Ret Marut
Im freiesten Staate der Welt
Er ist nicht nur der freieste Staat der Welt, sondern er hat auch das freieste Wahlrecht der Welt. Ein Wahlrecht, das demjenigen Manne, der eine oder zwanzig große Zeitungen besitzt oder der sich nur die Mühe macht, einige Millionen geschickt abgefaßter Flugblätter drucken und verbreiten zu lassen, die Möglichkeit bietet, soviel Einfluß auf die Wahl zu gewinnen als er nur immer mag. Ein Wahlrecht, das den Beichtstuhl und die Kanzel, das Ehebett und das Sterbelager zu politischen Propaganda-Zwecken gebrauchen läßt, ist in der Tat das freieste Wahlrecht der Erde. Es wurde nachgewiesen, daß die Wähler für die Sozialdemokratische Partei sich ungefähr aus einem Drittel Frauen und aus zwei Dritteln Männer zusammensetzen: die Wähler für die offiziellen Christus-Schänder dagegen aus zwei Dritteln Frauen und aus einem Drittel Männer. Und ein solches Wahlrecht gilt als Ausdruck des Volkswillens.
Der freieste Staat der Welt in der Tat: Wucherer und Schieber, Raubmörder und Mörder von Revolutionären leben in Wonne und Wollust, Arbeiter und Revolutionäre dagegen werden hingeschlachtet, in Gefängnissen und Zuchthäusern gemartert. Daß es einmal so kommen würde, wenn die Sozialdemokraten die Macht hätten, habe ich sozialdemokratischen Arbeitern bereits im Jahre 1905 gesagt. Daß die Sozialdemokraten, einmal zur Macht gelangt, hundertfach brutaler sein würden als die Väter des Sozialistengesetzes habe ich im Jahre 1907 sozialdemokratischen Wählern gesagt. Ich habe es ihnen gesagt nicht aus politischer Erkenntnis heraus, (die hatte ich damals nicht und die habe ich heute nicht, weshalb ich mir mein Gefühl für den Menschen bewahren konnte), sondern ich habe es ihnen gesagt aus dem Gefühl heraus, daß die Sozialdemokratie ein Papsttum züchtete schlimmer als das der katholischen Kirche.
Und so ist es denn heute auch gekommen: Die Sozialdemokratie, die von sich behauptet, daß sie auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stünde, ist völlig erblindet gegenüber dem gesetzmäßigen und folgerichtigen Gang der Entwicklungs-Geschichte. Die Sozialdemokratie glaubte, sie allein sei Die revolutionäre Partei: sie glaubte, nur sie vertrete die Interessen der Arbeiter; sie glaubte, sie sei das Höchste und das Ende aller politischen Entwicklung. Und doch erstand für Jeden, der sehen wollte, schon viele Jahre vor dem Kriege die Nachfolgerin der Sozialdemokratie; Die Kommunistische Partei. Heute schon ist darum auch die Sozialdemokratische Partei die Konservative Partei des Landes geworden, weil sie mit Staunen und Schrecken erkennt, daß sie von den Plänen links immer weiter auf die Plätze nach rechts gedrängt wird. Und wir müssen die Augen wohl auf halten, denn auch die Kommunistische Partei hat zur linken Seite schon ihre äußerst kräftige Nachfolgerin und es kann geschehen, daß die Kommunistische Partei, einmal zur Macht gelangt, die Anhänger ihrer nachfolgenden Partei vielleicht ebenso verfolgt, wie die Kommunisten heute von den Sozialdemokraten verfolgt werden. Ich stehe — um einen politischen Begriff beizubehalten — soweit links, daß mein Atem selbst jene Nachfolgerin noch nicht einmal berührt.
Nur Jemand, der vergißt, daß die Menschheit sich unausgesetzt weiter entwickelt und es in der Geschichte der Menschheit ebenso wenig einen Augenblick des Stillstandes gibt wie in der Natur, könnte darüber lächeln.
