Titel: Freiheit unter saurem Regen
Untertitel: Überlegungen zu einem libertär-ökologischen Gesellschaftskonzept
AutorIn: Cantzen, Rolf
Datum: 1984
Quelle: Freiheit unter saurem Regen : Überlegungen zu einem libertär-ökologischen Gesellschaftskonzept / Rolf Cantzen. – Berlin : Edition Ahrens im Verl. Zerling, 1984

ANARCHISTISCHE TENDENZEN IN DER PRAXIS – DEFIZITE IN DER THEORIE

Verdaue die Hostie, und du bist sie los.
Stirner

Wer, wie die etablierte Linke, die Gesellschaft durch die Eroberung des Staates zu verändern beabsichtigt — gleichgültig, ob dies über parlamentarische Mehrheiten oder durch einen revolutionären Umsturz geschehen soll —, hat Schwierigkeiten, politische Phänomene wie Hausbesetzungen, Bürgerinitiativen, alternative Projekte, Direkte Aktionen (z.B. Blockaden militärischer Einrichtungen), autonome Landkommunen, Betriebsübemahmen durch die Belegschaft, freie Schulen einzuordnen sowie mit Forderungen nach ökonomischer, politischer und technologischer Dezentralisierung umzugehen. Die marxistische Linke, die sich an den Universitäten etabliert hat, vermag in den neuen sozialen Bewegungen kaum gesellschaftsverändernde Potentiale zu entdecken, da weder das Proletariat in Gestalt einer Arbeiterbewegung als Vollstrecker der Weltgeschichte zum Widerstand gegen das Kapital rüstet noch die “Marginalisierten” im Verein mit einer Massenbasis einen revolutionären Umsturz des Systems zu organisieren beabsichtigen. Die etablierte nicht-marxistische Linke verhält sich ablehnend oder indifferent gegenüber diesen politischen Phänomenen und scheint sich vor allem zu fürchten, was sich außerhalb der Parteien abspielt und sich dem direkten Einfluß der gewohnten Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen) entzieht. So werden “Freie Schulen” destruiert, in denen außerhalb der präferierten Gesamtschulen “fortschrittlich” gelernt werden soll; das Gewerkschaftsuntemehmen “Neue Heimat” verhindert selbstorganisiertes Wohnen und Leben, indem es in engster Zusammenarbeit mit konservativen Kräften Vertragsabschlüsse mit Hausbesetzern untergräbt und Räumungen ermöglicht; Betriebsübernahmen oder auch – beteiligungen der Belegschaft fanden weder bei den Sozialdemokraten noch bei den Gewerkschaften Unterstützung. Diese durch Verwaltungsbürokratien noch verstärkte Vereinheitlichungstendenz der hierarchisch und zentralistisch strukturierten Partei – und Gewerkschaftsorganisationen steht den dezentralen und vielfältigen Organisationsformen der neuen sozialen Bewegungen entgegen. Veränderungen “von unten” und außerhalb der bestehenden Partei- und Gewerkschaftsorganisationen begegnen große Teile auch der nicht-marxistischen Linken mit dem Vorwurf des “unpolitischen Aussteigertums”, da sie ihrem vereinheitlichenden Zugriff unzugänglich bleiben. Diese Mentalität korrespondiert mit der Auffassung, daß Gesellschaftsveränderung nur als Veränderung “von oben” gedacht werden kann — neben dem “Abschied vom Proletariat” wurde auch der Abschied von der Eroberung der Staatsherrschaft hier noch nicht endgültig vollzogen. Für die gesamte etablierte Linke — die marxistische und die nicht-marxistische — scheint Gesellschaftsveränderung nur mittels festgefügter, hierarchischer Organisationen und nur über eine wie auch immer geartete Staatsherrschaft vorstellbar zu sein. Daß die etablierte Linke ausgehend von einem solchen Politikverständnis in den neuen sozialen Bewegungen keine wesentlichen Veränderungspotentiale feststellen kann, sondern ihnen Fluchttendenzen unterstellt, zeugt von dogmatischer Erstarrung in antiquierten Politiktheorien. Die Theorie spiegelt also auch in diesem Falle — allen anderslautenden Ansprüchen zum Trotz — nicht die gesellschaftsverändernde Praxis wider. Vielmehr wird in der Theorie an liebgewordenen hierarchischen und zentralistisch-eindimensionalen Ordnungsentwürfen festgehalten ungeachtet einer weit vielschichtigeren Praxis: Ein Paradigmenwechsel ist überfällig.

Die neuen sozialen Bewegungen zielen auf eine Gesellschaftsveränderung vor allem außerhalb festgefügter Organisationen und Institutionen, basisdemokratisch und nicht staatsfixiert. Doch auch hier bleiben — ähnlich wie in der nicht-marxistischen Linken — zugunsten eher kurzfristiger Praxisorientierung weiterreichende gesamtgesellschaftliche Perspektiven unscharf und ohne konzeptionelle Zusammenhänge: Die Konzentration auf pragmatische Detailveränderung dominiert derart, daß die Entwicklung weiterreichender Perspektiven und Fernziele auch hinsichtlich der Arbeitslosigkeit, der ökonomischen und ökologischen Krise entweder ganz vergessen wird oder eine weitgehend unkonkrete einfache Negation der schlechten Gegenwart bleibt. So fehlen konkrete Utopien und entsprechende Transformationsstrategien, welche die gegenwärtigen Tendenzen alternativer Gesellschaftsveränderung aufnehmen könnten, um damit im Rahmen einer sich als freiheitlich und sozialistisch verstehenden Gesellschaftstheorie einen Paradigmenwechsel vornehmen zu können. Marxisten macht die Fixierung auf ihre Geschichtsphilosophie den Entwurf von konkreten Utopien und Transformationen unmöglich. Das Endziel der Geschichte, der Kommunismus, ist durch den Geschichtsverlauf programmiert; eine normative Utopie, selbst wenn sie “Kommunismus” heißt, erübrigt sich damit. Ferner weist die von den Klassikern “wissenschaftlich” prognostizierte Zukunftsgesellschaft eine einheitliche kommunistische Struktur auf, welche hervorgebracht werden soll durch die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Übergangsphase der “Diktatur des Proletariats”. Ein Paradigmenwechsel kann also auf der Basis des Marxismus nicht vorgenommen werden, weil ein Geschichtsdeterminismus, welcher konkrete Utopien ausschließt, unakzeptabel wäre, weil die beabsichtigte Einheitlichkeit der Zukunftsgesellschaft dem hier angestrebten Ziel eines freiheitlichen Gesellschaftssystems ebenso widerspricht wie die Transformation via “Revolution” und “Diktatur”; und nicht zuletzt deshalb, weil, wie der “Realsozialismus” beweist, mit einer Verstaatlichung von gesellschaftlichen Bereichen ökonomischen und ökologischen Krisen nicht wirkungsvoll zu begegnen ist. Zudem könnten mit zentralistisch-staatlichen Konzepten gegenwärtige “zentrifugale” gesellschaftliche Entwicklungstendenzen nicht aufgegriffen werden. Insofern allerdings die etablierte nicht-marxistische Linke entsprechend ihren wenig vielfältigen Mitteln der Staatseroberung und einheitlichen Organisation der Arbeiterbewegung ebenso “einfältige” Ziele anstrebt oder, bei Fehlen solcher Zielsetzungen, mit ihren vereinheitlichenden Mitteln pragmatisch fortfährt, so käme am Ende auch nichts anderes heraus als bei Marxisten und “Realsozialisten”, nämlich ein Staatssozialismus.

In den neuen sozialen Bewegungen dagegen widersetzen sich die an ihnen beteiligten vereinheitlichenden Organisationsstrukturen und haben, obwohl sie mit Hilfe der gängigen (bisher) linken, vereinheitlichenden Denkstrukturen und Kategorien kaum in ihrer politischen Relevanz erfaßt werden können, inzwischen doch einige Veränderungen bewirkt. Im Denken und Handeln vieler Menschen sind Veränderungen ablesbar: Angefangen bei veränderten Wertvorstellungen bezüglich der Geschlechterrollen, bezüglich des Leistungs- und Karrieredenkens, des Verhaltens ihren Kindern gegenüber über Versuche, Selbsthilfegruppen zu organisieren, bis hin zur Gründung von Bürgerinitiativen und zur Politisierung breiterer Schichten im Widerstand gegen die Aufrüstungspolitik der großen Parteien. Diese Veränderungen sind jedoch weder zentral organisiert noch sind sie von einer einheitlichen Zielvorstellung getragen. Gemeinsam bezüglich ihrer Mittel und Ziele scheint diesen Bewegungen nur zu sein, daß sie außerhalb der etablierten Organisationen angesiedelt sind, daß Individuen “eigeninitiativ an der Basis” tätig werden und daß bei ihnen ein Mißtrauen gegen staatliche Politik und deren Repräsentanten spürbar ist (“Staatsverdrossenheit”). Auch die Sozialdemokraten mit ihren sozialstaatlichen und auf wirtschaftlich-technischen Fortschritt bauenden Volksbeglückungsansprüchen sind von diesem Mißtrauen nicht ausgeschlossen.

In den neuen sozialen Bewegungen, vornehmlich innerhalb der Ökologiebewegung, tauchen, zwar wenig konkret und ohne verbindende Idee, Zielvorstellungen wie Selbstverwaltung und ökonomische, politische und technologische Dezentralisation auf — also Vorstellungen, die entsprechend den vielfältigen Artikulations- und Politikformen dieser Bewegungen auch gesellschaftliche Vielfalt als allgemeines Ziel anstreben.

Nicht mehr oder weniger zusammenhanglose Einzelforderungen, wie innerhalb der neuen sozialen Bewegungen, sondern etwas kohärenter und auch teilweise mit Ansätzen einer Transformationsstrategie verbunden, sind im Anarchismus diese Forderungen nach Dezentralisation, nach Selbstverwaltung und organisatorischer Vielfalt zentrale Bestandteile, welche auf dem Ideal der Herrschaftslosigkeit beruhen. Die Perspektive oder Utopie im Anarchismus ist eine von ökonomischer, staatlicher und sonstiger zwischenmenschlicher (sozialer) Herrschaft freien Gesellschaft. Im politischen Bereich sollen staatliche Institutionen bzw. Funktionen zugunsten von Formen direkter Selbstverwaltung auf der Ebene von Gemeinden und Föderationen der Gemeinden abgebaut werden; im ökonomischen Bereich soll Ausbeutung und Fremdbestimmung durch verschiedenste gleichermaßen anti-kapitalistische und anti-staatssozialistische Organisationsformen der Produktion (z. B. Genossenschaften) abgeschafft werden; bezüglich des sozialen Bereiches stimmen die Anarchisten weitgehend überein, daß die Herrschaft des Mannes über die Frau, Herrschaft der sexuellen, religiösen, ethnischen etc. Mehrheiten über die Minderheiten beseitigt werden muß; kurz: Herrschaftsstrukturen sollen durch eine Neustrukturierung der Gesellschaft überflüssig werden.

Viele Forderungen der neuen sozialen Bewegungen sind identisch mit Konsequenzen, welche Anarchisten aus ihrem Gesellschaftsideal zogen. So lassen sich Programmpunkte der neuen sozialen Bewegungen wie Dezentralisierung, Emanzipation der Frau und des Kindes, Anpassung der Menschen an ökologische Systeme, Abbau von entfremdender Arbeitsteilung, Verhinderung eines “Computerstaates” u. a. durchaus mit einer anarchistischen Perspektive verbinden, bzw. in diesen theoretischen und normativen Zusammenhängen neu formulieren. Anarchistische Theorien können umgekehrt nicht ohne aktualisierende Ergänzungen, ohne eine kritische Aufarbeitung und sicher auch Verwerfung einiger Elemente nicht als Perspektive für ein freiheitliches und ökologisches Gesellschaftskonzept dienen. Doch im Gegensatz zu den unangemessenen staatssozialistischen Konzepten und dem daraus resultierenden, bereits dargelegten Theoriedefizit könnten einerseits das anarchistische Ideal der Herrschaftslosigkeit als gesellschaftliches Fernziel und andererseits einige anarchistische Theoreme als programmatische Eckpfeiler eines freiheitlichen und ökologischen Gesellschaftskonzepts im Sinne des notwendigen Paradigmenwechsels eine wesentliche Rolle spielen. So versucht dieses Buch aufzuzeigen, daß durch eine Wiederaneignung “konstruktiver” anarchistischer Theorieelemente ökologisch und sozialistisch orientierte Gesellschaftsperspektiven zu gewinnen sind. Die in dieser Absicht durchgeführte Aufarbeitung anarchistischer Positionen intendiert u. a. folgendes:

— eine (allerdings vorwiegend implizite) Kritik an Theorien und Strategien der “etablierten Linken”

— den Nachweis, daß einige gegenwärtige Tendenzen und Forderungen unwissentlich anarchistischen Zielsetzungen entsprechen oder sich zumindest mit ihnen verbinden (Ökologie), teilweise aber auch am treffendsten auf den Begriff bringen lassen

— eine Kritik von Tendenzen innerhalb des Anarchismus, die sich “alternativlos” auf die einfache Negation beschränken oder Konzeptionen Vorschlägen, die keine Alternative zum gegenwärtigen kapitalistisch strukturierten Gesellschaftssystem erkennen lassen

— schließlich eine inhaltliche Darlegung dessen, was sich aus der kritischen Durchsicht der verschiedenen Theorien und Theoreme im Sinne einer freiheitlichen alternativ-sozialistischen konkreten Utopie herauskristallisiert: ich werde dies “Konstruktiven Anarchismus” nennen.

Es bedarf einiger einleitender Vorbemerkungen. Zunächst: Anarchismus ist weder identisch mit Chaos und Unordnung noch mit Terror. Derartige Diffamierungen, die in Presse und Funk und selbst innerhalb politikwissenschaftlicher Publikationen keine Seltenheit sind, werden verbreitet, solange der Anarchismus als politische Theorie und als Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung existiert. Sie scheinen aus dem Interesse sowohl “rechter” konservativ-bürgerlicher als auch “linker” staatssozialistischer oder marxistischer Kreise zu resultieren, das anarchistische Ideal von “Gesetz und Freiheit”, ohne Gewalt (Kant) als politisches Ideal unwirksam zu machen. Im Gegensatz zu diesen “Rechten” und “Linken” wollen die Anarchisten weder die Herrschaft einer Klasse erhalten, noch durch die Eroberung des Staates die Herrschaft der einen Klasse durch die einer anderen ersetzen, wie die Staatssozialisten, sondern lehnen jede Herrschaft ab. Die Diffamierung des Anarchismus als Terrorismus kommt somit den “Rechten” wie auch den staatssozialistischen “Linken” entgegen, da so der kritischen Infragestellung der Legitimität der eigenen Herrschaftsansprüche ausgewichen werden kann. Allerdings wäre es falsch, den Anarchismus gänzlich von dem gängigen Vorwurf der Identifizierung mit dem Terrorismus freisprechen zu wollen. Es gab Anarchisten wie John Most, die zeitweise zu Terrorakten aufriefen, da sie sich davon eine positive Propagandawirkung versprachen oder darin sogar mögliche Initialzündungen für Revolutionen sahen. Andere Anarchisten wie Kropotkin distanzierten sich zu spät oder gar nicht vom Terror im Namen der Anarchie. Gegen diese oft ausschließlich wahrgenommene terroristische Tendenz einiger Anarchisten und gegen anarchistische Tendenzen, die sich unter Verzicht auf konkrete Utopien und Transformationskonzepte auf die einfache Negation des Staates beschränken, werde ich die bisher von der politischen Wissenschaft weitgehend unberücksichtigten konstruktiven Aspekte des Anarchismus in das Zentrum meiner Darlegungen rücken. Wie an der Frage des Terrorismus bereits angedeutet, stellt der Anarchismus keine einheitliche und systematische Theorie dar, wie etwa der Marxismus. Man kommt dem Anarchismus am nächsten, wenn man ihn als ein Ideenkonglomerat versteht, dem das Ideal der Herrschaftslosigkeit eine gemeinsame Basis gibt. Die Heterogenität im Anarchismus und auch im Denken einzelner Anarchisten bot und bietet den Gegnern des Anarchismus zwar Gelegenheit, Anarchismus pauschal als theoriefeindlich, widersprüchlich oder sogar irrational zu kritisieren und abzulehnen. Diese undifferenzierte Pauschalkritik zeugt aber von einer Verabsolutierung des eigenen systemorientierten Ansatzes oder auch von schlichter Unkenntnis. Denn was den Anarchisten hier zum Vorwurf gemacht wird, ist die Konsequenz aus ihrer Skepsis gegenüber theoretischen Gesamtentwürfen und die Konsequenz aus der Ablehnung der Systemphilosophien Hegels und Marx’. Diese Skepsis veranlaßte Proudhon schon 1846, Marx’ Angebot einer Zusammenarbeit mit einer für Marx unakzeptablen Bedingung zu verbinden:

“... aber, bei Gott, nachdem wir alle Dogmatismen zerstört haben, denken wir nicht unsererseits daran, das Volk einer Doktrin zu unterwerfen ... posieren wir nicht als Apostel einer neuen Religion ... sehen wir nie eine Frage als erschöpft an, und wenn wir unser letztes Argument gebraucht haben, fangen wir, wenn es nötig ist, wieder an ... Unter diesen Bedingungen trete ich mit Vergnügen in Ihre Assoziation ein; wenn nicht, nicht ...” [1]

Die angebotene Zusammenarbeit in der Gründung einer gemeinsamen Zeitschrift und eines Kooperationsbüros kam nicht zustande. Aufgrund eines speziellen Begriffs von “Leben” verwarfen neben Proudhon auch andere Anarchisten Theoriesysteme mit Absolutheitsansprüchen. Die Vielschichtigkeit und ständige Veränderung “des Lebens” mache eine ständige Korrektur der Theorie notwendig. Diese Skepsis gegenüber Theoriesystemen prägt auch die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen sowie die geschichtsphilosophischen Positionen einiger Anarchisten. Doch kritische Einwände gegen Ungenauigkeit und begriffliche Unschärfe bei Anarchisten wie Bakunin, Proudhon und andere sind nicht völlig unberechtigt.

In der Konkretisierung dessen, was unter Anarchie im einzelnen zu verstehen sei und wie eine anarchistische Gesellschaftsordnung aussehen solle, unterscheiden sich Anarchisten z. T. erheblich voneinander. So sprechen sich Individualanarchisten und kommunistische Anarchisten gegenseitig die Berechtigung ab, sich Anarchisten zu nennen; dies deshalb, weil Individualanarchisten (u. a. Tucker, Mackay) bei Abschaffung des Boden-, Zins- und Geldmonopols für Eigentum, Warentausch und Konkurrenz plädieren und diesbezügliche Einschränkungen als Verletzung der individuellen Freiheit verstehen, während die kommunistischen Anarchisten (u. a. Kropotkin, Most) gerade in dieser auf Eigentum, Konkurrenz und “egoistischer” Interessenvertretung beruhenden Gesellschaftsvorstellungen das Hauptübel sehen, was durch solidarisches Leben und Arbeiten in kommunistischen und untereinander assoziierten Gemeinschaften beseitigt werden müsse. Zwischen diesen Extremen stehen anarchistische Varianten, die ihre Schwerpunkte haben im Föderalismus (z.B. Proudhon), in Rätekonzeptionen (z.B. Mühsam), in Produktions-, Konsum- und Vollgenossenschaften (z.B. Proudhon, Landauer), in anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften (z.B. Malatesta, Rocker, Most), im Pazifismus (z.B. Tolstoi) u. a. m. Die verschiedenen Formen des Anarchismus — so betonen die m. E. konsequentesten Anarchisten — sollten jedoch nicht als sich gegenseitig ausschließende Organisationsfaktoren verstanden werden, sondern vielmehr als persönliche Vorschläge einzelner Anarchisten; in der vollendeten Anarchie könnte sich also eine Vielfalt von unterschiedlichen selbstbestimmten Lebensformen nebeneinander entwickeln.

Damit wird auch deutlich, daß sich Marxismus und Anarchismus nicht nur in den Transformationskonzepten unterscheiden, sondern auch in den Zielen.

