#title Moderne Wissenschaft und Anarchismus #author Peter Kropotkin #SORTauthors Kropotkin, Peter; #date 1903 #lang de #pubdate 2018-07-25T02:40:39 *** Vorwort Analysieren wir irgendeine soziale Theorie, so wird bald einmal deutlich, dass sie nicht bloß ein Parteiprogramm und ein Ideal zur Neugestaltung der Gesellschaft vertritt, sondern dass sie sich normalerweise auch an irgendeinem philosophischen System, an einer allgemeinen Konzeption von Natur und menschlicher Gesellschaft orientiert. Das ist die Idee, welche ich bereits in zwei Vorträgen über den Anarchismus‘ deutlich zu machen versuchte, in denen ich die Beziehungen aufzeigte zwischen unseren anarchistischen Ideen und der heute so deutlich sichtbaren Tendenz in den Naturwissenschaften, die großen Phänomene der Natur durch das Wirken der unendlich kleinen zu erklären, wo man früher lediglich die Wirkungen im großen Stile wahrnahm. In den Sozialwissenschaften, wo man bisher nur den Interessen des Staates Aufmerksamkeit schenkte, erkennt man heute die Rechte des Individuums. In diesem Buch versuche ich zu zeigen, dass unsere Anarchismus Konzeption eine notwendige Konsequenz aus dem großen Erwachen der Naturwissenschaften darstellt, welches sich im 19.Jahrhundert vollzog. Was mich zu dieser Arbeit inspiriert hat, ist das Studium dieses großen Erwachens sowie der beachtenswerten Errungenschaften, welche in den letzten zehn oder zwölf Jahren des eben zu Ende gegangenen Jahrhunderts in den Wissenschaften vollzogen wurden. Man weiß, dass die letzten Jahre des Jahrhunderts gekennzeichnet waren durch bemerkenswerte Fortschritte in den Naturwissenschaften, denen wir vieles verdanken: die drahtlose Telegraphie, eine Reihe von bisher nicht bekannten Strahlungen, eine Gruppe von trägen Gasen, die keine chemischen Verbindungen eingehen, neue elementare Formen der lebendigen Materie usw. Ich wurde veranlasst, diese neuen wissenschaftlichen Errungenschaften gründlich zu studieren. Im Jahre 1894, in jener Zeit also, in denen sich die Entdeckungen rasch folgten, machte mir James Knowles, der Herausgeber von The Nineteenth Century den Vorschlag, in seiner Zeitschrift jene Artikel-Serie weiterzuführen, welche Huxley bis anhin verfasst hatte; der große Nacheiferer Darwins sah sich damals gezwungen, aus gesundheitlichen Gründen diese Arbeit aufzugeben. Man wird ohne weiteres verstehen, dass ich bei diesem Vorschlag zögerte. Huxley hatte nicht elegante Plaudereien über wissenschaftliche Themen geschrieben, sondern Artikel, von denen jeder zwei oder drei der großen, in der Wissenschaft aktuellen Fragen gründlich behandelte; er gab seinen Lesern in einer verständlichen Sprache eine wohldurchdachte, kritische Analyse der Entdeckungen, welche die jeweilige Frage betrafen. Doch Knowles insistierte, und um mir meine Arbeit zu erleichtern, schickte mir die Royal Society eine Einladung, ihren Sitzungen beizuwohnen. Ich sagte schließlich zu, und während zehn Jahren, seit 1892, schrieb ich die Artikel-Serie Recent Science für The Nineteenth Century, bis mich meinerseits eine Herzkrise zwang, diese anspruchsvolle Arbeit aufzugeben. So war ich veranlasst, die bemerkenswerten Entdeckungen dieser Jahre ernsthaft zu studieren; das führte mich zu einem doppelten Resultat. Einerseits sah ich, wie – immer dank der induktiven Methode – neue Entdeckungen von enormer Bedeutung für das Verständnis der Natur zu denjenigen hinzukamen, welche die Jahre 1856 – 1862 gekennzeichnet hatten, und wie ein vertieftes Studium der großen Entdeckungen eines Mayer, Grove, Würtz, Darwin und vieler anderer gegen die Mitte des Jahrhunderts ein neues Licht auf die vorangegangenen Entdeckungen warfen und neue Horizonte für die Wissenschaft öffnete. Überdies warf sie neue Fragen von unermesslicher philosophischer Tragweite auf. Und dort, wo gewisse Wissenschaftler – vielleicht weil sie zu ungeduldig oder weil sie von den ersten Erkenntnissen zu sehr durchdrungen waren – “eine Niederlage der Wissenschaft“ sehen wollten, sah ich lediglich eine selbstverständliche Tatsache, die den Mathematikern sehr vertraut ist: das Erreichen einer ersten Annäherung auf dem Wege zu weiteren. In der Tat sehen wir den Astronomen, den Physiker kontinuierlich gewisse Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen auflösen, Beziehungen, welche wir ein “physikalisches Gesetz“ nennen. Danach macht sich eine Menge von Arbeitern daran, im Detail die Anwendung dieses Gesetzes zu studieren. Bald einmal – je nachdem, wie sich die durch die Nachforschungen erzielten Beobachtungen anhäufen – entdecken diese Arbeiter, dass das Gesetz, welches sie studieren, nichts weiter ist als eine “erste Annäherung“, dass die zu erklärenden Fakten viel komplizierter sind, als es zuvor den Anschein machte. Das trifft, um ein sehr bekanntes Beispiel zu nennen, auf die “keplerschen Gesetze“ von der Planetenbewegung um die Sonne zu. Ein peinlich genaues Studium der Planetenbewegungen bestätigte zuerst diese Gesetze. Es bewies, dass sich die Sonnensatelliten grosso modo tatsächlich in Ellipsenbahnen bewegen, von denen die Sonne einen Brennpunkt darstellt. Doch man entdeckte auch, dass die Ellipse lediglich eine erste “Annäherung“ bedeutet. In Wirklichkeit erfahren die Planeten in ihrer elliptischen Bahn verschiedene Abweichungen. Und als man diese Abweichungen, die von der Anziehung der Planeten untereinander herstammen, studierte, konnten die Astronomen zu einer zweiten und einer dritten “Annäherung“ gelangen, welche den tatsächlichen Planetenbewegungen besser als die erste entsprachen. Das ist genau das, was sich zur Zeit in den Naturwissenschaften ereignet. Nachdem die großen Entdeckungen von der Unzerstörbarkeit der Materie und der Einheit der physikalischen Kräfte gemacht wurden, die in der belebten und unbelebten Materie aktiv sind, nachdem die Vielfalt der Arten begründet war, suchen nun die Wissenschaften, welche die Konsequenzen aus diesen Entdeckungen in den Einzelheiten erforschen, die “zweiten Annäherungen“, welche mit mehr Genauigkeit den Realitäten des Naturlebens entsprechen. Diejenige, welche die “Niederlage der Wissenschaften“ behaupten – sie werden zur Zeit von den modischen Philosophen zu ihren Zwecken ausgenützt – beziehen sich auf nichts anderes denn auf die Suche nach den zweiten und dritten „Annäherungen“, mit denen sich die Wissenschaft stets nach den Epochen der großen Entdeckungen befasst. Ich werde daher nicht zögern, hier die Werke jener glänzenden, aber oberflächlichen Philosophen zu diskutieren, die aus dem unvermeidlichen Innehalten der Wissenschaften Nutzen zu ziehen versuchen, um der mystischen Intuition das Wort zureden. Sie sind bestrebt, die Wissenschaften in den Augen jener zu verunglimpfen, die diese Art der Kritik zu überprüfen nicht in der Lage sind. Ich will hier nicht wiederholen, was im vorliegenden Buch über den Missbrauch steht, den die Metaphysiker von der dialektischen Methode machen. Auf der anderen Seite sah ich, als ich die letzten Fortschritte der Naturwissenschaften studierte und in jeder Entdeckung eine neue Anwendung der induktiven Methode feststellte, wie die von Godwin und Prouhon formulierten und von ihren Nachfolgern weiterentwickelten anarchistischen Ideen ebenfalls die Anwendung dieser Methode auf jene Wissenschaften bedeutet, welche das Leben der menschlichen Gesellschaften erforschen. Ich versuche daher im ersten Teil des Buches zu zeigen, bis zu welchem Grad die Entwicklung der anarchistischen Idee einherging mit den Fortschritten der Naturwissenschaften. Und ich bin bestrebt, deutlich zu machen, wie und aus welchen Gründen die Philosophie des Anarchismus ihren eindeutigen Platz in jenen unlängst erfolgten Bestrebungen einnimmt, eine synthetische Philosophie – das Verstehen des Universums als einer Ganzheit – auszuarbeiten. Im zweiten Teil dieses Buches, der eine notwendige Ergänzung zum ersten bildet, behandle ich den Staat. Ich wiederveröffentliche zuerst einen Essay über die historische Rolle des Staates, der vor einigen Jahren als Broschüre publiziert wurde. Dem schließt sich eine Studie über den modernen Staat in seiner Rolle als Schöpfer der Monopole zu Gunsten einer privilegierten Minderheit an. Ich untersuche auch die Bedeutung der Kriege in der Akkumulation der Reichtümer in den Händen einer privilegierten Minderheit und – dazu parallel – bei der zwangsläufigen Verarmung der Massen. Für die Erörterung dieser großen Frage des Staates als Schöpfers der Monopole habe ich mich allerdings darauf beschränken müssen, die wichtigsten Züge herauszuarbeiten. Ich habe dies umso lieber gemacht, als jemand es tun musste, indem er die vielen Dokumente benützte, welche kürzlich in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten publiziert wurden. Sie zeigen aufs neue deutlich die monopolistische Rolle des Staates, der Tag für Tag eine beängstigendere öffentliche Gefahr wird. Schließlich erlaube ich mir, an den Schluss des Buches unter dem Titel “Erklärende Anmerkungen“ Angaben über die im Buch erwähnten Autoren sowie über einige wissenschaftliche Begriffe zu machen. Als ich die vielen Autoren in diesen Seiten gesehen habe – die Mehrzahl ist nur wenig bekannt – habe ich gedacht, dass diese Anmerkungen den Lesern Freude machen würden. Ich beeile mich gleichzeitig, meinen besten Dank meinem Freunde Max Nettlau auszusprechen, der die Freundlichkeit hatte, mir mit seinen breiten Kenntnissen in der sozialistischen und anarchistischen Literatur für die historischen Kapitel und die “Erklärenden Anmerkungen“ zu helfen. Brighton, Februar 1911