Aber bis zu welchem Zustand der Verkommenheit ist diese Partei herab gesunken, die Revolutionäre und Arbeiter, die nichts anderes verlangen als die Erfüllung dessen, was ihnen von den heutigen Regenten in der Zeit, als sie noch nicht regierten, tausendmal versprochen wurde, jagt wie die Tiere des Waldes, ja schlimmer, denn den Tieren des Waldes gibt man Schonzeit und verlangt ihnen gegenüber waidgerechtes Jagen. Wie verwahrlost ist diese Partei, die auf flüchtige Revolutionäre Kopfpreise von 10000 und 30000 Mark setzt. nicht um das Volk vor ihnen zu schüren, sondern um sich an ihnen zu rächen und sie zu ermorden. Was darf man von dieser Partei wohl noch alles erwarten, deren Mitglieder Morde, gesetzliche Morde (sie nennen es: Todes-Urteile) an Revolutionären vollziehen lassen? In jenem Lande, wo seit 1848 und trotz Sozialisten-Gesetz kein Todes-Urteil an Revolutionären vollzogen worden ist? Was müssen ehrliche Arbeiter von dieser Partei halten, deren Führer allein in Baiern fünftausend Revolutionäre in die Gefängnisse stecken und Freiheits-Strafen in Höhe von fünfzehn und acht Jahren Zuchthaus vollstrecken lassen, zu der Partei, deren Gründer und Führer in der Schweiz und in England Asyl fanden und deren Führer heute in der brutalsten und verletzendsten Form die Auslieferung flüchtiger Revolutionäre, die im Auslande Schutj suchten und fanden, verlangen, um Rache, gemeine Rache an ihnen zu üben. Die Partei, die trotz der ungeheuerlichen Not des Volkes ungezählte Zehn-Millionen übrig hat, um eine grausame Rache an Revolutionären ausüben zu können, hat ihre Zersetzung und Auflösung damit angesagt. Und zu den vielen alten Lügen dieser Partei-Pfaffen kommen tausend neue Lügen: „Wir sind nicht die Regierung, die Regierung ist eine Koalition“. Gut, aber wenn die Partei-Pfaffen infolge dieser brutalen Rache, die unter ihrer stillschweigenden Zustimmung an den Revolutionären vollzogen wird, aus der Koalition, die an sich schon eine Schmach des sozialistischen Gedankens ist, austreten würden, dann wären die unerhörten Verbrechen an den Revolutionären nicht mehr möglich. Und Sozialdemokraten, die in ihrem Programm Abschaffung der Todesstrafe fordern, stimmen für die Vollstreckung der Todesstrafen. Aber wieder lügen sie. sie hätten nicht dafür gestimmt. Hätten sie dagegen gestimmt, so konnte der Mord an Revolutionären nicht vollzogen werden. Und wie im Kriege, so auch jetzt: sie enthielten sich der Stimme und haben somit das Partei-Programm nicht verletzt. Solche Handlungen sagte man bisher nur den Jesuiten nach. Eine solche Partei ist gerichtet, die Revolutionäre der Rachegier und dem Blutdurst eines verkommenen und bestialischen Bürgertums aussetzt. Dadurch hat diese Partei dem Staatsbegriff mehr geschadet als es jemals ein Revolutionär hätte tun können. Und nur dadurch war es möglich, daß in Mönchen sieben Revolutionäre (die edleren Männer und Frauen nicht gezählt) nicht begnadigt, sondern wenige Stunden nach der Verhandlung ermordet, gesetzlich ermordet wurden, während in derselben Stadt vier Tage später ein Raubmörder, der zwei Gastwirts-Eheleute um des Raubes willen ermordet hatte, begnadigt wurde und Leute, die ihre eigenen leiblichen Kinder in der brutalsten und grausamsten Weise gemartert hatten, wenige Tage Gefängnis bekamen. Und ihr meint, die deutsche Revolution käme nicht?! Nicht die Spartacus-Leute machen die Revolution, sondern die, die da lügen, das deutsche Volk vor der Revolution schützen zu müssen, die machen die Revolution. Aber wehe Euch, Offiziere, Soldaten, Partei-Pfaffen, Richter, Staatsanwälte, Denunzianten und Zeitungsschreiber, die Ihr Revolutionäre ermordetet und martertet; Ihr habt Euch das Urteil gesprochen. Euer Tod ist beschlossen; und ich glaube, daß selbst ich Euch nicht mehr zu retten vermag.
Wenn ich es kann, wenn ich auch nur eine Spur von Gelegenheit habe, Euch zu retten, werde ich es tun, weil Menschenblut mich Ober alles kostbar dünkt.
Wieviele Menschen gab es, die hofften, das Bürgertum würde edler, besser, gerechter, versöhnender sein als Spartacus? Auch ich hegte diese Hoffnung, ich wohl in erster Linie, weil ich an das Gute im Menschen glaube, so lange er auch nur noch einen Atemhauch Leben hat. Aber wie wurden wir enttäuscht! Der losgelassene Bürger, den wir auf höherer Kulturstufe stehend glaubten, war ja so bestialisch, so rachgierig, so blutdürstig wie es Spartacus niemals auch nur einen Augenblick lang war. Und was hättet Ihr, Bürger, gewonnen, hättet Ihr auch nur einen Gedanken von Edelmut und von Versöhnung gezeigt! Ihr hättet vielleicht eine lebenslange Gnadenfrist bekommen. So aber habt Ihr Euren Untergang, vielleicht Eure völlige Vernichtung selbst beschlossen.
Und es ist schade; denn es gibt Viele unter Euch, die fähig sind, große und unvergängliche Werte hinüber zu retten. Unter den Zeitungsschreibern jedoch ist Keiner, der unter den kommenden Menschen Kultur-Güter oder geistige Werte erhalten oder erschaffen könnte. Seitdem auf den Leichen von etwa sechshundert braven Revolutionären — Ich grüße Euch alle im Tode noch! Euch alle, keinen einzigen ausgenommen, auch die „Geiselmörder“ nicht, Ihr alle starbt für die heilige Sache der menschlichen Entwicklung; und Irrende sind wir alle! — die Ordnung wieder hergestellt ist, hat die Unsicherheit in der Stadt München einen Grad erreicht, der nicht mehr übertroffen werden kann. Und die internationale Sozialdemokratie hat doch mehr als 20000 Landfremde (zu denen sie auch Preußen, Sachsen und Württemberger zahlte) ausgewiesen und die unsicheren Elemente in Schutzhaft gesteckt oder einfacher gleich verknacken lassen. Und doch sind seit der Wiederherstellung der Ordnung in München mehr Raub- und Lustmorde verübt worden als in den letzten fünf Jahren bis zum vorläufigen Ende der Räte-Republik Baiern zusammen genommen.