Daß der Anarchismus als sozialistische Tradition verschüttet wurde und blieb, hat mehrere Gründe. Der neben der allzu häufigen Identifizierung von Anarchismus und Terrorismus wichtigste scheint mir der zu sein, daß Anarchisten im Gegensatz zu den politisch weniger bedeutsamen Frühsozialisten nicht das zweifelhafte Glück hatten, in der Ahnenreihe des “wissenschaftlichen Sozialismus” Aufnahme zu finden – und das nicht nur deshalb, weil sie zeitlich parallel zum marxistischen Sozialismus auftraten, sondern überwiegend deshalb, weil sie den wissenschaftlichen Einheitssozialisten Konkurrenz waren und dies auch blieben, nachdem sie über Intrigen und übelste Verleumdungen, deren Urheber vor allem auch Marx war, aus der 1. Internationale ausgeschlossen wurden. In den west- und mitteleuropäischen Staaten unterlagen die Anarchisten den staatssozialistisch orientierten Arbeiterparteien und den mit ihnen verflochtenen Gewerkschaften einmal deshalb, weil der Erfolg dieser autoritär-hierarchischen Organisationen in einer sich zentralisierenden Großindustrie und innerhalb zentralistischer Nationalstaaten die Arbeiter überzeugten, zumal sie nicht, wie in Spanien, auf eine dörflich-landwirtschaftliche Genossenschaftstradition zurückblicken konnten; zum anderen, weil die terroristischen Aktivitäten im Anarchismus Ausgrenzungen erlaubten. Die Vorwürfe des Revolutionismus, Utopismus, Romantizismus sowie der Vorwurf, der Anarchismus gehöre der vergangenen Epoche der Bauern und Handwerker an, trugen ebenfalls zur politischen Unwirksamkeit bei.

Anarchistische Tendenzen und Organisationen in der Münchener Räterepublik, in Spanien, in der Ukraine, in Kronstadt u. a. winden entweder von der bürgerlichen und faschistischen Reaktion oder von den autoritär-reaktionären Kräften des “wissenschaftlichen Sozialismus” gewaltsam beseitigt.

Nach der theoretischen Ausgrenzung des Anarchismus und der anschließenden auch praktischen Umsetzung dieser Ausgrenzung durch die Marxisten-Leninisten in der Unterdrückung anarchistischer Selbstorganisation und der Liquidierung Tausender von Anarchisten im Anschluß an die Oktoberrevolution und nach dem Sieg des Faschismus in Spanien, geriet der Anarchismus in Vergessenheit, auch weil die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung deren anarchistische Elemente weitgehend außer Acht ließ — dies vermutlich deshalb, weil sich westliche Historiker auf die erfolgreichen Staatssozialisten und die hierarchisch organisierten Gesellschaften konzentrierten, und weil die Historiker in den Staaten des “Realsozialismus” weisungsgemäß die staatlich verordnete Geschichtsklitterung durchführten und dem Anarchismus nur Aufmerksamkeit widmeten als “Kinderkrankheit des Kommunismus” (Lenin), als kleinbürgerliche Opposition, oder, bezüglich der Machnobewegung, als Kulakentum. Für die westlichen Historiker mit Sympathien für die dominierenden Staatssozialisten mögen bei der Vernachlässigung des Anarchismus neben dem Problem schwer zugänglicher Quellen auch Legitimationsbedürfnisse eine Rolle spielen.

Mir scheint, daß die äußerst geringe Zurkenntnisnahme der anarchistischen Praxis und die fast vollständig fehlende Auseinandersetzung mit anarchistischer Theorie in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung Lücken hinterließ, die für das heutige Theoriedefizit im Bereich der neuen sozialen Bewegungen bzw. bei der Erarbeitung eines alternativen Sozialismuskonzeptes wesentlich verantwortlich sind. Die wenigen Versuche von Gesellschaftswissenschaftlern, den Anarchismus “zugänglich” zu machen, scheiterten häufig daran, daß das assoziative, eher literarische, sich oft weder um Systematik und Methodik kümmernde Denken der Anarchisten den eigenen “wissenschaftlichen” Denkgewohnheiten zuwiderläuft. So ist etwa der Anarchismus im herkömmlichen Links-Rechts-Schema nicht unterzubringen.

 

FREIHEIT UND INDIVIDUALITÄT

Eroberst du den Staat, so hast du ihn, und er hat dich, und du bist gewesen.
Döblin

Nur eine vollstrukturierte Gesellschaft wird das Erbe des Staates antreten können.
Buber

Max Weber, ein Zeitgenosse des Anarchisten Landauer und alles andere als ein Anarchist, glaubt in der Geschichte einen “Jahrtausende dauernden”, ständig fortschreitenden Prozeß der Intellektualisierung und Rationalisierung erkennen zu können, welcher eine “Entzauberung der Welt” von unbekannten Mächten und äußeren Sinngebungen bewirkt habe und sich neben Technik und Wissenschaft am folgenschwersten in der Ausweitung der Zweckrationalität moderner Bürokratien niederschlage. Dieser Rationalisierungsprozeß in der Form einer “unaufhaltsamen” Tendenz der Bürokratisierung sämtlicher Lebensbereiche führe zu einer Pervertierung der bürokratischen Mittel zum Selbstzweck und damit zu “Entfremdung” und menschenunwürdiger Entindividualisierung. Dies habe — so befürchtet Weber — einen Menschentypus zur Folge, welcher sich vollständig der bürokratischen Lebensform und Ordnung anpasse und “nervös” und “hilflos” werde, wenn die bürokratische Ordnung wanke. Dieser “Maschinerie” gelte es entgegenzutreten, um einen “Rest von Menschentum” vor der “Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale” zu retten.

Max Weber wird hier deshalb zitiert, da zwischen Anarchisten und Max Weber weitgehende Ähnlichkeiten bestehen in der Befürchtung der fortschreitenden Einengung des persönlichen Freiraums der Individuen, einer Ausschaltung von Eigeninitiave und einer Vereinheitlichung vielfältiger Lebensformen durch zunehmende Hierarchisierung und Zentralisierung aller Lebensbereiche durch den Staat. Was in der Weberschen Bürokratietheorie als Resultat einer umfassenden Analyse differenziert und in sozialwissenschaftlich exakter Begrifflichkeit formuliert wird, dem gilt unter dem Sammelbegriff “Staat” der Kampf der Anarchisten. Doch während Weber um die “Politikfähigkeit” eines von der Bürokratie dominierten Staates fürchtet, lehnen Anarchisten unter Verzicht auf diese Webersche Differenzierung Staat und (“Staats-”)Politik generell ab, da hierdurch — in der Befürchtung wieder in Übereinstimmung mit Weber — Gesellschaft und persönliche Freiräume verstaatlicht, d. h. herrschaftlich, starr und vereinheitlichend strukturiert würden. Doch innerhalb der anarchistischen Staatskritik bestehen in Motiven und Konsequenzen erhebliche Unterschiede in der Akzentuierung. So werden etwa beim Rätekommunisten und Anarchisten Mühsam die reduktionistischen Momente marxistischen Denkens bestimmend, wenn er Staat als Instrument des Kapitals begreift und im Staat den “einzigen Zweck” sieht, den Kapitalismus zu stützen, oder wenn er die Befreiung der Gesellschaft vornehmlich als Klassenkampf faßt.

Nach Auffassung der Individualanarchisten Tucker und Mackay stehen einer anarchistischen Gesellschaftsordnung primär das staatliche Geld-, Zins- und Bodenmonopol entgegen. Herrschaft hat bei Mackay und Tucker und bei Mühsam also nicht eine Vielzahl von Ursachen, sondern nur eine Hauptursache: bei Mackay und Tucker sind es die Staatsmonopole, bei Mühsam ist es der Kapitalismus. Landauer vermeidet demgegenüber derlei Reduktionen von Herrschaft auf eine Hauptursache. Landauer kennzeichnet den Staat als eine Zwangsanstalt, die — mangels verbindenden “Geistes” — die “natürlichen” und “gewachsenen” Bindungen der Menschen untereinander — “Volk” genannt — ersetze durch die Willkür einer vereinheitlichenden künstlichen Großorganisation, die “Nation” genannt würde. An die Stelle von “Schichtung”, von “geistvoller” zwischenmenschlicher Beziehung im “Volk”, von Brauchtum und “gewachsenen”, auf Gegenseitigkeit beruhenden Institutionen trete der “geistlose” Staat, der durch Zentralisierung und Hierarchisierung die zuvor dezentral und partnerschaftlich funktionierenden Gesellschaftsorganisationen verdränge — oder, wie Buber im Anschluß an Landauer sagt: staatliche Herrschaft tritt an die Stelle eines strukturierten Gesellschaftsorganismus. In diesem Sinne unterscheidet Landauer Gesellschaft und Staat, Geist und Geistlosigkeit:

“Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes.” [2]

Individualismus, verstanden als Abgrenzung des Einzelnen gegenüber der (staatlich organisierten) Gesellschaft, könne, so Landauer, nur in Zeiten staatlicher, d. h. geistloser und autoritärer Organisationsformen auftreten, da nur in einer solchen ungeschichteten Gesellschaft sich soziale Organisationen gegen die individuellen Freiheitsbedürfnisse richten könnten. In “geschichteten”, “geistigen” Gesellschaften seien dagegen die Beziehungen des Individuums zu seinen Institutionen und zu seinen Mitmenschen nicht als Gegeneinander zu denken, sondern als Miteinander. Dementsprechend sieht Landauer in der menschlichen Sozialität nicht den Ausgleich des Mangels, nicht alleine überleben zu können. Vielmehr versteht Landauer die menschliche Sozialität positiv als gegenseitige Bereicherung der Individuen. Dieses positive Verständnis von menschlicher Sozialität weist wieder zurück auf den Gesellschaftsbegriff Landauers und auf dessen Staatsablehnung. Denn Staat, oder besser: eine politische Theorie, welche staatliche Organisationsstrukturen für notwendig hält, basiert auf der Voraussetzung, daß sich Menschen nur aus dem (negativen) Grund zusammenschlössen, um ihr Überleben gegen widrige Naturzustände zu sichern, und daß es einer herrschaftlichen Regulierung dieser Überlebensnotwendigkeit bedürfe. Das Denken Hobbes’, Hegels, Rousseaus wäre diesem Typus politischer Theorie zuzuordnen.

Landauer, und mit ihm sozialistisch oder kommunistisch orientierte Anarchisten verstehen die Sozialität des Menschen nicht negativ als Ausgleich eines Mangels, sondern positiv: Eine intakte Gesellschaftlichkeit ist potentiell vorhanden, es bedarf lediglich des Abbaus von Hindernissen. Die “Staatsdenker” gehen von der gegenteiligen Annahme aus, daß eine intakte Gesellschaft erst (miteinander gegen die Interessen der Individuen) hergestellt werden muß. Diese auf unterschiedlichen anthropologischen Grundannahmen basierende gegensätzliche Akzentuierung läßt den “Staatsdenkern” Herrschaft und Staat als Notwendigkeit erscheinen, während sozialistische und kommunistische Anarchisten im Staat die Ursache für nicht funktionierende Gesellschaftlichkeit sehen.

Dieses positive Verständnis der menschlichen Sozialität, das bei Proudhon im “Mutualismus”, bei Kropotkin in “Gegenseitiger Hilfe” und bei Landauer im “Gemeinschaftsgeist” begrifflich gefaßt wird, gewinnt bei den Individualanarchisten keine konstitutive Bedeutung. Das scheint dadurch verursacht zu sein, daß sie ihr Verständnis von Freiheit und Individualität vornehmlich aus der Kritik an staatlicher, religiöser oder ideologischer Herrschaft über die Einzelnen gewinnen. Die Forderung nach individueller Freiheit ist von dieser Negation geprägt. So liegt es nahe, auch die Sozialität des Menschen negativ als Überlebensnotwendigkeit zu verstehen. Zwischenmenschlichkeit denken die Individualanarchisten in Fortführung des Individualitätsprinzips, d. h. — wie später ausgeführt wird — auf der Basis “egoistischer” Interessenvertretung.

Trotz dieser gravierenden Differenzen in ihrem Verständnis von Sozialität und Individualität bestreiten Anarchisten aller Strömungen aufgrund ihres Freiheitsbegriffs die Richtigkeit der zuvor zitierten Befürchtung Max Webers, daß die Möglichkeit bestände, daß auch der “Rest von Menschentum” den staatlich-“bürokratischen Lebensidealen” und der bürokratischen Lebensführung zum Opfer fallen würde. Ebensowenig könnten Anarchisten übereinstimmen mit Marcuses Diagnose der “Eindimensionalität” des Menschen, oder mit der neomarxistischen These, daß die aus kapitalistischen Produktionsverhältnissen resultierende Entfremdung den Menschen vollständig determiniere. Anarchisten verneinen die Möglichkeit einer Totalmanipulation des Individuums, gleichgültig, ob sie nun als ökonomisch verursachte, bürokratische oder staatliche gedacht wird. Obwohl Anarchisten nicht die direkten oder über Ideologien vermittelten Einflüsse auf das Bewußtsein unterschätzen, behaupten sie doch eine letztlich unzerstörbare Freiheit des Willens, der Erkenntnis und der Setzung von Idealen. Und nur auf diesem Hintergrund ist das Diktum Landauers verständlich:

“Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen.” [3]

Auf der Basis einer so verstandenen menschlichen Freiheitsmöglichkeit, welche dem Existenzialismus zweifellos nähersteht als herkömmliche Sozialismusvorstellungen, gewinnt der normative Aspekt, wie er bei einigen Anarchisten in Schriften zur Moral und in utopischen Beschreibungen zum Ausdruck kommt, eine zentrale Bedeutung. Diese Verbindung vom anarchistischen Freiheitsbegriff und der Annahme der gesellschaftsverändemden Relevanz des Normativen macht die anarchistische Herrschafts- und Ideologiekritik verständlich (besonders bei Stirner, Bakunin, Kropotkin, Tolstoi und Landauer) und ebenso die Abweisung deterministischer Geschichtsdeutungen. Im Anschluß an die Tradition der Aufklärung schreiben Anarchisten dem Menschen eine Erkenntnismöglichkeit, d. h. eine Freiheit zur Erkenntnis zu, verstanden als menschliches Vermögen, “sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen”. Doch im Gegensatz zur Aufklärung, besonders zu Kant, halten Anarchisten die moralischen Normen und die Formen der Freiheit nicht für aus der Vernunft ableitbar. Folgt man den grundlegenden Annahmen einiger Anarchisten, so ist Anarchie nicht Einsicht in Vernunftnotwendigkeiten, sondern eine frei zu setzende Norm, oder, um mit Landauer zu sprechen, ein Ideal, nach dem “eine neue Wirklichkeit zu schaffen” sei. Hier scheint der Anarchismus dem Existenzialismus näher verwandt als der Aufklärung.

Die praktischen Folgerungen aus dem anarchistischen Freiheitsbegriff entsprechen allerdings nicht immer den weiterführenden Theorien. So versuchen z. B. Kropotkin und Bakunin, entgegen diesen Grundannahmen, den Anarchismus “wissenschaftlich” als geschichtliche Notwendigkeit zu beweisen. Und Bakunin, Mackay, Tucker u. a. verbrämen den Anarchismus positivistisch, indem sie Anarchie aus Tatsachen herzuleiten vorgeben, um so den Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben — gegen den “wissenschaftlichen Sozialismus”. Aufgrund des zuvor angedeuteten gemeinsamen Freiheitsbegriffs verbindet die verschiedenen Strömungen im Anarchismus die Auffassung, daß die einzelnen Menschen selbst für gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich seien. Das Problem der Herrschaft erledige sich nicht durch Abwarten und Vertrauen auf imaginäre Geschichtsgesetze, sondern durch Taten, sei es in revolutionären Volkserhebungen und Revolten, oder auch in der Form, daß Menschen innerhalb des “alten” staatlichen Gesellschaftssystems “neue” herrschaftsfreie Lebens- und Arbeitsformen zu praktizieren beginnen. So empfiehlt etwa der italienische Anarchist und Syndikalist Malatesta, “in Beziehungen freiwilliger und freier Gemeinschaft zu leben”, miteinander vernetzte Gruppen, Produktionskollektive und ländliche Genossenschaften zu bilden und in die herrschaftsfreie Lebensweise größere Teile der Bevölkerung einzubeziehen. An eine Kombination von beidem, von revolutionärer Veränderung und von exemplarischem “neuem Leben” in der alten Gesellschaft denken Malatesta und der amerikanische Ökologe und Anarchist Bookchin. Bookchin versteht das heutige “Aussteigen” und die Gründung ländlicher Kommunen als gleichzeitiges “Einsteigen” in neue Lebensformen “innerhalb der Eingeweide des Kapitalismus”. Doch während Malatesta und Bookchin dieses “Einsteigen” primär als Vorbereitung einer mittels politischer Revolution herbeizuführenden neuen Gesellschaft verstehen, als Mittel zum Zweck eines plötzlichen Umsturzes des gesamten Gesellschaftssystems, sehen Proudhon, Landauer, Rocker u. a. im revolutionären Umsturz der Gesamtgesellschaft nicht eine Vorbedingung der neuen Ordnung. Vielmehr warnen sie vor den Gefahren der Revolution, vor mangelhafter Vorbereitung des Bewußtseins der Menschen, vor den Risiken einer Zusammenballung der Macht in den Händen weniger und vor fehlenden strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen der neuen Gesellschaft. Angesichts dieser Gefahren plädieren einige Anarchisten für eine kontinuierliche Umwälzung der staatlich strukturierten Gesellschaft, indem einzelne Menschen und Menschengruppen “aus dem Kapitalismus austreten” und “eintreten” in herrschaftsfreie sozialistische Produktions-, Tausch- und Lebensformen. Landauer, Proudhon, Rocker u. a. sehen in einem solchen “ungeduldigen” Beginnen mit der neuen Gesellschaft eine Alternative zur Revolution und gleichzeitig die Chance, nicht nur eine Herrschaftsform durch eine andere zu ersetzen, sondern über Bewußtseins- und Verhaltensänderung in einer Neuorganisation von Leben und Arbeit längerfristig aber dauerhaft auf Herrschaft beruhende staatliche Gesellschaftsstrukturen durch eine Neustrukturierung der Gesellschaft zu ersetzen. In diesem Sinne ruft Landauer zur Gründung von Siedlungsgenossenschaften auf:

“Wir wollen nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten; wir wollen sozialistische Gehöfte, sozialistische Dörfer gründen; wir wolien Land- und Industriearbeit verringern; wir wollen ... bald auf unserem neuen, dem sozialen Markte tauschen und den kapitalistischen vermeiden.”[4]

Die Gründung von miteinander vernetzten sozialistischen Siedlungen bei Landauer, die Organisation auf Gegenseitigkeit basierender Banken bei Proudhon, die am Ziel der Betriebsübernahme orientierten syndikalistischen Gewerkschaften — all diese im Rahmen des Anarchismus formulierten und teilweise realisierten Alternativen zu zentralen und herrschaftlichen Organisationsformen haben eine doppelte Funktion: Einmal sollen sie allmählich “von unten” her neue soziale Strukturen aufbauen oder, soweit solche noch rudimentär vorhanden sind, wiederbeleben; zum anderen soll damit den etablierten politischen, ökonomischen und staatlichen Institutionen “Konkurrenz” gemacht werden, und zwar mit dem Ziel, allmählich die alte Gesellschaft durch die neue zu ersetzen und, wie Proudhon sagt, “den Staat in die Gesellschaft zu absorbieren”. Proudhon versuchte, diese Konkurrenz zum Kapitalismus zu organisieren, indem er Tauschbanken gründete, in denen direkt, also ohne Zwischenhandel, die Produzenten den Warentausch ab wickeln, ihre Produktion planen und sich Kredite auf der Berechnungsbasis verausgabter Arbeitszeit gewähren sollen. Ähnliches versuchten die amerikanischen Anarchisten Warren und Spooner. Auch sie organisierten unter Umgehung von Geld und Markt einen den Zwischenhandel boykottierenden Warentausch.