*** 1. Der Ursprung des Anarchismus Der Anarchismus verdankt seinen Ursprung gewiss nicht einer wissenschaftlichen Erfindung oder irgend einem philosophischen System. Die sozialen Wissenschaften sind noch sehr weit davon entfernt, den selben Grad an Exaktheit erreicht zu haben wie die Physik und die Chemie. Und wenn wir im Studium des Klimas und des Wetters noch nicht einmal so weit gekommen sind, dass wir Voraussagen von einem Monat oder nur acht Tagen machen können, wäre es absurd zu behaupten, dass wir in den Sozialwissenschaften, die sich mit weit komplizierteren Dingen als mit Wind und Regen befassen, bereits auf eine wissenschaftliche Weise die Ereignisse voraussagen könnten. Man darf auch nicht vergessen, dass die Wissenschaftler Menschen wie alle anderen sind, dass sie in der Mehrzahl den wohlhabenden Klassen angehören und dementsprechend deren Vorurteile teilen; viele von ihnen stehen sogar in einem direkten Lohnverhältnis zum Staat. Es ist daher klar, dass es nicht die Universitäten waren, aus denen der Anarchismus hervorgegangen ist. Wie der Sozialismus im allgemeinen und wie jede andere soziale Bewegung so wurde auch der Anarchismus aus dem Volke geboren, und er wird nur so lange seine Vitalität und seine schöpferische Kraft bewahren, als er eine Volksbewegung bleibt. Von jeher ließen sich in der menschlichen Gesellschaft zwei sich bekämpfende Strömungen finden. Auf der einen Seite schufen die Massen in der Form von Gebräuchen eine Menge von Institutionen, die ein gesellschaftliches Zusammenleben erst ermöglichten: den Frieden aufrechterhalten, die Streitigkeiten schlichten, die gegenseitige Hilfe dort praktizieren, wo gemeinsame Anstrengungen erforderlich waren. Der Stamm bei den Wilden, später die Kommune des Dorfes und noch später die Handwerkergilden sowie die Städte des Mittelalters, welche die ersten Grundlagen des internationalen Rechts schufen – all diese und viele andere Institutionen entstanden nicht durch die Gesetzgeber, sondern durch den schöpferischen Geist der Massen. Auf der andern Seite gab es zu allen Zeiten Zauberer, Magier, Regenmacher, Wahrsager, Priester. Sie besaßen als erste Kenntnisse von der Natur und vollzogen als erste verschiedene Kulthandlungen (diejenigen für die Sonne, die Naturkräfte, die Ahnen usw.), und sie begründeten als erste die Riten, welche dazu dienten, die Einheit der Stammeszusammenschlüsse zu bewahren. In jener Zeit waren die ersten Keime des Naturstudiums (Astronomie, die Wettervoraussage, das Studium der Krankheiten usw.) eng an verschiedenartige Formen des Aberglaubens gebunden, die ihren Ausdruck in entsprechenden Riten und Kulthandlungen fanden. Alle künstlerischen und handwerklichen Tätigkeiten hatten ihren Ursprung ebenfalls in diesem Aberglauben, und alle Künstler und Handwerker verfügten über mystische Formeln, welche nur den Initiierten weitergegeben, vor den Massen aber sorgfältig versteckt gehalten wurden. Neben diesen ersten Repräsentanten der Wissenschaft und der Religion gab es auch Männer, die wie die Barden, die Brehons“ in Irland, die Gesetzes Rezitatoren bei den skandinavischen Völkern usw. als Meister im rechten Gebrauch der alten Sitten betrachtet wurden, die bei Uneinigkeit und Streit befragt werden mussten. Sie bewahrten das Recht in ihrer Erinnerung (manchmal auch mit Hilfe von Zeichen, welche die Keime der Schrift bildeten), und in Falle von Differenzen wandte man sich an sie als Schiedsrichter. Schließlich gab es auch die zeitweiligen Führer von Kriegergruppen; ihnen wurde zugeschrieben, über die Geheimnisse des Zaubers zu verfügen, mit dem man des Sieges gewiß war. Sie verfügten auch über die Geheimnisse, die Waffen zu vergiften, sowie über andere militärische Kenntnisse. Diese drei Kategorien haben seit urdenklichen Zeiten unter sich Geheimgesellschaften gebildet mit dem Ziel, die Geheimnisse ihrer sozialen Funktionen oder ihres Handwerks zu bewahren und – nach einer langen und schmerzvollen Initiationsphase – weiterzugeben. Auch wenn sie sich in gewissen Perioden gegenseitig bekämpften, so verstanden sie sich auf längere Sicht immer untereinander. Sie verbanden sich und unterstützten sich, um die Massen beherrschen, im Gehorsam halten und regieren zu können – und um sie für sich arbeiten zu lassen. Es ist klar, dass der Anarchismus in der ersten Strömung zum Ausdruck gelangt, d.h. in der schöpferischen und konstruktiven Kraft der Massen, welche die Institutionen des Gemeinrechts hervorbrachten, um sich vor der machtheischenden Minderheit zu schützen. Es ist auch diese schöpferische und konstruktive Kraft des Volkes, mit Hilfe derer – und mit allen Kräften unterstützt durch die moderne Wissenschaft und Technik – der heutige Anarchismus die nötigen Einrichtungen zu schaffen sucht, welche eine freie Entwicklung der Gesellschaft gewährleisten – im Gegensatz zu denjenigen, welche ihre Hoffnung auf eine von regierenden Minoritäten ausgearbeitete Gesetzgebung setzen, welche den Massen durch eine strenge Disziplin aufgezwungen wird. Wir können demnach sagen, dass es in diesem Sinne seit jeher Anarchisten und Etatisten gegeben hat. Überdies war es immer wieder der Fall, dass die Institutionen – selbst die besten, welche ursprünglich zur Wahrung der Gleichheit, des Friedens und der gegenseitigen Hilfe geschaffen wurden – in dem Maße, wie sie alterten auch erstarrten. Sie verloren ihre ursprüngliche Bedeutung, gerieten unter den Einfluss einer ehrgeizigen Minorität und wurden schließlich ein Hemmnis für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Dann setzte stets die Revolte mehr oder weniger isolierter Individuen ein. Einige dieser Unzufriedenen versuchten, diese Institutionen zu Gunsten aller zu verändern, vor allem aber von der ihnen fremden Autorität, welche sich ihrer schließlich bemächtigt hatte, zu befreien. Andere aber waren bestrebt, sich von diesen sozialen Institutionen (Stamm, Dorfgemeinschaft, Gilde usw.) zu emanzipieren, allein mit dem Ziel, sich neben und über sie zu stellen, um die anderen Mitglieder der Gemeinschaft zu beherrschen und sich auf ihre Kosten zu bereichern. Alle Reformatoren auf politischem, religiösem und wirtschaftlichem Gebiet gehörten der ersten Kategorie an. Unter ihnen fanden sich immer Individuen, die vorwärts marschierten und sich gegen die Unterdrückung erhoben – sei es in kleineren oder größeren Gruppen, sei es ganz allein, individuell, wenn ihnen niemand folgte. Sie warteten nicht darauf, dass alle ihre Mitbürger, oder auch nur ein Teil davon, von den gleichen Zielsetzungen erfüllt waren. Derartigen Revolutionären begegnen wir in allen Epochen der Geschichte. Doch die Revolutionäre erscheinen selbst wieder unter zwei verschiedenen Charakteren. Die einen erhoben sich wohl gegen die Autorität, die sich im Innern der Gesellschaft entwickelt hatte, versuchten jedoch nicht, sie zu zerstören, sondern ihrer selbst habhaft zu werden. An Stelle der drückend gewordenen Macht suchten sie eine neue zu schaffen, die sie selber innehaben würden, und versprachen – oft in gutem Glauben – ,dass der neuen Autorität die Interessen des Volkes, das sie wirklich zu vertreten im Sinne hätten, am Herzen liegen würden – ein Versprechen, das später unvermeidlich vergessen und verraten wurde. Auf diese Weise entstand die imperiale Autorität im römischen Kaisertum, die Macht der Kirche in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, die Herrschaft der Diktatoren in den Städten des Mittelalters zur Zeit ihres Verfalls usw. Die gleiche Tendenz lag in Europa auch der Begründung der königlichen Autorität am Ende der feudalen Periode zugrunde. Der Glaube an einen populistischen Herrscher, einen Cäsaren, ist bis heute nicht verschwunden. Aber neben dieser autoritären Strömung machte sich in diesen Zeiten der Veränderung etablierter Institutionen stets eine andere Richtung geltend. In allen Zeiten, seit dem alten Griechenland bis heute, gab es Individuen sowie Strömungen des Denkens und Handelns, welche eine Autorität nicht bloß durch eine andere zu ersetzen suchten, sondern jene zu zerstören, die sich auf die Institutionen des Volkes aufgepfropft hatte – ohne eine neue an deren Stelle zu errichten. Sie verkündeten die Souveränität des Individuums und des Volkes und versuchten, die Institutionen des Volkes von den autoritären Überwucherungen zu befreien, um dem kollektiven Geist der Massen seine volle Freiheit zurückzugeben. So seien die Voraussetzungen geschaffen, dass der Genius des Volkes in aller Freiheit die Einrichtungen der gegenseitigen Hilfe und des gegenseitigen Schutzes in Übereinstimmung mit den neuen Bedürfnissen und den neuen Lebensbedingungen wieder aufbauen könne. In den Städten der griechischen Antike und vor allem in denen des Mittelalters (Florenz, Pskov usw.) finden wir zahlreiche Beispiele für diese Form des Kampfes. Somit können wir sagen, dass es zu allen Zeiten unter den Reformatoren und Revolutionären Jakobiner und Anarchisten gab. Die Vergangenheit weist sogar großartige Volksbewegungen auf, die einen anarchistischen Charakter annahmen. Ganze Dörfer und Städte erhoben sich gegen das Prinzip der Regierung – gegen die Organe des Staates, seine Gerichte und seine Gesetze, und verkündeten die Souveränität der Menschenrechte. Sie leugneten alle geschriebenen Gesetze und behaupteten, dass ein jeder sich nach seinem eigenen Gewissen regieren müsse. Sie versuchten auf diese Weise eine neue Gesellschaft zu begründen, die auf den Prinzipien von Gleichheit, voller Freiheit und Arbeit beruhte. In der christlichen Bewegung, die unter Augustus in Judäa – das römische Gesetz, den römischen Staat und die Moral oder besser: Unmoral der Epoche – entstand, gab es zweifellos ernstzunehmende anarchistische Elemente. Aber allmählich entartete diese Bewegung zu einer Kirche, die als Modell die jüdische Kirche und diejenige Roms selbst nahm, was offensichtlich jenes tötete, was das Christentum in seinen Anfängen an anarchistischem Gehalt hatte. Sie eignete sich römische Formen an und wurde bald die Hauptstütze der Autorität, des Staates, der Sklaverei und der Unterdrückung. Die ersten Keime des “Opportunismus“, der ins Christentum eingeführt wurde, zeigen sich bereits in den Evangelien und in den Handlungen der Apostel – oder zumindest in jenen schriftlichen Versionen, welche das “Neue Testament“ ausmachen. Auch die Wiedertäufer-Bewegung, welche die Reformation einleitete und zur Tatsache machte, hatte einen anarchistischen Kern. Aber die Anhängerschaft Luthers, welche sich mit den Fürsten gegen die revoltierenden Bauern verband, erstickte diese Bewegung durch Massenmorde unter den Bauern und unter dem “Pöbel“ der Städte. So degenerierte der rechte Flügel der Reformation mehr und mehr und schloss schließlich mit seinem Gewissen und dem Staate jenen Kompromiss, der heute unter dem Namen Protestantismus existiert. Der Anarchismus entstand – zusammenfassend gesagt – aus dem gleichen kritischen und revolutionären Protest wie der Sozialismus im allgemeinen. Ein Teil der Sozialisten indes hielt inne, nachdem er bis zur Negation des Kapitals und der Gesellschaft gelangt war, welche auf der Knechtung der Arbeit durch das Kapital beruht. Sie sprachen sich nicht gegen das aus, was die wahre Stärke des Kapitals ausmacht – den Staat und seine hauptsächlichsten Stützen: die Zentralisation der Macht, das Gesetz, das immer von der Minderheit zu ihren Gunsten gemacht wird, und die hauptsächlich zur Verteidigung der Autorität und des Kapitals geschaffene Gerichtsbarkeit. Der Anarchismus machte in seiner Kritik vor keiner dieser Einrichtungen halt. Er erhob seinen frevlerischen Arm nicht allein gegen das Kapital, sondern auch gegen jene anderen Stützen des Kapitalismus.