Davon sind allein sechs Raubmorde, von denen die in den wenigen Monaten der Bajonett-Ordnung verübt wurden, unaufgeklärt. Sehr natürlich, denn da das ganze Heer der Kriminalbeamten, Polizisten, Häscher und Schergen der Diktatur Hoffmann-Noske-Epp auf der Suche nach flüchtigen Revolutionären ist, eine ganze Horde sich in der Schweiz, in Österreich und in Preußen herumtreiben muß, um zu den vielen Zehn-Millionen Häscher-Unkosten einige weitere Zehn-Millionen zu fügen, so haben die Raub- und Lustmörder in München schöne Tage. Am lichthellen Mittag werden in der verkehrsreichsten Straße die Läden ausgeräumt, weil die Polizisten und Denunzianten nur Augen haben für Spartacus.
Diesmal können die Raubmörder und die Plünderer keine Spartacusleute sein, denn die Spartacusleute liegen in den Friedhöfen und in Sandgruben verscharrt; was übrig bleibt, sitzt in Zuchthäusern und in Gefängnissen; Landfremde können es auch nicht sein, weil die restlos ausgewiesen sind. Auch Juden können es diesmal nicht sein, die wieder die Ordnung stören; denn die Juden haben sich, wie sie in ihren schmachvollen Aufrufen den Ariern mitteilten, „wacker an der Befreiung der liebgewordenen Stadt München vom roten Terror russischer Bolschewisten beteiligt und haben Gut und Blut eingesetzt, um die rechtmäßige Regierung Hoffmann wieder zu den Masttrögen zu verhelfen“. Während nun Baiern der freieste Staat im freiesten Staate der Welt ist, erhebt Preußen nur den Anspruch darauf, kurzweg der freieste Staat der Welt mit dem freiesten Wahlrecht der Welt zu sein. Und darum war es in Preußen auch möglich, daß in Lyck in Ostpreußen, das der Oberhoheit des Sozialdemokraten August Winnig unterstellt ist, ein Freund des Ziegelbrenner zwei Jahre Festung erhielt, weil er den ersten Aufsatz aus Heft 16/17 des Ziegelbrenner mit Einwilligung des Schriftleiters als Sonderdruck vervielfältigen ließ und in einigen hundert Exemplaren verbreitete. Ein Aufsatz, der die Überschrift trägt „Der neue Weltkrieg“; ein Aufsatz, der nur einen einzigen Inhalt hat: Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Ich erfuhr diese Schandtat erst vor wenigen Tagen; ich kann vorläufig nichts anderes tun, als an dem Untergange der Regierung zu arbeiten, die solche Schmach vollbrachte. Aber ich grüße den revolutionären Gesellen; seine Haft wird keinen Tag länger dauern als die des ehrlosen Dr. Wadler, der acht Jahre Zuchthaus besuchen müßte und die des ehrenhaften Erich Mühsam, der fünfzehn Jahre Festung studieren könnte, wenn es so sein sollte und Scheidemann keim Lügner und Noske kein Deutscher wäre. Unter allen die mir durch M bekannt wurden (und die ehrlosen Dr. Lewine, T. Axelrod und Dr. Wadler gehören zu ihnen) ist auch nur einer, der ehrlos genannt werden könnte, selbst dann ehrlos genannt werden könnte, wenn ich den Maßstab bürgerlicher Moral anlegen würde. Aber über diese Sache werde ich noch sprechen so ausführlich, dass alle Völker der Erde hören werden. Ich bin ein wenig behindert in meiner Arbeit; einige hundert Briefe warten auf Antwort in der Frage: Wie geht es Ret Marut? Ich habe von den Freunden des Ziegelbrenner hinsichtlich der Anfragen über meinen Mitarbeiter M, hinsichtlich der Hilfeleistungen für M so viele herrliche Briefe erhalten — einige Gesellen schickten unaufgefordert Geldsummen für M — daß mir jedes Wort der Dankbarkeit fehlt. Ich würde den Menschen wehe tun, wollte ich sagen, was ich beim Lesen der meisten Briefe empfand.
