Titel: Sie Alle Sind – Sozialisten!
AutorIn: Kropotkin, Peter
Quelle: Aus: Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen. Rowohlt 1972. S.148-152
Bemerkungen: Französischer Originaltitel: "Tous socialistes!". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Seitdem die sozialistische Idee in die Massen des arbeitenden Volkes einzudringen beginnt, können wir eine höchst interessante Tatsache beobachten. Die ärgsten Feinde des Sozialismus haben begriffen, daß das beste Mittel, denselben zu meistern, darin besteht, sich als seine Anhänger auszugeben; und sie beeilen sich, zu erklären, daß auch sie Sozialisten sind. Man spreche nur mit einem dieser reichen Bourgeois, die erbarmungslos ihre Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder ausbeuten. Man spreche ihnen von der schändlichen Ungleichheit, dem Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, den Krisen und dem Elend, welche dadurch entstehen; man spreche ihnen von der Notwendigkeit, das Herrschaftssystem des Privateigentums abzuändern, um so das Los der Arbeiter zu verbessern; und wenn dieser Bourgeois einigermaßen Verstand hat, wenn er in der Politik Erfolge erzielen will und besonders wenn er es mit einem seiner Wähler zu tun hat, wird er sich beeilen, folgendermaßen zu antworten:

«Aber freilich! Ich bin ja auch Sozialist, ganz wie Sie! – Soziale Frage, Volkssparkassen, Arbeiterschutzgesetzgebung – über all das bin ich mit Ihnen vollständig derselben Meinung! Aber, wissen Sie, stürzen wir nicht alles in einem Tag um, machen wir die Sache hübsch langsam.»

Und er wird daran gehen, ‹hübsch langsam› aus seinen Arbeitern noch einige Kronen mehr herauszupressen, um den Verlusten, welche die sozialistische Agitation ihm eines Tages verursachen könnte, vorzubeugen.

Ehedem hätte er uns den Rücken gekehrt; heute versucht er es, uns glauben zu machen, daß auch er unsere Ideen teilt – um uns umso leichter auszubeuten und zu betrügen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.

Diese Tatsache tritt in den letzten Jahren immer schärfer hervor. In Ländern mit dem allgemeinen Wahlrecht genügt es, in einer Wählerversammlung den Sozialismus zu erwähnen, auf daß sich der Kandidat auch als Anhänger desselben: – des «gemäßigten Sozialismus», d. h. jenes besonderen ‹Sozialismus› der parlamentarischen Volksbetrüger – erklärt. Führende Staatsmänner – man denke bloß z. B. an Bismarck – erklärten sich mehr oder weniger offen als ‹Sozialisten›, und die öffentliche Meinung erwartet von ihnen «die Lösung der sozialen Frage»; und die Geistlichkeit aller Konfessionen hält gleichen Schritt mit ihnen und verkündet, daß der wahre Sozialismus im Schoße der christlichen Kirche zu finden ist.

Kurzum, alle, alle sind Sozialisten! Wucherer, die auf die Teuerung des Brotes spekulieren, um ihren Frauen Juwelen zu kaufen; Kapitalisten, welche die Arbeiterinnen an Schwindsucht und die Kinder an mangelhafter Ernährung hinsterben lassen; Herrscher und sozialdemokratische Minister und Polizeipräsidenten usw., welche die Vorkämpfer und Verkünder der Freiheit und der sozialen Expropriation in den Kerker werfen und hinrichten lassen; Gendarmen, die dieselben verhaften und foltern; Abgeordnete, die jeden Tag im Parlamente den Sozialismus mit Füßen treten und die Geschäfte der herrschenden Klasse besorgen, alle, alle tun dies nur, um den «Triumph des Sozialismus» zu beschleunigen.

Und es gibt wirklich noch Sozialisten, die einfältig genug sind, beim Anblick dieses Schauspieles in ein Triumphgeschrei auszubrechen! «Herr So und So hat sich als Anhänger des Sozialismus erklärt! Ein neuer Beweis, daß die Idee an Ausdehnung gewinnt!» beeilen sie sich in ihren Blättern zu verkünden. – Als ob wir die Gutheißung von irgend jemand brauchen würden, um zu wissen, daß die Idee des Sozialismus im Schoße des arbeitenden Volkes an Ausdehnung gewinnt!