*** 2. Die intellektuelle Bewegung des 18. Jahrhunderts Obgleich der Anarchismus wie alle anderen revolutionären Bewegungen in den bewegten Zeiten des Kampfes aus der Mitte des Volkes und nicht aus dem Studierzimmer des Gelehrten hervorgegangen ist, so ist es nicht weniger wichtig zu wissen, welche Stellung er unter den verschiedenen wissenschaftlichen und philosophischen Gedankenströmungen unserer Tage einnimmt Auf welche stützt er sich vornehmlich? Welcher Forschungsmethode bedient er sich für seine Schlussfolgerungen? Mit anderen Worten: welcher Schule der Rechtsphilosophie gehört er an? Mit welcher der heute bestehenden wissenschaftlichen Richtungen stimmt er am ehesten überein? Angesichts der Schwärmerei für die ökonomische Metaphysik, welche wir kürzlich in den sozialistischen Zirkeln gesehen haben, kommt diesen Fragen eine gewisse Bedeutung zu. Ich werde versuchen, sie kurz und auch möglichst einfach zu beantworten, indem ich schwierige Begriffe vermeide, wo dies möglich ist. Die intellektuelle Bewegung des 19.Jahrhunderts hat ihren Ursprung in den Werken der englischen und französischen Philosophen aus der Mitte und dem Ende des vorhergehenden Jahrhunderts. Das Erwachen des Denkens, das sich in jener Epoche vollzog, regte die Denker dazu an, das ganze menschliche Wissen in einem generellen System zusammenzufassen – in dem System der Natur. Sie verwarfen die Scholastik und die Metaphysik des Mittelalters vollständig und hatten den Mut, die gesamte Natur als eine Reihe von Fakten zu betrachten, welche in jener Weise studiert werden könnten, in welcher man Naturwissenschaft betreibt: die Welt der Sterne, unser Sonnensystem, unsere Erde und die Entwicklung der Pflanzen, der Tiere und der menschlichen Gesellschaften. Indem sie auf breiter Basis Gebrauch machten von der wahren wissenschaftlichen Methode – nämlich der induktiv-deduktiven -, traten sie in der genau gleichen Weise an das Studium aller Erscheinungen, die uns die Natur bietet, heran, als wenn es sich um die von einem Naturwissenschaftler untersuchten Fragen der Physik handelte, ganz gleich ob es dabei um Phänomene der Sternen- oder der Tierwelt, um Glaubensfragen oder um menschliche Institutionen handelte. Zu Beginn sammelten sie geduldig die Tatsachen, und wenn sie zu Verallgemeinerungen schritten, so führten sie diese auf dem Wege der Induktion durch. Sie stellten wohl gewisse Hypothesen auf, aber sie maßen diesen keine höhere Bedeutung bei als Darwin seiner Theorie vom Ursprung neuer Arten durch den Kampf ums Dasein oder Mendeleev seinem periodischen Gesetz. Sie betrachteten sie als bloße Annahmen, welche eine vorläufige Erklärung ermöglichten und die Zuordnung der Fakten sowie ihr Studium erleichterten. Aber sie vergaßen nicht, dass diese Annahmen durch die Anwendung auf eine Vielzahl von Erscheinungen zu bestätigen waren. Überdies mussten sie auch auf deduktivem Wege erklärt werden. Sie konnten nur zu Gesetzen (d.h. bewiesenen Verallgemeinerungen) werden, wenn sie dieser Überprüfung standgehalten hatten und wenn die Ursachen ihrer gleichbleibenden Beziehungen, die sie ausdrückten, erklärt waren. Als sich der Mittelpunkt der philosophischen Bewegung des 18. Jahrhunderts von England und Schottland nach Frankreich verschob, machten sich die französischen Philosophen, denen das Gefühl für das Systematische eigen ist, daran, auf einer allgemeinen Ebene und auf einheitlichen Prinzipien alle menschlichen Kenntnisse (natürliche und historische) zusammenzufügen. Sie unternahmen den Versuch, eine Universalwissenschaft in einer strengen wissenschaftlichen Form zu begründen – die Philosophie des Universums und des Lebens. Dabei verwarfen sie alle metaphysischen Konstruktionen früherer Philosophen und erklärten die Phänomene durch das Wirken der gleichen physischen, d.h. mechanischen Kräfte. Diese genügten ihnen, die Entstehung und Entwicklung des Erdballs zu erklären. Es wird erzählt, dass Napoleon der Erste zu Laplace bemerkte, in seiner Darstellung des Weltsystems (1796) werde der Name Gottes nirgendwo genannt. Laplace soll darauf geantwortet haben: “Ich hatte diese Hypothese nicht nötig.“ Doch Laplace tat noch mehr. Er griff auch nicht auf die großen Worte der Metaphysik zurück, hinter denen sich gewöhnlich nur ein Unverständnis oder nebulöses Halbverständnis der Erscheinungen sowie die Unfähigkeit verbirgt, diese sich in konkreter Form als messbare Größen vorzustellen. Laplace bedurfte ebensowenig der Metaphysik wie der Hypothese eines Schöpfers. Und obgleich seine Darstellung des Weltsystems überhaupt keine mathematischen Berechnungen enthält und in einer so klaren Sprache geschrieben ist, dass es jedem gebildeten Leser verständlich ist, war es späteren Mathematikern doch möglich, jeden Einzelgedanken dieses Buches in der Form mathematischer Gleichungen, d.h. als Beziehungen zwischen messbaren Größen, auszudrücken – so genau durchdacht war dieses Werk. Was Laplace für die mechanische Erklärung der Himmelserscheinungen getan hatte, versuchten die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts in den Grenzen ihrer damaligen Kenntnisse für das Studium der Erscheinungsformen des Lebens sowie für die Verstandestätigkeit und das Gefühlsleben des Menschen (die Psychologie) zu leisten. Sie verzichteten auf die metaphysischen Behauptungen, die man bei ihren Vorgängern findet und denen man später beim deutschen Philosophen Kant begegnet. Man weiß, dass Kant beispielsweise das moralische Empfinden im Menschen als einen “kategorischen Imperativ“ erklärte; er betrachtete eine derartige Maxime des Verhaltens als unabdingbar, so dass “wir sie wie ein universell anwendbares Gesetz auffassen können“. Aber jedes Wort in dieser Bestimmung (“Imperativ“, “kategorisch“, “Gesetz“, “universell“) verweist auf etwas Nebulöses, Unverständliches statt auf materielle Tatsache, die uns allen bekannt sind und die erklärt werden sollten. Die französischen Enzyklopädisten konnten sich mit derartigen “Erklärungen“ durch “große Worte“ nicht begnügen. Wie ihre schottischen und englischen Vorgänger wollten sie zur Erklärung der Frage, woher die Vorstellungen von Gut und Böse kommen, nicht ein “Wort sich einstellen lassen, wo Ideen fehlen“, wie Goethe sagt. Sie studierten diese menschlichen Vorstellungen und fanden – wie bereits Hutcheson seit 1725 und später Adam Smith in seinem besten Werke, Der Ursprung der moralischen Empfindungen -, dass das moralische Empfinden des Menschen seinen Ursprung in dem Gefühl des Mitleids, der Sympathie hat, welche wir dem gegenüber empfinden, der leidet. Es stammt von der Fähigkeit, uns mit anderen zu identifizieren, mit der wir begabt sind – und zwar so stark, dass wir einen beinahe physischen Schmerz empfinden, wenn in unserer Gegenwart ein Kind geschlagen wird und wir durch eine solche Handlung in Empörung versetzt werden. Indem sie von derartigen Beobachtungen und allgemein bekannten Tatsachen ausgingen, gelangten die Enzyklopädisten zu den weitreichendsten Verallgemeinerungen. Auf diese Weise erklärten sie in der Tat durch einfachere Tatsachen das moralische Empfinden, das etwas Komplexes darstellt. Aber sie setzten an die Stelle bekannter und verständlicher Tatsachen nicht unverständliche und nebulöse Worte wie “kategorischer Imperativ“ oder “Universalgesetz“, die absolut nichts erklären. Der Vorteil der Methode der Enzyklopädisten ist klar. Anstatt auf eine “Offenbarung von oben“, auf einen außermenschlichen und übernatürlichen Ursprung des moralischen Empfindens zurückzugreifen, sagten sie den Menschen: “Es ist das Gefühl des Mitleids, der Sympathie, welche die Menschen seit ihren Ursprüngen besitzen, die sie in ihren ersten Beobachtungen von Ihresgleichen wahrgenommen haben und die sie in den Erfahrungen des Zusammenlebens nach und nach vervollkommnet haben. Von diesen Gefühlen stammt unser moralisches Empfinden.“ Es wird somit deutlich, dass die Denker des 18.Jahrhunderts ihre Methode nicht änderten, wenn sie von der Sternenwelt übergingen zu den chemischen Reaktionen und von der physikalischen und chemischen Welt auf diejenige der Pflanzen und Tiere oder zu der Entwicklung der ökonomischen und politischen Formen der Gesellschaft oder zur Entwicklung der Religionen usw. Die Methode blieb immer die gleiche. Auf allen wissenschaftlichen Gebieten wendeten sie die induktive Methode an. Weder beim Studium der Religionen noch bei der Analyse des moralischen Empfindens, noch bei derjenigen des Denkens überhaupt fanden sie eine Fragestellung, wo sich diese Methode als unzulänglich erwies und wo sich eine andere aufgedrängt hätte. Nirgends sahen sie sich genötigt, zu metaphysischen Konzeptionen (Gott, unsterbliche Seele, Lebenskraft, ein durch ein höheres Wesen inspirierter kategorischer Imperativ usw.) oder zu irgendeiner dialektischen Methode Zuflucht zu nehmen. Sie versuchten, das ganze Universum und all seine Phänomene auf die gleiche, nämlich naturwissenschaftliche Weise zu erklären. Während dieser Jahre einer bemerkenswerten intellektuellen Entwicklung arbeiteten die Enzyklopädisten an ihrer monumentalen Enzyklopädie, Laplace veröffentlichte seine Darstellung des Weltsystems und Holbach sein System der Natur, Lavoisier bestätigte die Theorie von der Unzerstörbarkeit der Materie und damit auch der Energie und der Bewegung. In Russland legte Lomonossov bereits damals, wohl unter dem Einfluss von Bayle, den Grund zu der mechanischen Theorie der Wärme. Lamarck erklärte den Ursprung der unzähligen verschiedenen Arten von Pflanzen und Tieren durch ihre Anpassung an die unterschiedlichen Milieus. Diderot gab eine Erklärung des moralischen Empfindens, der Sitten, der ersten gesellschaftlichen Institutionen und der Religionen, ohne zu einer Inspiration von oben Zuflucht zu nehmen. Rousseau versuchte die Geburt politischer Einrichtungen durch den “Gesellschaftsvertrag“, d.h. durch einen Akt des menschlichen Willens zu erklären. Kurz, es gab kein Gebiet, bei dessen Erforschung sie nicht von den Tatsachen ausgegangen wären, in dem sie nicht die wissenschaftliche Methode, nämlich die induktiv-deduktive, angewandt hätten, welche in den Tatsachen und Experimenten ihre Bestätigung sucht. Gewiss wurde in diesem riesigen und kühnen Unternehmen mehr als ein Fehler begangen. Wo es an Kenntnissen fehlte, traf man zuweilen übereilte und falsche Annahmen. Doch eine neue Methode wurde auf die Gesamtheit menschlicher Kenntnisse angewandt, und dank dieser Methode wurden sogar die Fehler später leicht erkannt und korrigiert. Auf diese Weise erhielt das 19. Jahrhundert als Erbe ein mächtiges Forschungsinstrument, das uns erlaubt, unsere gesamte Konzeption vom Universum auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen und sie endlich von Vorurteilen zu befreien, welche sie verdunkeln, wie jene nebulösen Worte, die nichts sagen und hinsichtlich derer man früher die schlechte Gewohnheit hatte, sie einzuführen, wenn man schwierige Fragen umgehen wollte.
*** 3. Die Reaktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nach der Niederlage der großen französischen Revolution durchquerte Europa, wie man weiß, eine Periode allgemeiner Reaktion: auf dem Gebiete der Politik, der Wissenschaft und der Philosophie. Der Weiße Tenor der Bourbonen, die Heilige Allianz, welche 1815 von den Monarchen Osterreichs, Preußens und Rußlands mit dem Ziel geschlossen wurde, die liberalen Ideen zu bekämpfen, der Mystizismus und der “Pietismus“ in der höheren Gesellschaft Europas sowie die Polizei triumphierten auf der ganzen Linie. Dennoch konnten die grundlegenden Prinzipien der Revolution nicht verloren gehen. Die Befreiung der Bauern und der Arbeiter in den Städten aus dem bisherigen Zustand der Halb- Sklaverei, die Gleichheit vor dem Gesetz, die repräsentative Regierung – diese drei Prinzipien, welche die Revolution verkündet und durch die revolutionären Armeen in ganz Europa bis nach Polen verbreitet hatte, gingen ihren Weg, in Frankreich und anderswo. Nach der Revolution, welche die großen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit angekündigt hatte, setzte die langsame Evolution ein, d.h. eine langsame Umgestaltung der Institutionen: die Verwirklichung der von der Revolution von 1789 – 1793 proklamierten grundsätzlichen Prinzipien im alltäglichen Leben. Nebenbei sei gesagt, dass die Verwirklichung der von einer stürmischen Revolution angekündigten Prinzipien auf dem Wege einer nachfolgenden Evolution als ein allgemeines Gesetz in der Entwicklung der Gesellschaften betrachtet werden kann. Obgleich die Kirche, der Staat und sogar die Wissenschaft die Fahne, auf welche die Revolution ihre Devise “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ geschrieben hatte, mit Füssen traten und obgleich die Anpassung an das, was zur Zeit Tatsache war, zum allgemeinen Losungswort wurde – bis in die Philosophie -, durchdrangen die großartigen Grundsätze der Freiheit nichtsdestoweniger das Leben. Es stimmt, dass die Lehensverpflichtungen der Bauern sowie die Inquisition, welche die Revolutions-Armeen in Italien und Spanien zerstört hatten, wieder eingeführt wurden. Dennoch hatten diese einen Todesstreich erhalten; sie erholten sich nie mehr davon. Die Woge der Bauern-Befreiung gelangte ins westliche