Proudhon griff das Zins- und Geldmonopol des Staates an, ebenso die Zentralisierung des Bodenbesitzes in den Händen weniger und entwickelte Konzeptionen, wie langfristig Häuser, Boden und der Besitz an industriellen Produktionsmitteln gegen Entschädigung in Form von unverzinslichen Arbeitszeitbescheinigungen enteignet werden könnten, um sie den jeweiligen Benutzern zur Verfügung zu stellen. Derartige Konzepte eines konstruktiven Herrschaftsabbaus stießen auf massive Kritik von Marx, Engels und Epigonen. Diese warfen den Anarchisten vor, sie huldigten einem “kleinbürgerlichen Besitzindividualismus”, sie seien “Voluntaristen” und verkennten in ihren Transformationsstrategien die “objektiven Bedingungen”; Anarchisten wie Bakunin, Most u. a. verwarfen mit ähnlichen Vorbehalten wie die Marxisten reformistische Konzepte, konzentrierten sich praktisch und theoretisch auf die Destruktion der alten Gesellschaft und vertrauten in der Konstruktion der neuen Gesellschaft ebenso wie in der Durchführung der Revolution auf die Spontaneität der Massen und die individuelle Eigeninitiative. In Berufung auf das Ideal der Herrschaftslosigkeit und absoluten Freiwilligkeit und im Vertrauen auf eine plötzliche Bewußtseinsänderung aller Menschen verwarfen sie Übergangsstrategien, besonders solche, die langfristig und nicht auf revolutionären Wegen anarchistische Lebens- und Arbeitsformen realisieren wollten. John Most, ein Befürworter von individuellen Terrorakten und ein Vertreter der “Totalrevolution”:

“Wir brauchen nicht einmal zu reden von späteren Generationen. Selbst jene Menschen, welche auf dem Boden der heutigen Gesellschaft aufgewachsen sind, werden nach vollzogener Umgestaltung der sozialen Verhältnisse wie umgewandelt sein.... Mit der Institution des Privateigentums stehen und fallen alle jene schlechten Eigenschaften des Menschen, welche ihn heute verunzieren.”[5]

Ein solches Vertrauen auf die Revolution in Verbindung mit einer radikalen und zu keinem Kompromiß bereiten Ablehnung der herrschenden Gesellschaftssysteme steigerte die Revolutionshoffnung bei Anarchisten wie Most und Bakunin derart, daß sie sich von jeder Revolte den Beginn der großen Revolution versprachen und schließlich der unausbleiblichen Resignation mit umso radikaleren und gewaltsameren Forderungen zu begegnen versuchten. So stellt sich Bakunin, der seinen eigenen Gewalt- und Konspirationsphantasien in der Gestalt des russischen Terroristen Netschajew aufsaß, vor, daß eine sich aufopfernde Elite von Revolutionären unter Aufbietung gewaltsamster Mittel die Revolution initiieren könne. Most hingegen sah noch in den übelsten Mordtaten, solange sie vor Gericht mit dem Anarchismus gerechtfertigt wurden, revolutionäre Handlungen, die die Massen mobilisieren können. Anarchisten, die ihre Vorstellungen in syndikalistischen Gewerkschaften zu realisieren oder, bei Verzicht auf revolutionären Umsturz, durch neue Organisationsformen die alte Gesellschaft zu ändern beabsichtigten, wurden entschieden abgelehnt, da nach seiner Auffassung jede Form von Kompromiß Verrat an der Idee der Anarchie bedeute.

Ein “Konstruktiver Anarchismus” mit konkreten Utopien und konstruktiven Transformationskonzepten ließe sich nun keinesfalls vereinbaren mit einer derartigen Fixierung auf eine einmalige und alles entscheidende Revolution — und zwar einmal abgesehen von der politischen Wirkungslosigkeit von bloßer Hoffnung und politischer Abstinenz um der Reinheit der Idee willen, deshalb nicht,

1. weil mit einer plötzlichen revolutionären Zerschlagung von Staat und Kapitalismus noch keine grundlegende Neustrukturierung der Gesellschaft erreicht ist und demzufolge die revolutionäre Herrschaft die Neuorganisation gestalten oder schützen muß; dies wäre kaum durchführbar im Einklang mit dem Ideal der Herrschaftslosigkeit und Selbstbestimmung; zudem bestünde die Gefahr der Verfestigung der neuen Herrschaft;

2. weil revolutionäre Umstürze mit gewaltsamem Widerstand rechnen müssen und diesen Widerständen der alten Ordnung nur mit Mitteln der alten Ordnung zu begegnen wäre: mit einer bewaffneten revolutionären Organisation; auch deshalb bestünde also die Gefahr, daß eine Herrschaft durch eine andere ersetzt wird und daß alte Organisationsformen die angestrebten neuen prägen und so keine qualitativ neue gesellschaftliche Struktur sich entwickeln lassen werde;

3. weil Bewußtseinsstrukturen sich nun einmal nicht schlagartig ändern.

Der “Konstruktive Anarchismus” und der auf revolutionären Umsturz des staatlich-kapitalistischen Systems setzende Anarchismus Bakunins, Mosts u. a. haben einen Freiheitsbegriff miteinander gemein, der Gesellschaftsveränderung und Revolution versteht als Resultat menschlichen Willens und nicht von Geschichtsgesetzen. Dies trug beiden anarchistischen Varianten den Vorwurf des “Voluntarismus”, “Utopismus“, den “destruktiven” Anarchisten zusätzlich den Vorwurf des “Revolutionismus” und der Revolutionsromantik ein.

Die Kritik des “Voluntarismus” basiert bei Marxisten auf dem Dogma, daß der Geschichte eine “wissenschaftlich” erkennbare Gesetzmäßigkeit unterliege, gegenüber der Revolutionswille oder die mit konkreten Utopien intendierten Gesellschaftsveränderungen zur Ideologie würden, bzw. mit Hegel, zur Eitelkeit des Subjekts, das dem geschichtsmächtigen “Sein” ein “Sollen” entgegenstellt. Die Ablehnung der auf dem anarchistischen Freiheitsbegriff beruhenden Auffassung, daß Menschen nach ihren (Sollens-)Vorstellungen (Idealen) Geschichte machen, wird basierend auf dessen Geschichtsphilosophie bei Hegel, dem noch auf dem Kopf stehenden Marx, so begründet:

“Was allgemein gültig ist, ist auch allgemein geltend, was sein soll, ist in der Tat auch, und was nur sein soll, ohne zu sein, hat keine Wirklichkeit.” [6]

Bei Marx, dem bereits auf den Füßen stehenden Hegel, heißt es:

“Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll ... Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung ...” [7]

Die Verneinung der geschichtlichen und politischen Relevanz des “Sollens” korrespondiert, wie bereits angedeutet, mit der Verneinung der Willens-, Handlungs- und Erkenntnisfreiheit in ihrer gesellschaftsverändernden Bedeutung. Dieser Zusammenhang von Geschichtsdeterminismus und der Verneinung menschlicher Freiheit im oben genannten Sinne bestätigt sich, wenn die “wissenschaftlich” bewiesene Epochenfolge, das Basis-Überbau-Theorem, die Widerspiegelungstheorie und die “Naturdialektik” idealtypisch in Zusammenhang gestellt werden.

Anarchisten müssen den Hegel-Marxschen Geschichtsdeterminismus, den Neomarxismus und ebenso den Fatalismus Max Webers verwerfen, der die Tendenz der Entindividualisierung und Versachlichung des Menschen als unentrinnbares Schicksal versteht, welches in ein Seelen- und geistloses “Fachmenschentum” münde. In Ablehnung dieses Fatalismus erkennen Anarchisten gleichwohl die vereinheitlichenden und entindividualisierenden Tendenzen in der zunehmenden Verstaatlichung der Gesellschaft. Ähnlich wie Weber warnen auch sie vor der alles erstickenden Machtfülle eines Staates, der in seinen Händen sämtliche politischen und ökonomischen Entscheidungen zentralisiere. Bakunin etwa hält es in Berufung auf Proudhon für “die unheilvollste Kombination, die sich bilden könne”, wenn sich der “Sozialismus mit dem Absolutismus vereinigte”, wenn sich das Streben des Volkes nach ökonomischer Befreiung verbindet “mit der Diktatur und der Konzentrierung aller politischen und sozialen Gewalten im Staat.” [8]

Doch die Verstaatlichung der Gesellschaft könne — so Landauer — aufgrund der Freiheitsmöglichkeit des Menschen umgekehrt werden in eine Vergesellschaftung des Staates:

“Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.” [9]

Der Freiheitsbegriff der Anarchisten, für den das Axiom einer weder durch Produktionsverhältnisse und Staat noch durch Sozialisation und Erziehung zu beseitigenden Freiheit konstitutiv ist, impliziert neben dem handlungsmotivierenden Aspekt noch eine weitere schwerwiegende Konsequenz: Der Mensch ist selbst verantwortlich für jede Ausbeutung, Willkür und Unterdrückung, die er erleidet. Mit anderen Worten: Das Individuum ist letztlich selbst schuld, wenn es ihm schlecht geht. Dieser Gedanke uneingeschränkter Selbstverantwortlichkeit findet sich in radikalster Form bei Stirner und dessen Propagierung eines an keine Moral gebundenen Egoismus. Die Unterwerfung unter eine Moral bedeutet Verzicht auf Autonomie und somit Erleiden von Herrschaft. Dem Prinzip des Egoismus muß jedes Ideal, jede “Wahrheit”, unterstellt bleiben, selbst das Ideal der Herrschaftsfreiheit und der Grundsatz, die Freiheit des anderen zu akzeptieren:

“Alle Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb;... Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts!” [10]

Stirner kritisiert folgerichtig nicht das Ausüben von Herrschaft, sondern lediglich das Erleiden von Herrschaft. Eine auf egalitärer Herrschaftsverteilung basierende Anarchie denkt Stirner als “Verein von Egoisten”, welcher auf der Ebene von Interessenvertretungen in freien Vereinbarungen den politischen und ökonomischen Bereich regelt. Eine Herrschaftsfreiheit im Sinne egalitärer Verteilung von Herrschaft ist nur unter der Annahme der gleichen Stärke oder des gleichen Interesses aller an einer Verteilung von Herrschaftsmöglichkeiten denkbar. Beim Junghegelianer Stirner bleiben diese gesellschaftstheoretischen Elemente wenig ausgeführte Konsequenzen aus seiner Kritik an entfremdenden Herrschaftsideologien und stellen Ableitungen dar aus einer weitgespannten Abrechnung mit Christentum, Hegelianismus, Sozialismus, Liberalismus, Kommunismus und mit der Philosophie Feuerbachs. Stirner entwickelt keine zusammenhängende Gesellschaftstheorie.

Der Stirnerapologet und Anarchist Mackay erstellt aus diesen Stirnerschen Ansätzen in literarischer Form eine Gesellschaftstheorie. Mackay verkennt aber Intention und Radikalität Stirners, indem er bei Beibehaltung des Prinzips Egoismus die “Gleiche Freiheit Aller” zum Ideal erhebt und unter Rückgriff auf Proudhon auf den ökonomischen Bereich überträgt. Mackays Hauptangriffspunkt an staatlicher Herrschaft — dem herrschaftlich organisierten ökonomischen Bereich widmet er keine Aufmerksamkeit, da es sich dabei lediglich um Folgeprobleme staatlicher Herrschaft handele — ist der, daß der Bürger vom Staat über Steuererhebungen um die freie Verfügung über sein Eigentum gebracht wird. Die Staatskritik des Amerikaners Thoreau und der Individualanarchismus Tuckers u. a. scheint ebenso durch die Empörung über diese Enteignung motiviert.

Der Selbstverantwortlichkeit des Individuums kommt bei Mackay in Adaption Stirners zentrale Bedeutung zu:

“Es würde Herren geben, solange es Knechte gab; Ausbeutung solange, als Arbeiter sich ausbeuten ließen; und Starke, solange Schwache sie zu solchen machten....Wer sich viel gefallen läßt, dem wird viel geboten.” [11]

Die hier in der Belastung des Menschen mit uneingeschränkter Selbstverantwortlichkeit sehr pointiert vorgebrachte Konsequenz aus dem anarchistischen Freiheitsbegriff verbindet sich mit der Ablehnung jeder Zwangsbefreiung, jeder Befreiung eines Menschen durch einen anderen, sofern der zu Befreiende nicht wenigstens durch Zustimmung an seiner Befreiung mitwirkt. Jede Befreiung gegen den Willen der Betroffenen, etwa mittels revolutionärer Bewegungen, parlamentarischer Mehrheiten, Erziehung oder mittels “Diktatur des Proletariats” müßte demnach von Anarchisten abgelehnt werden; gesellschaftliche Veränderungen könnten nur auf der Grundlage freiwilliger Zustimmung Zustandekommen, die allenfalls durch Aufklärung und Propagierung der anarchistischen Ideale angeregt werden könnte, aber keinesfalls “von oben” oder “von außen”. Im Sinne des Prinzips der Freiwilligkeit äußern sich selbst militante Anarchisten wie Malatesta:

“Aber wie oft sollen wir denn noch wiederholen, daß wir niemandem etwas aufzwingen wollen, daß wir es weder für möglich noch wünschenswert halten, den Menschen mit Gewalt zu ihrem Wohl zu verhelfen, und daß wir nur wollen, daß uns niemand seinen Willen aufzwingt, daß niemand den anderen eine Form gesellschaftlichen Lebens aufzwingen kann, die nicht frei akzeptiert ist?” [12]

Das Ideal der Herrschaftsfreiheit soll also bereits die Mittel der Transformation bestimmen. Zwar billigen viele Anarchisten gewaltsame Formen des Widerstandes, doch lehnen sie herrschaftliche Mittel zum Aufbau der neuen Gesellschaft entschieden ab. Weder mit einer vorübergehenden Diktatur des Proletariats noch mit Mehrheitsvoten dürfen Personen dazu gezwungen werden, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Der so verstandene Freiheitsbegriff der Anarchisten erlaubt es ihnen nicht, herrschaftliche Mittel anzuwenden, um das Ziel der Herrschaftslosigkeit zu bewirken. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Während diese Konsequenzen aus dem Freiheitsbegriff in einem “Konstruktiven Anarchismus” gegen die Entmündigung durch staatssozialistische Herrschaft im Namen und zu vermeintlichen Gunsten des Volkes durchaus wichtigen Stellenwert haben müßte, möchte ich zeigen, weshalb mir eine andere anarchistische Variante, die sich auf das Ideal der Herrschaftslosigkeit und Freiheit beruft, für einen “Konstruktiven Anarchismus” und für eine ökologisch orientierte Gesellschaftstheorie unakzeptabel scheint. Ich möchte dies exemplarisch an Mackay und dessen individualanarchistischem Gesellschaftskonzept diskutieren: Mackay sieht die Hauptursache der Ungleichheit und Unfreiheit in der Existenz des Staates, da dieser das freie egoistische Konkurrieren aller gegen alle im ökonomischen und sozialen Bereich verhindere. Der Staat privilegiere des weiteren bestimmte Lebensformen (z. B. Familie, Monogamie, Heterosexualität) und zwinge zu Steuerzahlungen, um das eigene Bestehen zu finanzieren, Kriege zu führen etc. Das staatliche Gewaltmonopol garantiere das Geld-, Zins- und Bodenmonopol, welches wiederum “freie Marktwirtschaft” besonders im Kredit- und Zinswesen verhindere und damit, so Mackay, eine Verteilung des gleichen Einkommens. Ähnlich, aber weniger differenziert als in Silvio Gesells Freigeldtheorie, ist Mackay der Auffassung, daß mit Freigabe des Zinses der anschließend einsetzende Konkurrenzkampf den Zinssatz auf ein Prozent sinke. Dies ermögliche so fast jedem die Aufnahme von Krediten und die Gründung von neuen Industrien mit dem Ergebnis höherer Löhne, einer Senkung der Verkaufspreise u. a. m.; Mieter und Landpächter würden sich über billige Kredite in den Besitz von Haus und Boden bringen können. Kurz: die “soziale Frage” werde sich mit Abschaffung des Staates von selbst erledigen. Mit Beseitigung der Hauptursache von Herrschaft erledigten sich auch die Folgeprobleme. Eine derartige (negative) Staatsfixierung ähnelt derjenigen Bakunins und Mosts, die mit Mackay der Auffassung waren, nach Zerstörung des Staates würden sich spontan und unvorbereitet neue herrschaftsfreie Beziehungen organisieren. So findet die marxistische Fixierung auf den ökonomischen Sektor in der Staatsfixierung einiger Anarchisten eine Entsprechung.

Doch den Individualanarchisten Mackay und die an Sozialismus und Kommunismus orientierten Anarchisten Bakunin und Most unterscheidet ein wesentliches Moment: Mackay erstrebt die “alte Gesellschaft” — nur ohne Staat, während Most und Bakunin eine qualitativ neu strukturierte Gesellschaft anstreben. Bei Mackay ist Anarchie vorgestellt als uneingeschränkte Ausweitung des Konkurrenzprinzips auf der Basis individueller egoistischer Interessenvertretung in allen nur denkbaren Lebensbereichen; Anarchie ist gedacht als (klein-)bürgerlicher Kapitalismus ohne Staat, als Ausweitung der “Warenbeziehung” als Freiheit zu unbeschränktem konkurrenzhaftem Gegeneinander der freien Egoisten. Selbst das Ideal der “Gleichen Freiheit Aller” ist unter (Waren-)Tauschaspekten gedacht: Die Iche müssen freie und gleiche sein, damit sie als gleichstarke Tauschpartner und Konkurrenten fungieren können.

In Übertragung des ökonomischen Bereichs der “bürgerlichen Gesellschaft” (Warentausch, Kontakt der Produzenten als Konkurrenten über Waren auf dem Markt) versteht Mackay selbst in seiner Idealgesellschaft Leben als Kampf — allerdings als fairen Kampf mit gleichen Ausgangschancen und zum Wohle aller. Andere Prinzipien wie etwa das “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” erklärt Mackay mit der Hauptfigur seines Romans “Der Freiheitssucher” als “von vornherein so völlig unvereinbar mit der menschlichen Natur, daß er die Möglichkeit einer Verwirklichung nie in Erwägung gezogen hätte.” [13]

Auf der Basis seines Menschenbildes ist Mackays idealer Gesellschaftszustand dann erreicht,

“Wenn als die größte Beleidigung die Frage: ‘Was geht dich das an?’ — und als stärkste aller Vermahnungen die: ‘Kümmre dich um deine eigene Angelegenheit’ gelten würde;...” [14]

Was bei Stirner als Ideologiekritik begann, endet in den Gesellschaftstheorien Mackays und anderer Individualanarchisten als Ideologie. Die Forderungen nach Freiheit von Herrschaft verkümmern zum freien Tausch von Waren. Aus Forderungen nach einer Freiheit des Individuums von jeglicher erzwungener Inanspruchnahme durch andere Menschen wird der Individualismus isolierter “Egoisten”, welche menschliche Anteilnahme und Solidarität als Belästigung zurückweisen.

Der von Stirners negativem Freiheitsbegriff positiv in eine Gesellschaftstheorie umgesetzte Individualanarchismus führt zu einem Gesellschaftsideal, welches weitgehende strukturelle Ähnlichkeiten aufweist mit dem, was Apologeten des kapitalistischen Gesellschaftssystems als dessen Legitimation ausgeben: Chancengleichheit, das Wohl aller durch Konkurrenz und Markt, individuelle Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, sofern nicht die Freiheit anderer verletzt wird. Ein so verstandener Individualanarchismus ist auf die Formel zu bringen: Wirtschaftsliberalismus, auf alle Lebensbereiche aus gedehnt, minus Staat. Eine qualitative Änderung bestehender gesellschaftlicher Strukturen wird in einer solchen anarchistischen Utopie nicht gedacht. Bezüglich der anarchistischen Variante des Individualanarchismus träfe die Charakteristik Ernst Niekischs zu, daß Anarchismus lediglich Liberalismus sei, “welcher über den Strang gehauen hat”. Mackays Konkretion des anarchistischen Freiheitsbegriffs orientiert sich infolge seiner Herkunft aus der Stirnerschen Kritik an jeder Herrschaft über das “Ich” an der Vorstellung, daß Gesellschaft eine Bedrohung für die freie Entfaltung des “Ich” darstellt, es sei denn, “Gesellschaft” stelle letztlich ein System egoistischer Interessenvertretung dar. Das individualanarchistische Freiheitsprinzip korreliert nicht, wie bei den sozialistischen oder kommunistischen Anarchisten, mit einem Solidaritätsprinzip, welches neben der normativen Komponente sich anthropologisch auf die Sozialität des Menschen beruft. Mackay sieht die Kooperation von Individuen in nichts anderem motiviert als in dem “der Natur” des Menschen entsprechenden Egoismus. Der Vorteil eines solchen Verständnisses von Freiheit liegt darin, daß in Berufung auf die Sozialität des Menschen keine Herrschaft über das Individuum legitimierbar ist. Für einen “Konstruktiven Anarchismus”, der individualistische Elemente mit einer sozialistischen Grundlage verbinden will, ist der Individualanarchismus als Gesellschaftstheorie unakzeptabel, und zwar einmal deshalb, weil er auf der kaum begründbaren anthropologischen Annahme der egoistischen Natur des Menschen basiert, und zum anderen aus normativen Gründen, weil “Sozialismus” mit diesen individualanarchistischen Folgerungen aus dem anarchistischen Freiheitsbegriff unvereinbar ist.

