Kongreß fand vom 25. 12. 1922 bis zum 2. 1. 1923 (in Berlin) statt. Folgende Organisationen waren durch Delegierte vertreten: Argentinien durch die "Federacion Obrera Regional Argentina" mit 200000 Mitgliedern; Chile durch die "Industrial Workers of the World" mit 20000 Mitgliedern; Dänemark durch die "Union for Syndicalist Propaganda" mit 600 Mitgliedern; Deutschland durch die "Freie Arbeiter Union" mit 120000 Mitgliedern; Holland durch das "National Arbeids Sekretariat" mit 22500 Mitgliedern; Mexiko durch die "Confederacion General des Trabajadores"; Norwegen durch die "Norsk Syndicalisk Federasjon" mit 20000 Mitgliedern; Portugal durch die "Confederacao Geral do Trabalho" mit 150000 Mitgliedern; Schweden durch die "Sveriges Arbetares Centralorganisation" mit 32000 Mitgliedern. Die spanische CNT war zu dieser Zeit in einen fürchterlichen Kampf gegen die Diktatur Primo de Riveras verwickelt und hatte keine Delegierten gesandt, aber sie versicherte ihre Übereinstimmung auf dem illegalen Kongreß in Saragossa im Oktober 1923. In Frankreich, wo nach dem Krieg eine Spaltung innerhalb der CGT zur Gründung der CGTU führte, schloß sich letztere Moskau an. Aber es gab eine Minderheit in der Organisation, die sich zusammenschloß, um das "Revolutionäre Syndikalistische Verteidigungkomitee" zu gründen, das ungefähr 100000 Arbei ter umfaßte und an den Beratungen des Berliner Kongresses teilnahm. Aus Paris waren weiterhin die "Föderation der Bauarbeiter" und die "Föderation der Jugend der Seine" anwesend. Zwei Delegierte repräsentierten die syndikalistische Minorität der russischen Arbeiter.
Der Kongreß beschloß einstimmig die Gründung einer internationalen Allianz aller syndikalistischen Organisationen unter dem Namen Internationale Arbeiter Assoziation (IAA). Er nahm eine Prinzipienerklärung an, die ein ausgesprochenes Bekenntnis zum Anarcho-Syndikalismus darstellt. Der zweite Punkt in dieser Erklärung lautet wie folgt: "Die Syndikalisten, in klarer Erkenntnis der oben festgestellten Tatsachen, sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d. h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!' seinen Ausdruck findet.
Ausgehend von dieser Erkenntnis, daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist und als solche nur von unten nach oben durch die schöpferische Tätigkeit des Volkes gelöst werden kann, verwerfen die Syndikalisten jedes Mittel einer sogenannten Verstaatlichung, das nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen kann." Damit war der Bruch mit dem Bolschewismus und seinen Anhängern in den verschiedenen Ländern eindeutig. Die IAA ging von da ab ihren eigenen Weg, hielt ihre eigenen internationalen Kongresse ab, gab ihre eigenen Bulletins heraus und regulierte die Beziehungen zwischen den syndikalistischen Organisationen in den verschiedenen Ländern.
Die mächtigste und einflußreichste Organisation in der IAA war die spanische CNT, Initiatorin vieler Arbeitskämpfe in Spanien und später das Rückgrat des Widerstandes gegen den Faschismus und der Sozialen Revolution. Vor dem Sieg Francos hatte die CNT ungefähr 2 Millionen Mitglieder, Industriearbeiter, Bauern und Intellektuelle. Sie besaß 36 Tageszeitungen, darunter die "Solidaridad Obrera" in Barcelona, die größte Zeitung Spaniens und "Castilla Libre", die die meistgelesene Zeitung in Madrid war. Die CNT hat Bücher und Millionen von Broschüren herausgegeben und mehr als jede andere Bewegung in Spanien zur Erziehung der Volksmassen beigetragen.