Deutschland, von dort nach Preußen und Österreich, sie breitete sich über die iberische und italienische Halbinsel aus, und auf ihrem Weg in den Osten kam sie 1861 nach Russland und 1878 in den Balkan. In Amerika verschwand die Sklaverei im Jahre 1863. Gleichzeitig verbreiteten sich die Idee von der Gleichheit aller vor dem Gesetz und diejenige von der repräsentativen Regierung von Westen nach Osten. Am Ende des Jahrhunderts befanden sich nur noch Russland und die Türkei unter dem Joch der Autokratie – und es stimmt: sie war bereits sehr krank. Überdies finden wir bereits beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die Ideen von der wirtschaftlichen Befreiung. Unmittelbar nach dem Sturz des Königtums durch das Volk von Paris am 10. August 1792 und vor allem nach der Ausschaltung der Girondisten am 2. Juni 1793 gab es in Paris und in den Provinzen eine Explosion von kommunistischen Empfindungen, und darauf handelten die revolutionären “Sektionen“ der großen Zentren und viele Verwaltungen der kleinen Städte in einem großen Teil Frankreichs in diesem Sinne. Die intelligenten Menschen aus dem Volk erklärten, dass “Gleichheit“ aufhören müsse, ein nutzloses Wort zu sein: sie müsse Eingang finden in die Tatsachen. Und da die Last des Krieges gegen die “verschworenen Könige“, den zu führen die Republik gezwungen war, vor allem auf die Armen drückte, drängte das Volk die Kommissare des Konvents, gewisse kommunistische, gleichheitliche Maßnahmen zu treffen. Der Konvent war seinerseits gezwungen, in eine kommunistische Richtung zu gehen, und ergriff Maßnahmen, welche zur “Beseitigung der Armut“ und zur “Angleichung der Reichtümer“ beitragen sollten. Nach der Ausschaltung der Girondisten durch die Erhebung von 31. Mai bis zum 2. Juni 1793 war der Konvent gar gezwungen, Nationalisierungsmaßnahmen zu treffen, nicht nur des Bodens, sondern auch des nationalen Handels, zumindest für die besonders benötigten Waren. Diese sehr weitgehende Tendenz dauerte bis in den Juli 1794 an, in dem die reaktionäre Bourgeoisie der Girondisten nach ihrer Einigung mit den Monarchisten am 9. Thermidor die Oberhand gewannen. Doch obschon die kommunistische und sozialistische Tendenz mit ihren fortgeschrittensten Elementen nur für kurze Zeit eine gewisse Verwirklichung gefunden hatte, wurde sie für das 19. Jahrhundert unübersehbar. So lange die Bewegung der Jahre 1793 bis 1794 andauerte, fand sie – um sich Gehör zu verschaffen – volksnahe Redner. Doch unter den Schriftstellern jener Zeit gab es niemanden, der diesen Zielsetzungen – ihren Standpunkt nennt man “jenseits von Marat“ – einen wohldurchdachten literarischen Ausdruck hätte verleihen können, so dass sie in den Köpfen andauernd lebendig geworden wäre. Lediglich der Engländer William Godwin ließ im Jahre 1794 ein wirklich bemerkenswertes Werk erscheinen: An enquiry concerning the principtes of political justice, and us influence on general virtue and happiness (1793). Es machte ihn zum ersten Theoretiker des regierungslosen Sozialismus, d.h. des Anarchismus. Auf der anderen Seite erwies sich Babeuf, wahrscheinlich von Buonarotti beeinflusst, im Jahre 1796 als der erste Theoretiker des zentralistischen Sozialismus, d.h. des Staatssozialismus. Später kamen Fourier, Saint-Simon und Robert Owen, die drei Begründer des modernen Sozialismus in seinen drei Hauptrichtungen, und entwickelten die Grundsätze weiter, welche bereits am Ende des vorherigen Jahrhunderts geäußert worden waren. Und noch später, in den vierziger Jahren entstand in Proudhon, der das Werk Godwins nicht kannte, aufs neue ein Begründer des Anarchismus. Die wissenschaftlichen Grundlagen für den Sozialismus mit seinen beiden Polen, dem staatsbejahenden und dem antistaatlichen, wurden also bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet, und dies mit einem Reichtum an Richtungen; leider ist dies unseren Zeitgenossen unbekannt. Der moderne Sozialismus, dessen Beginn in die Zeit der Internationale fällt, ist im Vergleich zu den Begründern nur in zwei, allerdings sehr wichtigen Punkten weiter gekommen: Er ist revolutionär geworden, und er hat mit dem “sozialistischen und revolutionären Christus“ gebrochen, mit dem man sich vor 1848 zu brüsten beliebte. Der moderne Sozialismus hat begriffen, dass zur Verwirklichung seiner Zielsetzungen die soziale Revolution unbedingt notwendig ist – nicht in dem Sinne, wie man den Begriff “Revolution“ gelegentlich verwendet, wenn von der “industriellen Revolution“ oder von der “Revolution der Wissenschaften“ gesprochen wird, sondern im tatsächlichen, konkreten Sinne des Wortes: dem vollständigen und unmittelbaren Neuaufbau der Grundlagen der Gesellschaft. Darüber hinaus hörte der moderne Sozialismus auf, seine Auffassungen mit jenen harmlosen Reformen sentimentaler Art zu vermischen, von denen gewisse christliche Erneuerer sprachen. Doch dies war – man muss es betonen – auch bereits von Godwin, Fourier und Robert Owen vollzogen worden. Was die Administration, die Zentralisation sowie der Kult der Autorität und der Disziplin betrifft, welche die Menschheit vor allem der Theokratie und dem römischen Recht verdankt, so werden diese „Überbleibsel“ einer dunklen Vergangenheit, wie Peter Lavrov sie treffend charakterisiert hat, durch einen Großteil der modernen Sozialisten vollständig beibehalten. Diese haben das Niveau ihrer englischen und französischen Vorgänger noch nicht erreicht. Es wäre schwierig, hier vom Einfluss zu sprechen, den die nach der großen Revolution erstarkte Reaktion auf die Entwicklung der Wissenschaften ausübte. Es muss hier zu bemerken genügen, dass alles, worauf die Wissenschaft heute so stolz ist, bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts angedeutet, und häufig nicht nur angedeutet, sondern in einer eindeutig wissenschaftlichen Form geäußert worden ist. Die mechanische Theorie der Wärme, die Unzerstörbarkeit der Bewegung (die Erhaltung der Energie), die Veränderlichkeit der Arten unter dem direkten Einfluss der Umgebung, die physiologische Psychologie, das anthropologische Verständnis der Geschichte, der Religionen, der Gesetzgebung und der Entwicklungsgesetze des Denkens – in einem Wort: die ganze mechanische Weltauffassung sowie die synthetische Philosophie (eine Philosophie, welche alle physikalischen, chemischen, vitalen und sozialen Erscheinungen als ein einziges Ganzes begreift) waren im 18.Jahrhundert bereits skizziert und zum Teil ausgearbeitet worden. Doch die Reaktion versuchte während eines halben Jahrhunderts, diese Entdeckungen zu unterdrücken. Die reaktionären Gelehrten erklärten sie für “wenig wissenschaftlich“. Unter dem Vorwand, erst einmal die Tatsachen zu untersuchen und “wissenschaftliches Material“ zu sammeln, wies man in den wissenschaftlichen Gesellschaften Untersuchungen bis auf reine Körpermessungen zurück, sobald die Gelehrten irgendein neues Prinzip bemerkten, wie beispielsweise die Bestimmung des mechanischen Äquivalents der Wärme (d.h. die Quantität von mechanischer Reibung, die zur Erzeugung einer bestimmten Quantität Wärme nötig ist), die der ältere Séguin bzw. Joule gefunden hatten. Die “Royal Society“ in England, die englische wissenschaftliche Akademie, druckte Joules Arbeit zu diesem Thema mit der Begründung nicht, sie sei “unwissenschaftlich“. Und dem ausgezeichneten Werk Groves über die Einheit der physischen Kräfte, an dem er seit 1843 gearbeitet hatte, schenkte man bis 1856 keinerlei Beachtung. Vor allem wenn man die Geschichte der Wissenschaften während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts studiert, versteht man die undurchdringliche Finsternis, die zu jener Zeit Europa umgab. Der Vorhang zerriss plötzlich gegen Ende der fünfziger Jahre, als im westlichen Europa jene liberale geistige Bewegung einsetzte, die zur Erhebung Garibaldis und zur Befreiung Italiens, zur Aufhebung der Sklaverei in Amerika und zu den liberalen Reformen in England usw. führte. Die gleiche Bewegung bewirkte in Russland die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Knute und stürzte in der Philosophie die Autorität Schellings und Hegels und gebar jene offene, unter dem Namen “Nihilismus“ bekannte Revolte gegen die intellektuelle Hörigkeit und das Sich-Ducken vor jeglicher Autorität. Heute, wo wir die intellektuelle Geschichte jener Jahre nachzeichnen können, ist es für uns klar, dass es die in den dreißiger und vierziger Jahren sowie in der Revolution von 1848 geleistete Propaganda der republikanischen und sozialistischen Ideen war, die dazu beitrugen, dass die Wissenschaft jene Bande zerriss, die sie erstickt hatte. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, genügt es, hier zu bemerken, dass Séguin, der gerade erwähnt wurde, Augustin Thierry (der Historiker, der die Grundlagen zur Erforschung der Volksregierung in den Kommunen sowie der föderalistischen Ideen des Mittelalters legte) sowie Sismondi (der Historiker der freien Städte Italiens) Schüler von Saint-Simon waren, dem einen der drei Begründer des Sozialismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Alfred R. Wallace, der zur gleichen Zeit wie Darwin die Theorie vom Ursprung der Arten durch natürliche Selektion formulierte, war in seiner Jugend ein überzeugter Anhänger von Robert Owen; August Conite war Saint-Simonist; Ricardo und Bentham waren Owenisten, und die Materialisten Carl Vogt und G. Lewes sowie Grove, Mill, Herbert Spencer und viele andere standen unter dem Einfluss der radikal-sozialistischen Bewegung der dreißiger und vierziger Jahre in England. Aus dieser Bewegung schöpften sie ihren wissenschaftlichen Mut. In einem kurzen Zeitraum von fünf bis sechs Jahren (1856–1862) erschienen Werke von Grove, Joule, Berthelot, Helmholtz und Mendeleev, von Darwin, Claude Bernard, Spencer, Moleschott und Vogt, von Lyell über den Ursprung des Menschen, von Bain, von Mill und von Burnouf. Dieses plötzliche Auftauchen wissenschaftlicher Arbeiten bewirkte eine vollständige Revolution in den grundsätzlichen Auffassungen der Wissenschaftler. Sie schlugen plötzlich neue Wege ein. Ganze Zweige des Wissens wurden mit einer wunderbaren Schnelligkeit geschaffen. Die Wissenschaft vom Leben (Biologie), diejenige der menschlichen Institutionen (Anthropologie und Ethnologie), die Wissenschaft vom Verstandesvermögen, vom Willen und von den Leidenschaften (physische Psychologie), die Geschichte des Rechts und der Religionen usw. bildeten sich unter unseren Augen; sie überraschten unseren Geist durch die Kühnheit ihrer Verallgemeinerungen und den revolutionären Charakter ihrer Schlussfolgerungen. Was im vorigen Jahrhundert nur allgemeine Annahmen, oft nur Intuitionen, gewesen waren, zeigte sich jetzt durch Waage und Mikroskop bewiesen und durch Tausende von Experimenten bestätigt. Sogar die Art zu schreiben änderte sich. Die erwähnten Gelehrten kehrten zu jener Einfachheit, Genauigkeit und Schönheit des Stils zurück, der für die induktive Methode charakteristisch ist und über den jene Denker des 18. Jahrhunderts, die sich von der Metaphysik losgesagt hatten, so gut verfügten. Vorauszusagen, in welche Richtung sich die Wissenschaft künftig bewegen wird, ist sicher unmöglich. So lange die Gelehrten von den Reichen und von den Regierenden abhängig sind, wird ihrer Wissenschaft dadurch unfehlbar der Stempel aufgedrückt und solange besteht stets die Gefahr eines Stillstands wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber eins ist gewiss: In der Wissenschaft, die wir heute haben, bedarf es weder der Hypothesen, die bereits Laplace entbehren konnte, noch der metaphysischen “kleinen Wörter“, über die sich schon Goethe lustig gemacht hatte. Das Buch der Natur, miteingeschlossen dasjenige von der Entwicklung des organischen Lebens und der Menschheit, können wir heute schon lesen, ohne dass wir auf einen Schöpfer zurückgreifen müssen, auf eine mystische “Lebenskraft“ oder auf eine unsterbliche Seele und ohne Hegels Dreischritt zu konsultieren. Wir brauchen unsere Unwissenheit nicht mehr hinter irgend welchen metaphysischen Symbolen zu verbergen, denen wir selber zu einer realen Existenz verholfen haben. Die mechanischen Erscheinungen, die immer komplizierter werden, je weiter wir uns von der Physik zu den Manifestationen des Lebens entfernen, aber nichtsdestotrotz mechanisch bleiben, genügen uns zur Erklärung der gesamten Natur, des organischen, intellektuellen und sozialen Lebens, das wir darin entdecken. Zweifellos bleibt noch viel Unbekanntes, Dunkles, von uns Unverstandenes im Universum. Und zweifellos werden sich immer neue Lücken in unserem Wissen auftun, sobald die alten ausgefüllt worden sind. Doch wir sehen kein Gebiet, auf dem es uns unmöglich sein wird, mit Hilfe von einfachen physikalischen Fakten Erklärungen für die Phänomene zu finden – diejenigen, die sich beim Zusammenstoß zweier Billardbälle und beim Fall eines Steines ereignen, oder diejenigen in den chemischen Vorgängen die wir um uns herum beobachten. Diese mechanischen Tatsachen genügen uns bis heute, um das ganze Leben der Natur zu erklären. Nirgends haben sie uns im Stich gelassen. Und wir sehen keine Wahrscheinlichkeit, je ein Gebiet zu entdecken, in dem uns die mechanischen Tatsachen nicht mehr genügen würden.