 

INDIVIDUALITÄT UND GESELLSCHAFT

Fortschritt ... ist die gradweise Differenzierung der Einzelnen in der Gesellschaft.
Read

Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden;
Landauer

Die individualanarchistische Staatskritik Stirners resultiert aus der Kritik an der Idee, die das “Ich” einem Gott, dem absoluten Geist, der Menschheit oder dem Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus unterordnet. Der Individualanarchismus Godwins (1756—1836) setzt hingegen an der Staatskritik an: Der Staat schränke die Verfügungsgewalt des Individuums über sich und sein Eigentum ein, ohne daß das Individuum sich dazu bereit erklärt habe. Im Gegensatz zum Liberalismus John Lockes lehnt Godwin eine Übertragung individueller Rechte auf den Staat entschieden ab, da er, ähnlich wie Locke, die Gefahr sieht, daß die Einzelnen den Staat nicht mehr zu kontrollieren imstande seien und die übertragenen Rechte folglich nicht mehr zurückgenommen werden könnten. Doch während Locke diese Gefahr durch Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive) abwenden will, lehnt Godwin dies entschieden ab und radikalisiert den Individualismus der liberalistischen Tradition und der Vertragstheorien dahingehend, daß das Individuum sich nicht in unbefristeten Verträgen einem Staat, anderen Personen oder Institutionen unterordnen solle, sondern, nach Abwägung seiner “egoistischen” Interessen, lediglich zeitlich befristete Verträge über zuvor vereinbarte Bereiche schließen solle, in denen der Einzelne jedoch keinesfalls Verfügungsrechte über seine Person übertragen solle, wie dies etwa geschehe, wenn den Repräsentanten des Staates exekutive oder judikative Funktionen überlassen würden. Derlei Funktionen sollten die Einzelnen vielmehr durch vertragliche Vereinbarungen selbst organisieren. Nur auf der Grundlage uneingeschränkter Vertragsfreiheit und der Verfolgung des persönlichen Vorteils, so Godwin, werde ein Zusammenleben in Freiheit möglich sein. Nicht die politische Revolution, sondern die Abschaffung der “nationalen Erziehung” zugunsten von freier Aufklärung und Bildung werde jedem die Möglichkeit eröffnen, die in der “nationalen Erziehung” oktroyierte Unterordnung des Individuums unter eine christlich-staatliche Aufopferungsmoral abzuwerfen und durch egoistische Interessenwahmehmung das Wohl aller zu bewirken. Solidarität und Hilfsleistungen an Bedürftige lehnt Godwin, abgesehen von der Form einer zwangsweisen Umverteilung des Eigentums, aus dem Grunde ab, weil dies dazu beitrage, andere Menschen in Unmündigkeit zu halten:

“Was immer der einzelne für sich selbst tut, ist wohlgetan; was immer seine Nachbarn oder sein Land für ihn zu tun unternehmen, ist schlecht getan. Unsere Weisheit besteht darin, andere anzuregen, für sich selbst zu handeln, nicht aber sie in einem Zustand andauernder Unmündigkeit zu halten.” [15]

Einzelne Elemente dieser frühen Ideologie- und Staatskritik Stirners und Godwin, besonders der Vertragsgedanke, bleiben auch in der sozialistischen Tradition des Anarchismus erhalten. Doch gewinnen mit Veränderungen der anthropologischen Grundannahmen — aus dem von Natur aus egoistischen Individuum wird der von Natur aus auf Gesellschaftlichkeit angelegte Mensch — auch die von Individualanarchisten kritisierten normativen Aspekte wie Solidarität, Gemeinschaftlichkeit etc. an Bedeutung. Das Verhältnis von (anthropologischem) Sein und (moralischem) Sollen bleibt ungeklärt. Anarchisten wie Landauer, Kropotkin und ansatzweise auch Proudhon, die an staatlicher Herrschaft zunächst die Ausschaltung gesellschaftlicher oder gemeinschaftlicher Ordnung kritisierten, gründeten ihre Gesellschaftstheorie auf den Prinzipien oder Naturanlagen des “Gemeinschaftsgeistes”, der “Gegenseitigen Hilfe” und des “Mutualismus”. Erst auf dieser positiven Grundlage entfalteten sie ihr Verständnis von Individualität und Freiheit und konnten die Beschränkung der Individualanarchisten auf ein negativ-kritisches Verständnis von Individualität und Freiheit ablehnen, da dieses konstituiert ist als Verhältnis des Individuums gegen das andere Individuum und gegen Gesellschaft oder Gemeinschaft. Für sozialistische Anarchisten ist die Sozialität des Menschen, also das Miteinander, die Solidarität und Gegenseitigkeit, vielmehr konstitutiv für Individualität und Freiheit. Die Frontstellung Individuum—Staat hat sich verschoben in eine Frontstellung Gesellschaft/Gemeinschaft—Staat. Landauer charakterisiert den Staat als Surrogat des Geistes, das historisch immer dann erstarkt, wenn der “Geist der Gemeinde” seine gemeinschaftsbindende Kraft verliert. In Zeiten zunehmender “Geistlosigkeit” und staatlicher Repression leben die Menschen atomisiert als entwurzelte und staatlich organisierte Masse. In solchen Epochen fehlenden Gemeinschaftsgeistes — Landauer kennzeichnet so die Neuzeit und das “Klassische Altertum”, die den vom Gemeinschaftsgeist strukturierten Epochen des Mittelalters und der vorklassischen Zeit folgten — tritt Landauer zufolge Geist als kritischer Individualismus auf und empört sich gegen die geistlose staatliche und kirchliche Autorität, wirkt als Kritik destruktiv und zersetzend und bereitet so über die Entstaatlichung der Gesellschaft die neue Phase einer durch Gemeinschaftsgeist strukturierten Gesellschaft vor. Landauer nennt die Phase der Kritik und “Ungebundenheit des Geistes” “Utopie”; der “Utopie” ordnet er den Begriff “Revolution” zu und führt als Beispiel die Aufklärung und den Individualanarchismus Stirners an. Dieser Phase setzt er die “Topie” entgegen, in denen der Geist als Gemeinschaftsgeist seinen Ort findet. Im Blick auf die künftige strukturierte Gesellschaft beschreibt Landauer das Mittel- alter als “Topie”, also als Epoche, die charakterisiert ist durch eine

“... Gesamtheit von Selbständigkeiten, die sich gegenseitig durchdrangen, die sich durcheinander schichteten, ohne daß daraus eine Pyramide oder irgendwelche Gesamtgewalt geworden waren. Die Form des Mittelalters war nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, die Gesellschaft von Gesellschaften.” [16]

Der Zeit angepaßt auf anderer ökonomisch-technologischer Ebene, sollte die Epoche der “Geistlosigkeit” und der staatlichen Gewalt erneut abgelöst werden durch eine entstaatlichende Neuschichtung der Gesellschaft ohne Hierarchie und Zentralismus. Eine derartige Ordnung, bestehend aus der “Synthese von Freiheit und Gebundenheit”, sei nicht als “Wiederbelebung” des Mittelalters möglich.

Eine am Leitfaden des Dualismus durchgeführte Geschichtsinterpretation (Staat—Gesellschaft, Nation—Volk) dient Landauer dazu, die in Begriffen wie Gesellschaft, Volk, Gemeinschaftsgeist zum Ausdruck kommende Sozialität als Basis einer freiheitlichen Gesellschaftsorganisation aufzubieten gegen Staat und ein im Liberalismus und Individualanarchismus ins Extrem getriebenes Individualitätsprinzip.

Kropotkin intendierte ebenso wie Landauer eine Rehabilitation des Solidaritätsprinzips als Organisationsstruktur von Gesellschaft und versuchte Individualität und Sozialität, Egoismus und Solidarität nicht mehr als Gegeneinander zu verstehen, sondern zu verbinden. Als Reaktion auf den Marxismus, vor allem aber als Reaktion auf den Sozialdarwinismus, erschien 1896 Kropotkins Buch “Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt”, in dem er sich gegen die Auffassungen wandte, daß der “Kampf ums Dasein” auch innerhalb der Arten die Stärksten selektiere und — in Anwendung auf den Menschen — auch dessen Beziehungen zu anderen Menschen präge. Was also mit dem propagierten Egoismus Stirners, Mackays u. a. in Übereinstimmung zu bringen wäre, lehnt Kropotkin ab, der, wie die Darwinisten und Marxisten, mit dem Anspruch auf “Wissenschaftlichkeit” auftritt, indem er in Rückgriff auf Tierverhaltensforschung und Ethnologie zu beweisen versucht, daß der “Kampf ums Dasein” auf den Kampf zwischen den Arten und gegen widrige Naturumstände beschränkt bleibe, während innerhalb der Arten, insbesondere innerhalb der Menschheit, das Solidaritätsprinzip “Gegenseitige Hilfe” als Waffe im Überlebenskampf wirksam werde. Solidarität erhebt Kropotkin damit zur natürlichen Disposition des Menschen, zur anthropologischen Konstante:

“Geselligkeit und Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe sind so unzertrennliche Bestandteile der menschlichen Natur.” [17]

Da der Mensch frei und nicht vollständig determiniert ist durch Instinkte, ist es notwendig, durch eine auf “gegenseitiger Hilfe” basierende Ethik die natürliche Veranlagung zu unterstützen. Die in Religionen, Sitten und Ethiken verlangte Mitmenschlichkeit, so Kropotkin, weise ebenfalls auf die Richtigkeit seines “wissenschaftlichen” Beweises der Natürlichkeit der “Gegenseitigen Hilfe”.

Ohne damit, wie Landauer, eine umfassende und detaillierte Geschichtsdeutung vornehmen zu wollen, sieht Kropotkin in der Geschichte zwei gegenläufige Tendenzen wirken. In der einen ist das Solidaritätsprinzip der “Gegenseitigen Hilfe” realisiert in einer föderativen, genossenschaftlichen und auf Gemeinschaftlichkeit basierenden Strukturierung aller Lebensbereiche. Die Gegenströmung kennzeichnet Zentralismus, Ausbeutung und Herrschaft:

“Durch die gesamte Geschichte unserer Kultur ziehen sich zwei Traditionen, zwei entgegengesetzte Strömungen: die römische Tradition und die volkstümliche, die kaiserliche Tradition und die eidgenössische, die autoritäre Tradition und die freiheitliche.... Wir schließen uns jener Strömung an, welche im zwölften Jahrhundert die Menschen antrieb, sich zu organisieren auf der Grundlage freier Vereinbarung der freien Initiative des einzelnen, der freien Föderation der Interessen.” [18]

Kropotkin konkretisiert das Solidaritätsprinzip “Gegenseitige Hilfe” durch den Aspekt der freien Vereinbarung der Interessenten. In Landauers Verständnis von “Gemeinschaftsgeist” scheint dieser Aspekt des Interessenausgleichs tendenziell einem Harmoniedenken zu weichen. Proudhon, von dem sowohl Landauer als auch Kropotkin beeinflußt waren, betont in Verbindung mit eindeutig sozialistischen Forderungen in seinem mit “Materialismus” bezeichneten Solidaritätsprinzip die Gegenseitigkeit des Nutzens und unterscheidet sich damit von der “gegenseitigen Hilfe” Kropotkins und, deutlicher noch, vom “Gemeinschaftsgeist” Landauers. Auch Proudhon weist auf die geschichtliche Dimension des “Materialismus”. Proudhon unterscheidet ebenfalls zwei Prinzipien, welche “in der Geschichte in logischer und chronologischer Folge antreten”, nämlich Autorität und Freiheit. Freiheitliche, dezentrale und auf Verträgen beruhende Gesellschaftsstrukturen seien vom Mittelalter an durch autoritäre und zentralistische Staatssysteme verdrängt worden. Diese Entwicklung müsse durch Dezentralisierung rückgängig gemacht werden und schließlich der Schaffung einer weltweiten Föderation weitgehend selbständiger Assoziationen weichen.

Im Gegensatz zu Landauer und Kropotkin lehnt Proudhon nicht die Autorität zugunsten der Freiheit ab, sondern hält ein ausgleichendes Zusammenspiel beider Kräfte für notwendig:

“Autorität setzt zwingend Freiheit voraus, die sie anerkennt oder leugnet; Freiheit wiederum, das Wort im politischen Sinne genommen, setzt ebenfalls Autorität voraus, die mit ihr verhandelt, sie zügelt oder duldet. Entfernt eine von beiden — und die andere hat keinen Sinn mehr: Die Autorität ist ohne eine Freiheit, die diskutiert, Widerstand leistet oder sich unterwirft, nur ein leeres Wort; die Freiheit ist ohne eine Autorität, die ihr ein Gegengewicht bietet, ein Un-Sinn.” [19]

Dieser Gedanke, daß das Miteinander zweier entgegengesetzter Prinzipien eine gerechte und freie Gesellschaftsordnung garantiere, liegt dem Vertragsdenken Proudhons, besonders seinem Konzept des Föderalismus, zugrunde.

Föderalismus ist zu verstehen als ein vernetztes System gegenseitig eingegangener, vertraglich festgelegter freier Vereinbarungen im politischen und sozialen Bereich, bei voller Freiheit der beteiligten Individuen und Gruppen. Doch setzt Proudhon — das macht die wesentliche Differenz zu den Individualanarchisten aus — nicht das egoistische Gegeneinander der Interessen voraus, nach der jeder den Vertragspartner jeweils nur als Mittel benutzt, um eigene Interessen durchzusetzen, sondern Proudhon versteht vertragliche Vereinbarungen zwischen Individuen unter dem Aspekt eines solidarischen Miteinanders, das den Vertragspartner nicht zum blossen Mittel degradiert und auch dessen Interessen berücksichtigt. Proudhon nennt diesen auf Gegenseitigkeit beruhenden Tausch “mutualisme”, was kommentierend zu übersetzen ist mit “gegenseitige soziale Hilfsbereitschaft”. Die soziale Komponente des “Mutualismus” wurde bereits erläutert mit dem Konzept der Tauschbank und des “Gegenseitigen Kredits”. Proudhons Plädoyer für die Assoziation der Arbeiter zu Produktions- und Konsumtionsgenossenschaften, die unter der Kontrolle der politischen Einheiten selbstverantwortlich arbeiten, unterstreicht den — im weitesten Sinne des Wortes verstandenen — sozialistischen Charakter des Denkens Proudhons gegenüber dem liberalistischen der Individualanarchisten, obwohl zweifellos das Modell des Warentausches und der Konzeption freier vertraglicher Vereinbarungen in der Politik ebenso wie in der Ökonomie zugrundeliegt.

Das Prinzip des Mutualismus, dessen Gültigkeit Proudhon zunächst nur auf den ökonomischen Bereich beschränkte, wandte er in seiner späten Konzeption einer politischen Dezentralisation auch auf politische Föderationsverträge an. Neben politischen Verträgen bezeichnet Proudhon auch andere frei vereinbarte “mutualistische” Kooperationen als Föderation. Ein in diesem Sinne verstandener Föderalismus soll individuelle Freiheit garantieren bei gleichzeitiger solidarischer Verbindung der Individuen. Proudhon faßt sein “Glaubensbekenntnis” wie folgt zusammen:

“Alle meine wirtschaftlichen Ideen, die ich seit fünfundzwanzig Jahren ausgearbeitet habe, lassen sich in diese drei Worte zusammenfassen: landwirtschaftlich-industrielle Föderation.
Alle meine politischen Ideen lassen sich auf eine ähnliche Formel zurückführen:
politische Föderation oder Dezentralisation.
... alle meine gegenwärtigen und zukünftigen Hoffnungen (sind) durch diesen dritten Satz ausgedrückt, der aus beiden anderen folgt:
fortschrittliche Föderation.” [20]

Die kleinsten Einheiten der Föderation müßten überschaubar bleiben und ohne Repräsentationsorgane arbeiten können. In den Föderationen dieser Einheiten sollten sich die Befugnisse der “Zentralgewalten” auf zuvor vertraglich vereinbarte Aufgaben beschränken. Mit zunehmender Größe der Föderation verringern sich die Befugnisse der “Zentralisation” gegenüber den Föderationen unterer Ebenen.

Die im Sinne Proudhons “fortschrittlichste” Föderation wäre eine weltweite. Ein solches System gewährleistet bei Freiheit und Unabhängigkeit der unteren Ebene eine Koordination der politischen Einheiten und eine organisatorische Grundlage für ökonomische Absprachen, Planungen sowie Hilfeleistungen an klimatisch und geographisch ungünstig gelegene Einheiten.

Obwohl Proudhon seine föderalistische Idealgesellschaft “Anarchie” nennt, verwendet er für die politischen Einheiten die Bezeichnung “Staat”. Er versteht darunter eine über Verträge mit Einzelnen und Gruppen zustandegekommene Institution, welche die “Rolle des Gesetzgebers, des Einrichtenden, Schöpfenden und Einsetzenden — und am wenigsten die Rolle des Ausführenden” spielt, jedoch keine Dienstleistungen oder Unternehmerfunktionen übernimmt.

In Proudhons wenig systematischem Denken findet man keine detaillierten Erörterungen darüber, wie ein solcher anarchistischer Staat zu funktionieren habe. Die Verwendung des Begriffs ‘Staat’ stellt jedoch nicht nur eine Frage der Nomenklatur dar, sondern ist durchaus auch programmatisch zu verstehen: Nicht den Individuen direkt, sondern den von ihnen gegründeten Institutionen sollen neben anderen auch legislative Kompetenzen zufallen. Im Gegensatz zu einigen späteren Anarchisten glaubt Proudhon derartige “staatliche” Institutionen im Rahmen eines föderativen Systems mit dem Ideal der Anarchie vereinbaren zu können.

Der auf “Mutualismus” und Föderalismus beruhende Anarchismus Proudhons soll u.a. folgendes garantieren:

— Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen und der aus Individuen bestehenden Gruppen

— eine von den Betroffenen und deren Interessen ausgehende Politik und Verwaltung

— keine Unterwerfung des Einzelnen unter die Abstimmungsmehrheit gewählter Repräsentanten, d.h. unter parlamentarische Mehrheiten

— eine weitgehende Pazifizierung der Gesellschaft.

Bakunin greift auf das Proudhonsche föderalistische Organisationsprinzip zurück, vernachlässigt jedoch den Aspekt der uneingeschränkten und freien Selbstorganisation der Individuen und Gruppen und konzentriert sich auf das Konzept eines weltweiten Organisationsaufbaus “von unten nach oben”. Bakunins Vorliebe, detaillierte Organisationspläne für konspirative Geheimgesellschaften zu entwerfen — derlei phantasievolle Konstruktionen gehören zu den wenigen strukturierten Texten Bakunins — scheinen sich auch auf die nicht-konspirativen föderalistischen Organisationsformen ausgewirkt zu haben. Dies würde jedenfalls erklären, weshalb Bakunin im Rahmen des Aufbaus der Föderationen “von unten nach oben” die Kompetenzverteilung derart modifiziert, daß sich die “unteren” Ebenen der Föderation (z. B. die Föderation auf Provinzebene) in ihren Verfassungen der “oberen” Ebene (z. B. der Nationalverfassung) unterwerfen müssen, ebenso wie sich auch das Provinzgericht der Nationalgerichtsbarkeit zu unterwerfen hat. Bakunin beschreibt fast so detailliert wie die Organisation der konspirativen Geheimgesellschaften die hierarchische Struktur einer globalen Föderation, die sich zwar “von unten nach oben” über Räte und Räteversammlungen organisiert, in der aber im Gegensatz zu Proudhon die “unteren” Ebenen mit ihren Parlamenten, Verfassungen, Komitees und Gerichten in Belangen, die nicht nur von lokaler Bedeutung sind, sich den Beschlüssen der “oberen” Ebene fügen müssen. So untergräbt Bakunin zugunsten einer Mehrheits-Räte-Demokratie den eigenen anarchistischen Ansatz, der mehr oder weniger deutlich in seinen Theoriefragmenten oder Marxismuskritiken zum Ausdruck kommt.

