Pierleone Porcu
Weder Rassismus noch Anti-Rassismus
Was bedeutet es, sich Fragen über das Phänomen des Rassismus zu stellen, das in den post-industriellen Gesellschaften des reichen und demokratischen Westens um sich greift, sich über die Motivationen zu befragen, die hinter den als Gegenmittel ergriffenen Massnahmen der jeweiligen Regierungen stecken? Meiner Meinung nach bedeutet es, sich die Frage nach den wirklichen Gründen, die ihn hervorbringen, und nach dem, was sich um sie herum dreht, zu stellen, denn alle bisher über diese Angelegenheit aufgestellten Thesen scheinen mir ungenügend, wenn nicht irreführend.
Das erste Problem beim Angehen solcher Fragen ist es also, aus der üblichen Denkensweise heraus zu treten, sich den Spiegeln zu entziehen, die absichtlich die Realität verzerren, wie die soziologischen Ideologien und Analysen, die voll mit psychologischem Idiotismus sind, und alles, was zur Bildung und Vermehrung von „Wegwerf“-Diskursen beiträgt. Dabei gehe ich von folgender Voraussetzung aus: «Richtig und Interessant ist nicht, zu sagen: dies ist aus dem entstanden, sondern: dies könnte so entstanden sein» (Wittgenstein).
Die Auflösung eines Gemeinplatzes
Beginnen wir mit der Behauptung, dass zwischen den heutigen Formen von Rassismus und jenen, die ihnen in der Vergangenheit vorangingen, weder eine historische Kontinuität noch ein ideologischer Zusammenhang besteht. Und dies nicht nur, weil sie in zwei völlig unterschiedlichen sozio-ökonomischen und politisch-kulturellen Kontexten entstanden sind. Die heutigen Formen des Rassismus werden von einem technologischen Entwicklungsprozess des Kapitals und der fortgeschritteneren Staaten genährt. Innerhalb der post-industriellen Gesellschaften löst dieser Prozess alle traditionellen Formen sozialen Lebens auf und durchbricht mit ihnen auch alle Kommunikationsstrukturen breiter proletarisierter Gesellschaftsschichten. Gleichzeitig, im Hinblick auf die Drittweltländer, zerstört er, indem er sie einverleibt, alle kulturellen Formen, Sitten und traditionellen Bräuche der dortigen Völker und löst somit ihre Identität auf – im Rahmen der Verwirklichung eines Herrschaftsprojekts auf globaler Ebene.
Die alten Formen von Rassismus hingegen entstanden aus einer Krise des Kapitals und der damaligen imperialistischen Staaten, die in der Massenvernichtung durch den Zweiten Weltkrieg ihren Auslass fand. All jene, die sich auf diese Art von Rassismus beziehen, um den heutigen zu erklären, verfälschen die Realität der Fakten und verschleiern immer wieder die wirklichen Ursachen.
Ein weiterer Aspekt, der hervorsticht, ist eine deutliche zahlenmässige Disproportion zwischen einerseits dem vom Phänomen erreichten Ausmass, das breite Bevölkerungsschichten miteinbezieht, und der Zustimmungsbasis, über die die neofaschistische oder neonazistische Rechte verfügt. Was diese letzteren betrifft, zählt man die nostalgischen Überbleibsel vergangener Regieme und die jungen kahlgeschorenen Bulldoggen, so kommt man auf eine ziemlich unbedeutende Zahl. All dem fügt sich noch ein weiterer Aspekt hinzu: ein deutlicher Unterschied zwischen den alten, grob und erklärt geäusserten Formen von Rassismus, Formen, die von allen verabscheut werden, und den neuen, subtil tückischen, schleichenden, anonymen Formen, die, so sehr sie auch alle auf präzisen sozio-ökonomischen Diskriminanten beruhen, psychologisch nicht ideologisiert wurden.