*** 4. Die positive Philosophie Comtes Sobald die Wissenschaft zu derartigen Resultaten gelangte, musste ein Versuch gemacht werden, eine synthetischen Philosophie zu entwickeln, die alle diese Resultate zu vereinen vermochte. Man begnügte sich nicht mehr mit den Produkten der eigenen Phantasie, mit denen die Philosophen unsere Väter und Großväter zu unterhalten pflegten, wie z.B. den “Substanzen“, der “Idee des Universums“, der “Bestimmung des Lebens“ und anderen symbolhaften Ausdrücken; man gab sich auch nicht mehr der Spielerei des Anthropomorphisierens hin, d.h. die Natur und die physischen Gewalten mit menschlichen Eigenschaften und Absichten auszustatten. Es war ganz natürlich, eine Philosophie konstruieren zu wollen, die eine systematische, einheitliche und folgerichtige Zusammenfassung unseres gesamten Wissens darstellte. Diese Philosophie, die vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortschritt, sollte die elementaren Prinzipien vom Leben des Weltalls darlegen sowie einen Schlüssel für das Verständnis der Natur in ihrer Gesamtheit liefern. Sie sollte uns damit ein mächtiges Mittel zur Forschung an die Hand geben, das uns zur Entdeckung bisher unbekannter Beziehungen zwischen den verschiedenen Phänomenen – d.h. zu neuen Naturgesetzen – verhelfen und uns gleichzeitig Vertrauen zur Exaktheit unserer Schlussfolgerungen einflößen sollte, wie sehr sie auch den landläufigen Kenntnissen widersprächen. Mehrere Versuche dieser Art wurden im 19.Jahrhundert tatsächlich unternommen; diejenigen Auguste Comtes und Herbert Spencers verdienen, besonders beachtet zu werden. Es stimmt, dass die Notwendigkeit einer synthetischen Philosophie bereits im 18. Jahrhundert verstanden wurde, von den Enzyklopädisten, von Voltaire in seinem bewundernswerten Philosophischen Wörterbuch (1764), das bis heute ein monumentales Werk bleibt, ebenso von Turgot, und später in noch deutlicher Weise von Saint-Simon. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm sich Auguste Comte die gleiche Arbeit in einer streng wissenschaftlichen Weise vor, die den jüngsten Fortschritten in den Naturwissenschaften eben gemäß war. Es ist bekannt, dass Comte diese Aufgabe auf dem Gebiete der Mathematik und der exakten Wissenschaften im allgemeinen in glänzender Manier löste. Es wird heute auch generell anerkannt, dass es richtig war, die Wissenschaft vom Leben (Biologie) und diejenigen von den menschlichen Gesellschaften (Soziologie) in den Kreis der positiven Wissenschaften aufzunehmen. Und man weiß auch, welch großartigen Einfluss Comtes positive Philosophie auf die Mehrzahl der wissenschaftlichen und philosophischen Denker in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ausübte. Doch warum, fragen sich die Bewunderer des großen Philosophen, warum zeigte sich Comte so schwach, sobald er in seiner Positiven Politik zur Untersuchung der modernen Institutionen und vor allem der Ethik, der Wissenschaft von den moralischen Auffassungen, gelangte? Wie konnte ein so umfassender und positiver Geist zum Begründer einer Religion und eines Kults werden, wie es Comte gegen das Ende seines Lebens tat? Viele seiner Schüler versuchten, diese Religion und diesen Kult mit seinem vorangehenden Werk in Übereinstimmung zu bringen; gegen alle Evidenz behaupteten sie, dass der Philosoph in beiden seiner Werke die gleiche Methode angewandt habe – in seiner Positiven Philosophie und in seiner Positiven Politik. Doch zwei derart bedeutende positivistische Philosophen wie J.S. Mill und Littrö sind sich einig, nicht anerkennen zu wollen, dass die Positive Politik ein Teil von Comtes Philosophie sei. Sie sehen darin nichts als das Produkt eines bereits schwach gewordenen Intellekts. Und doch ist gerade der Widerspruch zwischen den beiden Werken Comtes im höchsten Grade bezeichnend. Er wirft ein Licht auf die ernstesten Probleme unserer Zeit. Als Comte seinen Cours de philosophie positive beendet hatte, musste er zweifellos bemerken, dass seine Philosophie das Wesentliche noch nicht erörtert hatte: den Ursprung des moralischen Empfindens im Menschen und den Einfluss dieses Gefühls auf das menschliche Leben und die menschlichen Gesellschaften. Es war offensichtlich notwendig, den Ursprung dieses Gefühls anzugeben, ihn auf die gleichen Ursachen zurückzuführen, mit Hilfe derer er das Leben im allgemeinen erklärt hatte. Er musste zeigen, warum der Mensch das Bedürfnis fühlt, seinem moralischen Empfinden zu gehorchen oder wenigstens damit zu rechnen. Es ist außerordentlich beachtenswert, dass sich Comte auf dem richtigen Weg befand – auf demjenigen, den Darwin später verfolgte, als dieser große englische Naturwissenschaftler in seiner Abstammung des Menschen die Herkunft des moralischen Empfindens zu erklären versuchte. Comte schrieb in der Positiven Politik einige bewundernswerte Passagen, welche zeigen, dass die Soziabilität und die gegenseitige Hilfe bei den Tieren sowie die ethische Bedeutung dieser Fakten seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen waren. Um aus diesen Tatsachen die notwendigen positivistischen Schlussfolgerungen zu ziehen, waren in jener Zeit die Kenntnisse in der Biologie noch ungenügend, und Comte fehlte die Kühnheit. Er schaffte Gott ab – die Gottheit der positiven Religion, welche der Mensch bewundern und anbeten soll, damit er moralisch bleibe – und an dessen Platz setzte er die “Menschheit“. Er befahl uns, vor diesem neuen Idol uns niederzuwerfen und uns in Gebeten an es zu wenden, damit sich in uns das moralische Element entwickle. Aber hatte man diesen Schritt einmal getan, war für den Menschen einmal als Notwendigkeit erkannt, irgendeine Größe zu verehren, die außerhalb und oberhalb des Individuums stand, um die menschliche Bestie auf dem Wege der Pflicht zu halten, so ergab sich alles andere von selbst. Das Ritual für die Comteschen Religion wurde selbstverständlich in denjenigen der alten, aus dem Orient stammenden Religionen gefunden. Comte war zwangsläufig zu diesem Schluss gelangt, als er nicht erkannte, dass das moralische Empfinden des Menschen, wie auch die Soziabilität und die Gesellschaft selber, vormenschlichen Ursprungs sind: als er in ihm nicht eine Entwicklung jenseits der Soziabilität erkannte, die man bereits bei den Tieren sieht, verstärkt aber beim Menschen durch seine Beobachtung der Natur und des Lebens der menschlichen Gesellschaften. Comte verstand nicht, dass das moralische Empfinden des Menschen von seiner Natur abhängt, in gleicher Weise wie seine physische Organisation: dass beide das Erbe einer sehr langen Entwicklung sind – in einer Evolution, die mehrere zehntausend Jahre gedauert hat. Comte bemerkte sehr wohl die bei den Tieren vorhandenen Empfindungen der Soziabilität und der gegenseitigen Sympathie, doch unter dem Einfluss von Cuvier, der in jener Zeit wie eine letzte Instanz betrachtet wurde, ließ er nicht zu, was Buffon und Lamarck bereits ans Licht gebracht hatten: die Veränderbarkeit der Arten. Dass die Evolution vom Tier zum Menschen überleitete, erkannte er nicht. Folgerichtig erkannte er nicht, was Darwin verstanden hat: dass das moralische Empfinden des Menschen nichts ist als eine Weiterentwicklung der Instinkte, der Gewohnheiten der gegenseitigen Hilfe, die in allen tierischen Gemeinschaften existierten, lange vor dem Erscheinen der ersten Wesen mit menschlichen Zügen auf der Erde. Folgerichtig sah Comte nicht, was wir heute sehen, dass nämlich das moralische Prinzip in der Form eines Instinktes zwangsläufig in der Menschheit lebt, welches auch immer die unmoralischen Akte isolierter Individuen seien. So lange die menschliche Gattung sich nicht auf ihren Untergang zu bewegt, rufen die Taten, die einer aus jenen Quellen entsprungenen Moral zuwiderlaufen, notwendigerweise eine Reaktion von Seiten anderer Menschen hervor, gleich wie in der physischen Welt eine mechanische Aktion eine Reaktion bewirkt. Comte bemerkte nicht, dass in dieser Fähigkeit, auf antisoziale Akte einiger zu reagieren, die natürliche Kraft liegt, welche das moralische Empfinden zwangsläufig aufrechterhält. In ihr liegen – wie bei tierischen Gemeinschaften – auch die ohne irgendeine Intervention von außen gemeinschaftsfördernden Gewohnheiten der menschlichen Gemeinschaften. Diese Kraft ist unendlich mächtiger als die Befehle irgendeiner Religion oder irgendeines Gesetzgebers. Nachdem Comte diese Erkenntnisse nicht zugelassen hatte, musste er zwangsläufig eine neue Gottheit (die “Menschheit“) und einen neuen Kult erfinden, damit dieser Kult den Menschen immer wieder auf den moralischen Weg zurückbringe. Wie Saint-Simon und Fourier zahlte auch Comte seiner christlichen Erziehung Tribut. Ohne die Annahme eines Kampfes zwischen dem bösen und dem guten Prinzip, in dem die beiden Prinzipien als gleich mächtig anerkannt werden, ohne die Anrufung des Repräsentanten des guten Prinzips um Unterstützung im Kampfe mit dem Bösen – ohne das kann das Christentum nicht existieren. Und der von der christlichen Idee durchdrungene Comte kam auf sie zurück, als er auf die Frage der Moral und der Mittel, sie im Menschen zu befestigen, stieß. Der Kultus der “Menschheit“ musste ihm dazu dienen, den Menschen aus der unheilvollen Macht des Bösen zu entfernen.
*** 5. Das Erwachen in den Jahren 1856–1862 Wenn Auguste Comte mit seiner Studie über die menschlichen Institutionen und vor allem über das moralische Prinzip gescheitert war, darf man nicht vergessen, dass er seine Positive Philosophie und Politik einige Zeit vor den Jahren 1856 – 1862 schrieb, die den wissenschaftlichen Horizont plötzlich erweiterten und das Niveau der generellen Auffassungen bei allen gebildeten Menschen anhoben. Die in diesen fünf bis sechs Jahren erschienenen Werke, welche die verschiedenen Zweige der Wissenschaft betrafen, zeitigten eine derartig weitgehende Revolution in unseren Ansichten über die Natur, über das Leben im allgemeinen und über das Leben der menschlichen Gesellschaften, wie man es in der Geschichte der Naturwissenschaften seit zweitausend Jahren nicht erlebt hatte. Was die Enzyklopädisten nur geahnt, vielmehr vorausgefühlt hatten, was die gescheitesten Köpfe in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts so schwer erklären konnten, erschien plötzlich mit aller Kraft des Wissens. Und dieses ganze Wissen war dank der induktiv-deduktiven Methode der Naturwissenschaften in so vollständiger und fundierter Form gewonnen worden, dass jede andere Forschungsmethode dagegen sofort als unvollkommen, falsch und nutzlos erschien. Verweilen wir einen Moment bei den Errungenschaften jener Jahre, um nachher den Versuch einer synthetischen Philosophie, den Herben Spencer unternahm, umso besser würdigen zu können. Grove, Clausius, Helmholtz, Joule und eine ganze Phalanx von Physikern und Astronomen (unter den letzteren Kirchhoff, der die Spektral-Analyse entdeckte und uns dadurch die chemische Zusammensetzung der Sterne, d.h. der von uns entferntesten Sonnen, zu bestimmen ermöglichte) durchbrachen im Laufe dieser sechs Jahre die Grenzen, welche die Gelehrten ein halbes Jahrhundert lang daran gehindert hatten, weitreichende und kühne physikalische Generalisierungen vorzunehmen. In einigen Jahren bewiesen und etablierten sie die Einheit der Natur in der ganzen anorganischen Welt. Es wurde nun ein für allemal unmöglich, von einem geheimnisvollen kalonschen, magnetischen, elektrischen oder anderem Fluidum zu sprechen, auf das die Physiker zuvor zurückgegriffen hatten, um die verschiedenen physikalischen Kräfte zu erklären. Es wurde bewiesen, dass die mechanische Bewegung der Moleküle (diejenigen, welche die Wellen des Meeres hervorrufen, oder diejenigen, die wir in den Schwingungen einer Glocke oder einer Stimmgabel beobachten) zur Erklärung sämtlicher physikalischer Erscheinungen genügt: der Hitze, des Lichtes, des Schalls, der Elektrizität und des Magnetismus. Mehr als das: Wir lernten, die unsichtbaren Bewegungen, diese Vibrationen der Moleküle zu messen – sozusagen ihre Energie zu wägen – in der gleichen Weise wie die Energie eines fallenden Steines oder eines sich in Bewegung befindlichen Zuges. Die Physik wurde so ein Zweig der Mechanik. Außerdem wurde – immer im Laufe dieser wenigen Jahre – bewiesen, dass in den entferntesten Himmelskörpern, selbst in den zahllosen Sonnen der Milchstraße, die nämlichen einfachen chemischen Körper – oder Elemente – wie auf unserer Erde zu finden sind. Die exakt gleichen Molekularschwingungen mit den nämlichen physikalischen und chemischen Wirkungen wie auf unserem Planeten ereignen sich dort. Selbst die Bewegungen der massiven Himmelskörper – Sterne, welche den Weltraum nach den Gesetzen der Schwerkraft durchqueren -. sind aller Wahrscheinlichkeit nach nichts anderes als