Wir sind betrübt und nicht erfreut durch diesen Anblick. Derselbe beweist uns einerseits, daß die Bourgeoisie sich verschworen hat, den Sozialismus zu unterschlagen, gerade so wie sie vordem auch die republikanische Idee unterschlagen und gefälscht hat; und andemteils beweist er uns, daß jene, die ehedem als Sozialisten galten, heute den Sozialismus im Stiche lassen, indem sie seine ursprüngliche Grundidee verleugnen, und daß diese Leute in das Lager der Bourgeoisie übergehen, aber darum doch, um ihren plötzlichen Umschwung zu verdecken, den Namen Sozialisten beibehalten, wodurch sie die ganze Bewegung verbürgerlichen.

Was war in Wahrheit die bezeichnende Grundidee des Sozialismus?

Die Notwendigkeit der Abschaffung des Lohnsystems, des Monopoleigentums an Grund und Boden, an Häusern, Rohmaterial und Arbeitsmitteln – mit einem Worte: am gesellschaftlichen Kapital. Wer die Grundidee nicht anerkannte, wer dieselbe in seinem persönlichen Leben nicht anwandte, indem er der Ausbeutung seiner Mitmenschen entsagte! – der wurde nicht als Sozialist angesehen.

«Anerkennt ihr, daß es notwendig ist, das Monopoleigentum abzuschaffen, die heutigen Eigentümer des gesellschaftlichen Kapitals zum Wohle Aller zu expropriieren? Fühlt ihr das Bedürfnis, diesen Grundsätzen gemäß zu leben?» Dies fragte man ehedem jeden, der in unsere Reihe kam, ehe man ihn als Sozialisten begrüßte.

Es ist selbstverständlich, indem man diese Fragen stellte, erkundigte man sich nicht darnach, ob der Betreffende die Abschaffung des privativen Eigentums in zweihundert oder zweitausend Jahren für notwendig hält! Man kümmerte sich nicht um die müßige Frage, was in zweihundert Jahren geschehen wird. Wenn man von der Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums sprach, so erkannte man, daß dieser Schritt heute notwendig sei, daß man in seinem ganzen Tun, Leben und öffentlichen Wirken nur darauf hinarbeiten müsse. «Die nächste Revolution» – sagten die Sozialisten vor 30 Jahren (und jene, die Sozialisten geblieben sind, sagen es noch heute) – «die nächste Revolution in der Gesellschaft darf nicht bloß ein einfacher Regierungswechsel sein, welcher höchstens von einigen Verbesserungen der Regierungsmaschine gefolgt wird: sie muß die soziale Revolution sein!

Diese Überzeugung: daß es notwendig sei, die Expropriation bei Gelegenheit der nächsten Revolution vorzubereiten; dies unterschied sie von all jenen, die ebenfalls die Notwendigkeit einer gewissen Verbesserung im Lose des Arbeiters anerkennen, die manchmal so weit gehen, zuzugeben, daß der freie Kommunismus das Ideal der zukünftigen Gesellschaft ist, die aber auf keinen Fall zustimmen wollen, daß man diesen freien Kommunismus sofort, als einzigen Befreiungsweg des arbeitenden Volkes, zu verwirklichen trachte.

Indem sie diese Ideen verkündeten, waren die Sozialisten sicher davor, mit ihren Gegnern verwechselt werden zu können; sie waren sicher, daß der Name des Sozialismus nicht von jenen unterschlagen und gefälscht würde, die einfach die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ausbeutung durch ihre verbesserte Systematik mittels Reformen wollen.

All dies hat sich heute geändert.

Einesteils hat sich im Schoße der Bourgeoisie ein Kern von Abenteurern gebildet, die begriffen, daß sie, ohne die Bezeichnung ‹Sozialisten› anzunehmen, nie dazu gelangen würden, die Stufen der politischen Herrschaft zu erklimmen. Sie mußten also ein Mittel finden, um sich in die Reihen der sozialistischen Bewegung aufnehmen zu lassen, ohne deren Grundsätze anzunehmen. – Jene wieder, die begriffen, daß die beste Art, den Sozialismus zu bezähmen, die ist, in seine Reihen einzutreten, seine Grundsätze zu korrumpieren, seine Tätigkeit in falsche Bahnen zu lenken, übten einen Druck in derselben Richtung aus.