Den ökonomischen Sektor beabsichtigt Bakunin durch eine weltweite Planwirtschaft zu organisieren. Es werde sich, so Bakunin,

“alle nationalen Grenzen überschreitend, eine ungeheure ökonomische Föderation bilden ..., mit einem Parlament, das durch die ebenso umfassenden wie genauen und detaillierten Daten einer Weltstatistik, wie sie heute noch nicht existieren kann, informiert, Angebot und Nachfrage kombinierend, die Produktion der Weltindustrie leiten, bestimmen und zwischen den verschiedenen Ländern verteilen kann, ...” [21]

Bakunin selbst revidiert eine eigene Schrift zur Organisation von Geheimgesellschaften, da sie “von einem zu autoritären Geist getragen” sei. Diese Revision betrifft jedoch nicht Bakunins “Föderalismuskonzept”. Doch Vergleiche mit dem Föderalismus Proudhons und dem Kropotkins, der anschliessend dargestellt wird, weisen auf die autoritären Komponenten in Bakunins Denken.

Kropotkin konkretisierte den Föderalismus Proudhons in dessen freiheitlichem, dezentralisierenden und enthierarchisierenden Sinne, indem er ein weitgespanntes Beziehungsgeflecht von politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Organisationen entwarf:

“Die Gesellschaft wird aus einer Menge von Genossenschaften zusammengesetzt sein, untereinander verbunden für edles, was eine gemeinsame Bemühung erfordert: Föderation von Produzenten für alle Arten der Produktion, Gemeinden für den Konsum, Föderation von Gemeinden miteinander und Föderation der Gemeinden mit den Produktionsgruppen; ...” [22]

Ein solcher auf Vereinbarungen beruhender vernetzter Verbund von Gemeinden, Produktionsgenossenschaften und sonstigen Organisationen könne keine feste Struktur annehmen, was Bakunin und ansatzweise auch Proudhon vorsehen, sondern sei in ständiger Veränderung und Entwicklung begriffen. Kropotkin betont, im Gegensatz zu Proudhon und Bakunin, und in weitgehender Übereinstimmung mit Landauer, die Vorteile einer ökonomischen Unabhängigkeit der kommunistischen Gemeinden oder Vollgenossenschaften. Die ökonomische Struktur dieser Gemeinden solle bestimmt sein durch eine Verbindung von Industrie, Landwirtschaft und Handwerk auf technisch hohem Niveau, bei weitgehend eingeschränkter Arbeitsteilung und Arbeitszeit.

Landauers Föderalismuskonzept schließt sich mit der Betonung der Gemeindeautonomie und der Befürwortung des individuellen Besitzes der Arbeitsmittel an Proudhon an, weist aber, ähnlich wie Kropotkin, der Kooperation zwischen Gemeinden und innerhalb der Gemeinden zentrale Bedeutung für eine Neustrukturierung der Gesellschaft zu. Vermutlich in Replik auf Bakunin schreibt Landauer:

“Keine Weltstatistik und keine Weltrepublik kann uns helfen. Rettung kann nur bringen die Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde! Die Grundform der sozialistischen Kultur ist der Bund der selbständig wirtschaftenden und untereinander tauschenden Gemeinden.” [23]

Die Forderungen nach Entstaatlichung der Gesellschaft oder Vergesellschaftung des Staates und Dezentralisation in den Föderalismuskonzepten resultieren bei Landauer aus ethischen Implikationen in dessen Verständnis von “Gemeinschaftsgeist”; bei Kropotkin steht das Ideal anarchokommunistischer Gemeinschaften und deren Föderation in Verbindung mit “Gegenseitiger Hilfe”, sowohl als anthropologische Disposition als auch als ethisches Prinzip; Proudhons Mutualismus beinhaltet, obwohl er auf einer Tausch- und Vertragsdauer basiert, ebenfalls ethische Komponenten und stellt damit die Grundlage politischer Föderationen und Genossenschaften dar. Obwohl Proudhon das Ideal der Herrschaftslosigkeit, der Anarchie, vertritt, spricht er vom “Staat” und versteht darunter ein überschaubares, dezentrales Gebilde, dessen Institutionen in ihren Entscheidungskompetenzen beschränkt und der Kontrolle der Einzelnen untergeordnet bleiben.

Im “Mutualismus”, in “Gegenseitiger Hilfe” und im “Gemeinschaftsgeist” kommt als ethische Forderung und als “Bestimmung des Menschen” ein Solidaritätsprinzip zum Ausdruck, das sich nicht nur aufgrund seiner normativen Implikationen von Individualanarchismus unterscheidet. Proudhon, Kropotkin, Bakunin, Landauer, Rocker, Mühsam, der Öko-Anarchist Bookchin u. a. verstehen die Sozialität des Menschen nicht negativ, als Preis für den Mangel, als Einzelner nicht überleben zu können, sondern unter dem positiven Aspekt der gegenseitigen Bereicherung freier Individuen. Dies hat ein in diesem Sinne positives Verständnis der hier propagierten Organisationsformen des Föderalismus und der Produktions-, Distributions- und Vollgenossenschaften zur Folge. Die Vertreter des individualanarchistischen Zweiges Anarchismus sehen in Genossenschaften eine Form freier Vereinbarung zwischen Einzelnen auf der Basis “egoistischer” Interessenvertretung. Sie intendieren im Gegensatz zu den Verfechtern des Solidaritätsprinzips damit keine qualitativ neue Lebensform, sondern, wie bereits ausgeführt, lediglich eine Reform auf dem Boden des herkömmlichen Konkurrenzprinzips.

Doch eine solche Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Individualanarchisten als Verfechtern des Individualprinzips und den sozialistischen Anarchisten als Verfechtern des Solidaritätsprinzips trifft im Sinne einer Ausschließlichkeit nur auf Stirner, Mackay, Tucker zu. Selbst Landauers im“Gemeinschaftsgeist” zum Ausdruck kommendes Solidaritätsprinzip ist unter dem Aspekt individueller Freiheit gedacht; Forderungen nach individueller Freiheit werden jedoch wiederum in Beziehung gesetzt zu autoritären staatlichen Gesellschaftsstrukturen.

Proudhon verbindet mit seinen Konzepten “mutualistischer” Genossenschaften und Föderationen zwar eine Neustrukturierung des ökonomischen und sozialen Bereichs, doch keine grundsätzliche Neuorientierung des gesamten Lebens nach den Idealen der Anarchie und der Solidarität, und dies unterscheidet ihn von Landauer, dem Frühsozialisten Fourier, von Kropotkin u. a. Das Ideal der Herrschaftslosigkeit bleibt bei Proudhon beschränkt auf Ökonomie und Politik. Die Familie, die Sexualität, das Verhältnis von Mann und Frau, Eltern und Kindern bleibt patriarchalisch. Die Emanzipation der Frau lehnt Proudhon mit der Begründung ab, es mangele der Frau an “Begriffsvermögen” und sie solle sich deshalb auf ihre biologische Funktion des Kinderkriegens beschränken. [24]

Diese nicht nur bei Proudhon fehlende Konsequenz aus anarchistischen Ansätzen bezüglich des sozialen Bereichs und der persönlich-zwischenmenschlichen Beziehungen ist auffällig und weist auf einen Mangel an Radikalität im Sinne einer konsequent auf alle Lebensbereiche angewandten Umsetzung des anarchistischen Ideals der Herrschaftsfreiheit. Herrschaftsbeziehungen im sozialen und persönlich-zwischenmenschlichen Bereich werden von Anarchisten wie Dejacque, Rossi, Bookchin, auch von Kropotkin und Bakunin kritisiert, doch nicht von Proudhon und Landauer und vielen spanischen Anarchisten zur Zeit des Bürgerkrieges. Ein radikales, auf alle Lebensbereiche angewandtes Verständnis von Anarchismus fällt jedoch nicht zusammen mit einem Plädoyer für eine qualitativ neue Strukturierung der Gesellschaft in vernetzten Vollgenossenschaften, wie sie Landauer, Bookchin und die Frühsozialisten Fourier und Owen beabsichtigten. Eine umfassende “Restrukturierung” der Gesellschaft durch eine “Erneuerung des Zellgewebes” könnte, so Buber im Anschluß an Landauer, nur Vollgenossenschaften bewirken:

“Eine echte und zu dauernd bestimmte Neuordnung der Gesellschaft von innen her wird nur durch die Vereinigung der Produzenten mit den Konsumenten, jeder von beiden Partnern in selbständigen und wesenseigenen kooperativen Einheiten konstituiert, geraten können — eine Vereinigung deren sozialistische Kraft und Lebendigkeit nur durch eine Fülle zusammenwirkender Vollgenossenschaften verbürgt werden kann, ...” [25]

Eine entstaatlichende Neustrukturierung der Gesellschaft durch einen dezentralisierenden Gemeindeföderalismus und durch eine Assoziation der Produzenten und Konsumenten in Genossenschaften konkretisieren die meisten Verfechter des Solidaritätsprinzips als solidarische Vereinbarung zwischen selbstbestimmten Individuen und Gruppen und nicht als Einfügung der Individuen in die Ordnung der Gemeinschaft. Dieses individualistische Element im Umgang mit dem Solidaritätsprinzip zeigt sich darin, daß die Assoziationen von Individuen und Gruppen eher unter Organisations- und Planungsaspekten gedacht sind, als daß sie mit der Metapher “Organismus” veranschaulicht werden könnten. Das individualistische Element der freien Vereinbarung in Verbindung mit dem Solidaritätsprinzip liegt auch dem anarchistisch-kommunistischen Gesellschaftsideal Kropotkins zugrunde. “Freie Entfaltung”, “freie Initiative” und “freie Verbindung” sollen eine Erstarrung und Vereinheitlichung verhindern.

“Sie (die anarchistische Gesellschaft — d.A.) sucht die vollständige Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der unter allen Gesichtspunkten freiwilligen Verbindung für alle möglichen Stufen, alle denkbaren Ziele: eine stets wandelbare Verbindung, die in sich selbst die Grundlagen für ihre Dauer trägt und die Formen annimmt, die in jedem Augenblick am besten der mannigfachen Bestrebungen aller entsprechen.” [26]

Kropotkins Vorstellungen von gesellschaftlicher Anarchie unterscheiden sich von Bakunins “Rätehierarchie” ebenso wie von Proudhons und Landauers Föderalismus oder von Fouriers Konzept einer Föderation von Vollgenossenschaften.

Das von Kropotkin vorgesehene System vernetzter Gemeinden und Produktionsgenossenschaften funktioniere ohne zentrale Steuerung und ohne den festen über Räte oder andere Vertretungsorgane organisierten institutionellen Rahmen. Produktion und Konsumtion, auch überregionale Projekte wie Eisenbahnen, Kanalbauten etc. ließen sich dezentral über freie Vereinbarungen regeln. Kropotkin erläutert sein Gesellschaftskonzept einer Harmonie durch (individuelle) Vielfalt am Beispiel der Astronomie und der ständig sich in Veränderung befindenden kosmischen Ordnung, die auch ohne Zentralen funktioniere durch den Ausgleich einer Vielzahl von Kräften. Wissenschaftsgeschichtlich habe sich, so Kropotkin, ebenfalls eine Abwendung vollzogen vom Denken in Ganzheiten und einer Einordnung des Einzelnen unter das Ganze.

Diesen Gedanken nimmt Collin Ward, ein Vertreter des englischen pragmatischen Anarchismus, in seinem Aufsatz “Harmonie und Vielfalt” auf und stellt die Gesellschaftsutopie Kropotkins in Zusammenhang mit der modernen Hirn- und Neurophysiologie sowie mit ethnologischen Erkenntnissen und mit kybernetischen Modellen. Ward will zeigen, daß das von Kropotkin vorgeschlagene komplizierte System von Vernetzungen die angemessenste Organisationsform für komplexe und hochtechnisierte Gesellschaften sei. Kybernetiker kritisieren, so Ward, das hierarchische, zentralistische Steuerungsprinzip; Ethnologen wiesen nach, daß in afrikanischen Stammesgesellschaften Vernetzungen zentrale und hierarchische Organisationsformen unnötig machten;

“So unterstützten sowohl die ethnologische wie die kybernetische Theorie Kropotkins Feststellung, daß in einer Gesellschaft ohne Regierung die Harmonie sich aus einem ‘ständig wechselnden Auf und Ab des Gleichgewichts zwischen der Vielfalt der Kräfte und Einflüsse’ ergibt, was seinen Ausdruck in einem ‘verwobenen Netzwerk’ findet, ...” [27]

Auf diesen Aspekt eines sich selbst regulierenden, vielfältigen, flexiblen Systems bei Kropotkin und dessen struktureller Ähnlichkeit mit kybernetischen Modellen, mit von Ethnologen festgestellten Organisationsformen afrikanischer Stammesgesellschaften und mit dem Aufbau des Gehirns wurde deshalb hingewiesen, weil darin ein sich qualitativ von hierarchischen, einheitlichen und “uniformistischen” Ansätzen unterscheidendes Denken zum Ausdruck kommt, welches zu charakterisieren ist mit dem Verzicht auf Herrschaftsstrukturen. Kropotkin, und mit ihm ansatzweise Proudhon und Bakunin sowie Landauer, kritisieren herrschaftliche Organisationsformen nicht nur im Staat, in der Ökonomie und im zwischenmenschlichen Bereich, sondern versuchen darüber hinaus mit der gewohnten hierarchisierenden Denk- und Theorieform zu brechen. So kritisiert Bakunin, vermutlich unter Einfluß Stirners, hierarchisierende Systemphilosophien und allgemeine Ideen, da diese eine “Verneinung des wirklichen Lebens” bedeuteten; Landauer bezeichnet im Anschluß an Mauthners Sprachkritik das Begriffsdenken als “Totschlagsversuch gegen die lebendige Welt”, Bookchin kritisiert die Repressivität und Hierarchie der “jüdisch-hellenistische Rationalität” und stellt sie in Zusammenhang mit herrschaftlichen Gesellschaftsstrukturen, der Herrschaft des Mannes über die Frau und des Umganges mit der Natur als bloßem Mittel. Kropotkin steht mit seiner Kritik am hierarchischen Denken in dieser Tradition grundsätzlicher Herrschaftskritik, bleibt jedoch nicht negativ-kritisch, sondern setzt seine Kritik konstruktiv um im Entwurf einer nicht-hierarchischen Gesellschaftsutopie, welche ebenso wie die Kybernetik, die Organisation afrikanischer Stammesgesellschaften, der Gehirnaufbau oder wie die Ökologie die Vielfalt nicht in einheitliche Ordnungsentwürfe zu benennen versucht und damit die Freiheit des Einzelnen respektiert.

In Kropotkins Vorstellungen einer Gesellschaft aus einer komplexeren Vernetzung von selbstbestimmten Einzelnen und Gruppen ist das Individualitätsprinzip nicht dem Solidaritätsprinzip untergeordnet, da — etwa im Gegensatz zur Rätekonzeption Bakunins — hier die Ablehnung hierarchisierenden Denkens auch in der Gesellschaftsutopie konkretisiert ist und nicht, wie im Falle Bakunins, den Prinzipienerklärungen oder Kritiken autoritärer Theorien widerspricht. Das Individuum ist im Entwurf Kropotkins nicht der Gesellschaft (Gemeinschaft) unterstellt, sondern konstituiert über freie Vereinbarungen Gesellschaft, ohne daß das Verhältnis Individuum—Gesellschaft als Gegeneinander gedacht ist wie bei den Individualanarchisten; letztere bestimmen dieses Verhältnis als ein Gegeneinander und nicht unter Verzicht auf ein hierarchisches Schema als ein Miteinander wie Kropotkin.

Wie im Vernetzungsdenken Kropotkins, plädieren auch die Vertreter von föderierten Vollgenossenschaften für eine grundsätzliche Umstrukturierung bisheriger Formen des Lebens und Arbeitens. Buber, der – vermutlich im Blick auf die Kibbuzim – die genossenschaftlichen Traditionen des Frühsozialismus und Anarchismus untersucht, sieht in dezentralen und entstaatlichenden Vollgenossenschaften die Voraussetzung für eine “Wirkliche Erneuerung”, eine Restrukturierung der Gesellschaft durch eine “Erneuerung des Zellgewebes” der Gesellschaft. Die Frühsozialisten Fourier und Owen und die Anarchisten Landauer und Bookchin (auch Kropotkin in seiner Schrift “Landwirtschaft, Industrie und Handwerk”) sehen in der Gründung von Genossenschaftssiedlungen, in denen die Menschen kooperativ die Produktion, Konsumtion und ihr sonstiges Leben regeln, die Grundlage einer neuen Gesellschaft. Die verschiedenen Entwürfe weisen aber große Unterschiede auf. Während Kropotkin und Bookchin für kommunistische Vollgenossenschaften plädierten, spricht sich Landauer dafür aus, daß die Produktionsmittel zwar in der Hand der Produzenten bleiben, die Mitglieder der Genossenschaft jedoch ihre Produktion und Konsumtion miteinander abstimmen, also nicht miteinander konkurrieren. Landauers Vollgenossenschaften sind charakterisiert durch Kooperation innerhalb einer weitgehend unabhängigen Gemeinde, in der das Individuum im ‘Geist der Gemeinde’ gebunden ist und seine Individualität und seinen “Geist” nicht mehr, wie in der staatlichen Gesellschaft, gegen die Gesellschaft behaupten muß. Oder in den Begriffen von Landauers “Revolution”: in der “Topie”, d.h. in geschichteten Gemeinschaften, existiert kein (kritischer) Geist der Individualität, wie in der “U-topie”, d.h. in der revolutionierenden Kritik an der Geistlosigkeit der verstaatlichten Gesellschaft als Sehnsucht nach der Gebundenheit der “Topie” zum Ausdruck kommt. Individualismus wäre demnach lediglich Korrelat des Staates und somit Surrogat des Geistes; originärer Geist wäre dagegen nur als Geist der Gemeinde möglich.

Die von Landauer angestrebte “Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde” ist nicht gedacht unter dem Aspekt freier Vereinbarungen zwischen Individuen, sondern als Rückbesinnung auf gemeinschaftliche Organisationsformen, wie sie im Mittelalter bestanden hätten und noch heute etwa in Dorfgemeinschaften rudimentär vorhanden seien.

Die globale Perspektive der “Erdmenschheit” konkretisiert Landauer nicht als Weltföderation, sondern als (geistigen) Zustand, der erreicht sei, wenn die “Identität” für die im Individuum konzentrierte Menschheit und die zwischen den Individuen erwachsene Menschheit gekommen ist.

Nachdem das letzte Kapitel damit abgeschlossen wurde, die aus dem anarchistischen Freiheitsbegriff gezogenen Folgerungen für einen “Konstruktiven Anarchismus” und ein ökologisch orientiertes Gesellschaftskonzept abzulehnen, da die Individualanarchisten ihre alternativen Gesellschaftskonzepte darauf beschränken, unter Kritik an staatlichen Monopolen die Funktionsweise des kapitalistischen Warenverkehrs auch auf den persönlichen, sozialen, politischen Bereich zu erweitern, um so ein “egoistisches” konkurrenzhaftes Gegeneinander zum Funktionsprinzip aller Lebensbereiche zu machen, soll nun als Abschluß dieses Kapitels im Gegenzug die Ausweitung des “Solidaritätsprinzips” zu Ungunsten des Individualitätsprinzips kritisiert und für einen “Konstruktiven Anarchismus” und ein ökologisch orientiertes Gesellschaftskonzept ebenfalls abgelehnt werden.

In Landauers “U-topie” einer “topischen” Gesellschaft dominiert das “Solidaritätsprinzip” über das “Individualitätsprinzip”, obwohl er die Wiederherstellung des Gemeinschaftslebens vom Willen der Individuen abhängig macht. Die nostalgisch-romantische Komponente der “Wiedergeburt der Völker und Gemeinden” verbindet sich mit einem pejorativen Verständnis von Individualität als Vereinzelung. Das Ideal der Herrschaftslosigkeit und Anarchie tendiert bei Landauer dazu, sich zugunsten des Gemeinschaftsideals auf die Negation nur einer Herrschaftsform, nämlich des Staates, zu reduzieren. Landauers “Mystik”, die in seinem Naturverständnis und in seiner Sprachkritik zum Ausdruck kommt, scheint auch für dessen Verständnis von Gemeinschaft von Bedeutung zu sein:

“Blut ist dicker als Wasser; die Gemeinschaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.” [28]

Es bleibt zu untersuchen, ob der besonders in Landauers Schrift “Skepsis und Mystik” zum Ausdruck kommende mystische Zug nicht verbunden ist mit jüdischen Vorstellungen. Der Gedanke der “Heimkehr” und “Wieder-Herstellung des Gemeinschaftsgeistes” legt in seiner quasi-eschatologischen Bedeutung diese Verbindung beider Einflüsse nahe. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß in Landauers Gemeinschaftsideal eines “geschichteten”, harmonischen Miteinanders die Beziehungen der Individuen nicht, wie etwa bei Kropotkin, als Resultat freier Vereinbarungen gedacht sind. Individuelle Interessen scheinen durch den “Geist der Gemeinde” harmonisiert und aufgehoben, ohne daß es zuvor zu Widersprüchen oder Konflikten zwischen Individuen und Gemeinschaft gekommen ist.