die Resultate aller dieser Schwingungen, die sich durch Millionen und Trillionen von Myriametern durch den interstellaren Raum fortpflanzen. Die selben kalorischen und elektrischen Schwingungen genügen, um alle chemischen Vorgänge zu erklären. Die Chemie ist nichts anderes als ein weiteres Kapitel der Molekularmechanik. Sogar das Leben der Pflanzen und Tiere in all seinen unzähligen Manifestationen ist nichts anderes als ein fortwährender Austausch von Molekülen (richtiger: Atomen) innerhalb jenes weiten Bereichs der sehr komplizierten und daher sehr unbeständigen chemischen Verbindungen, aus denen sich die Zellgewebe jedes lebenden Wesens zusammensetzen. Das Leben ist nur eine Aufeinanderfolge von chemischem Zerfall und Wiederaufbau innerhalb sehr komplexer Moleküle: eine Reihe von “Gärungen“, die durch chemische, anorganische Fermente erzeugt werden. Außerdem begriff man zur gleichen Zeit (und im Laufe der Jahre 1890- 1900 wurde es besser erkannt und bewiesen), wie das Leben der Zellen des Nervensystems und ihre Fähigkeit, jeden Reiz von einer zur anderen zu übermitteln, uns eine mechanische Erklärung für die Übermittlung von Reizen bei Pflanzen sowie für das Nervenleben bei Tieren gestatten. Infolge dieser Untersuchungen können wir heute, ohne das Gebiet rein physiologischer Beobachtungen zu verlassen, vollkommen verstehen, wie Eindrücke und Bilder sich unserem Gehirn einprägen, wie sie gegenseitig aufeinander wirken, wie sie den Ursprung für Anschauungen und Ideen bilden. Wir sind heute auch imstande, “die Assoziation der Ideen“ zu begreifen, d.h. wie jeder Eindruck zuvor produzierte Eindrücke wieder wachruft. Wir erfassen demnach sogar die Mechanismen des Denkens. Gewiss sind wir noch unendlich weit davon entfernt, alles in dieser Richtung entdeckt zu haben; wir sind immer noch bei den ersten Schritten, es bleibt uns noch unendlich viel zu entdecken. Die Wissenschaft, welche sich gerade erst von der Metaphysik, die sie erstickte, freimachte, hat das Studium dieses unermesslichen Gebietes, der physiologischen Psychologie, erst begonnen. Doch dieser Anfang ist gemacht. Eine feste Grundlage für weiterführende Arbeiten ist gelegt. Die alte Einteilung in zwei völlig getrennte Domänen, die der deutsche Philosoph Kant einzuführen versuchte, nämlich diejenige der Erscheinungen, die wir – nach seinen Worten – in “Zeit und Raum“ erforschen (die Welt der physischen Erscheinungen) und in die andere, die lediglich in der Zeit zu erforschen sei (die Welt der geistigen Erscheinungen) – diese Einteilung verschwindet heute. Der russische Materialist Professor Ivan Sečf1enov stellte eines Tages die Frage: “Wohin gehört die Psychologie, und wie muss man sie studieren?“ Die Antwort wurde bereits gegeben: “Zur Physiologie, mit Hilfe der physiologischen Methode!“ Und in der Tat: Die jüngsten Forschungen der Physiologen haben schon unendlich mehr Licht auf die Mechanismen des Denkens, auf die Entstehung der Eindrücke, auf ihre Fixierung im Gedächtnis sowie ihre Übermittlung geworfen als alle die subtilen Diskussionen, mit denen uns die Metaphysiker bis heute unterhalten haben. Auch in dieser Festung, die sie innehatte, ohne dass jemand eine Möglichkeit zur Kritik gehabt hätte, ist die Metaphysik nun besiegt. Das Feld der Psychologie wurde von den Naturwissenschaften und der materialistischen Philosophie erobert; sie werden unsere Kenntnisse über die Mechanismen des Denkens in diesem Bereich mit einer früher nie gekannten Geschwindigkeit vorantreiben. Doch unter den Werken, die während der gleichen fünf oder sechs Jahre erschienen, gab es eines, das alle andern überragt. Es ist Der Ursprung der Arten von Charles Darwin. Schon Buffon im l8.Jahrhundert und Lamarck an der Wende zum l9. Jahrhundert hatten sich zu bestätigen entschieden, dass die unterschiedlichen Pflanzen- und Tierarten, denen wir auf der Erde begegnen, keine unveränderliche Formen darstellen Sie sind veränderbar und sie ändern sich laufend unter dem Einfluss ihrer Umgebung. Beweist nicht die bloße Ähnlichkeit der Familien, die man zwischen unterschiedlichen Arten dieser oder jener Gruppe bemerkt, dass diese Arten von gemeinsamen Vorfahren abstammt? So müssen die verschiedenen Ranunkelarten, denen wir auf Wiesen und in Sümpfen begegnen, Abkommen von ein und demselben Vorfahren sein, – Abkommen, welche sich diversifiziert haben unter dem Einfluss einer Reihe von Veränderungen und Anpassungen, den sie in ihren verschiedenen Existenzbedingungen erfuhren. Auch die heutigen Arten des Wolfs, Hundes, Schakals, Fuchses existierten früher nicht; doch es gab an ihrer Stelle eine Tierart, die im Laufe von Zeitaltern zum Ursprung von Wolf, Hund, Schakal und Fuchs wurde. Für das Pferd, den Esel, das Zebra usw. kennt man bereits sehr genau den gemeinsamen Vorfahren: Davon hat man in den geologischen Schichten Knochen gefunden. Aber im 18. Jahrhundert war es nicht ratsam, sich zu sehr in ein Abenteuer zu stürzen, indem man sich zu derartigen Ketzereien bekannte. Für weit weniger wurde Buffon bereits mit einer kirchengerichtlichen Verfolgung bedroht und gezwungen, seine Naturgeschichte gekürzt zu publizieren. Damals war die Kirche noch sehr mächtig, und der Naturforscher, der es wagte, dem Bischof missfallende Ketzereien zu unterstützen, wurde mit Gefängnis, Folter und Irrenhaus bedroht. Deshalb waren die “Häretiker“ in ihren Äußerungen äußerst vorsichtig. Jetzt aber, nach 1848, wagten Darwin und Wallace, die gleiche “Ketzerei“ unmissverständlich zu unterstützen, und Darwin fügte sogar hinzu, dass auch der Mensch das Produkt einer langen physiologischen Entwicklung sei: dass er von einer den Affen ähnlichen Tierart abstamme, dass der “unsterbliche Geist“ und die “moralische Seele“ des Menschen sich in gleicher Weise wie der Geist und die sozialen Gewohnheiten der Ameise oder des Schimpansen entwickelt hätten. Wir wissen, welche Gewitter sich seitens der Alten über Darwin und besonders über seinen mutigen, gelehrten und intelligenten Jünger Huxley entluden, über Huxley besonders deshalb, weil er jene Schlussfolgerungen aus dem Darwinismus unterstrich, welche die Geistlichkeit aller Religionen fürchterlich erschreckten. Der Kampf war schrecklich, doch die Darwinianer gingen aus ihm als Sieger hervor. Und seither hat sich unter unseren Augen eine ganz neue Wissenschaft – die Biologie, die Wissenschaft vom Leben in allen seinen Manifestationen, entwickelt. Darwins Werk lieferte gleichzeitig eine neue Forschungsmethode für das Verständnis verschiedenartiger Phänomene im Leben der physischen Materie, der Organismen und der Gesellschaften. Die Idee einer kontinuierlichen Entwicklung, d.h. einer Evolution, sowie eines allmählichen Sichanpassens der Individuen und der Gesellschaften an neue Bedingungen je nach deren Veränderungen – diese Idee fand eine viel breitere Anwendung als die Erklärung vom Ursprung neuer Arten. Mit ihrer Einführung in das Studium der Natur insgesamt sowie in diejenige des Lebens der Menschen, ihrer Fähigkeiten und sozialen Einrichtungen eröffnete sie neue Horizonte und verschaffte die Möglichkeit, die bisher unverständlichsten Tatsachen in allen Gebieten der Wissenschaften zu erklären. Indem sich die Wissenschaftler auf dieses in seinen Konsequenzen derart reiche Prinzip stützten, wurde es ihnen möglich, nicht allein die Geschichte der Organismen, sondern auch die Geschichte der menschlichen Institutionen zu rekonstruieren. Die Biologie zeigte uns in den Arbeitern Herbert Spencers, wie alle Tier- und Pflanzenarten auf unserem Planeten sich aus einigen sehr einfachen Organismen entwickelten, die zu Beginn unsere Erde bevölkerten. Und Haeckel wurde es möglich, die Skizze eines wahrscheinlichen Stammbaums für die verschiedenen Klassen von Tieren einschließlich des Menschen zu entwerfen. Das war schon unermesslich. Darüber hinaus wurde es auch möglich, erste gesicherte wissenschaftliche Grundlagen für die menschlichen Sitten, Gebräuche, Glaubensbekenntnisse und Institutionen zu entwerfen – Hilfsmittel, welche im 18. Jahrhundert und bei Auguste Comte vollständig gefehlt hatten. Diese Geschichte können wir heute schreiben, ohne auf Hegels metaphysische Formeln zurückgreifen und ohne uns aufhalten zu müssen, sei es bei Kants “angeborenen Ideen“ oder “Substanzen“ oder sei es bei von außen kommenden Inspirationen. Wir können sie nachzeichnen, kurz gesagt: ohne jene Formeln, die den Tod des forschenden Geistes bedeuten und hinter denen sich wie hinter den Wolken stets die selbe Ignoranz, stets der selbe alte Aberglaube, der selbe blinde Glaube verbirgt. Die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Institutionen konnte während der letzten fünfzig Jahren auf eine derart solide Basis gestellt werden wie diejenige irgend einer pflanzlichen oder tierischen Art. Ermöglicht wurde dies durch die Arbeiten der Naturwissenschaftler einerseits, andererseits durch das Werk Henry Maines und seiner Nachfolger, welche die induktive Methode auf das Studium der primitiven Institutionen und der ihnen zugrundeliegenden Gesetze anwandten. Zweifellos wäre es ungerecht, die bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geleistete Arbeit zu vergessen, diejenige der Schule Augustin Thierrys in Frankreich, von Maurer und den “Germanisten“ in Deutschland, deren Nachfolger in Russland Kostomarov Beljaev und viele andere waren. Die Evolutionsmethode war sicherlich schon früher – seit den Enzyklopädisten – im Studium der Sitten und Institutionen sowie der Sprachen angewandt worden. Doch korrekte, wissenschaftliche Resultate waren erst zu erreichen, nachdem man gelernt hatte, die gesammelten historischen Tatsachen zu berücksichtigen, gleich wie der Naturwissenschaftler die allmähliche Entwicklung der Organe einer Pflanze oder einer neuen Art berücksichtigt. Die metaphysischen Formeln haben seinerzeit zweifellos geholfen, einige annähernde Generalisierungen vorzunehmen Sie weckten das erstarrte Denken, sie verwiesen es durch ihre vagen Andeutungen auf die Einheit der Natur und auf deren unaufhörliches Leben. In einer Zeit der Reaktion, wie es die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren, wo die durch Induktion gewonnenen Generalisierungen der Enzyklopädisten und ihrer englischen und schottischen Vorläufer in Vergessenheit gerieten, zu einer Zeit vor allem, wo es moralischen Mut – den die Philosophen nicht besaßen – brauchte um angesichts des triumphierenden Mystizismus von der Einheit der physischen und “geistigen“ Natur zu sprechen – in dieser Zeit unterstützte die nebulöse Metaphysik der Deutschen zweifellos den Geschmack an Generalisierungen. Aber die Generalisierungen jener Zeit – mochten sie nun durch die dialektische Methode oder durch eine halbbewußte Induktion gewonnen sein – waren auf Grund dieses Ursprungs von einer verzweifelten Unbestimmtheit. Die ersteren gründeten sich auf recht naive Voraussetzungen vergleichbar jenen, welche die alten Griechen vornahmen als sie bewiesen, dass die Planeten sich in Kreisen durch das Weltall bewegen müssten, weil der Kreis die vollkommenere Linie als die Kurve darstellte. Allein die Naivität der Schlussfolgerungen sowie das Fehlen von Beweisen wurden durch undeutliches Räsonnieren, nebulöse Worte und einen nebelhaften und grotesk schweren Stil verschleiert. Was die aufgrund einer halbbewussten Induktion gewonnenen Generalisierungen betrifft, so waren sie stets auf einer extrem geringen Zahl von Beobachtungen begründet. Da die Induktion unbewusst war, übertrieb man leicht den Wert dieser hypothetischen Schlussfolgerungen und präsentierte sie als unumstößliche Gesetze, während sie in Wirklichkeit doch nur Annahmen, Hypothesen, embryonale Generalisationen waren. Einer grundsätzlichen Verifikation und dem Vergleich der Resultate mit den beobachteten Fakten hätten sie noch unterzogen werden müssen. Schließlich wurden alle diese Generalisierungen in so abstrakter und dunkler Form geäußert – beispielsweise Hegels “These, Antithese und Synthese“-, dass sie der Willkür vollkommene Freiheit ließen, sobald man praktische Schlussfolgerungen aus ihnen ziehen wollte: den von Bakunin daraus abgeleiteten revolutionären Geist und die Revolution von Dresden so gut wie den revolutionären Jakobinismus eines Marx oder Hegels “Anerkennung alles Bestehenden“, welche so viele Autoren “zum Frieden mit der Wirklichkeit“, d.h. der Autokratie veranlasste. Das gilt sogar noch heute; es genügt als Beweis dafür die zahlreichen ökonomischen Irrtümer zu erwähnen, in welche wir kürzlich die Sozialisten in ihrer Vorliebe für die dialektische Methode und die ökonomische Metaphysik fallen sahen. Auf diese griffen sie zurück, anstatt sich mit dem Studium der tatsächlichen Fakten des ökonomischen Lebens der Nationen zu kümmern.