In Portugal war die 1911 gegründete "Confederacao Geral do Trabalho" die mächtigste Arbeiterorganisation des Landes und basierte auf denselben Prinzipien wie die CNT in Spanien. Nachdem sich in Portugal die Dikatur Salazars (1933) durchgesetzt hatte, wurde der CGT jegliches öffentliches Auftreten untersagt, und sie mußte in den Untergrund gehen. In Italien verließ unter dem Einfluß der Ideen des französischen Syndikalismus der syndikalistische Flügel der "Confederazione deI Lavoro" diese Organisation wegen deren Abhängigkeit von der Sozialistischen Partei und gründete die "Unione Sindicale Italiana". Diese Gewerkschaft war der Motor vieler harter Arbeitskämpfe und spielte eine herausragende Rolle in den Ereignissen der sog. "Roten Woche" im Juni 1914 und später bei den Fabrikbesetzungen in Mailand und anderen Städten in Norditalien. Nach der Machtübernahme durch die Faschisten verschwand die gesamte italienische Arbeiterbewegung. In Frankreich verließen die Anarchosyndikalisten die CGTU, nachdem die Organisation vollständig unter den Einfluß der Bolschewisten geraten war, und gründeten die "Confederation Generale du Travail Syndicaliste Revolutionaire", die sich der IAA anschloß.
In Deutschland existierten schon lange vor dem 1. Weltkrieg die sog. "Lokalisten", die sich in der 1897 gegründeten "Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften" organisierten. Diese Organisation war ursprünglich von sozialdemokratischem Gedankengut beeinflußt, aber sie bekämpfte die zentralistischen Tendenzen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Das Wiederaufleben des französischen Syndikalismus beeinflußte diese Vereinigung stark und führte zur Übernahme von rein syndikalistischen Prinzipien. Auf ihrem Kongreß 1920 in Düsseldorf änderte die Organisation ihren Namen in "Freie Arbeiter-Union Deutschlands". Diese Organisation leistete einen großen Dienst durch die unermüdliche Arbeit ihres aktiven Verlagshauses in Berlin, das eine große Anzahl wertvoller Arbeiten herausgab. Nach Hitlers Machtergreifung verschwand die "Freie Arbeiter-Union". Ein großer Teil ihrer Anhänger verschwand in den Konzentrationslagern oder mußte ins Exil gehen.
In Schweden existiert noch eine sehr aktive syndikalistische Bewegung, die "Sveriges Arbetaren Centralorganisation", die einzige syndikalistische Organisation in Europa, die der Reaktion des Faschismus und der deutschen Invasion während des Krieges entgangen war. Die schwedischen Syndikalisten nahmen an allen großen Arbeitskämpfen in ihrem Land teil und setzten das Werk der sozialistischen und libertären Schulung fort. In Holland konzentrierte sich die syndikalistische Bewegung im "Nationale Arbeids Secretariat", aber als diese Organisation mehr und mehr unter den Einfluß der Kommunisten geriet, spaltete sich fast die Hälfte ihrer Mitglieder ab und gründete den "Nederlandisch Syndicalistisch Vakverbond", der sich der IAA anschloß. Außer diesen Organisation gab es noch anarchosyndikalistische Propagandagruppen in Norwegen, Polen und Bulgarien, die sich der IAA anschlossen. Die japanische "Jiyu Rengo Dantai Zenkoku Kaigi" schloß sich ebenfalls der IAA an.
In Argentinien war die 1891 gegründete "Federacion Obrera Regional Argentina" lange Jahre Organisator der größten Arbeitskämpfe dieses Landes. Ihre Geschichte ist eines der stürmischsten Kapitel in den Annalen der Arbeiterbewegung. Die Bewegung gab länger als 25 Jahre die Tageszeitung "La Protesta" heraus. Ferner eine große Zahl Wochenschriften im ganzen Land. Nach dem Staatsstreich von General Uriburu wurde die Federacion unterdrückt, aber sie führte ihre Tätigkeit im Untergrund fort, auch unter dem Diktator Peron.
Im Mai 1929 rief die Federacion einen Kongreß aller südamerikanischen Länder nach Buenos Aires ein. Auf diesem Kongreß waren neben der Veranstalterin noch Gewerkschaften folgender Länder vertreten: Paraguay durch das "Centro Obrero deI Paraguay"; Bolivien durch die "Federacion Local de la Paz", "La Antorcha" und "Luz y Libertad"; Mexiko durch die "Confederacion de Trabajo"; Guatemala durch das "Comite pro Accion Sindical"; Uruguay durch die "Federacion Regional Uruguaya". Brasilien wurde durch die Gewerkschaften der sieben verfassungsgebenden Staaten vertreten. Costa Rica wurde durch die Organisation "Hacia la Libertad" repräsentiert. Auf diesem Kongreß wurde die "Kontinentale Amerikanische Arbeiter-Assoziation" ins Leben gerufen, die die amerikanische Gliederung der IAA darstellte. Der Sitz dieser Organisation war zuerst in Buenos Aires, wurde aber später, wegen der Diktatur, nach Uruguay verlegt.