Eine irreversible Anklageschrift
Einer der Punkte, auf die sich die heutigen Formen von Rassismus stützen, bildet die geschickt diskriminierende Handlung. Auf institutioneller Ebene wird diese von jenen Demokraten umgesetzt, die den edlen Charakter ihres Verhaltens gegenüber ausländischen Arbeitern durch die Anwendung von Formen sozialer Fürsorge betonen, die sich gut neben die Freiwilligenarbeit von religiösen Organisationen und Jugendfraktionen der verschiedenen Parteien und Gewerkschaften stellen lassen. Unter einem anderen Aspekt diskriminieren diese selben Demokraten die proletarisierten Gesellschaftsschichten der lokalen Bevölkerung. Diese werden somit angeregt, ihre Wut gegen die ausländischen Arbeiter zu richten, die in ihren Augen, in Anbetracht des geringen Interesses der Regierenden gegenüber den Grundbedürfnissen der proletarisierten Schichten (Arbeit, Wohnraum, Sozialhilfe, usw.), quasi als Bevorteilte gelten.
Diese Situation kreiert einen induzierten Krieg unter proletarisierten Massen, der in allen Lagern eine Entwicklung ohne soziale Konflikte begünstigt, die sich gegen die Strukturen der Herrschaft richten würden. Und zwar deshalb, weil der Konflikt ins Innere der armen Massen selbst übertragen wurde, die nun gegeneinander ausgespielt werden.
So wurden die materiellen, sozio-ökonomischen und politisch-kulturellen, aber auch die psychisch-ideologischen Bedingungen dieses neuen Rassismus, auch wenn es paradox erscheinen mag, eigens von den demokratischen Kräften geschaffen. Dieselben, die auf den Plätzen den anti-rassistischen Protest der Bevölkerung kanalisieren und leiten, und gleichzeitig die auf institutioneller Ebene zu ergreiffenden Massnahmen aufzeigen, um diese Welle zu bremsen.
Die totalitär-demokratische Mentalität
Seit wir dieses post-industrielle Zeitalter betraten, sprechen alle von einer multikulturellen, vielförmigen und diversifizierten Gesellschaft als Zeichen eines progressiven Fortschritts der sozialen Emanzipation in globaler Hinsicht, ohne jedoch den schrecklichen Kolonialisierungsprozess wahrzunehmen, der in den Gesellschaften im Gange ist, die gegenwärtig in einer einzigen globalen Gesellschaft neueingegliedert werden. Ein Prozess, der es ermöglicht, jede reelle Differenz zwischen den verschiedenen Völkern und den verschiedenen Kulturen zu vernichten. Ganz zu schweigen von den völlig von ihrer eigenen Identität losgelösten Individuen. Wenn die Nazis auf ihre Art die genetischen Differenzen zwischen den verschiedenen Völkern eliminieren wollten, so bereiten sich die Demokraten darauf vor, dasselbe Werk zu verrichten, während sie sich damit begnügen, die Köpfe der Individuen zu entleeren.
Wenn diese post-industrielle Gesellschaft in ihrem Innern völlig von den technologisierten Apparaten des Staates und des Kapitals dominiert zu sein scheint, die die Bewegungen der Individuen, die ohne ihr Mitwissen zur äussersten Prothese dieser monströsen und despotischen, wissenschaftlich organisierten Gesellschaftsmaschinerie geworden sind, bis ins kleinste Detail kontrollieren und verwalten, dann müssen wir die Mentalität analysieren, die eine solche Situation herbeigeführt hat.
Um es mit Adorno zu sagen: der Demokrat betrachtet die zwischen den Individuen existierenden effektiven oder imaginären Differenzen als Schandflecken, und wenn diese vorliegen, so ist das ein Zeichen für einen mangelnden oder noch nicht abgeschlossenen „sozialen Homogenisierungsprozess“. Es bedeutet, dass es noch etwas gibt, das nicht gänzlich integriert ist, etwas, das der feinverästelten Kontrolle des totalitären Systems entgeht. «Die Technik, die in den Konzentrationslagern angewendet wurde, neigte dazu, die Gefangenen ihren Aufsehern anzugleichen» (Adorno). Überträgt man dieses Konzept ins Innere der Gesellschaft, so bedeutet das, dass die Ausgebeuteten umso mehr dazu neigen, sich jenen anzugleichen, die sie kontrollieren, je schwerer die Unterdrückungsverhältnisse werden.