Während sich Landauer das Verhältnis Individuum—Gesellschaft als Aufgehobensein des Individuums in der strukturierten Gesellschaft vorstellt, denkt Bakunin die Integration des Individuums oder Gruppe eher aktiv unter dem Aspekt der Organisation als Einordnung des Teils in das “von unten nach oben” gegliederte Ganze, wie bereits in der Darstellung der Föderalismuskonzeption Bakunins ausgeführt wurde. Den Bakuninschen “Kollektivismus” kennzeichnet folgender Ausspruch:

“Ich will nicht ich sein
Ich will wir sein
Denn das wiederhole ich tausendmal
Nur unter dieser Bedingung werden wir siegen und unsere Idee siegen.” [29]

Die von den Anarchisten häufig propagierte “Einheit” von Weg (bei Bakunin: revolutionäre Geheimgesellschaften) und Ziel (bei Bakunin: Föderalismus mit hierarchischem Aufbau) bestätigt sich bei Bakunin. Im Hinblick auf einen “Konstruktiven Anarchismus” und ein freiheitlich ökologisches Gesellschaftssystem wäre gegen derartige “kollektivistische” und das Individuum der Gemeinschaft unterordnende Tendenzen in den Folgerungen aus dem Solidaritätsprinzip mit Buber einzuwenden, daß Gemeinschaft nicht zum Dogma werden und die Verwirklichung der Gemeinschaftsidee nicht festgelegt werden dürfe.

Das unter anderem im “Mutualismus” Proudhons, in der “Gegenseitigen Hilfe” Kropotkins und in Landauers “Geist der Gemeinde” zum Ausdruck kommende “Solidaritätsprinzip” wird neben den politischen Föderalismuskonzepten vor allem konkret in den Genossenschaftskonzepten der sozialistischen und kommunistischen Anarchisten. Genossenschaften, seien es Produktionsgenossenschaften, Disfributionsgenossenschaften oder Vollgenossensçhaften, stellen die anarchistische Alternative zur Ökonomie des Staatssozialismus und Kapitalismus dar, weil Genossenschaften den Anarchisten am geeignetsten schienen, Eigeninitiative und individuelle Freiheit zu gewähren, Ausbeutung der Arbeiter durch die Eigentümer der Produktionsmittel zu verhindern und die Möglichkeit zu schaffen, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit sowie entfremdende Arbeitsteilungen aufzuheben.

Ein “Konstruktiver Anarchismus” müßte sich die politische Alternative des Föderalismus und die ökonomische Alternative der Genossenschaften zu eigen machen, jedoch unter Verzicht auf die individualitätsfeindlichen Tendenzen. Auf der Basis dieser anarchistischen Alternative zum Zentralismus, Etatismus, Kapitalismus und Staatssozialismus könnten gegenüber der sozialdemokratisch-sozialistischen Tradition im Hinblick auf ein ökologisch orientiertes gesellschaftstheoretisches Paradigma neue Perspektiven gewonnen werden.

Doch eine auf diesen Alternativen beruhende freie Gesellschaft kann nicht als einmalig zu organisierender Zustand und nicht als im Rahmen vorgegebener und unflexibler Institutionen funktionierend aufgefaßt werden — gleichgültig, ob es sich dabei um staatliche oder um Bakunins föderalistische “von unten nach oben” aufgebaute Institutionen handelt —, sondern unter dem Vertragsaspekt der freien Vereinbarungen zwischen Individuen und deren Vereinigungen auf der Grundlage einer im Sinne Proudhons oder Kropotkins zu verstehenden solidarischen Gegenseitigkeit.

Ein “Konstruktiver Anarchismus” und auf ihm basierende ökologisch orientierte Gesellschaftskonzepte könnten sich einer dogmatischen Erstarrung erwehren, indem die Formen frei vereinbarter Kooperation der Individuen, Gemeinden und Genossenschaften, also die Formen herrschaftsfreier Beziehungen in allen Lebensbereichen, nicht als unveränderlicher Zustand, sondern als vielschichtiger Prozeß verstanden würden. Ein solcher Prozeß sollte weder durch starre Institutionen, Staat und bürokratische Verwaltungsapparate, noch durch festlegende Ideologien behindert werden. Der anarchistische Begriff des Lebens, und nicht vereinheitlichende Systemphilosophien, könnten die sozialphilosophische Grundlage des “Konstruktiven Anarchismus” und eines möglichen neuen ökologisch orientierten gesellschaftstheoretischen Paradigmas darstellen.

 

GESELLSCHAFT UND NATUR

Eine Natur, die man völlig sich selbst überließe, weil sie es ‘am besten weiß’, würde nur die erbärmlichste und eintönigste Lebensweise zulassen.
Passmore

In den vorhergehenden Abschnitten wurde der Versuch unternommen, aus dem breiten und heterogenen Spektrum anarchistischen Denkens die konstruktiven Elemente aus anarchistischen Theorien herauszukristallisieren, um dadurch auch eine Form der Wiederaneignung zu finden, die über eine bloße Rezeption der anarchistischen Positionen hinausgeht und zusammenhängende Inhaltsanalysen und -vergleiche ermöglicht.

Die folgenden Ausführungen unterbrechen in zweifacher Hinsicht die Vorgehensweise: Zum einen wird auch auf einen heutigen anarchistischen Theoretiker rekurriert — nicht also, wie bisher, auf die verschüttete Tradition des “klassischen” Anarchismus — und zwar aus dem Grund, weil über allerdings bemerkenswerte Ansätze hinaus in den Gesellschaftstheorien des “alten” Anarchismus die Ökologieproblematik nicht die Aufmerksamkeit erhält, die ihr heute beigemessen wird, wo sich die ökologische Krise in ihren menschheitsbedrohenden Ausmaßen zeigt; zum anderen wird in diesem Teil Bezug genommen auf einige ökologisch orientierte Gesellschaftskonzepte der Gegenwart.

So konzentriere ich mich auf die Untersuchung des Naturverständnisses einiger Anarchisten und auf den heute in den USA lebenden Anarchisten und Ökologen Murray Bookchin. Vergleiche mit dem marxistischen Naturverständnis sollen darauf verweisen, daß der radikale herrschaftskritische Ansatz der Anarchisten sowie Forderungen etwa nach Dezentralisierung, Vielfalt und Individualität auch im Naturverständnis einiger Anarchisten Konsequenzen zeigten.

Bookchin behauptete Mitte der 60er Jahre mit als erster politischer Ökologe, daß die Ökologieproblematik nicht in der bekannten Form des “Umweltschutzes”, also im Rahmen der bestehenden, auf Wirtschaftswachstum basierenden politischen Systeme in Ost und West gelöst werden könne, sondern nur auf der Grundlage einer “ökologischen Wende” zu bewältigen sei, indem den Tendenzen der staatlich strukturierten Gesellschaften zu Zentralisierung und Hierarchiesierung, zu Uniformität, Unflexibilität und “ordnungspolitischer Rigidität” Einhalt geboten werde. Bookchin sieht die ökologische Krise verursacht in der Herrschft des Menschen über den Menschen, die sich in ökonomischen, politischen und sozialen Insitutionen und Verhaltensweisen verfestigt habe und sich gegenüber der Natur u.a. als Raubbau, als zentralisierte, uniforme und den Bedürfnissen der Industrie angepaßte Landwirtschaft und in der Zerstörung natürlicher ökologischer Systeme auswirke.

Eine in der Herrschaft des Menschen über den Menschen verursachte Naturzerstörung könne nur durch den Aufbau einer anarchistischen Gesellschaftsordnung beseitigt werden, also durch politische und ökonomische Dezentralisierung, durch ein Gesellschaftssystem, in dem Vielfalt und Spontaneität ihren Platz hätten. Nur eine derartige gesellschaftliche Neuorganisation schaffe die Voraussetzungen, um den ökonomischen, politischen und sozialen Bereich in Übereinstimmung zu bringen mit dem natürlichen Ökosystem, welches auf Dezentralität, Spontaneität und Vielfältigkeit beruhe. Diese Funktionsstrukturen des Ökosystems, so Bookchin, entsprächen dem anarchistischen Gesellschaftsideal; eine anarchistische Gesellschaft sei folglich die einzig ökologische.

“Soll die Menschheit im Gleichgewicht mit der Natur leben, so haben wir uns der Ökologie zuzuwenden, um die Hauptrichtlinien zu erfahren, nach denen die künftige Gesellschaft organisiert werden sollte. Wiederum stellen wir fest, daß das, was wünschenswert ist, zugleich auch notwendig ist.” [30]

Wie zuvor die Marxisten im Rückgriff auf die Geschichte den Kommunismus als unumgängliche Notwendigkeit zu beweisen suchten, versucht Bookchin aus dem Ökosystem die Notwendigkeit der Anarchie zu beweisen — im Unterschied zu den Marxisten jedoch nicht als Geschichtsdeterminismus, sondern gemäß dem anarchistischen Freiheitsbegriff als “Wahlmöglichkeit” zwischen Anarchie = Ökologie oder Untergang der Gattung Mensch. Der ökologische Anarchismus oder die anarchistische Ökologie bleiben damit nicht, um mit Landauer zu sprechen, “ein Bestreben, mit Hilfe eines Ideals eine neue Wirklichkeit zu schaffen”, bleiben nicht mehr nur aus normativen Gründen heraus erstrebenswert, sondern werden gleichsam zur “wissenschaftlich” beweisbaren Notwendigkeit.

Die gesellschaftliche Umgestaltung lasse sich, so Bookchin, ausschließlich revolutionär und unter Ablehnung jeglichen Kompromißlertums herbeiführen und keinesfalls über Reformen. “Umweltschutz” als Reformmaßnahme innerhalb des Systems wird abgelehnt mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von Anarchie und Ökologie.

“Der Umweltschutz sieht die natürliche Welt nur als äusserliche Bedingung, die möglichst wenig verschmutzt werden soll ... Eine wirklich ökologische Sichtweise versteht die biotische Welt nur als Teil derselben.” [31]

Nachdem nun der Rahmen des ökologischen Ansatzes Bookchins Umrissen ist, möchte ich im Denken Landauers ein Naturverständnis aufweisen, das im Sinne Bookchins ebenfalls als ökologisches charakterisiert werden könnte. Im Kontrast dazu soll vorab eine kurze Bestimmung des marxistischen Naturverständnisses vorgenommen werden.

Marx sieht in der Natur “schlummernde Potenzen”, welche der Mensch in der Arbeit seiner “Botmäßigkeit” unterwerfe. Dieser Prozeß des “Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur” ist nicht als “gegenseitiger” Austausch des Menschen mit der Natur gedacht, vielmehr wird die Natur zum Material, das — so Alfred Schmidt — durch Arbeit “erlöst” wird: “das tote Ansich” wird in ein lebendiges “Für-uns” verwandelt.

Dieses Verständnis von Natur und Arbeit bei Marx weist wieder auf Hegel zurück, in dessen Geschichtsphilosophie durch die Arbeit des Geistes der absolute Geist sich die Welt aneignet und im Aneignungsprozeß Geist und Welt vermittelt. In der Umkehrung durch Marx ist Arbeit als materielle Aneignung von Natur gedacht. Arbeit ist Stoffwechsel mit der Natur in der Intention, Natur durch Unterwerfung zu beherrschen und menschliches Überleben zu sichern. Die Marxsche Wendung “Humanisierung der Natur” kennzeichnet diese Art des Denkens; auf der anderen Seite kann die “Humanisierung der Natur” unter diesen Voraussetzungen ebenfalls nur als Beherrschung der menschlichen Natur verstanden werden.

Zwei unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen gegenüber Natur lassen sich mit Erich Fromms Kategorien “Haben” und “Sein” kennzeichnen: Ein “Haben-Denken” bezüglich der Natur bedeutet tägliches Einverleiben, Unterwerfung, Beherrschung, Feindseligkeit gegenüber dem Nicht-Menschlichen (oder besser: Nicht-Vernünftigen) — die Natur wird zum Besitz, zum Material des Menschen. Ein “Seins-Denken” könnte bedeuten: Einpassung in die Natur, Leben im Gleichgewicht mit der Natur, Achtung vor der Natur als Eigenständigem, das als Lebendiges “An sich” Bedeutung “für uns” hat.

Marx und Hegel wären demnach Exponenten der “Haben-Kategorie”, Bookchin und Landauer scheinen der “Seins-Kategorie” zu entsprechen. In Landauers an der Mystik orientiertem Naturdenken gewinnt der Gedanke der Einheit von Mensch und Natur zentrale Bedeutung. Im Gegensatz zu Marx’ “Humanisierung der Natur” ist diese Einheit nicht herzustellen durch Arbeit oder rationale Naturerkenntnis. Der Mensch zerstöre, so Landauer, die Einheit mit der Natur, wenn er sich ihr mit rationalem Begreifenwollen nähere, da dies bereits einen Akt der Unterwerfung darstelle:

“Es muß uns endlich wieder einfallen, daß wir ja gar nicht nur Stücke der Welt wahmehmen, sondern daß wir selbst ein Stück der Welt sind.” [32]

Landauer weist damit, in krassem Gegensatz zur “Humanisierung der Natur”, auf einen “Wiederanschluß an die Natur”, welcher kontemplativ als mystisches Erleben seinen Ausdruck findet. Auch die von Marx “Stoffwechsel mit der Natur” genannte Arbeit zielt im Rahmen des Landauerschen Denkens nicht auf Herrschaft über die Natur durch Kampf gegen sie, sondern wird verstanden als Arbeit mit und in der Natur, die auf der Seite des Subjekts, in Entsprechung zur Marxschen “Naturalisierung des Menschen” nach Landauer “ein Stück Natur von uns lebendig” werden lasse.

Nach Landauer und Bookchin ist dieser “Wiederanschluß an die Natur” zu gewinnen, indem im Rahmen ökonomisch und politisch dezentraler Gemeinden die Landarbeit mit der Industriearbeit vereinigt wird, bei Einschränkung der Arbeitsteilung zwischen Bauern, Proletariern, Handwerkern und Intellektuellen. Die Nähe zu Natur und Boden bewirke, so Bookchin und Landauer, mit dem “Wiederanschluß” an die Natur ein natürlicheres Verhältnis des Menschen zu sich selbst und verändere damit auch zwischenmenschliche Beziehungen. Der Kampf um den Boden, so Landauer, beginne mit dem Kampf um die Natur in diesem doppelten Sinne: die Natur des Menschen und die äußere Natur.

“Das Stück Natur, das uns allen gehört, den Boden, können wir nur wiedererlangen, wenn das Stück Natur, das wir selber sind, ein anderes wird, wenn ein neuer Geist des Ausgleichs, der Erneuerung aller Lebensbedingungen über uns kommt.” [33]

Bei Bookchin wiederholt sich die Auffassung Landauers, daß das Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur korrespondiere mit dem Verhältnis zur eigenen Natur, d. h. bei Bookchin konkreter: zum eigenen Körper und zur eigenen Sexualität. Die neben der Voraussetzung der politisch-ökonomischen Umgestaltung auch auf diesen Aspekt sich gründende neue Gemeinschaftlichkeit wirke sich aus als ökologische Gemeinschaftlichkeit mit der Natur.

Landauer stellt demgegenüber mit seinen Gedanken zur Bodenbebauung zwar Verbindungen her zwischen seinem an der Mystik orientierten Naturverständnis und dem gesellschaftlichen Bereich, auch warnt er vor Arbeitsformen, die den Menschen der Natur entfremden, jedoch ist bei ihm eine über diese Ansätze hinausgehende politische Ökologie ebensowenig vorhanden wie bei Kropotkin, der sein “Solidaritätsprinzip” der “Gegenseitigen Hilfe” aus dem Tierverhalten und aus dem der Natur angepaßten Gemeinschaftsleben von Naturvölkern entwickelt, aber nicht wie Bookchin den Schluß zieht, daß menschliche Organisationsformen sich dem Biosystem anzupassen hätten.

Erst Bookchin stellt im Anschluß an Kropotkins Anarchismuskonzeption die Verbindung her zwischen anarchistischem Gesellschaftsideal und Strukturen und Funktionsweisen der Natur. Kropotkins Ideal ist, wie bereits dargelegt, das eines vielschichtigen und komplexen Systems freier Vereinbarungen zwischen Produktionsgenossenschaften, Gemeinden und sonstigen Vereinigungen, welches auf Vielfalt, Spontaneität, solidarischer Gegenseitigkeit und individueller Freiheit beruht. Bookchin erkennt nun in den Gesellschaftssystemen der Gegenwart Tendenzen und Strukturen, die diesem Gesellschaftsideal zuwiderlaufen und, entsprechend der Verbindung von Natur und Gesellschaft, eine Bedrohung in zweifacher Hinsicht darstellen:

1) Ausdehnung staatlicher Herrschaft und Bürokratie und, damit verbunden, Vereinheitlichung sozialer und politischer Organisations- und Lebensformen, sowie Einebnung regionaler Besonderheiten; Entindividualisierung durch Ausbeutung und Entfremdung unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen durch monotone Arbeit; “Gleichschaltung der Individuen” durch ein staatlich reglementiertes Bildungs- und Erziehungssystem und durch Konzentrationen im Bereich der Medien; insgesamt also durch Zunahme der Zentralisierung und Reglementierung und damit Ausschaltung von Spontaneität und Eigeninitiative;

2) Ausdehnung des Raubbaus an der Natur und Verschmutzung der natürlichen Umwelt als Folge eines Denkens, in dem die Natur als “Potential” des Menschen, als Ressource und als Lieferant von Rohstoffen verstanden wird; Ausplünderung der Erde durch das Kapital und dessen Profitinteressen; Vereinheitlichung der natürlichen Vielfalt des Ökosystems durch landschafts- und naturzerstörende Ausbeutung der Bodenschätze, durch Monokulturen in der Land- und Forstwirtschaft und die damit notwendig werdenden chemischen Schädlingsbekämpfungsmittel; Zerstörung der Vielfalt des Genpools; Industrialisierung der Landwirtschaft und Zerstörung topographischer Besonderheiten; Zentralisation durch Verstädterung und Konzentration der Großindustrien.

Nach Bookchin konvergiert die Krise der staatlichen Gesellschaftssysteme mit der der Biosysteme. Beide hätten gemeinsame Ursachen: Herrschaft, Zentralisation, Vereinheitlichung. Die zur Bewältigung dieser gesellschaftlichen und ökologischen Krise erforderlichen Maßnahmen, so Bookchin, konvergierten ebenfalls: Die Realisierung des Kropotkinschen anarchistischen Gesellschaftsideal entspräche auch den ökologischen Notwendigkeiten.

“… die Spontaneität im Leben der Gesellschaft (konvergiert —d.A.) mit der Spontaneität im Leben der Natur, um so die Basis für eine ökologische Gesellschaft zu legen. Die ökologischen Prinzipien, nach denen organische Gesellschaften geformt waren, treten nunmehr als soziale Prinzipien von neuem auf, um Utopia zu formen. Doch sind diese Prinzipien mittlerweile um die materiellen und kulturellen Errungenschaften der Geschichte bereichert worden. Die natürliche Ökologie wird zur gesellschaftlichen Ökologie.... Entweder wird die Revolution eine ökologische Gesellschaft mit neuen Öko-Technologien und Öko-Gemeinschaften hervorbringen, oder die Menschheit und die Welt der Natur, so wie wir sie heute kennen, sind dem Untergang geweiht.” [34]

Bookchin bezeichnet seinen Ansatz als einen “holistischen”, da in ihm berücksichtigt sei, daß sowohl in der Biosphäre als auch in der sozialen Sphäre das gleiche Prinzip der Einheit in der Vielfalt, der Dezentralität und Spontaneität Geltung habe, und da in beiden Sphären Herrschaft die Ursache der Krise und die Schaffung herrschaftsfreier Beziehungen die Beseitigung der Krise bedeute.

Die genannten sozialen und gleichzeitig ökologischen Prinzipien lassen sich nach Bookchin realisieren, indem der Mensch die Städte verläßt, sich in möglichst autarke Ökogemeinschaften auf dem Land ansiedelt, mit hochentwickelten dezentralen Technologien Landwirtschaft, Viehzucht und Kleinindustrien betreibt und damit zugunsten der Unversehrtheit des Biosystems sein Herrschaftsverhältnis der Natur gegenüber aufgibt, um sich ihr anzupassen.