Dies waren die Kräfte, die der Anarcho-Syndikalismus vor der Herrschaft des Faschismus und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in den verschiedenen Ländern zur Verfügung hatte.
III
Nachwort 1947
Diese Schrift wurde vor neun Jahren veröffentlicht, als der Spanische Bürgerkrieg sich seinem Ende näherte. Die Niederlage der spanischen Arbeiter und Bauern durch den Faschismus nach zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg zerstörte die letzte Hoffnung, sich der Flut der Reaktion in Europa entgegenzustemmen. Spanien wurde die Nemesis für die europäische Arbeiterbewegung und besonders für den libertären Sozialismus. Das spanische Volk mußte seinen tapferen Kampf für Freiheit, menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit fast allein führen, während die ganze Welt dem ungleichen Kampf untätig zusah. Die sog. Westlichen Demokratien verweigerten den Spaniern das Kriegsmaterial, welches sie so dringend in ihrem heldenhaften Kampf benötigten. Und die organisierte Arbeiterbewegung in Europa und Amerika, die demoralisiert und zersplittert war, verharrte gleichgültig oder hilflos, als in Europa alles auf dem Spiel stand. Sie mußte ihre Passivität teuer bezahlen, da mit dem franquistischen Spanien der Weg in den 2. Weltkrieg mit seinen schrecklichen Auswirkungen geebnet wurde. Sogar Sumner Wells, der frühere Staatssekretär der USA, mußte zugeben, daß die Politik seines Landes gegenüber Spanien in jenen Jahren der Entscheidung einer der größten Fehler war, die Amerika je begangen hat.
Für die Arbeiterbewegung bedeutete Francos Sieg eine der größten Niederlagen, die die Arbeiter Europas jemals erlitten hatten. Unter dem Schreckensregiment von Hitlers Armeen zerfiel die gesamte Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, der Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Norwegen und den südosteuropäischen Ländern; der gesamte Kontinent wurde eine Ruinenwüste, Hunger und unaussprechliches Elend herrschten. Noch heute, 1947, gleichen große Teile Europas einer Wildnis. Das ökonomische Leben ist gelähmt, die natürlichen Rohstoffquellen sind erschöpft, Industrie und Landwirtschaft total desorganisiert. Daß eine solche schreckliche Katastrophe an den Völkern nicht spurlos vorbeigeht, ist selbstverständlich. In vielen Ländern wurden die Menschen als Folge ihrer schrecklichen Leiden demoralisiert und apathisch, besonders in Deutschland und Österreich, wo wenig Hoffnung auf einen raschen Wiederaufbau des ökonomischen und sozialen Lebens war. Trotzdem gibt es fast überall Zeichen des Erwachens und der Entwicklung neuer Ideen, die sich mit der gegenwärtigen Situation auseinandersetzen.
Der einzige Weg aus dem gegenwärtigen Chaos, die einzige Möglichkeit für den Wiederaufbau der verwüsteten Länder wäre ein föderiertes Europa mit einer vereinheitlichten Wirtschaft. Europa müßte auf einem neuen Fundament beruhen, in dem kein Volk durch künstliche Barrieren isoliert wäre und unter keiner Vormundschaft eines stärkeren Nachbarn stünde. Das würde auch den ersten Schritt zu einer Weltföderation mit gleichen Rechten für jedes Volk, die sog. Kolonialvölker eingeschlossen, die bisher Opfer des Imperialismus waren und in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmt wurden, bedeuten. Es ist ebenfalls das einzige Mittel, um weitere Änderungen und Verbesserungen im allgemeinen Organismus unseres sozialen Lebens zu erzielen, und um die ökonomische Ausbeutung und die politische Unterdrückung von Individuen und Völkern zu überwinden. Nach den schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit gibt es in der Tat keinen anderen Weg, um neue Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen, und um neue Gesellschaftsformen und eine Wiedergeburt von Menschlichkeit zu erreichen.
In Europa ist eine solche Veränderung lange überfällig. Ihr größtes Hindernis ist aber noch immer die Machtpolitik der Großmächte und ihr unaufhörlicher Kampf um die Hegemonie auf dem Kontinent. Das ist die ständige Ursache von Kriegen und der wahre Grund, warum bis auf den heutigen Tag eine Generation immer das wieder aufzubauen hat, was ihre Vorgängerin zerstört hatte.