*** 6. Spencers synthetische Philosophie Seitdem man die Anthropologie (d.h. die Lehre von der physiologischen Entwicklung des Menschen sowie die Geschichte seiner Religionen und Institutionen) auf die gleiche Weise wie die gesamte Naturwissenschaft studiert, wurde es möglich, die Grundzüge der Menschheitsgeschichte zu verstehen. Es wurde auch möglich, sich ein für alle mal von der Metaphysik zu trennen, welche das Studium der Geschichte genau so beengte, wie die biblische Tradition einstmals das Studium der Geologie verhindert hatte. Als Herbert Spencer in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts an die Ausarbeitung einer “synthetischen Philosophie“ herantrat, hätte man demnach annehmen können, er würde nicht in die Irrtümer verfallen, welche man in der Positiven Philosophie Comtes findet. Doch die synthetische Philosophie Spencers, die insofern einen Schritt nach vorn bedeutet, als sie keinen Platz mehr für die Religion und den religiösen Ritus hat, enthält in ihrem soziologischen Teil noch ebenso schwere Fehler wie die Positive Philosophie. Tatsache ist, dass Spencer beim Studium der Psychologie der menschlichen Gesellschaften seiner streng wissenschaftlichen Methode nicht treu zu bleiben vermochte und dass er die Folgerungen, zu denen sie ihn geführt hatte, nicht zu akzeptieren wagte. So erkannte er beispielsweise, dass der Grund und Boden niemals Privatbesitz hätte sein dürfen. Der Eigentümer des Bodens, der von seinem Recht, nach seinem Belieben den Pachtpreis zu erhöhen, profitiert, wird auf diese Weise die Bearbeiter des Bodens daran hindern, daraus all jene Erträge zu ziehen, die sie mittels einer intensiven Bodenbearbeitung hätten ziehen können. Oder er wird das Land in der Erwartung unbebaut lassen, dass der Bodenpreis sich infolge der Arbeit steigert, welche andere in seiner Nachbarschaft verrichtet haben. Ein derartiges System bezeichnet Spencer ohne Zögern als schädlich für die Gesellschaft. Doch obwohl er dieses Übel hinsichtlich des Bodens anprangert, wagt er nicht, die gleichen Überlegungen gegenüber den andern aufgehäuften Reichtümern anzustellen, nicht einmal gegenüber den Bergwerken und den Docks, geschweige denn gegenüber Werkstätten und Fabriken. Ein anderes Beispiel: Er erhebt seine Stimme gegen die Einmischung des Staates in das Leben der Gesellschaft und gibt einem seiner Bücher einen Titel, der ein vollständiges revolutionäres Programm bedeutet: Das Individuum gegen den Staat. Aber allmählich und zwar unter dem Vorwand, die fürsorgende Funktion des Staates zu retten, lässt er den Staat neu erstehen – ganz wie er heute besteht, nur dass er ihm einige geringfügige Beschränkungen auferlegt. Diese und ähnliche Widersprüche erklären sich zweifellos dadurch, dass Spencer den Soziologischen Teil seiner Philosophie unter dem Einfluss der englischen radikalen Bewegung ausarbeitete einige Zeit vor der Niederschrift des naturwissenschaftlichen Teils. In der Tat veröffentlichte er seine Social statistics im Jahre 1850, d.h. zu einer Zeit, in der das anthropologische Studium menschlicher Institutionen noch in den Kinderschuhen steckte. Jedenfalls hatte dies zur Folge, dass Spencer ebenso wie Cointedas Studium dieser Institutionen nicht für sich allein und ohne vorgefaßte, anderen Bereichen als der Wissenschaft entlehnten Meinungen unternahm. Sobald er zur Philosophie der Gesellschaften gelangte, begann Spencer überdies eine neue Methode anzuwenden – die Methode der Ähnlichkeiten, der Analogien von der er offensichtlich beim Studium der physischen Tatsachen keinen Gebrauch gemacht hatte. Diese Methode erlaubte ihm, eine ganze Menge vorgefaßter Meinungen zu rechtfertigen, und das Resultat war, dass wir bis heute keine synthetische Philosophie haben, die in ihren beiden Teilen auf der nämlichen Methode basiert: derjenigen der Natur- und derjenigen der Sozialwissenschaften. Es muss auch gesagt werden, dass Spencer der am wenigsten geeignete Mann für das Studium der primitiven Institutionen der Wilden war. In dieser Hinsicht übertrieb er gar einen den meisten Engländern gemeinsamen Fehler: die Sitten und Gebräuche anderer Nationen nicht verstehen zu können. “Wir sind ein Volk des römischen Rechts, während die Iren ein Volk des Gemeinrechts sind – hier liegt der Grund, dass wir uns gegenseitig nicht verstehen“, sagte mir eines Tages James Knowles, ein sehr gescheiter und scharfsinniger Engländer. Doch diese Unfähigkeit, andere als ihre eigene Zivilisation verstehen zu können, wird noch viel augenscheinlicher, wenn es sich um jene handelt, die die Engländer als “inferiore Rassen“ bezeichnen. Das ist auch bei Spencer der Fall. Es war ihm absolut unmöglich, die Wilden zu verstehen: deren Achtung vor dem Stamm, die in einer isländischen Sage als Pflicht des Helden betrachtete “Blutrache“ oder das stürmische, kampfreiche und dadurch ungleich fortschrittlichere Leben der mittelalterlichen Städte. Die Rechtsvorstellungen dieser Stufen der Zivilisation sind Spencer völlig fremd. Er sieht in ihnen nur Wildheit, Barbarei und Grausamkeit. In dieser Hinsicht geht Spencer hinter Comte zurück, der die Bedeutung des Mittelalters für die fortschrittliche Entwicklung der Institutionen durchaus erkannt hatte – ein Gedanke, der seither in Frankreich wieder vergessen wurde. Außerdem – und dieser Irrtum wiegt noch viel schwerer – hatte Spencer wie Huxley und viele andere den Kampf ums Dasein völlig missverstanden. Er stellte sich ihn nicht nur als einen Kampf zwischen den verschiedenen Tierarten (die Wölfe fressen die Hasen, viele Vogelarten leben von Insekten usw.) vor, sondern auch als einen verbissenen Kampf um Nahrung und um einen Platz auf der Erde, innerhalb einer jeden Art, zwischen allen Individuen der gleichen Art. Gewiss besteht ein derartiger Kampf, doch keineswegs in dem Umfange, wie sich Spencer und so viele Darwinisten vorstellten. Inwieweit Darwin selbst für diese falsche Auffassung vom Kampf ums Dasein verantwortlich ist, soll hier nicht erörtert werden. Gewiss ist, dass Darwin, als er zwölf Jahre nach der Herausgabe seines Buches Der Ursprung der Arten die Abstammung des Menschen veröffentlichte, den Kampf ums Dasein bereits in einem viel breiteren und metaphorischeren Sinne verstand als einen erbitterten Kampf innerhalb jeder Art. So schrieb er in seinem zweiten Werk, dass “jene Tierarten, welche die größte Zahl mitfühlender Individuen aufweisen, am meisten Chancen haben, zu überleben und eine starke Nachkommenschaft zu hinterlassen“. Er entwickelte gar die Idee, dass der soziale Instinkt bei jedem Tier ein viel ausgeprägterer, andauernder und aktiverer sei als derjenige des persönlichen Schutzes. Diese Auffassung weicht wesentlich ab von denjenigen der Darwinisten. Im allgemeinen hätten die Kapitel, die Darwin in der Abstammung des Menschen diesem Gegenstande widmete, einen Anstoß zur Ausarbeitung einer außerordentlich folgenreichen Auffassung von der Natur und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften geben können, einer Auffassung, die Goethe aufgrund von ein oder zwei Tatsachen bereits geahnt hatte. Doch all dies blieb unbeachtet. Erst im Jahre 1879 finden wir in einem Vortrag des russischen Zoologen Kessler ein klares Verständnis für das Verhältnis das in der Natur zwischen dem Kampf ums Dasein und der gegenseitiger Hilfe besteht. “Für die fortschreitende Entwicklung einer Art“ – sagte er, verschiedene Beispiele anführend – “ist das Gesetz der gegenseitigen Hilfe von weit grösserer Wichtigkeit als das des wechselseitigen Kampfes.“ Ein Jahr später hielt Lanessan seinen Vortrag über den Kampf ums Dasein und den Zusammenschluss im Kampf, und zur gleichen Zeit veröffentlichte Büchner sein Werk Liebe und Liebesleben in der Tierwelt, in welchem er auf die Bedeutung der Sympathie bei den Tieren für die Entwicklung der ersten moralischen Auffassungen hinwies. Er begrenzte indes unnötigerweise das Gebiet seiner Forschungen indem er sich vor allem auf die familiäre Liebe und das Mitleid abstützte. Es war mir ein Leichtes, die Idee Kesslers in der Gegenseitigen Hilfe zu beweisen und weiterzuentwickeln sie auch auf den Menschen auszuweiten, indem ich mich auf exakte Beobachtungen der Natur und auf moderne Untersuchungen zur Geschichte der Institutionen bezog. Die gegenseitige Hilfe ist in der Tat nicht nur die wirkungsvollste Waffe jeder tierischen Art im Kampf ums Dasein gegen die feindlichen Kräfte der Natur und andere Arten; sie ist auch das wichtigste Mittel einer fortschreitenden Entwicklung. Sogar denv schwächsten Tieren sichert sie ein langes Leben (und damit eine Möglichkeit zur Sammlung von Erfahrungen) die Sicherheit der Nachkommenschaft und den intellektuellen Fortschritt. Dies bewirkt, dass diejenigen Tierarten, welche die gegenseitige Hilfe am besten praktizieren, nicht allein besser als die anderen überleben, sondern auch jeweils den ersten Platz – jede in ihrer entsprechenden Klasse (Insekten, Vögel, Säugetiere) in Bezug auf Physische und geistige Überlegenheit einnehmen. Diese fundamentale Tatsache der Natur hatte Spencer übersehen. Wie ein Prinzip, das keines Beweises bedarf, wie ein Axiom akzeptierte er den Kampf ums Dasein innerhalb jeder Art, den erbitterten Kampf “mit dem Schnabel und den Krallen“ um jeden Bissen Nahrung. Die “vom Blute der Gladiatoren gefärbte Natur“ wie sie sich der englische Dichter Tennyson vorstellte war sein Bild von der Tierwelt. Erst im Jahre 1890, in einem Artikel in The Nineteenth Century begann er bis zu einem gewissen Grade die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe, oder vielmehr des Gefühls der Sympathie, im Tierreich zu verstehen. Er begann in dieser Richtung Tatsachen zu sammeln und Beobachtungen anzustellen. Doch bis zu seinem Tod blieb der primitive Mensch für ihn das reißende Tier, das nur dann überlebte, wenn es mit “Zahn und Kralle“ seinem Nachbarn den letzten Bissen Nahrung entriß. Es versteht sich von selbst, dass Spencer seine Synthetische Philosophie nicht ohne eine ganze Reihe von Irrtümern ausarbeiten konnte, nachdem er derartig falsche Prämissen zum Fundament seiner Dediktionen genommen hatte.