Der Verzicht auf Herrschaft ist nach Bookchin in Anwendung seines “holistischen” Ansatzes auch das Kriterium, “Umweltschutz” von “Ökologie” zu unterscheiden. Umweltschutz mache, wie Raubbau oder Umweltverschmutzung, die Natur zu einem passiven Gegenüber, dessen sich der Mensch bedienen könne, nur mit einem “know-how”, das eine Ausplünderung der Natur bei einem Minimum an gewaltsamer Zerstörung möglich mache. Es werde aber nicht in Frage gestellt, daß der Mensch die Natur beherrschen müsse, im Gegenteil: “er versucht diese Herrschaft durch die Entwicklung von Techniken zu erleichtern ...” [35]

Für die Ökologie hingegen sei das “Gleichgewicht” und die “Unversehrtheit” der Biosphäre ein “in sich sinnvolles Ziel”. Der Mensch solle in “biotischer Gemeinschaft” [36] mit der Natur und deren Kreisläufen leben, die ökologischen Prinzipien zu gesellschaftlichen machen und in herrschaftsfreien und weitgehend autarken Gemeinschaften leben. Mit dem letztgenannten schließt sich Bookchin an einige Äußerungen Kropotkins an. Da es in Biosystemen aber bekanntlich keine vollständig geschlossenen autarken Einheiten gibt, hätte er bei seinem “holistischen” Ansatz der Konvergenz von Ökologie und anarchistischem Ideal m. E. besser auf Kropotkins Konzeption eines vernetzten offenen Systems von menschlichen Assoziationen zurückgegriffen.

Die Polarisierung von Umweltschutz und Ökologie setzt sich im Denken Bookchins fort, indem er systemimmanente Reformmaßnahmen an Gesellschaft und Natur (Umweltschutz) gleichermaßen ablehnt:

“Sämtliche Versuche zur Bewältigung der ökologischen Krise innerhalb des bürgerlichen Rahmens sind als blutleere Schimären zum Scheitern verurteilt. Der Kapitalismus ist von seiner Natur her antiökologisch.” [37]

Einzig eine systemsprengende Revolution werde die Ursache der ökologischen Krise beseitigen, nämlich die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Also: Ohne Anarchie keine Ökologie.

Ich werde nun die bereits angedeutete Möglichkeit, Kropotkins System komplexer Vernetzungen mit der Ökologie in Zusammenhang zu bringen, diskutieren, um anschließend die Frage zu stellen, welches Verständnis des Verhältnisses Mensch — Natur für eine freiheiliche ökologische Gesellschaft interessant sein könnte.

In Zusammenhang mit Kropotkins anarchistischer Utopie einer vernetzten dezentralen Gesellschaft dienten dem Anarchisten Ward, wie bereits ausgeführt, kybernetische Modelle als Erklärung dafür, daß sich

“in einer Gesellschaft ohne Regierung die Harmonie aus einem ständig wechselnden Auf und Ab zwischen der Vielfalt der Kräfte und Einflüsse ergibt, was seinen Ausdruck in einem ‘verwobenen Netz’ findet, das aus einer unendlichen Verschiedenartigkeit von Gruppen und Zusammenschlüssen aller Größen und Schattierungen zusammengesetzt ist ...” [38]

In Fortführung der von Bookchin festgestellten Konvergenz von ökologischen Strukturen und Strukturen des anarchistischen Gesellschaftsideals ließe sich ein derartiges kybernetisches Modell, wie es bei Kropotkin zu finden ist, auch auf ökologische Strukturen anwenden.

Ohne die Kybernetik als Erklärungsmodell zu bemühen, diskutiert der amerikanische Philosoph Passmore in einem Aufsatz über das Verhältnis von Mensch und Natur verschiedene Modelle, die dieses Verhältnis zu bestimmen versuchen. Nachdem das jüdisch-christlich-marxistische Denkmodell eines Unterwerfungsverhältnisses verworfen wurde, befürwortet Passmore eine an das kybernetische Modell erinnernde Erklärung, die besagt,

“daß die Welt aus komplexen Systemen von Wechselwirkungsprozessen besteht, die in ihrer Dauerhaftigkeit variieren. Jedes derartige System — und der Mensch ist eines davon — kann wie eine Flamme nur so lange überleben, als es auf die Systeme seiner Umgebung auf bestimmte Weise einzuwirken vermag, wobei es die es umgebenden Systeme einerseits beeinflußt, andererseits sich von ihnen beeinflussen läßt. Es kann zugrunde gehen, indem es an seinen eigenen Rückständen erstickt oder weil es seine Ressourcen erschöpft hat.” [39]

Nach diesem Modell bildet der Mensch innerhalb des weltweiten komplexen Systems von Wechselwirkungen ein System von Wechselbeziehungen mit seiner Umwelt wie andere Systeme auch; das menschliche System beeinflußt und wird beeinflußt, ebenso wie etwa das Biosystem “Wald”. Dieses Modell erklärt die Beziehungen innerhalb des Gesamtsystems als nicht hierarchische und unterscheidet sich damit von jüdisch-christlich-marxistischen Vorstellungen, in denen der Mensch als Herr der Schöpfung die Erde untertan machen bzw. die Natur humanisieren solle. Das menschliche Wechselwirkungssystem wird, wie jedes andere auch, als abhängig vom Funktionieren anderer Wechselwirkungssysteme betrachtet; der Mensch sichert seine Existenz, indem er, ebenso wie andere Systeme, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auf seine Umgebung einwirkt. Dies müsse nun aber derart geschehen, daß weder das menschliche System von der Natur zerstört wird noch umgekehrt die Natur zerstört und sich damit der eigenen Lebensgrundlagen beraubt.

Dieses Erklärungsmodell Passmores läßt sich durchaus vereinbaren mit dem kybernetischen Modell sich selbst regulierender Wechselwirkungssysteme.

Doch allein aus diesem Modell ist noch nicht ersichtlich, welche gesellschaftlichen Organisationsformen ökologisch am sinnvollsten seien, d.h. wie sich Biosysteme und Gesellschaftssysteme zueinander verhalten sollen. Das kybernetische Modell mache lediglich klar, so Passmore,

“warum man niemals eine Sache auf einmal tun kann.
(Es — d.A.) ... zerstört auch den Glauben, daß die Menschen irgendwie anders sind, außerhalb des Ökosystems stehen, sei es als verbrecherische Eindringlinge oder als heroische Manipulatoren.” [40]

Wie läßt sich nun dieses Modell Passmores mit Bookchins Auffassung vereinbaren, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur ebenso wie das Verhältnis von Mensch zu Mensch nach dem Ideal der Herrschaftsfreiheit eingerichtet werden müsse? Der von Bookchin propagierte Herrschaftsverzicht gegenüber der Natur schließt den Gedanken aus, daß der Mensch, wie andere Systeme auch, Wechselwirkungsprozesse auslöst bzw. aufrechterhält, indem er auf andere Systeme einwirkt; denn Einwirken bedeutet Eingreifen, also Umgestaltung und Veränderung, und zwar ohne das Gegenüber nach seinem Einverständnis zu fragen. Unter der Voraussetzung Bookchins, daß Herrschaftsfreiheit bedeutet, nicht gegen den Willen (oder sogar: nicht ohne das ausdrückliche Einverständnis) des von einer Einwirkung Betroffenen zu handeln, würde die Anwendung des anarchistischen Gesellschaftsideals auf das Verhältnis Mensch — Natur bedeuten, daß der Mensch mit der Natur in einer Art und Weise kommunizieren könnte, die herrschaftsfreie Vereinbarungen mit ihr ermöglichen würde.

Selbst wenn man nun von der Absurdität einer simplen Übertragung des Herrschaftsbegriffs aus dem zwischenmenschlichen Bereich auf das Naturverhältnis des Menschen absieht, und wenn man weiter in teilweiser Abgrenzung von Bookchins “holistischem Ansatz” die propagierte Herrschaftlsoigkeit der Natur gegenüber “nur” als Unterordnung des Menschen unter die Funktionsregeln der Natur bzw. Integration in das Biosystem versteht, hält Bookchin auch ein solches Verständnis von Herrschaftslosigkeit der Natur gegenüber nicht durch. Denn er räumt andererseits dem Menschen durchaus das Recht ein, planvoll und lenkend in Naturprozesse einzugreifen und dabei auch von geeigneten Technologien Gebrauch zu machen. Er ist sogar der Auffassung, daß menschliche Eingriffe in die Natur die ökologische Qualität “enorm” verbessern könnten. Bookchin kann also seinen “holistischen Ansatz” der Konvergenz von Biosystem und anarchistischem Gesellschaftssystem nicht so weit treiben, daß das Ideal der Herrschaftslosigkeit und “Unversehrtheit” auch das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmen würde. Denn spätestens mit seinem Plädoyer für lenkende Eingriffe in das Ökosystem wird die Entgegensetzung von Umweltschutz und Ökologie, also systemimmanente Reform und systemsprengende Revolution, hinfällig. Umweltschutz und Ökologie können demnach nicht mit dem Kriterium “Herrschaftslosigkeit” unterschieden werden; Herrschaft über die Natur — im Sinne Bookchins — wird in jedem Fall ausgeübt. Ökologie und Umweltschutz unterscheiden sich also, falls man diese Unterscheidung machen will, nicht grundsätzlich, sondern graduell. Der “holistische Ansatz” der Einheit in der Vielfalt, den Bookchin mit Hinweis auf Hegel formuliert und der auf einer Konvergenz ökologischer und idealer gesellschaftlicher Strukturen beruht, scheitert also.

Die Konsequenzen, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, keine Herrschaft über die Natur auszuüben, scheinen mir beträchtlich: Eine herrschaftslose Gesellschaft mit ökonomischer und politischer Dezentralisierung auf der Ebene von Individualität, Vielfalt und Spontaneität ist nicht per se eine ökologische, wie dies Bookchin glauben machen will, sondern muß sich erst als solche erweisen. Nachdem Herrschaftslosigkeit nicht mehr als Maßstab des idealen Naturverhältnisses des Menschen dienen kann, hat sich das Problem dahin verlagert, daß nun gefragt werden muß, welche gesellschaftliche Organisationsform die effektivste Naturbeherrschung, u. a. auch im Sinne der Erhaltung und des Schutzes von Natur gegen lebensbedrohende Zerstörung, gewährleistet. Joseph Huber z. B. spekuliert mit der Möglichkeit, daß multinationale Konzerne durch neue Biotechniken die effektivste Naturbeherrschung leisten werden, wenn nach Verschärfung der ökologischen Krise die Entwicklung entsprechender neuer Technologien ökonomisch interessant wird. So lasse sich die ökologische Krise auch ohne einschneidende politische Reformen bewältigen.

Wie nach der Auffassung Bookchins machen auch nach Harich und Gruhl die ökologische Krise und die Verknappung der Ressourcen eine völlige Umstrukturierung der politisch-ökonomischen Verhältnisse ständig notwendig. Doch im Gegensatz zu Bookchin plädieren Harich und Gruhl für autoritäre oder sogar faschistisch zu nennende Lösungen. Der Schutz der Umwelt und die Verteilung der immer knapper werdenden Ressourcen sei, so etwa Gruhl, nur von einer “Weltregierung” zu leisten, die “mit allen Machtmitteln ausgestattet wäre”, und der die Menschen in Zeiten der Not — Gruhl zitiert zustimmend Dostojewskis “Großinquisitor” — in der Hoffnung, Nahrung zu erhalten, ihre Freiheit bereitwillig zu Füßen legen würden.

“Eine globale Instanz müßte tatsächlich, um Erfolg zu haben, die gesamte Verteilung der Rohstoff- und Energiequellen und besonders von Nahrungsmitteln auch gegen den Willen der einzelnen Länder regeln können. Ja, sie müßte auch die erlaubte Kinderzahl für jedes Volk festsetzen und Verstöße ahnden.” [41]

Ferner stellt Gruhl in Aussicht, daß bei zunehmendem Bevölkerungswachstum “die Menschen zwangsläufig organisiert werden (müssen — d.A.) wie im Ameisenhaufen oder Bienenstock.” Diese mit ökologischen Notwendigkeiten gerechtfertigten Vorstellungen von Zentralismus, diktatorischen Eingriffen in das Privatleben, weitgehender Einengung des Freiheitsspielraums, sowie von weltweiten politischen und ökonomischen Verbindungen im Sinne einer autoritären Weltregierung u. a. verhalten sich zu den Vorstellungen Bookchins und dessen Zielen einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung konträr.

Die Vorschläge des Stalinisten Harich sind nicht weniger totalitär als die Gruhls; er fordert im Namen der Ökologie eine zentralistische Zwangsherrschaft, eine Rationierung aller Güter, die Reduzierung des Konsums mittels rigoroser Unterdrückungsmaßnahmen und Umerziehungsaktionen.

Diese Überlegungen Harichs und Gruhls einerseits und Hubers Spekulation einer von den Geschäftsinteressen der “Multis” initiierten ökologischen Wende andererseits stehen gleichermaßen im Widerspruch zum “holistischen Ansatz” Bookchins und dessen Behauptung, daß Ökologie eine politisch-ökonomische Dezentralisierung und eine Realisierung seiner Anarchismuskonzeption notwendig mache. Sie sind ferner auch Vorstellungen entgegengesetzt, wonach Ökologie dezentrale ökonomische und politische Strukturen und freiheitliche gesellschaftliche Zustände erfordern, wie dies etwa im “fundamentalökologischen” Konzept Amerys zum Ausdruck kommt, der damit dem Denken Bookchins sehr nahe ist. Amery vertritt die Auffassung einer Konvergenz von Ökologie und Freiheit und von Ökologie und Ökonomie:

“Das einfachste, das allerkonkreteste Freiheitsprinzip fällt auf weite Strecken mit dem Anliegen des ökologischen Materialismus zusammen. Und dieses Freiheitsprinzip ist wiederum in den ältesten und erfolgreichsten Formen anthropologisch tragbaren Wirtschaftens am Werk.” [42]

Auch Amerys weiterführende Argumentationen entsprechen weitgehend denen Bookchins, wenn er z. B. “menschlich erfaßbare Kreisläufe” schaffen will und darin die Möglichkeit sieht, daß Menschen für überschaubare ökonomische, politische und ökologische Zusammenhänge Verantwortung übernehmen können, was ihnen in einer Gesellschaft mit Massenproduktion und Massenkonsum unmöglich geworden sei und Entfremdungserscheinungen der Natur gegenüber nach sich gezogen habe.

Bookchin stellt, wie bereits ausgeführt, Zusammenhänge her zwischen der Verstaatlichung der Gesellschaft, dem Kapitalismus, der Bürokratie, der Vereinheitlichung des sozialen Lebens, der Atomisierung und Anonymisierung der Menschen usw. und der Naturzerstörung. Losgelöst von seinem “holistischen Ansatz” läßt sich nun auch bei ihm aufzeigen, daß dezentrale gesellschaftliche Organisationsformen eine im obigen Sinne effektive Naturbeherrschung begünstigen. So hält er eine Rücknahme der industriell-zentralistisch betriebenen Land- und Forstwirtschaft für die natürliche Vielfalt des Biosystems für angemessener; ökologische Schäden ließen sich durch eine Anpassung des menschlichen Systems an das Biosystem vermeiden. Eine solche Anpassung könne jedoch nicht unter zentraler Planung und in der Form großflächig betriebener Monokulturen erfolgen; diese hätten u. a. zur Folge, daß die natürliche Artenvielfalt durch Aussterben verarmt.

Forderungen nach Erhalt der natürlichen Vielfalt der Arten können über die “ästhetische Bedeutung” hinaus jedoch auch auf andere gute Gründe verweisen. So werden z. B. die Gene bisher “nutzloser” und fast ausgestorbener Pflanzen (Naturmais) inzwischen zu Züchtungszwecken verwandt, da sich die monokulturell kultivierten Pflanzen als zu schädlingsanfällig erwiesen haben. Es ließen sich daneben aber auch noch andere Gründe dafür anführen, daß die effektivste Form der Naturbeherrschung in einer Anpassung an die Natur nach dem Prinzip möglichst geringfügiger und schonender Eingriffe in die Biosphäre besteht. Eine solche Anpassung können aber nur ökonomisch und politisch dezentralisierte Gesellschaftsstrukturen ermöglichen, die es ermöglichen, Produktion und Konsumtion besser als bisher aufeinander abzustimmen, die das Biosystem nicht rücksichtslos den Anforderungen des Marktes oder auch zentral erstellten und die Besonderheiten der Regionen nicht berücksichtigenden Richtlinien staatlicher Planungsbehörden unterwerfen.

Es spricht einiges für die von Bookchin behauptete Übereinstimmung zwischen dem politisch, ökonomisch und sozial Wünschbaren und dem ökologisch Notwendigen. Doch scheint es mir fraglich, ob Bookchins Alternative, nämlich ländliche Ökogemeinden in überschaubarer Größe, die sich möglichst autark durch Landwirtschaft, Viehzucht und Industrie in kleinem Maßstab reproduzieren, eine von allen Menschen gewünschte Lebensform darstellen.

Zwar wäre der Isolation des Großstadtlebens durch gemeinschaftliche Lebens- und Arbeitsformen abgeholfen, aber daß ein Leben in relativ abgeschlossenen Ökogemeinschaften tatsächlich eine Garantie für Spontaneität, kulturelle Vielfalt, individuelle Selbstbestimmung und ein harmonisches Miteinander sein kann, wie Bookchin behauptet, scheint mir eher unwahrscheinlich. Ökogemeinschaften mögen ein harmonisches Gleichgewicht mit der Natur herstellen können, doch die “Verwurzelung” des Menschen in derartige Gemeinschaften führt nicht zwangsläufig zum harmonischen sozialen Gleichgewicht (einmal abgesehen von der Frage, ob ein derartiges Gleichgewicht auch wünschbar ist). Kleine Ökogemeinschaften, zumal wenn sie, wie bei Bookchin, als einzige Lebensform vorgesehen sind, bergen die Gefahr in sich, durch ihre totale Gemeinschaftlichkeit repressiv gegen das Individuum zu wenden, es einer umfassenden Kontrolle zu unterwerfen und individuelle Rückzugsmöglichkeiten zu versperren und so an herrschaftlicher Fremdbestimmung staatliche Herrschaft letztlich sogar zu übertreffen. Vor dieser Gefahr warnen, wie bereits dargelegt, die Verfasser gegenwärtiger Gesellschaftsalternativen auch nachdrücklich. Die schützende Anonymität des “entwurzelten” Großstadtlebens bietet demgegenüber Möglichkeiten individueller Entfaltung, die nicht zugunsten einer einheitlichen Gesellschaft von Ökogemeinschaften aufgegeben werden sollten. Ähnlich ausschließlich wie für das Gemeinschaftsleben plädiert Bookchin für einen Kommunismus innerhalb der vollgenossenschaftlichen Ökogemeinschaften. Das von ihm für Natur und Gesellschaft propagierte Ideal der Vielfalt verkürzt sich in diesem Gesellschaftsentwurf auf die Vielfalt innerhalb der gemeinschaftlichen und kommunistischen Strukturen der dezentralen Ökogemeinschaften. Da Bookchin es versäumt, auf den Vorschlagscharakter seines Konzeptes hinzuweisen und den Eindruck erweckt, sein Konzept sei das einzige ökologische und anarchistische, wirkt sein Denken dogmatisch und widerspricht dem anarchistischen Anliegen, daß nicht nur eine Form sozialen Lebens und nicht nur eine Form herrschaftsfreien Produzierens “erlaubt” sein soll, sondern, den verschiedenen individuellen Bedürfnissen entsprechend, vielfältigere Formen möglich und erwünscht sind.

Wie oben bereits gezeigt, muß der “holistische Ansatz” Bookchins also einerseits daran scheitern, daß das anarchistische Ideal der Herrschaftslosigkeit und freien Vereinbarung nicht auf das menschliche Naturverhältnis übertragen werden kann, andererseits daran, daß Bookchins häufig geäußertes Ideal autarker Gemeinden als ideale gesellschaftliche Organisationsform keinesfalls mit ökologischen Notwendigkeiten konvergiert, da ökologische Systeme keineswegs als gänzlich abgeschlossene existieren. Damit ist der Zusammenhang von Ökologie und Anarchie aber kein notwendiger mehr, und sowohl die ökologischen als auch die ökonomisch-politisch-sozialen Forderungen müssen gesondert begründet und in ihren jeweiligen Zusammenhängen erläutert werden. Es muß also argumentativ nachgewiesen werden, weshalb dezentrale und freiheitliche Lebensformen den ökologischen Notwendigkeiten entsprechen — wie gezeigt, gibt Bookchin einige plausible Gründe dafür an —, und ebenso muß für die Anarchie als optimale Gesellschaftsorganisation mit politischen, ökonomischen oder sozialen Gründen argumentiert werden. Die wechselseitige Stützung von Anarchismus und Ökologie erweist sich hier also als unhaltbar.