Was den Anarchosyndikalismus und die libertäre Bewegung im allgemeinen betrifft, sind diese gegenwärtig im Stadium des Wiederaufbaus. Mit Ausnahme von Schweden wurden die libertären Organisationen in nahezu jedem europäischen Land während der Nazi-Okkupation unbarmherzig unterdrückt; sie funktionierten nur als kleine Widerstandsgruppen im Untergrund. Schweden war eines der europäischen Länder, das vom Krieg verschont blieb, und wo sich die libertäre Bewegung behaupten konnte. Nachdem Hitler in Deutschland die Macht erobert hatte, wurde das Büro der IAA, nach einem kurzen Zwischenspiel in Holland, nach Stockholm verlegt, und von der dortigen syndikalistischen Bewegung am Leben erhalten. Aber seine Aktivität wurde durch die schreckliche Katastrophe auf dem Kontinent gelähmt. Der einzige Grund für die fortdauernde Existenz des Büros war, sich für die Nachkriegszeit vorzubereiten, um dann Schritte zu unternehmen, die Bewegung in den verschiedenen Ländern wieder aufzubauen. Das Büro in Stockholm veröffentlichte in all den Jahren sein "Bulletin" und versuchte, Verbindungen, soweit dies möglich war, aufrechtzuerhalten. Mehr konnte man nicht erwarten.
Unter allen regionalen Sektionen der IAA hatte die CNT am meisten gelitten. Rund eine Million Menschen starben während des Bürgerkrieges, unter ihnen viele Tausende Mitglieder der CNT und FAI. Tausende wurden in den Kerkern und Konzentrationslagern Francos bei lebendigem Leibe begraben, viele kamen unter unsäglichen Qualen um. Und viele Tausende leben noch im Exil und warten ungeduldig auf die Stunde ihrer Rückkehr. Eine große Anzahl der früheren Mitglieder der CNT lebt in Frankreich, Belgien, England, Nordafrika, Mexiko und den verschiedenen Ländern Südamerikas. In Frankreich haben Tausende dieser Flüchtlinge aktiv an der Resistance gegen die deutsche Invasion teilgenommen. In all diesen Ländern haben unsere spanischen Genossen eigene Organisationen geschaffen und veröffentlichen Zeitungen, Bücher und Broschüren.
In Spanien selbst wird eine sehr aktive Untergrundbewegung von den Anhängern der CNT-FAI und der Libertären Jugend gegen die Militärdiktatur Francos fortgeführt. Sie haben ihre eigenen Zeitungen, die illegal gedruckt werden, und stehen in ständigem Kontakt mit ihren Genossen im Exil. In einigen Teilen Spaniens geht der Guerillakrieg noch weiter, besonders in den Bergen von Asturien. Unter den spanischen Genossen im Exil sind interessante Diskussionen im Gang über die Reorganisation der Bewegung nach dem Fall des Franco-Regimes. Die Erfahrungen der spanischen Revolution, der Krieg und seine Nachwirkungen haben etliche Probleme geschaffen, die nicht übersehen werden können. Ihre wirkliche Lösung kann aber nur gefunden werden, wenn die gegenwärtige Diktatur gestürzt und die libertäre Bewegung reorganisiert wird. Zweifellos wird unsere Bewegung, die so tief im spanischen Volk verwurzelt ist, wieder eine bedeutende Rolle in der Zukunft dieses Landes spielen. Klar ist aber auch, daß ihr Erfolg weitgehend von den Entwicklungen in den anderen Ländern Europas mitbestimmt wird.
In Deutschland, wo jede Sektion der organisierten Arbeiterschaft von den Nazis vollständig zerstört, und ihr umfangreiches Eigentum an Gebäuden, Druckereien, Büchereien etc. beschlagnahmt wurde, mußte die anarchosyndikalistische Bewegung schreckliches über sich ergehen lassen. Nachdem ihr Büro ("Geschäftskommission") in Berlin von den Nazis geplündert und zerstört worden war, versuchten die Genossen in Erfurt, eine Untergrundbewegung zu organisieren. Aber nach kurzer Zeit fielen viele Militante in die Hände der Nazis und landeten im Gefängnis und Konzentrationslager. Trotzdem wurden in fast jedem Teil des Landes Untergrundaktivitäten fortgeführt, aber die Opfer waren fürchterlich. Nach den Berichten, die wir erhalten haben, seit die Verbindungen mit Deutschland wiederhergestellt sind, wurden rund 1200 Genossen während des Hitlerregimes zu Arbeitslager zwischen fünf und zwanzig Jahren verurteilt; rund zwanzig wurden hingerichtet oder starben in den Folterkammern der Gestapo; Dutzende kamen in Konzentrationslagern um. Diese Liste ist keineswegs komplett, sie betrifft hauptsächlich das Schicksal unserer Genossen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Exakte Daten für die SBZ sind im Moment nicht zugänglich.