Ich bin behindert in allen meinen Arbeiten: Der Ziegelbrenner-Verlag ist von den Schergen der Diktatur-Demokratie Noske-Hoffmann-Epp-Möhl so gut wie vernichtet, seine Reste sind in fünf verschiedene weit auseinander liegende Räume zersplittert; Bestellungen können nicht ausgeführt werden; mein Getreuester, ohne dessen unermüdliche Tätigkeit ich beinahe hilflos bin, wird von der bairischen Regierung steckbrieflich wegen Hochverrat gesucht und befindet sich vor der Blutgier der königlich wittelsbacher Sozialdemokraten auf der Flucht irgendwo im anständigen Ausland, das nicht von sich behauptet, der freieste Staat der Welt zu sein. Der Ziegelbrenner wird infolgedessen durch eine fliegende Schriftleitung verfaßt und durch einen fliegenden Verlag ausgegeben. Mehr als vierhundert Ungeduldige haben inzwischen den Ziegelbrenner abbestellt. Ich bin darob nicht traurig, die Ziegelbrenner-Gesellenschaft wird dadurch nur umso viel reiner als Überflüssige dahin zurückkehren, woher sie kamen: zur öffentlichen Hure Zeitung. Am 1. Mai 1919, dem ersten Weltfeiertage der Arbeit nach der November-Komödie, von der die deutschen Sozialdemokraten behaupten, es sei eine Revolution gewesen und mit der die kaiserlich-deutschen Sozialdemokraten alle Völker der Erde anlügen und anschwindeln, sollte in München nachmittags eine Sitzung von revolutionären und freiheitlich denkenden Schriftstellern aus den verschiedensten Städten Deutschlands abgehalten werden. Über den Zweck der Sitzung werde ich an anderer Stelle sprechen im Zusammenhang von Dingen, die der Welt offenbaren sollen, wie verlogen und wie verkommen das offizielle Deutschland geworden ist. Zu dieser Sitzung war auch mein Mitarbeiter M geladen: einmal in seiner Eigenschaft als Schriftleiter des Ziegelbrenner, in der Hauptsache jedoch in seiner Eigenschaft als Mitglied des Propaganda-Ausschusses der Räte-Republik Baiern. Den Hochverrat des M. dessentwegen er von der bairischen Regierung steckbrieflich verfolgt wird, um ihm ungefähr fünfzehn Jahre aufzuknacken oder — wenn man ihm ehrlose Gesinnung nachweist, was die bairischen Schandrichter so im Handumdrehen fertig bringen, wie die Prozesse auch dem verranntesten Reaktionär offen zeigen — ihn zu ermorden, besteht nach dem Inhalt des Steckbriefes in der Tatsache, daß M der Vorbereitenden Kommission zur Bildung des Revolutions-Tribunals und dem Propaganda-Ausschuß angehörte. Ich greife meiner späteren Arbeit vor und erkläre schon heute: Es hat bis zu dieser Stunde auf der ganzen Erde noch kein Gericht gegeben, in dem alle Urteile mit einem so tiefen menschlichen Verstehen jeder menschlichen Tat gefällt wurden wie bei diesem Revolutions-Tribunal, das die bairische Regierung und die Presse-Zuhälter als Schreckensgericht bezeichneten. Daß dieses Schreckensgericht von einer so hohen Auffassung des Richter-Amtes beeinflusst wurde, ist nicht zum wenigsten das Verdienst des M, der — und das teile ich der Staatsanwaltschaft mit, weil sie das bisher nicht wußte — von der Vorbereitenden Kommission einstimmig zu ihrem Vorsitzenden und Sprecher gewählt worden war. Der Provisorische Revolutionäre Zentral-Rat der Räte-Republik Baiern hatte M mit einstimmigem Beschluß in diese Kommission entsandt. In der Betriebsräte-Versammlung, die die höchste Regierungsgewalt der Räte-Republik Baiern ausübte, wurde M einstimmig — und zwar nach Vorschlag eines Buchdruckers, der in einer bürgerlichen Zeitung tätig ist — in den Propaganda-Ausschuß gewählt. M erklärt heute noch und er wird es immer sagen, daß diese Wahl durch revolutionäre Betriebsräte für ihn die höchste Ehre und für sein Arbeiten die höchste Anerkennung bedeuten, die ihm seit der November-Maskerade bis heute zu Teil geworden sind. In allen seinen Arbeiten — Ämter hat er nicht gehabt, — die ihm von der revolutionären Arbeiterschaft übertragen worden waren, hat er die Ideen vertreten, die im Ziegelbrenner nachgelesen werden können. Daß er seiner Arbeiten wegen, die zu übernehmen für ihn als Revolutionär notwendig und die abzulehnen unanständig und gegenrevolutionär gewesen wäre, nun als Hochverräter wie ein wildes Tier gehetzt, verfolgt, der Lebensmittel und der Wohnung beraubt wird, gibt ein klareres Bild von dem freiesten Staate der Welt als alle Artikel in den Zeitungen.