Wenn der Progressist und der Demokrat bekräftigen, dass alle Individuen, ob weiss, schwarz, gelb, oder was auch immer, genau gleich seien, mit dem Ziel, Diskriminierungen oder unterschiedliche Behandlungsweisen zu verhindern, beschränken sie die Frage, ohne es zu merken, nicht nur auf das im herrschenden Systen gebräuchliche Kriterium, sondern verhüllen auch die Tatsache, dass es in Wirklichkeit nicht so ist, denn jeder Mensch hat seine eigene Logik, sein eigenes Bildungsgut, seine eigene Art, dieselben Konzepte zu verstehen. Deshalb wird er ausgehend von eben diesem Gleichmachungsanspruch erniedrigt und vergewaltigt. Auf diesem Kriterium basiert der Prozess sozialer Vereinheitlichung, der stets von jedem Totalitarismus in die Gänge geleitet wurde und der, neben der Hemmung von allen, die sich gerne nach ihren wirklichen und wahren Neigungen verhalten würden, darauf abzielt, immer und egal wie, jene zu terrorisieren, die sich anders verhalten.
Toleranz ist in dieser Gesellschaft zum Pflichtwort geworden, worauf sich alle Dinge bemessen. Ausserhalb von ihr gilt man als Barbar, Tier oder ähnliches. So ist man natürlich immer mehr geneigt, alles zu zermalmen, zu vergewaltigen und zu vernichten, was nicht ins Integrationsschema passt. Im Namen des Fortschritts und der Zivilisation der Sitten fühlt man sich dazu autorisiert, soziale Lobotomisierungsprozesse gegen diese oder jene Gruppe in Gang zu setzen, die sich ihrer Integrierung nicht fügen will.
Der repressive und erschreckende Horizont des demokratischen Ideals, das auf einer erklärt reaktionären und autoritären oder auch progressistischen und autoritativen Mentalität basiert, reicht soweit, dass er alle Individuen gleich haben will, mit dem einzigen Ziel, sie wissenschaftlich verwalten zu können. So wird das demokratische Ideal zu einem polizeilichen Ideal, wovon die Diktatur nur eine rohe Variante ist, die noch nicht von der Logik rationalisiert und durchgeplant wurde, die nun allumfassend geworden ist und alles in einem einzigen Rationalitätskriterium verschlingt.
Dieser demokratisch-totalitäre Kolonisierungsprozess treibt als Konsequenz alle Individuen dazu, dieselben Dinge zu tun, wenn auch auf andere Weise, und zwar insofern wie sie sich in derselben Logik bewegen. Jedes Individum wird zu einer Verbindungseinheit des Systems, von dem es rezykliert und nach den vorherrschenden Normen integriert wurde. Wenn alle einander gleichartig sind, dann entspricht das dem Ende jeglicher Opposition, was dem System eine ungeteilte Zustimmung verschafft.
Was man sich, basierend auf diesem Kriterium, unter sozialer Gleichheit vorstellt, ist nichts anderes, als die Planung einer herrschenden Gesellschaft, mit der entsprechenden Verflachung und Reduzierung eines jeden auf eine ideale „Figur“, die die Zunichtemachung und Wiedereingliederun symbolisiert. Die soziale Gleichheit als eine in den irreduziblen Differenzen eines jeden Individuums beschlossene Sache vorauszusetzen, erscheint dem Demokraten als etwas unbegreifliches, da es sich dabei um eine unverwaltbare Realität handeln würde, die sich nicht auf ein einziges Kriterium von System und Logik reduzieren lässt. Dies ist seine rationalisierte Angst vor der Freiheit.