Ein Wiederaufbau der Bewegung in Deutschland unter den gegenwärtigen Bedingungen ist sehr schwierig[19]. Eines der größten Hindernisse ist die Teilung des Landes in verschiedene Zonen. Die meisten der deutschen Genossen sind der Meinung, daß ein Wiederaufbau der Bewegung auf den Grundlagen der alten FAUD unmöglich ist, seit die alten Vorstellungen unter dem Gesichtspunkt der Verwüstung des Landes und der Not der Menschen bedeutungslos geworden sind. Sie meinen, daß jede Anstrengung dem konstruktiven Wiederaufbau des Landes und der Verminderung des momentanen Elends gelten soll. Viele unserer Genossen arbeiten schon in dieser Richtung in den neu gegründeten Gewerkschaften, Kooperativen u. a. Organisationen mit, wo sie die Möglichkeit haben, ihre Ideen zu verbreiten. In den Westzonen sind schon Vorkehrungen getroffen für den Aufbau einer neuen libertären Bewegung, für konstruktive Aktivität auf einer breiteren Basis, den gegenwärtigen Bedingungen weitaus angepaßter als die FAUD, die unter gänzlich anderen Bedingungen gegründet worden ist.
Auch in Holland, wo viele unserer Genossen an der Untergrundbewegung während der deutschen Okkupation teilgenommen hatten, kamen die ehemaligen Mitglieder des NSV zu dem Ergebnis, daß das Wiederaufleben der Bewegung in ihrer alten Form kaum die Probleme lösen könnte, die der Krieg und die gegenwärtige Situation in Europa geschaffen haben. Aus diesem Grund gründeten sie eine neue Föderation, den "Nederlandse Bond va frije Socialisten". Dessen Prinzipien wurden in dem neuen Organ "Socialisme va onder op" veröffentlicht. Sie ist eine der interessantesten Zeitschriften der heutigen Bewegung, an der viele, bekannte Vertreter des libertären Sozialismus in Holland und im Ausland mitarbeiten. Die neue Bewegung verbreitet ihre Ideen aktiv in den reformistischen Gewerkschaften und führt auch den Kampf für die Unabhängigkeit Indonesiens und der anderen holländischen Kolonien. Neben der neuen Föderation, die in jeder holländischen Provinz ihre Propagandagruppen hat, existiert noch eine Anzahl weiterer Organisationen libertären Charakters.
In Frankreich reorganisierten die ehemaligen Mitglieder der CGT/Syndicaliste Revolutionaire ihre Bewegung schon bald nach Kriegsende. Da sie es unmöglich fanden, in der CGT zu arbeiten, die heute total von der Kommunistischen Partei dominiert wird und lediglich ein Instrument der Außenpolitik der russischen Diktatur darstellten, versuchten sie, ihre alten Anhänger zu sammeln und eine neue Bewegung ins Leben zu rufen. Das erste Treffen fand im Dezember 1946 in Paris statt; Delegierte der spanischen CNT und ein Repräsentant der IAA waren ebenfalls zugegen. Die Organisation wurde in "Confederation National du Travail" (CNT, Nationale Konföderation der Arbeit) umbenannt, und ihre Tätigkeit basiert auf derselben Prinzipienerklärung, die von der IAA vor dem Krieg verabschiedet wurde. Ihr Organ ist "L'Action Syndicaliste".
Neben dieser anarchosyndikalistischen Bewegung sind die meisten libertären Gruppen in Frankreich in der "Federation Anarchiste" mit dem Organ "Le Libertaire" in Paris organisiert. Seit Kriegsende kann man in Frankreich allgemein ein Wiederaufleben der alten libertären Bewegung in allen Teilen des Landes beobachten, die ihren sichtbaren Ausdruck in sieben oder acht Zeitungen und Zeitschriften findet.