Als M im Kaffee Maria Theresia in der Augustenstraße saß wo er hoffte, einige Teilnehmer der Sitzung zu treffen, begannen die Autos der Weiß-Gardisten bereits durch die Straßen zu sausen, um München vom roten Terror zu befreien. Die Weiß-Gardisten mit Gewalt ins Auto auf die Gewehre geworfen. Inzwischen hatten sich eine Anzahl von Spaziergängern um die Gelegenheit gesammelt. Die Weiß-Gardisten fohlten sich und begannen nun laut auf M zu schimpfen, er sei der Hauptschuldige an dem vergossenen und an dem noch zu vergießenden Menschenblut und er solle nunmehr auch seinen Lohn erhalten. Diese Hetze blieb auf die Ansammlung ohne jede Wirkung: nur einer unter den Anwesenden sagte ganz laut: „Das ist der M.“ „So?“ fragten die Umstehenden zurück, „das ist der M ?“ Da sich infolge dieser Neutralitäts-Bekundung der Öffentlichkeit ein sofortiges Andiewandstellen nicht ordnungsgemäß vollziehen ließ, raste das Auto — M von zehn auf ihn gerichteten Pistolen und Gewehren umgeben — unter dem Geheul der edlen Freiheitskämpfer und Erretter des Bürgertums von dannen. Überall, wo sich nur Leute auf den Straßen fanden, brüllten die Wackeren hinaus: „Jetzt haben wir aber einen, den Allergefährlichsten!“ Trotzdem die braven Befreier doch Befreier waren und als solche gewiß einen schwachen Begriff von Mannesstolz und Freiheit hätten haben müssen, so mußten sie sich doch erst abstempeln lassen. Denn als sie an einem besseren Hause vorbeikamen, sahen sie an einem oberen Fenster einen Mann stehen. Trotz der Gefährlichkeit des M und trotz der Möglichkeit, daß M ihnen vielleicht entspringen könnte, hielten sie das Auto an, richteten sich im Auto hoch auf, wer sich stellen konnte, stellte sich in strammer Haltung hin, dann zogen sie ihre Hüte herunter und brüllten schmetternd: „Der Herr General soll leben, Hurrah, Hurrah, Hurrah!“ Die Freude und das Wohlbehagen, wieder einmal eine Minute lang Knecht sein zu können und einem Menschenschinder Ovationen bringen zu dürfen, schien sie die notwendige Subordination ganz vergessen zu machen; denn nach dem stramm vollbrachten Hurrah riefen sie hinauf: „Herr General, jetzt haben wir einen, den Allergefährlichsten“. Der Herr General, dessen Vorhandensein und ruhiges Verweilen in seiner Wohnung ein ausreichendes Zeichen für den bolschewistischen Terror war, grüßte wohlwollend herab. Höchst befriedigt, als wäre jeder Einzelne zum preußischen Unteroffizier befördert worden, sausten die wackeren Streiter für Münchens Freiheit mit ihrer wertvollen Beute von dannen.
Vor dem Kriegsministerium wurde gehalten. Unter schwerer Bedeckung wurde M ausgeladen, abermals nach Waffen durchsucht und dann geführt durch ein hundert Meter langes Spalier von waffenstarrenden Kriegsgewinnlern, Bourgeoisie-Söhnchen, eleganten Zuhältern und jenen Angehörigen des Sammelsuriums, das sich Mittelstand und solides Beamtentum nennt, die jetzt alle einmal Revolution machen wollten, wo es ungefährlich war, wo die Schandwehr-Truppen bereits ihr Feldlager vor der Residenz aufgeschlagen hatten und die öffentlichen Gebäude zu besetzen begannen. In einem der hinteren Räume des Kriegsministeriums wurde M nun untergebracht. Irgend ein Rechtsanwaltsschreiber oder etwas ähnliches hatte den Raum zu bewachen. .Hast Du auch Waffen?“ wurde der Bewacher von den Helden gefragt. .Hier, da schaut!“ und er brachte aus jeder Hosentasche einen Browning, zeigte diese Dinger dem Verhafteten, zeigte ihm die Ladung und hielt sie ihm dicht unter die Nase, während er sie entsicherte. „Ich wünschte nur, er machte einen Fluchtversuch“, sagte der Mann, während die Verhafter den M ansahen, als wäre er ein gut gemästetes Kalb, dessen Abschlachtung man garnicht erwarten könnte. Nun begann das Verhör Eine Weile stritten sich die Herren erst herum, wer von ihnen am besten verhören könne. Und als nun verhört wurde, rief bald der eine, bald der andere dazwischen: „Ach Du kannst ja garnicht verhören, laß mich mal“. Und so ging das eine schöne Weile, bis sie zuletzt alle durcheinander den M verhörten. Das Verhör bestand darin, daß sie dem M ungefähr zwanzig schwere Verbrechen des Hochverrats, der Aufhebung von Soldaten gegen Offiziere, der Beleidigung mehrheitssoziallstischer Regenten, der Gewaltanwendung gegen die rechtmäßige Regierung Hoffmann und mancherlei andere Schandtaten zur Last legten, für die nach Wunsch des Sozialdemokraten Hoffmann die Todesstrafe sofort zu erfolgen habe. M erklärte, daß er hier nichts zu äußern habe und daß er insbesondere diese Herrn, die ihn als ruhigen Spaziergänger einfach mit Gewalt von der Straße weggeschleppt hätten, nicht als Richter anerkennen könne. Als nun nichts aus M herauszubringen war, schrie plötzlich einer der Herren: „Gestehen Sie freiwillig, wir holen jetzt die Zeugen, und dann wehe ihnen, dann sind wir aber fertig“. Es kamen auch bald Zeugen, die alles wunschgemäß bekundeten. Diese Zeugen, die immer zur Stelle waren, besonders dann, wenn sie Zeuge sein durften wie ein Arbeiter an einen Gartenzaun gestellt und erschossen wurde, haben auch eine wichtige Rolle gespielt in den Prozessen der bairischen Schandgerichte, deren Wirken dermaleinst in der Geschichte für die Bestialität, die Brutalität, die Heuchelei und die Verkommenheit des deutschen Bürgertums und für die Verlogenheit der deutschen Sozialdemokratie ein besseres und wertvolleres Erkenntniszeichen sein wird als der Krieg und die November-Lüge. Entlastungszeugen, die M nannte und die zu laden er ersuchte, wurden hier ebenso wenig anerkannt wie dies bei den Schandgerichten der Fall war.