Unglücklicherweise fanden sich Sozialisten, d. h. solche, die ehemals Sozialisten waren, die das Bestreben hatten, nur recht viel Leute um sich herum zu vereinigen, wenn nur die neuen Ankömmlinge sich bereit erklärten, ihre Mitgliedsbeiträge an die Parteikasse zu bezahlen. Dann gab man ihnen den Namen ‹Sozialisten›. Diese Parteiführer, gierig nach politischen Ämtern im Gegenwartsstaat, beeilten sich, den angeblich «Bekehrten» weit die Türen zu öffnen und ihren Eintritt in die Partei auf jede Art zu erleichtern. Sie selbst haben die ursprüngliche Grundidee des Sozialismus verleugnet, und unter ihrer Führung bildet sich eine neue Art angeblicher Sozialisten heran, welche von der alten Partei bloß den Namen bewahrt hat.

Ähnlich wie jener russische Gendarmerieoberst, der einem unserer Freunde sagte, daß auch er das kommunistische Ideal bewundernswert finde, daß aber, da dieses Ideal erst in 200 oder vielleicht 500 Jahren verwirklicht werden könne, man vorläufig unseren Freund einsperren müsse, um ihn für die kommunistische Propaganda, die er betrieben, zu bestrafen; ähnlich, sage ich, diesem Gendarmerieoberst, erklären die heutigen ‹Sozialisten›, die sozialdemokratischen Parteiführer, daß die Abschaffung des Privateigentums und die soziale Expropriation in eine ferne Zukunft vertagt werden müssen; daß all dies ein Roman, eine Utopie sei, daß man sich vorläufig um «erreichbare Reformen» kümmern müsse, und daß jene, die an der Idee des Sozialismus festhalten, die ärgsten Feinde der Arbeiterklasse seien! «Nicht darum kann es sich handeln», – sagen diese sozialdemokratischen Parteiführer – «den Grund und Boden und das Industriekapital der Herrschenden und Unternehmerklasse zugunsten des Volkes zu expropriieren, sondern darum: die Regierungsmaschinerie zu erobern, mittels welcher wir später einmal, Schritt für Schritt, das Los der Arbeiter verbessern werden. Bereiten wir nicht die Eroberung der Fabriken durch die Arbeiter, des Landes durch die Bauern vor, sondern die Eroberung der Staats- und Stadtverwaltungen durch die erwählten Abgeordneten vor.»

Die Folgen dieser Auffassung sind bereits fühlbar.

Wenn man heutzutage mit einem dieser neuartigen ‹Sozialisten› – sie nennen sich Sozialdemokraten – zu tun hat, weiß man nicht mehr, ob man mit einem Herrn, ähnlich dem erwähnten russischen Gendarmerieoberst spricht oder mit einem wirklichen Sozialisten. Da es genügt, zuzugeben, daß eines Tages – mag sein in tausend Jahren – vielleicht aller Reichtum zum Gemeinbesitz werden wird, und daß man mittlerweile für jemanden seine Stimme abgibt, der im Parlament die Verkürzung der Arbeitszeit und sonstiger Reförmchen erflehen wird – so verschwindet der Unterschied zwischen dem Sozialismus des genannten Gendarmerieoberst und diesen Herren Sozialdemokraten. Alle beide sind Sozialisten! Der Arbeiter, der keine Zeit hat, um dreißig Zeitungen auf einmal mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, wird verwirrt und weiß nicht mehr, wo sich seine Bundesgenossen und wo sich seine Feinde die ‹Sozialisten›, jene, die die sozialistische Idee unterschlagen haben befinden. Und eben darum muß er heute eine so harte Probe und furchtbare Aderlässe bestehen; ehe er erkennt, wer seine Freunde und wer seine Feinde sind, wird er nicht zur Befreiung gelangen.