In Italien, dem ersten Land, das unter dem Joch des Faschismus zu leiden hatte, lebte die anarchistische Bewegung nach dem Krieg ebenfalls wieder auf. Die meisten Organisationen schlossen sich in der neuen "Federazione Anarchista Italiana" zusammen, die ihr Zentrum in Carrara, dem italienischen Marmorindustriegebiet hat. Die Föderation hat rund fünfzehn Zeitschriften und führt eine lebhafte Propaganda unter den Arbeitern und Bauern durch. Ihren größten Einfluß hat sie in Mailand und Genua. Wie in Frankreich bekämpfen unsere italienischen Genossen nicht nur die Überreste der noch mächtigen faschistischen und monarchistischen Reaktion, sondern auch den wachsenden Einfluß der Kommunistischen Partei, die nicht nur die gesamte Gewerkschaftsbewegung kontrolliert, sondern auch den größten Teil der Sozialistischen Partei. Hier, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, stellt das schreckliche Elend der Menschen eines der größten Hindernisse für jede fortschrittliche Bewegung dar und setzt gleichzeitig die europäischen Länder den Gefahren einer neuen totalitären Reaktion aus.
In Portugal ist die "Confederacao Geral do Trabalho", die unter der Diktatur Salazars unterdrückt wird, noch immer in der Illegalität. Trotz der fortwährenden Verfolgungen schaffte sie es, ihr Organ "A Batalha" u. a. illegale Veröffentlichungen herauszubringen. Viele Militante der CGT kamen in den Konzentrationslagern der Kapverdischen Inseln um, die nur mit den Folterkammern der Gestapo verglichen werden können.
Auch in England, Belgien, Norwegen, Polen und der Schweiz gibt es libertäre Gruppen, die Broschüren, Bücher und Zeitschriften veröffentlichen und ihre Vorstellungen verbreiten. Nur in den sowjetisch beherrschten Ländern Südosteuropas scheiterte jeder Versuch, eine libertäre Bewegung zu initiieren, an der Diktatur wie im Fall der bulgarischen Anarchosyndikalisten, von denen viele Opfer der großen blutigen Säuberungen im Lande wurden.
Im allgemeinen ist die libertäre Bewegung in den meisten europäischen Ländern im Stadium der Reorganisation. Viele unserer alten Genossen starben während des Krieges oder wurden Opfer der schrecklichen Verfolgungen der faschistischen Reaktion. In Lateinamerika ist seit Kriegsende ein großer Aufschwung des libertären Sozialismus in fast jedem Land festzustellen, besonders in Argentinien. Nach langer Illegalität führt die "Federacion Obrera Regional Argentina" eine umfassende Propagandatätigkeit für einen 6-Stunden-Tag. Der neuerliche Streik der Arbeiter im Hafen von Buenos Aires, der mit großem Erfolg endete, wurde von der FORA geführt und brachte der Organisation ein großes Maß an Sympathie unter den Arbeitern und Studenten ein. Die neue Jugendbewegung an den Universitäten ist in hohem Maße von libertärem Gedankengut beeinflußt.
Neben der syndikalistischen Tätigkeit der FORA gibt es im ganzen Land noch viele andere libertäre Gruppen, die eine beträchtliche Anzahl von anarchistischen Zeitschriften und Broschüren herausgeben und eine lebhafte Propagandatätigkeit im Erziehungsbereich und in Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Den Verlagsbuchhandlungen Iman und besonders Americalee in Buenos Aires ist es zu verdanken, daß in den letzten Jahren die größte Anzahl libertärer Klassiker und viele andere wichtige Bücher gedruckt wurde. Die Ausgaben sind hervorragend und finden Verbreitung unter Arbeitern und Intellektuellen.
Eine rege libertäre Tätigkeit ist auch in den meisten anderen Ländern von Süd- und Mittelamerika festzustellen. So kommen in Uruguay, Paraguay, Peru, Chile, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Costa Rica, Mexiko und Kuba Zeitschriften heraus.
In den USA werden, mit Ausnahme von zwei kleinen Monatszeitschriften, alle anderen libertären Veröffentlichungen in spanisch, italienisch, jiddisch und russisch gedruckt. In diesem Land gibt es keine organisierte Bewegung auf nationaler Ebene, vergleichbar denen in Europa; es gibt eine ganze Anzahl Vereinigungen verschiedener Art und für verschiedene Zwecke, in denen libertäres Gedankengut anzutreffen ist.