Nachdem die Herren kein Ergebnis erzielt hatten, gingen sie auf weitere Abenteuer aus. M wurde unter strenger Aufsicht des Browning-Besitzers zurückgelassen. Nach einer halben Stunde kamen die Mannen wieder. Als M trotz mehrfachen Drängens immer noch nichts zu sagen wußte, erklärten die Leute, sie würden ihn nun schon zum Geständnis bringen. M wurde hierauf — zwei schwerbewaffnete Männer zur Seite, zwei hinter ihm — wieder durch das Spalier geschleift und nach der Residenz gebracht. Auf der Straße hatte sich das Bild nun völlig verändert.
Aus den Fenstern wehten die blauweißen Fahnen, auf den Öffentlichen Gebäuden, wo bisher die sozialistischen Banner, die von der Sozialdemokratie längst verraten und besudelt sind, flatterten, waren schwarzweißrote Fahnen gehißt worden. Obgleich die Büttel des Herrn Hoffmann, dessen Futterkrippe sich jetzt wieder zu füllen begann, den Spalieren im Kriegsministerium wie auch in der Residenz zuriefen, sie brächten einen spartacistischen Arrestanten, so wurde M doch von keinem Schergen geschlagen oder beschimpft. An anderen Stellen der Stadt ging es zu dieser Zeit schon bestialischer zu. In der Residenz wurde M an Schandwehr-Soldaten abgeliefert, während die Einfänger und Zeugen die Erlaubnis nachsuchten, bei M bleiben zu dürfen, damit er nicht entwische und damit sie gleich bei der Hand sein könnten, wenn M vor das Feldgericht gestellt würde. Nach einer halben Stunde wurde angeordnet, daß M zum Polizei-Präsidium zu bringen sei, wo ein Feldgericht in Tätigkeit wäre. Als M abgeführt werden sollte, ließ man ihn samt seiner Begleitung unten nicht aus der Tür, weil inzwischen der Gegen-Befehl gekommen war, ihn gleich in der Residenz vor das Feldgericht zu bringen, M wurde wieder zurückgeführt und kam in das Vorzimmer eines großen Saales, wo das Feldgericht tagte. Das Feldgericht im Lande der eigenen Heimat-Genossen bestand aus einem schneidigen Leutnant. Dieser Leutnant erledigte in jedesmal etwa drei Minuten die Sache in der Weise, daß er auf Grund der Zeugen-Aussagen von Denunzianten entschied, ob der Verhaftete sofort standrechtlich zu erschießen oder ob er frei zu lassen sei. Im Zweifelsfalle wurde der Verhaftete erschossen, weil es sicherer war. Um Entlastungs-Zeugen kommen zu lassen oder auch nur Leute herbei zu rufen, die bestätigen konnten, daß der Verhaftete kein Spartacist oder gar ein Führer sei. hatte man nicht genügend Zeit. Der Raum, in dem sich M jetzt befand, füllte sich immer mehr mit eingefangenen Arbeitern, Rot-Gardisten, Matrosen, Mädchen und Knaben. M sah unter anderen denunzierten Leuten einen sechzehnjährigen Buben, der beschuldigt wurde, Schandwehr-Soldaten angegriffen und spartacistische Propaganda verübt zu haben. Aus dem großen Saale, wo der Leutnant zigarettenrauchend Aber das Leben und Nichtleben von Verhafteten entschied, wurden alle Augenblicke Arbeiter und Matrosen mit totbleichen Gesichtern abgeführt. Ihre erschreckten und traurigen Augen verkündeten allen Wartenden das Todes-Urteil, Ob der Leutnant, der hier über die Spartacisten und die denunzierten Räte-Republikaner zu Gericht saß, das Amt von der Regierung Hoffmann übertragen erhalten oder ob er es sich eigenmächtig angeeignet hatte, wird heute wohl nicht mehr entschieden werden können. So verging eine Stunde qualvollen Wartens. M fragte seinen Wächter, ob er noch einen Zettel an seine Freunde schreiben dürfe, damit sie wüßten, wo er geblieben sei. Das wurde ihm verweigert. Da wurde der letzte Mann, der vor M dem Leutnant überantwortet werden sollte, aufgerufen und hineingeführt. Bei der Unruhe, die dadurch entstand, daß der Mann von den Landsknechten zu roh angepackt wurde, was er sich verbat, gelang es M zu entkommen. Zwei Soldaten, denen einen Augenblick lang wohl ein Funken Menschlichkeit aufstieg als sie sahen, wie hier mit dem Kostbarsten was der Mensch besitzt, mit dem Leben, umgegangen wurde, waren an diesem Entkommen nicht unbeteiligt. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt für die Erhaltung eines Menschenlebens. In der Schandwehr befinden sich nach meiner Schätzung etwa zehntausend verirrte Reichswehr-Soldaten und Reichswehr-Offiziere. Reichswehr-Soldaten und -Offiziere erkennt man daran, daß sie Menschen sind und dem Oberbefehl des Deutschen Noske nicht unterstehen. Entbehrlich und überflüssig für das deutsche Volk ist aber auch die Reichswehr; und Deutschland wird erst dann das Recht haben, zu sagen, Goethe sei ein Deutscher, wenn in ganz Deutschland keine Schußwaffe, keine Handgranate und keine Gasbombe mehr auffindbar ist. es wäre denn in einem Museum. Ein Reichswehr-Offizier war es, der in einem öffentlichen Lokal in München zu einem Herrn, der bis dahin den Ziegelbrenner nicht kannte sagte: „München ist mir darum die liebste Stadt von allen Städten, die ich kenne, weil in ihr der Ziegelbrenner erscheint“. (Der Ziegelbrenner hat während des Krieges unter seinen Abonnenten etwa dreihundert Offiziere gehabt, von denen Viele mit der Schriftleitung in regem Briefwechsel standen.)