Bookchins politisches und ökonomisches Konzept bleibt denn auch recht widersprüchlich, vermutlich weil die Abstimmung des gesellschaftlichen mit dem ökologischen Bereich in seinen theoretischen Überlegungen nicht reibungslos gelingen konnte. In einigen Aufsätzen befürwortet Bookchin eine regionale Verflechtung der bereits erwähnten Gemeinschaften zum Zweck gemeinsamer Rohstoff- und Energiegewinnung, doch dominiert der Aspekt der Autarkie: Bookchin lehnt es ab, Rohstoffe und Energien zu importieren, anstatt sie, wenn auch in aufwendigen und arbeitsintensivsten Verfahren, selbst zu erzeugen. Sein Plädoyer für möglichst autarke Gemeinden entspricht seiner Abneigung gegenüber jeglichen politischen und ökonomischen Vertretungsformen; er lehnt sowohl ein Repräsentationssystem als auch rätekommunistische Konzepte zugunsten “direkter Demokratie’’ ab.

In seiner Befürwortung dezentraler, aber hochentwickelter “Lebenstechnologien” unterscheidet Bookchin sich von Illich und Amery. Er betont, daß es neben einer herrschaftsfreien Gesellschaft in einem intakten Ökosystem für ein menschenwürdiges Leben notwendig sei, materiell nicht nur abgesichert zu sein, sondern darüber hinaus auch in Wohlstand zu leben und durch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität möglichst wenig Zeit für die individuelle Reproduktion aufwenden zu müssen, bei gleichzeitiger weitgehender Reduzierung von schweren, eintönigen und unangenehmen Arbeiten. Werde zu viel Zeit für unkreative Tätigkeiten und die Reproduktion aufgewandt, so bliebe keine Zeit mehr für künstlerische und handwerkliche Tätigkeiten, für die Ausübung direkter Demokratie und anderes. Allerdings bedeutet das noch kein Plädoyer für die möglichst weitgehende Abschaffung von Arbeit überhaupt. Bookchin strebt vielmehr eine an dualwirtschaflicher Konzeption orientierte optimale Kombination von Automatisierung langwieriger Tätigkeiten und kreativer Eigenarbeit an:

“Es gibt keinen Grund, weshalb man eine automatische, kybernetisch gesteuerte Fertigung nicht so einrichten kann, daß die Vollendung der Produkte, insbesondere derjenigen für den persönlichen Gebrauch, der Gemeinschaft überlassen bliebe. Die Maschine kann die Arbeit des Förderns, Schmelzens, Transportierens und Vorbehandelns des Rohmaterials übernehmen und die Endstadien von Kunstfertigkeit und Handwerk dem Individuum überlassen.”[43]

Eine Tendenz zu dezentral anwendbaren fortgeschrittenen Technologien zeichnet sich nach Bookchin bereits ab; diese Hoffnung äußerte schon 80 Jahre vor ihm Kropotkin.

Es stellt sich nun allerdings die Frage, wie eine überschaubare Ökogemeinschaft eine derartig automatisierte Fertigungstechnologie herstellen und unterhalten können soll; diese Frage läßt immerhin vermuten, daß die von Bookchin erstrebte “relative Autarkie” auch regionale Kooperation zuläßt, wenngleich er das nicht explizit so sagt. Festzuhalten bleibt jedoch bei aller Widersprüchlichkeit der Konzeption(en) Bookchins, daß Technologie für ihn nicht per se Entfremdung, Unterwerfung des Menschen und Naturzerstörung bedeutet, sondern nach einer Umstrukturierung der Gesellschaft in dezentralisierter Form auch befreiende Funktionen wahrnehmen kann. Nicht komplizierte Technologien sind zu verwerfen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die sie die Form von zentralisierten Großindustrien und Militärtechnologien unter Inkaufnahme von Umweltzerstörung, inhumanen Arbeitsbedingungen und Ausbeutung annehmen lassen. In diesem Sinne kritisiert Bookchin die Perspektive, aus der

“in immer größerem Maße ... die Technologie als Dämon angesehen (wird — d.A.), der mit unheimlichem Eigenleben begabt, den Menschen, wenn er es nicht schafft, ihn auszurotten, zu mechanisieren droht.” [44]

Bookchin verfolgt mit seinem Programm des “Zurück zur Natur” also keineswegs ein “Zurück” zu primitiven Lebensweisen. Vielmehr ist dieses “Zurück zur Natur” durch einen hohen technischen Standard charakterisiert, der es ermöglicht, bei geringem menschlichem Arbeitsaufwand und unter Verzicht auf Naturzerstörung, durch politische und ökonomische Dezentralisierung eine effektive und gleichzeitig ökologisch verantwortungsbewußte Naturbeherrschung zu sichern.

Bookchin und die anarchistischen “Klassiker” Kropotkin und Landauer fordern, wie bereits ausgeführt, eine “Vereinigung von Land- und Industriearbeit”. Während Kropotkins Forderungen eher pragmatische Folgerungen aus dem Programm der politischen und ökonomsichen Dezentralisierung darstellen, werden bei Landauer darüberhinaus ökologische Implikationen deutlich, die allerdings nicht aus der — aus zeitlichen Gründen ja unmöglichen — Einsicht in eine ökologische Krise resultieren, sondern nur auf dem Hintergrund der Landauerschen Naturmystik verständlich werden. Der Mensch habe die Einheit mit der Welt, der Natur und anderen Menschen verloren und sei — wie die ihn umgebende Welt — in Stücke zerfallen. Diese verlorene Einheit müsse nun über die Wiedergewinnung des “Geistes“ von neuem hergestellt werden, indem die Gesellschaft “geschichtet” werde, ländliche Gemeinschaftssiedlungen den “Wiederanschluß an die Natur” vollzögen und durch die Naturnähe der Bodenbearbeitung “ein Stück Natur von uns lebendig” werde. Mit der notwendigen Zurückgewinnung des “Stücks Natur von uns” deutet Landauer auf die menschliche Sinnlichkeit; er spricht emphatisch vom Einheitserlebnis der Liebe und vom vereinigenden “Erkennen von Mann und Frau”. In dieser Intention erstrebt er, “das Stück Natur von uns” zu beleben, aus seiner Parzellisierung zu befreien und in der Einheit von Welt, Ich und Natur aufzuheben.

Auch Bookchin verbindet seine Vorstellung von menschlicher Gemeinschaft mit der Gemeinschaft von Mensch und Natur, und auch sein Konzept einer Gesellschaft aus ländlichen Ökogemeinschaften scheint nicht nur politisch und ökologisch motivierten Forderungen nach Dezentralisierung zu entspringen. Entsprechend der von Bookchin verkündeten Konvergenz von Biosphäre und Gesellschaftssphäre harmonisiere ein “radikaler Landbau” auch menschliches Gemeinschaftsleben. Eine solche Harmonisierung führe zu einer befreiten, harmonischen und nicht-repressiven Sinnlichkeit als neue Basis für menschliche Gemeinschaftlichkeit. Ob und in welcher Weise Bookchins Plädoyer für eine “selbstgeleitete Spiritualität” sein Naturverständnis beeinflußt, ist allerdings weniger klar als bei Landauer.

Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, daß Bookchins Verknüpfung von anarchistischen Gesellschaftszielen mit ökologischen Notwendigkeiten durchaus stichhaltig ist, wenn man sie löst von seinem “holistischen Ansatz”, in dem die vollständige Konvergenz von Biosphäre und Gesellschaftsideal konstruiert ist, und wenn sein Dezentralisierungskonzept mit dem einer überregionalen Kooperation verbunden wird. Diese unterstellte Notwendigkeit in der Verknüpfung beinhaltet Forderungen nach gesellschaftlicher Vielfalt, nach Spontaneität, Individualität mit der Notwendigkeit des Erhalts der Arten Vielfalt und landschaftlicher Besonderheiten, der Forderung nach dem Abbau der Zentralisierung der Großstädte und der Konzentration der Industrie und nach dem Verzicht auf großflächige Monokulturen, die der Produktionslogik der Lebensmittelindustrie unterworfen sind. Doch diese Modifikation bzw. Erweiterung widerspricht seiner eigentlichen Intention, die eine vollständige Dezentralisierung unter Verzicht auf weitergehende überregionale Kooperation und auf eine Gesellschaft aus weitgehend autarken Gemeinden als Organisationsideal gerichtet ist, obwohl er auch mal von einer “relativen Autarkie” der Gemeinden spricht.

In alternativen Gesellschaftskonzepten der Gegenwart wird mehr oder weniger entschieden eine Dezentralisierung postuliert, doch mit Ausnahme von Illich und Amery werden überregionale kulturelle, ökonomische, politische und soziale Kontakte, Kooperationen und Hilfeleistungen in das Dezentralisierungskonzept eingeschlossen; Anarchisten verbinden das Dezentralisierungs- mit einem Föderalismuskonzept und propagieren ausdrücklich weltweite Föderationen und Vernetzungen.

Zum Naturverhältnis des Menschen läßt sich abschließend feststellen, daß die Metapher oder das Denkmodell der Herrschaftslosigkeit das Verhältnis Mensch—Natur ebensowenig zu fassen vermag wie die traditionelle “christlich-marxistische” Vorstellung, daß der Mensch “Krone der Schöpfung” sei und sich die Erde untertan machen müsse. Eine derartige auf dem Grundsatz der “Humanisierung der Natur” beruhende “prometheische” Auffassung kommt übrigens im Fortschrittsdenken Trotzkis am markantesten zum Ausdruck, wenn er prognostiziert, daß der Mensch im Kommunismus die Erde “nach seinem Geschmack umbauen” werde, daß die Erde “künstlicher” werden werde durch Änderung der gegenwärtigen “Verteilung von Berg und Tal, von Feldern und Wiesen, Steppen, Wäldern und Meeresküsten.”

Nachdem die von Bookchin vorgenommene Unterscheidung von Umweltschutz und Ökologie fehlgehen mußte, weil ihr das aus der anarchistischen Gesellschaftstheorie auf das Naturverhältnis des Menschen übertragene Ideal der Herrschaftslosigkeit als entscheidendes Kriterium zugrunde liegt, ließe sich allerdings mit Hilfe der Kategorien Erich Fromms, “Haben” und “Sein” eine ähnliche Unterscheidung neu formulieren, und zwar zur Kennzeichnung unterschiedlicher Mentalitäten der Natur gegenüber: dem “Habensmodus” entspräche die Mentalität, die Natur als Nicht-Menschliches zunehmend unter die Ordnung und Kontrolle des Menschen bringen zu wollen; die Natur erscheint als Ressource, als Mittel und Material, dem “an sich” keine Bedeutung zukommt.

Dem “Seinsmodus” enstpräche es dagegen, die Natur als Selbständiges, als Lebendiges anzuerkennen, dem auch ohne “Humanisierung” und menschliche Umgestaltung Bedeutung “an sich” zukommt; nicht Unterwerfung der Natur also, sondern schonende Gestaltung und Verwaltung mit Rücksicht auf das Ökosystem kennzeichnen die dieser Mentalität entsprechenden Eingriffe. Über die allgemeine Kennzeichnung von Mentalitäten und Verhaltensgrundzügen hinaus ermöglichen es diese Modi auch, eingängige und heute oft geäußerte, aber irreführende Dichotomien zu kritisieren wie: Gleichgewicht statt Fortschritt, Unterwerfung unter die Natur statt Unterwerfung der Natur, einfaches und naturnahes Leben statt durch Technologien u. a.; und nicht zuletzt: Emotionalität statt Rationalität, Körper statt Geist.

 

 

KONSTRUKTIVER ANARCHISMUS UND EIN NEUES GESELLSCHAFTSTHEORETISCHES PARADIGMA

Ein Versuch wie der vorliegende, unter Kritik an “liberalistischen” und “kollektivistischen” Tendenzen im Anarchismus aus der vielschichtigen Tradition anarchistischen Denkens die konstruktiven Elemente herauszukristallisieren und aufeinander zu beziehen, liegt meines Wissens bislang noch nicht vor. Ein solches “Theoriedefizit” scheint verursacht durch mangelndes Interesse der etablierten “Linken” am Anarchismus sowie auf Seiten der Anarchisten durch dogmatisches Festhalten an einer “reinen Lehre”, durch die Beschränkung auf die hinreichend bekannte Kritik am Staat und “Realsozialismus” oder durch fehlendes Interesse an den positiven Inhalten anarchistischer Theorien.

In dieser Untersuchung wurden nun Überlegungen angestellt, die es erlauben könnten, aus dem Konstruktiven Anarchismus ein neues gesellschaftstheoretisches Paradigma zu gewinnen, das sich von den etablierten “linken” etatistischen Sozialismuskonzepten und von den verschiedenen Spielarten des “Liberalismus” ebenso unterscheidet wie von vielen Programmpunkten der “Grünen” und von den inhaltsleeren Abgrenzungsversuchen der “Ökolibertären”.

Heutige ökologisch orientierte “linke” Gesellschaftskonzepte können sich nicht damit begnügen, gemäß der Formel “Grün plus Rot” etatistisch dominierte sozialdemokratische Konzepte mit Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu verbinden, sondern müßte u. a. um die Interdependenzen von Umweltzerstörung und ungezieltem Wirtschaftswachstum wissen, von Arbeitszeitverkürzung (als Möglichkeit, ohne umweltzerstörendes Wirtschaftswachstum der Arbeitslosigkeit zu begegnen) und Ökologie und der Möglichkeit, das ohne Wirtschaftswachstum kaum finanzierbare Sozialwesen über “Sozialer Selbsthilfe” zu reformieren; darüber hinaus müßten heutige Gesellschaftskonzepte hinter der oft beklagten Staatsverdrossenheit, der Gründung von Bürgerinitiativen, dem Wunsch nach eigeninitiativer, dezentraler politischer Interessenvertretung und Organisation der eigenen Belange, hinter dem Widerstand gegen Bürokratisierungstendenzen und gegen eine datenmäßige Totalerfassung des Menschen das Bedürfnis nach größerem persönlichem Freiraum erkennen, um in der Änderung des Rollenverhaltens zwischen Frau und Mann, Kindern und Erwachsenen die Chance eines Herrschaftsabbaus zu sehen, der sich auch auf andere Bereiche ausdehnen kann; er müßte in “alternativen Projekten” und Betriebsübemahmen durch die Belegschaft die zunehmende Bereitschaft erkennen, genossenschaftlich und eigeninitiativ zu arbeiten und zu leben; er müßte in der Friedens- und Ökologiebewegung ein Potential erkennen, das ohne ein Einlenken der staatlichen Politik allenfalls mit Hilfe autoritärer und polizeistaatlicher Maßnahmen zu kontrollieren ist. Die Entwicklung des “Konstruktiven Anarchismus” erfolgte unter dem Interesse, gegenwärtige Tendenzen und Forderungen mit einer zusammenhängenden inhaltlichen Charakterisierung zu verbinden, und zwar unter folgenden aus dem Anarchismus entnommenen Zielsetzungen: politische und ökonomische Dezentralisation; eine genossenschaftliche Organisation der Arbeit; Vielfältigkeit der politischen, ökonomischen und sozialen Organisations- und Transformationsformen an den Erfordernissen der Biosphäre.

Um trotz Heterogenität zusammenhängende Untersuchungen anstellen zu können, wurde die kritische Sichtung anarchistischer Theorien vorgenommen, indem zunächst, ausgehend vom anarchistischen Freiheitsbegriff, das “Individualitätsprinzip” verfolgt wurde. Dem sind folgende Forderungen zuzuordnen: freie vertragliche Vereinbarungen, uneingeschränkte Gültigkeit des Ideals der Freiwilligkeit, Ablehnung jeder Herrschaft — auch einer die Anarchie organisierenden und einer zur Anarchie erziehenden Herrschaft, Vielfalt, Spontaneität, Eigentinitiative. Im Gegenzug wurde das “Solidaritätsprinzip”, wie es im “Mutualismus”, in “Gegenseitiger Hilfe” und im “Gemeinschaftsgeist” zum Ausdruck kommt, aufgezeigt und folgende sich daraus ergebenden Forderungen diskutiert: Produktions-, Distributions-, Kredit- und Vollgenossenschaften, kommunistische Gemeinschaften u. a. Aus der jeweiligen Zusammensetzung dieser Forderungen resultieren folgende Organisationsformen: Dezentralisierung, Föderalismus, Vernetzungssysteme ohne institutionellen Rahmen, Rätekonzeptionen u. a.

Abschließend sei zum Verhältnis der aus der anarchistischen Tradition ausgewählten Elemente des “Konstruktiven Anarchismus” zu den sich daraus entwickelnden freiheitlich ökologischen und zugleich sozialistischen “Perspektiven” noch einmal auf Landauer verwiesen:

“Anarchie ist nur ein anderer ... Name für Sozialismus.” [45]

Anarchie/Sozialismus sei außerdem nicht als Zustand, sondern als Prozeß zu verstehen:

“Sozialismus ist der Aufbau einer neuen Gesellschaft.” [46]

Dieser Prozeß der Anarchie/des Sozialismus sei nicht durch ominöse Gesetzmäßigkeiten determiniert, sondern entspringe Idealen, die Menschen zu realisieren versuchen:

“Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen.” [47]

 

 

 

[1] Proudhon, zitiert in: Nettlau, Die Geschichte der Anarchie Bd. 1, S. 163

[2] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 19

[3] Ebenda, S. 21

[4] Landauer, Beginnen, S. 109

[5] Most, Kommunistischer Anarchismus, S. 15

[6] Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 149

[7] Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie, S. 35

[8] Bakunin, Brief an Charles-Louis Chassin, in: Horst Stuke (Hg.), Staatlichkeit und Anarchie, S. 723—728, S. 726

[9] Landauer, zitiert in: Buber, Pfade in Utopia, S. 81

[10] Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, S. 399

[11] Mackay, Der Freiheitssucher, S. 195

[12] Malatesta, Unter Anarchisten und Sozialisten, in: Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 138

[13] Mackay, Der Freiheitssucher, S. 195

[14] Ebenda, S. 239

[15] Godwin, Über die politische Gerechtigkeit, S. 25

[16] Landauer, Revolution, S. 43

[17] Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, S. 140

[18] Kropotkin, Der Staat, S. 42f

[19] Proudhon, über das Föderative Prinzip, in: Thilo Ramm (Hg.), Ausgewählte Texte, S. 194

[20] Ebenda, S. 263

[21] Bakunin, Revolutionärer Katechismus, in: Staatlichkeit und Anarchie, S. 21

[22] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 130

[23] Kropotkin, zitiert in: Buber, Pfade in Utopia, S. 75

[24] Dejacque, Brief an Proudhon, in: ders., Utopie der Barrikaden, S. 91

[25] Buber, Pfade in Utopia, S. 75

[26] Kropotkin, Der Anarchismus, in: ders., Der Anarchismus. Seine Philosophie. Sein Ideal, S. 68

[27] Ward, Harmonie durch Vielfalt, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd. 3, S. 95

[28] Landauer, Skepsis und Mystik, S. 17

[29] Bakunin, zitiert in: Bienek, Bakunin — eine Intervention, S. 68

[30] Bookchin, Die Formen der Freiheit, S. 25f

[31] Bookchin, Natur und Bewußtsein, S. 18

[32] Landauer, Skepsis und Mystik, S. 10

[33] Landauer, Beginnen, S. 9

[34] Bookchin, Die Formen der Freiheit, S. 16

[35] Bookchin, Hierarchie und Herrschaft, S. 28

[36] Ebenda

[37] Bookchin, Die Formen der Freiheit, S. 16

[38] Ward, Harmonie durch Vielfalt, S. 95

[39] Passmore, Den Unrat beseitigen. Überlegungen zur ökologischen Mode, in: Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, S. 223

[40] Ebenda, S. 223f

[41] Gruhl, Ein Planet wird geplündert, S. 299

[42] Amery, Natur als Politik, S. 169

[43] Bookchin, Hierarchie und Herrschaft, S. 40

[44] Bookchin, Für eine befreiende Technologie, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd. 2, S. 60

[45] Landauer, Beginnen, S. 114

[46] Ebenda, S. 112

[47] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 4