In Asien gibt es moderne libertäre Ideen in China, Japan und in kleineren Zirkeln indonesischer Studenten, die durch die libertäre Bewegung in Holland beeinflußt wurden. In Japan wurde die kleine anarchistische Bewegung nach der Hinrichtung von D. Kotoku und seinen Genossen im Januar 1911 vollständig zerstört. Später entwickelte sich eine anarchistische Bewegung, die "Jiyu Rengo Dantai Zenkoku Kaigi", in Tokio, Nagasaki, Hiroshima u. a. japanischen Industriezentren, die Verbindung mit dem IAA-Büro in Berlin aufnahm. Aber auch diese Bewegung wurde ein Opfer der unbarmherzigen Verfolgungen durch die japanische Regierung.
In China existierten vor dem Krieg in verschiedenen Städten anarchistische Gruppen, die libertäre Periodika und Flugblätter herausbrachten und in Verbindung mit ihren Genossen in Amerika und Europa standen. Nach dem Krieg lebte diese Bewegung Dank der Tätigkeit intellektueller Gruppen in verschiedenen Landesteilen wieder auf.
Libertäres Gedankengut ist neuerdings auch bis nach Indien vorgedrungen, wo eine Gruppe indischer Intellektueller, die Gründer des "Indischen Instituts für Soziologie" und der Zeitschrift "Indian Sociologist", sehr rege ist und die neuen Ideen verbreitet, vor allem in Bombay. Sie haben auch ein Zentrum für libertäre Publikationen geschaffen, das "Libertäre Buchhaus" in Bombay, das schon eine ganze Reihe von Büchern und Flugschriften von bekannten europäischen und amerikanischen Libertären veröffentlicht hat.
Die gegenwärtige Renaissance der libertären Bewegung in der ganzen Welt ist der beste Beweis, daß die großen Ideen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit auch nach den schrecklichen Verwüstungen des Krieges noch weiterleben, daß sie von vielen als Leitprinzipien bei der Lösung der verschiedenartigen neu entstandenen Probleme angesehen werden; sie gelten ebenfalls für den Weg in eine bessere Zukunft und zu einem höheren Maß an Menschlichkeit.
Die libertäre Bewegung ist die einzige Bewegung, die nicht nur den Kampf gegen die Übel der gegenwärtigen Gesellschaft führt. Sie versucht auch, vor Gefahren einer Diktatur jeglicher Art von Staatskapitalismus und politischem Totalitarismus, die nur in die schlimmste Sklaverei führen können, die die Menschheit jemals erlebt hat, zu bewahren.
Crompond, New York Juni 1947
[1] Im "Gesellschaftsvertrag" (Contrat Social) entwirft Rousseau ein dem(okratisches Idealbild. Danach ruht die Staatsgewalt beim Volk, und die Regierenden sind seine Funktionäre. Die Gesetze bedürfen der Zustimmung aller, denn die Volkssouveränität ist absolut und unteilbar und bekundet sich irn "Allgemeinen Willen der Nation" (Volonté général).
[2] Radikeler Flügel in der Französischen Revolution; benannt nach dem St.-Jakobs-Kloster. Maßgebliche Führer waren Robespierre, Saint-Just und Marat.
[3] Thomas Jefferson (1743-1826) war der Schöpfer der Unabhängigkeitserklärung der USA, in derzum ersten Mal die Menschenrechte schriftlich niedergelegt wurden. Von 1801-1809 war Jefferson Präsident der USA.
[4] Thoreau (1817-1862) war ein verfechter des Gewaltlosen Widerstandes. Nahm aktiv teil an der Anti-Sklaven-Bewegung in den USA. Seine wichtigsten Werke sind: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat", Zürich 1973 und "Walden oder das Leben in den Wäldern", Zürich 1971.
[5] Saint Simon (1760-1825) war ein Vertreter des sog. "utopischen Sozialismus".
[6] Proudhon (1809-1865) war Vertreter des sog. "Mutualismus" (Austausch gleicher Werte durch unabhängige Produzenten und Konsumenten und Regelung aller menschlichen Verhältnisse durch freiwillige Kontrakte). Geistiger Vater vieler ihm nachfolgenden Anarchisten. Prägte wesentlich den Föderalismus als neue verbindende Form des gesellschaftlichen Lebens.