Seit jener Stunde wo es M gelang zu entkommen, ist er auf der Flucht. Wir haben mehreremale erwogen, ob es nicht besser sei. sich den Gerichten zu stellen; denn in Wäldern, Scheunen, leeren Wohnungen sehr oft zu nächtigen, um nicht interniert und schließlich doch noch ausgeliefert zu werden, ist ja auf die Dauer kein besonderes Vergnügen. Nachdem sich aber immer deutlicher und krasser herausstellt — besonders seit die Reaktion glaubt, wieder für die Dauer die Herrschaft in der Hand zu halten, weil die Arbeiter klüger geworden sind und den geeigneten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, — dass die Gerichte keine Gerichte, sondern Anstalten grausamster Rache und Blutgier; die Richter nicht Richter, sondern feile Henker und Schergen des Kapitals und des Bürgertums sind; daß die Richter keine gerechten und menschlich urteilenden Männer sind, sondern Mitglieder Monarchischer Parteien und Mitglieder des Zentrums und der Demokratischen Sippen; daß die Verhandlungen nur Schaustellungen sind für die öffentliche Hure, sodaß selbst einigen Durchschnitts-journalisten schon der Ekel angekommen ist und daß diese Verhandlungen nur dazu dienen sollen, um schneidigen Staatsanwälten Gelegenheit zu geben, Brillant-Feuerwerke abzubrennen und von der öffentlichen Hure dafür gelobt zu werden, weil sie in ihrer Anklage menschlichen Empfindungen keinen Raum geben, sondern die gemeinen Verbrecher der gerechten Strafe zuführen, würde es ja nichts anderes bedeuten als dieser öffentlichen deutschen Schande noch Vorschub zu leisten, wollte sich ein ehrlicher Revolutionär freiwillig diesen Gerichten, die sich jetzt sogar, um das Maß der Schmach vollkommen zu machen, Volksgerichte nennen, zur Verfügung stellen. Die Revolution geht ihren ehernen Lauf, sie geht folgerichtig und unaufhaltsam voran; und eine solche Reaktion, eine so bestialische Schandwehr und so ungerechte und unmenschliche Richter mußten .erst kommen, um den Boden für die deutsche Revolution vorzubereiten. Die Blindheit, in der sich heute das Bürgertum befindet und die Blutgier und Rachsucht, mit der es seine wankende Stellung zu festigen sucht, ist eine notwendige Vorbedingung für das Werdende. Das Bürgertum hat die Todesstrafe nicht abgeschafft, sondern sie auch noch auf politische Verbrecher erweitert. Ich wünsche aus ehrlichem Herzen und aus reiner Menschlichkeit, daß die Ablehnung des Antrages, die Todesstrafe abzuschaffen, für das Bürgertum nicht bedeutsamere Folgen haben möge als bisher für das Proletariat. Das deutsche Bürgertum hat jedes moralische Recht darauf verscherzt, ohne Gewalt und ohne Mord beseitigt zu werden. Wenn das Proletariat es trotzdem vollbringt, dem verlotterten Bürgertum den Gnadenstoß ohne Blut zu geben — und das Proletariat hat die Kraft hierzu, weil es mehr Sittlichkeit und mehr Menschlichkeit in seiner Seele trägt, — dann wird der Sieg der kommenden Revolution umso sicherer und unvergänglicher sein. Was nach diesen Ereignissen im Namen des freiesten Staates der Welt und im Namen seiner Demokratie-Diktatoren mit dem Verlag und mit Freunden des Ziegelbrenner geschah, das soll demnächst berichtet werden, weil bis heute die Akten noch nicht vollständig sind und jeder Tag neue Freiheit und neue Ordnung bringt. Die Räte-Republik ist nicht das Ende aller Dinge, noch weniger bedeutet sie die vollkommenste Form menschlichen Zusammenlebens. Für die Neugestaltung der Kultur aber ist die Räte-Republik eine Vorbedingung; sie ermöglicht die Liquidation des Staates. Für das Räte-System und damit auch für die Räte-Republik zu arbeiten, muß die Aufgabe des Revolutionärs von heute sein. Darum wird man auch begreifen, daß M, so lange er auch nur die allergeringste Freiheit des Handelns noch besaß, sofort nach seiner Befreiung den Gedanken der Räte-Republik und die Idee des Räte-Systems hinaus trug in das bairische Land.