In dieser Logik nährt und motiviert der Demokrat die heutigen Formen von Rassismus, während er gleichzeitig unbewusst auf einen fortschreitenden Identitätsverlust unter ethnischen Gruppen, sozialen Bevölkerungsschichten und Individuen antwortet, die sich alle auf die eine oder andere Weise bedroht fühlen.
Rassismus und Antirassismus werden in der Wirtschaft des Herrschaftsprojekts die beiden Pole einer Notkampagne sein, die dazu dient, Repression, Kontrolle und Zustimmung ohne übermässige Hürden durchzusetzen.
Die Rolle der grossen Informationsmittel
Wir haben die Durchbrechung der Kommunikationsstrukturen in den unterschiedlichen proletarisierten Gesellschaftsschichten angesprochen. Man muss diesen Bruch aber auch auf die kleinen, beispielsweise die ländlichen Gemeinschaften ausweiten, in denen die vom Kapital und von den fortgeschritteneren Staaten herbeigeführte technologische Revolution die gesamte soziale Struktur über den Haufen warf, indem sie die Ordnung der Dinge auf allen Ebenen radikal veränderte und ganze Kulturbeständer verschlang, die somit zerstört wurden.
Es ist klar, dass für die aufgelösten und in peripheren Zonen der Metropolen zerstreuten sozialen Gruppen und Schichten, ebenso wie für die kleinen Land-, Berg- oder Fischergemeinschaften, die Rolle der neuen Kolonial-Kommunikationsstrukturen wesentlich ist. Ihre multimediale Funktion, die von den Herrschaftsapparaten realisiert wurde, garantiert die Bemächtigung und Reglementierung aller Lebens- und Beziehungsformen – von der gesellschaftlichen bis zur zwischenmenschlichen Ebene.
So sind die Radiohör- aber vorallem die Fernsehstunden angestiegen, wobei mittlerweile „non stop“ gesendet wird, mit einer regelrechten Fernseh-Abhängigkeit zur Folge. Die Kommunikation zwischen den Mitgliedern des Familienkerns wird immer seltener. Ihr Platz wurde vom Fernseher eingenommen, der folglich die einzelnen Mitglieder isoliert. Diese grossen Informationsmittel üben eine terroristische Rolle aus, die darauf abzielt, die Ausländer als Menschen eines anderen Planeten darzustellen. Die Leute sehen sich auf diese Weise bedroht und werden folglich dazu angetrieben, sich gemeinsam in Organisationsformen zusammenzuschliessen, die oft auf der Aufteilung des Territoriums, auf rüpelhaften Aspekten und auf Frustrationshandlungen basieren, von welchen insgesamt das Gefühl einer unbewussten Bedrohung durchscheint, die scheinbar vom „Ausländer“ ausgeht.
Der Rassismus ist ein Phänomen, das sich ausgehend vom Verlust jeglicher Reflexionsfähigkeit des Menschens vergrössert, wie des Schreibens, des Diskutierens, des Lesens, ein Verlust, der parallel zum Erwerb grösserer Interessen für die oberflächlichen oder symbolischen Aspekte verläuft, wie Hautfarbe, Sitten, Bräuche und andere regressive Kommunikationsformen. Die grossen Informationsmittel treiben grosse Massen von Entwurzelten dazu an, sich als Statisten gegenüber Ereignissen zu fühlen, die die Sozialisierung nur durch ein Nachahmungsprinzip und nicht durch Bewusstwerdung antreiben können. Diese Mobilisierung wurde so zur Basis der Integration ins System, ohne dass dieses letztere in Frage gestellt wird. Daher die Entwicklung eines fiktiven Konfliktzustands innerhalb der ausgebeuteten Massen. Das Binom Rassismus-Antirassismus bildet das Schema solcher Konflikte, ein Schema ohne Ausweg. Sich am einen oder anderen dieser beiden Pole zu beteiligen, bedeutet, das Gesamtschema zu nähren, ohne es auflösen zu können, indem der Kreis einer schädlichen Beziehungsbildung durchbrochen wird.