[7] Der Begriff "Leviathan" stammt aus dem Buch Hiob. Er steht dort für das stärkste aller Tiere, ein Seeungeheuer. In Hobbes Theorie symbolisiert es die absolute Schreckensgewalt des Staates, des "Souveräns".
[8] Rabelais verstand sich nicht als Revolutionär. Er verzichtete in seinen Utopien völlig auf den Ökonomischen Aspekt. Seine Bedeutung gewinnt er durch die detaillierte Schilderung eines von allen zwängen befreiten Lebens.
[9] Robert Owen (1771-1858): Frühsozialist, Förderer von Einrichtungen zu Selbsthilfe gegen die Konkurrenz der Grobetriebe. In seinem Musterbetrieb führte er wegweisende Sozialreformen durch (Zehneinhalb-Stunden-Tag, Kranken und Altersversicherung).
[10] Elisee Reclus (1830-1905), einer der bedeutendsten Geographen des 19. Jahrhunderts, stand mit seiner Auffassung vom Anarchismus der anarchistisch-kommunistischen Konzeption Peter Kropotkins nahe.
[11] Cafiero, ital. Anarchist, war ursprünglich wichtiger Vertrauensmann von Marx/Engels in Italien. Er wandte sich jedoch, aus der Überzeugung, daß Bakunins Analyse der italienischen Situation richtiger sei, bald dem libertären Flügel der 1. Internationale zu.
[12] Rocker bezieht sich hier vor allem auf die revoluItionären Unruhen in Italien und Spanien 1873-1874. In Italien führten die Spannungen, die sich aus dem Kampf um die nationale Einheit, dem Kampf gegen die österreichischen Besatzer ergaben, zu erheblichem wirtschaftlichen Elend. Die Hoffnungen, die die Bauern, landlosen Arbeiter und Handwerker in die neue Regierung gesetzt hatten, konnte diese nicht erfüllen. Diese Situation führte zu sozialen Unruhen, vor allem unter Führung der Anarchisten (Malatesta, Costa, Cafiero). Sie brachten jedoch keine wesentliche Linderung der mißlichen sozialen Lage.In Spanien kam es 1868-1874, bedingt durch die Abdankung der Königin Isabel, zu zahlreichen sozialen Auseinandersetzungen, an der die Vertreter des libertären Flügels der 1. Internationale großen Anteil hatten. Die 1873 gebildete liberale Spanische Republik hatte nur eine kurze Lebensdauer Ihre Ende 1874 bedeutete gleichzeitig die Restauration der Monarchie. Die Anarchisten waren nun zur Illegalität gezwungen. (Vgl. Brenan, Gerald: Die Geschichte Spaniens, Berlin 1978)
[13] Sombart (1863-1941) war ein bedeutender Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker. Verfasser des zweibändigen Standardwerks "Der moderne Kapitalismus". Zunächst stark vom Marxismus beeinflußt, vollzog er im Laufe seines politischen Werdegangs eine weitgehende Abkehr von seinen ursprünglichen Überzeugungen. Wird vielfach als "Kathedersozialist" bezeichnet.
[14] Sorel (1847-1922): angeblich "Theoretiker des Syndikalismus". Besaß jedoch keinen Einfluß auf die Arbeitermassen. Beeinflußte in nicht unerheblichem Maße Mussolini. Starb als Bewunderer Lenins.
[15] Rocker meint hier die sog. "Dezimal-Sozialdemokraten", d. h. den Flügel des politischen Sozialismus, der über den parlamentarischen Weg die Macht anstrebte, und jedes Plus hinter dem Komma als einen Sieg der Arbeiterklasse feierte.
[16] Rocker vergleicht hier die Haltung der deutschen Arbeiterklasse bei der Machtergreifung Hitlers mit derjenigen der spanischen Arbeiter beim Putsch Francos am 19. Juli 1936. Während die spanischen Arbeiter vom ersten Tag an entschlossen Widerstand leisteten, wartete die deutsche Arbeiterklasse auf Direktiven ihrer Führung und war unfähig, selbständig zu reagieren.
[17] Vgl. Roller, Arnold: "Direkte Aktion", Bremen 1977; vgl. zu einer neueren Bestimmung des Begriffs "Direkte Aktion": Carter, April: "Direkte Aktion". Leitfaden für den Gewaltfreien Widerstand", Berlin 1979.