In etwa sechzig Städten, Dörfern und Ortschaften Baierns sprach er zu Burgern. Bauern und Arbeitern. Er wählte einen anderen Weg als den, der heute üblich geworden ist, einen Weg, der erfolgreicher ist: er gebrauchte eine Agitations-Form, die allein wertvolle Früchte bringen kann, eine Form, die uralt ist und die auch Christus schon angewandt hatte: Die Rede von Mann zu Mann, die Rede zu den kleinsten Ansammlungen von Menschen. Seine Zuhörer kamen nur selten in größerer Zahl zusammen als zu zwölf Personen. Aber von diesen vertraulichen Besprechungen, die in jeder Weise zwanglos waren und jedem Hörer Gelegenheit gaben, sich durch Gegenfragen Ober das Gesagte restlos aufzuklären, ist kein Bürger, kein Arbeiter, kein Bauer fortgegangen, der nicht die große Lüge, die Demokratie heißt, als große Lüge erkannt hätte. Daß jeder Hörer nun auch gleich als begeisterter Räte-Republikaner fortgehen sollte, war garnicht die Absicht des Redners. Die so schnell Begeisterten, so schnell Überzeugten sind nur selten das Salz, womit man würzet. Oft reiste M drei Tage hintereinander nach demselben Orte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Er ist nie. weder von einem Bürger, noch von einem Bauer denunziert worden, obgleich die Zuhörer über die Person des M kaum im Zweifel sein konnten. Lediglich durch große Versammlungen ist wohl nie jemand von einer so neuartigen Sache, wie sie das Räte-System ist, in einer Weise überzeugt worden, daß er sagen könnte, er wüßte nun genau, was das Räte-System sei, was es bezwecke und wie es wirke. Darum herrscht eine so heillose Verwirrung unter den Arbeitern, weil sich infolge mangelnder Kenntnis jeder etwas anderes unter Räte-System und Räte-Republik und Diktatur des Proletariats vorstellt. Es kommt nicht darauf an große Massen zu überzeugen, große Massen zu lodernder Begeisterung mit zu reißen, große Massen zur Annahme einer Resolution zu bewegen, sondern es kommt darauf an, Menschen zu überzeugen. Die kommenden Menschen und die Menschen, die das Werdende vorbereiten, sollen nicht überredet werden, sie sollen nicht bedingungslos glauben, sondern sie sollen erfüllt werden mit dem Bewußtsein, daß dieses recht und durchführbar, jenes unrecht und undurchführbar ist. Die Menschen, die heute das Wollen zur Entwicklung in sich tragen, sollen nicht mit dem Hirn eines geschickten Führers für das kommende Geschlecht wirken, sondern mit ihrem eigenen Hirn, mit ihrem eigenen Herzen, mit ihrer eigenen Seele. Das können sie aber nur, wenn sie wissen, um was es sich handelt und wenn sie das, was sie selbst wollen, auch genau kennen und verstehen. Wenn Arbeiter, Bauern und nicht habgierige Bürger das Räte-System und dessen Wert und Wirkung erst in Wahrheit kennen, so wird ihnen jede andere Form menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens für die Zeit des Überganges zu einer höheren Form widersinnig erscheinen. M traf unter seinen Zuhörern einen akademisch tätigen Bürger, der sich als entschiedenen Gegner des Räte-Systems bekannte und der in höchster Begeisterung mit der Waffe in der Hand daran teilgenommen hatte, die Räte-Republik zu stürzen. Nach Schluß der Besprechung sagte der Herr zu M, er hätte ihn nicht überzeugt, er wolle sich aber das Gehörte noch einmal überdenken. Nach zwei Monaten traf M wieder mit jenem Herrn zusammen. Das erste, was der Herr zu M sagte, war; Sie haben Recht, und ich bin seit einigen Wochen Anhänger der Räte-Republik aus voller Überzeugung. Diesen Fall erwähnt M darum, weil es bis jetzt der einzige Fall ist, wo M Gelegenheit hatte, einen Gegner nicht unmittelbar nach der Besprechung, sondern einige Wochen später wieder zu sprechen.