*** 7. Die Rolle des Gesetzes im Gesellschaftsleben Spencer war nicht der Einzige, der solchen Irrtümern verfiel. Hobbes treu bleibend betrachtete die ganze Philosophie des 19. Jahrhunderts die Primitiven als eine Herde wilder Tiere, welche in kleinen, isolierten Familien lebten und sich gegenseitig um Nahrung und Weibchen bekämpften, bis eine wohlwollende Autorität sich etablierte, um ihnen den Frieden aufzuzwingen. Selbst ein Naturforscher wie Huxley fuhr fort, diese fantastische Behauptung von Hobbes zu wiederholen, und erklärte (noch im Jahre 1885), die Menschen hätten zu Beginn in einem steten Kampfe “jeder gegen alle“ gelebt und schließlich sei nur dank einiger überlegener Individuen “die erste Gesellschaft gegründet worden“. Selbst ein gelehrter Darwinist wie Huxley ahnte nicht, dass die Gesellschaft, weit davon entfernt, von den Menschen geschaffen zu sein, bereits lange Zeit vor der Entstehung des Menschen bei den Tieren existierte. So groß ist die Macht eines verwurzelten Vorurteils. Wenn man die Geschichte dieses Vorurteils nachzuzeichnen versucht, so bemerkt man leicht, dass sein Ursprung in den Religionen und Kirchen liegt. Die Geheimgesellschaften der Zauberer, der Regenmacher, der Schamanen, und später diejenigen der assyrischen und ägyptischen Priester, und noch später die christlichen Kleriker versuchten die Menschen stets zu überzeugen, dass “die Welt in Sünde lebt“; allein die wohlwollenden Interventionen des Schamanen, des Zauberers, des Heiligen oder des Priesters vermöchten die Macht des Bösen daran hindern, sich des Menschen zu bemächtigen; allein sie könnten von einer bösen Gottheit erreichen, dass der Mensch zur Bestrafung wegen seiner Sünden nicht mit allen Arten von Übeln beladen werde. Das Urchristentum machte zweifellos einen Versuch, dieses Vorurteil abzuschwächen, doch die christliche Kirche, die sich auf die Worte des Evangeliums über das “ewige Feuer“ stützte, verstärkte es nur von neuem. Schon die Lehre vom Gottes-Sohn, der kam, um auf Erden zu sterben und damit die Sünden der Menschheit zu tilgen, bestätigt diese Betrachtungsweise. Und dies war es denn auch, was später der “heiligen Inquisition“ erlaubte, ihre Opfer den grausamsten Foltern zu unterwerfen, sie auf langsamem Feuer zu rösten: Sie gab ihnen die Gelegenheit zu bereuen, um sie vor den ewigen Qualen zu erretten. Nicht allein die römisch-katholische Kirche handelte so; alle christlichen Kirchen wetteiferten – dem nämlichen Prinzip verpflichtet – untereinander, neue Leiden und Schrecken zu erfinden, um die “im Laster versunkenen“ Menschen zu bessern. Bis heute glauben noch 999 von tausend Menschen dass natürliche Ereignisse, wie Dürre, Erdbeben und Epidemien von oben, von irgendeiner Gottheit gesandt werden, um die der Sünde verfallene Menschheit auf den rechten Weg zurückzuführen. Diesen Glauben an die angeborene Sündhaftigkeit des Menschen hielt auch der Staat in seinen Schulen und Universitäten aufrecht, und er tut es noch. Er führt damit den Beweis für die Notwendigkeit einer Gewalt, welche über der Gesellschaft steht und ihr moralische Begriffe einpflanzt – mit Hilfe von Strafen für Verfehlungen gegen das “sittliche Gesetz“, das dank einer kleinen Taschenspielerei mit dem geschriebenen Gesetz gleichgesetzt wird. Die Menschen von der Notwendigkeit dieser Autorität zu überzeugen, stellt für den Staat eine Frage von Leben und Tod dar. Wenn die Menschen an der Notwendigkeit einer Stärkung der moralischen Prinzipien durch die starke Hand der Autorität zu zweifeln begännen, würden sie ihren Glauben an den hohen Auftrag ihrer Regierungen bald einmal verlieren. Unsere ganze religiöse, historische, juristische und soziale Erziehung ist von der Idee durchdrungen, dass der Mensch, bliebe er sich selber überlassen, wieder zum wilden Tier würde. Wäre keine Autorität da, so würden sich die Menschen gegenseitig auffressen: Von der Masse ist nichts anderes zu erwarten als Animalität und Krieg eines jeden gegen alle. Diese menschliche Masse würde verkommen, wenn es über ihr nicht Auserwählte gäbe – den Priester, den Gesetzgeber und den Richter mit seinen Gehilfen, den Polizisten und den Henker. Sie sind es, welche die Schlacht aller gegen alle verhindern; sie, die die Menschen zum Respekt vor dem Gesetz erziehen, die sie in der Disziplin unterweisen und sie mit fester Hand in die Zukunft führen, wo bessere Regungen in den “verhärteten Herzen“ wachsen und die Peitsche, der Galgen und das Gefängnis weniger nötig sein werden, als sie es heute sind. Wir lachen über jenen König, der im Jahre 1848, als er ins Exil verreiste, sagte: “Meine armen Untertanen! Ohne mich werdet ihr nun verderben!“ Wir lächeln über jenen englischen Kaufmann welcher allen Ernstes die Engländer für den verlorenen Stamm Israels und von Gott dazu berufen hielt, den “inferjoren Rassen“ eine gute Regierung zu geben. Doch begegnen wir nicht derselben übertriebenen Wertschätzung ihrer selbst bei jeder Nation, selbst bei der großen Mehrzahl derer, die etwas gelernt haben? Und doch führt das Wissenschaftliche Studium der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen zu ganz andern Ansichten. Es zeigt uns, dass die Gewohnheiten und Gebräuche, welche die Menschheit zum Zwecke der gegenseitigen Hilfe, der gegenseitigen Verteidigung und des allseitigen Friedens schufen, gerade von der namenlosen Masse entwickelt wurden. Es sind gerade diese Gebräuche, die es dem Menschen wie auch den Tierarten der heutigen Zeit ermöglichen, im Kampf ums Dasein zu überleben. Die Wissenschaft beweist uns, dass die sogenannten Führer, Helden und Gesetzgeber der Menschheit im Laufe der Geschichte nichts eingeführt haben, was nicht schon vorher durch Gewohnheitsrecht entwickelt worden wäre. Die besten unter ihnen haben nichts anderes getan, als diese Einrichtungen zu formulieren und zu sanktionieren. Doch die große Zahl dieser vermeintlichen Wohltäter hat zu allen Zeiten versucht, diejenigen Institutionen des Gewohnheitsrechtes, welche die Bildung einer persönlichen Autorität verhinderten, entweder zu zerstören oder sie in einer Weise zu handhaben, die zu ihrem persönlichen Vorteil oder demjenigen ihrer Kaste gereichte. Schon seitdem entferntesten Altertum, das sich in der Dunkelheit der Eiszeit verliert, lebten die Menschen in Gesellschaften. Und in diesen Gesellschaften wurde, um das Zusammenleben zu ermöglichen, eine ganze Reihe von religiösen Gebräuchen und Institutionen geschaffen. Während der ganzen menschlichen Entwicklung schuf die gleiche schöpferische Kraft der anonymen Masse je nach den sich ergebenden, wechselnden Bedingungen neue Formen des gesellschaftlichen Lebens, der gegenseitigen Hilfe und der Friedenssicherung. Andererseits beweist die moderne Wissenschaft ganz eindeutig, dass das Gesetz, welchen Ursprungs es auch sein mag, ob man es uns von göttlicher Herkunft oder von einem weisen Gesetzgeber stammend präsentierte, niemals anderes getan hat, als bereits bestehende Gebräuche zu fixieren, sie auf eine dauerhafte Form festzulegen oder sie zu erweitern. Alle Gesetzessammlungen des Altertums waren nichts anderes als Sammlungen von ins Gedächtnis eingeprägten oder aufgeschrieben Gebräuchen und Gewohnheiten, um sie buchstabengetreu den folgenden Generationen zu überliefern. Nur fügte das Gesetzbuch immerzu den bereits allgemein gehandhabten Gebräuchen einige neue Regeln hinzu, welche im Interesse der Minderheit der Reichen, der Bewaffneten und der Streitsüchtigen geschaffen wurden – Regeln, welche die im Entstehen begriffenen, für die Reichen vorteilhaften Gewohnheiten der Ungleichheit und der Knechtschaft formulierten. “Du sollst nicht töten“, sagte beispielsweise das mosaische Gesetz, “Du sollst nicht stehlen“, “Du sollst nicht falsches Zeugnis reden“. Aber diesen ausgezeichneten Verhaltensregeln fügte es noch hinzu: “Du sollst weder die Frau deines Nachbarn, noch dessen Sklave, noch dessen Esel begehren,“ und damit legalisierte es für lange Zeit die Sklaverei und stellte die Frau dem Sklaven und dem Lasttier gleich. “Liebe deinen Nächsten,“ sagte später das Christentum, fügte aber durch den Mund des Apostels Paulus gleich hinzu: “Ihr Sklaven, gehorcht euren Herren“ und “es gibt keine Obrigkeit, sie sei denn von Gott“. Damit legitimierte und vergöttlichte er die Trennung in Herren und Sklaven und sanktionierte die Autorität der Schufte, die damals in Rom regierten. Sogar die Evangelien, welche die erhabene, das Wesen des Christentums prägende Idee des Verzeihens lehren, sprechen fortwährend von einem rächenden Gott und predigen damit die Rache. Dasselbe wiederholte sich in den Gesetzbüchern der sogenannten Barbaren: der Gallier, Langobarden, Alemannen, Sachsen und Slawen nach dem Zusammenbruch des römischen Kaiserreichs. Sie erhoben einen zweifellos ausgezeichneten Brauch, der damals allgemeingültig war, zum Gesetz: eine Entschädigung für Verwundungen und Tötungen an Stelle der bisher üblichen Vergeltung (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Wunde für Wunde, Tod um Tod). In dieser Hinsicht bedeuteten die Gesetzbücher der Barbaren einen Fortschritt gegenüber der im Stamme üblichen Rache. Doch gleichzeitig begründeten sie auch die Trennung der freien Menschen in Klassen, welche damals kaum sichtbar war. Die Gesetzbücher legten die Höhe der Entschädigung für einen Sklaven (sie wurde an seinen Herrn bezahlt), für einen Freien und für einen Führer fest. Für letzteren war sie derart hoch, dass sie für den Mörder Sklaverei auf Lebenszeit bedeutete. Die Idee, welche diesen Unterscheidungen zu Grunde lag, war zu Beginn zweifellos die, dass die Familie eines in einer Schlägerei getöteten Fürsten in ihrem Oberhaupt bedeutend mehr verlor als die Familie eines gewöhnlichen freien Mannes; folglich hatte erstere in der damaligen Rechtsauffassung Anspruch auf eine höhere Entschädigung. Aber indem man aus diesem Brauch ein Gesetz machte, begründete das Gesetzbuch für ewige Zeiten eine Trennung der Menschen in verschiedene Klassen, und dies in so vollkommener Weise, dass wir uns ihrer bis heute nicht entledigen konnten. Das Gleiche ist in der Gesetzgebung aller Zeit bis heute zu beobachten: Die Unterdrückung in der vorangehenden Epoche wurde durch das Gesetz stets auf die folgende Zeit übertragen. Die Repression des Perserreiches ging so auf Griechenland über; diejenige Mazedoniens übertrug sich auf Rom, und die sowie die Grausamkeiten des römischen Reiches und der orientalischen Tyranneien übertrugen sich auf die jungen, in der Formierung begriffener Staaten der “Barbaren“ und auf die christliche Kirche. Mit Hilfe des Gesetzes legte die Vergangenheit der Zukunft Fesseln an. Alle für das soziale Leben notwendigen Garantien, alle Formen des gesellschaftlichen Lebens im Stamm, in der Dorfgemeinschaft in der mittelalterlichen Stadt, alle Beziehungsformen der Stämme, und später der Städterepubliken untereinander, welche dem späteren Völkerrecht als Grundlage dienten – kurz: alle Formen gegenseitiger Hilfe und der Wahrung des Friedens, samt dem Gericht und der Geschworenenversammlung, wurden durch das schöpferische Genie der namenlosen Masse geschaffen. Alle Gesetze von den ältesten Zeiten bis heute setzen sich aus zwei Elementen zusammen: das eine legt gewisse zur Gewohnheit gewordene und allgemein als nützlich anerkannte Lebensformen fest (und lässt sie dadurch erstarren), das andere bedeutet einen Zusatz (vielfach nur eine einfache, hinterlistige Formulierung eines Brauchs), welche den Zweck verfolgt, die aufkeimende Autorität des Lehnsherrn, des Soldaten, des Königs oder des Priesters festzusetzen, zu bekräftigen, zu sanktionieren. Zu diesen Ergebnissen führt uns das wissenschaftliche Studium der gesellschaftlichen Entwicklung, die in den letzten vierzig Jahren von einer großen Zahl gewissenhafter Gelehrter unternommen wurde. Es stimmt, dass die Gelehrten häufig nicht wagen, selber derart ketzerische Schlussfolgerungen zu formulieren. Aber der denkende Leser gelangt durch die Lektüre ihrer Arbeiten zwangsläufig dorthin.
*** 8. Die Stellung des Anarchismus in der modernen Wissenschaft Welche Stellung nimmt nun der Anarchismus in der großen geistigen Bewegung des 19. Jahrhunderts ein? Die Antwort auf diese Frage zeichnete sich bereits in den vorhergehenden Kapiteln ab. Der Anarchismus ist eine Weltanschauung, die auf einer mechanischen Erklärung der Phänomene beruht, welche die gesamte Natur umfasst, miteingeschlossen das Leben der Gesellschaften. Seine Methode ist diejenige der Naturwissenschaften, bei welcher jede wissenschaftliche Schlussfolgerung verifiziert werden muss. Sein Ziel ist die Schaffung einer synthetischen Philosophie, welche alle Tatsachen der Natur, samt dem Leben der menschlichen Gesellschaften und ihren Ökonomischen, politischen und sittlichen Problemen – jedoch ohne die Irrtümer, welche Comte und Spencer aus den genannten Gründen begingen. Es ist klar, dass der Anarchismus aus diesem Grunde auf alle Fragen des modernen Lebens andere Antworten geben und dazu eine andere Haltung einnehmen muss als alle politischen Parteien, bis zu einem gewissen Maße auch als die sozialistischen Parteien, die sich noch nicht von alten metaphysischen Fiktionen getrennt haben. Gewiss, die Ausarbeitung einer vollkommen mechanischen Betrachtungsweise der Natur und der menschlichen Gesellschaften ist in ihrem soziologischen Teil, der das Leben und die Evolution der Gesellschaften studiert, noch kaum begonnen worden. Dennoch trägt das Wenige, das geleistet wurde, – mitunter unbewusst – den von uns angegebenen Charakter. In der Rechtsphilosophie, der Ethik, der politischen Ökonomie und der Geschichte der Völker und ihrer Institutionen haben die Anarchisten bereits bewiesen, dass sie sich mit metaphysischen Schlussfolgerungen nicht begnügen, sondern sie naturwissenschaftlich zu begründen versuchen. Sie lassen sich nicht beeinflussen von der Metaphysik Hegels, Schellings oder Kants, von den Kommentatoren des römischen und kanonischen Rechts, von den gelehrten Professoren des Staatsrechts oder von der politischen Ökonomie der Metaphysiker. Sie versuchen sich Klarheit zu verschaffen in allen in diesen Bereichen aufgeworfenen Fragen, indem sie sich auf jene Fülle von Arbeiten stützen, die in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive geschaffen wurden. Die materialistische (mechanische oder vielmehr kinetische) Philosophie hat die metaphysischen Begriffe aufgegeben: “den universellen Geist“, “die schöpferische Naturkraft“, “die liebende Anziehung der Materie“, “die Fleischwerdung der Idee“, “das Ziel und der Grund der Natur“, “das Unerforschliche“, “die Humanität“ (im Sinne eines vom “Hauch des Geistes“ inspirierten Wesens). Sie hat die Keime von Verallgemeinerungen, die hinter diesen Worten verborgen sind, in die konkrete Sprache der Tatsachen übersetzt. Genauso versuchen wir es zu tun, wenn wir uns mit den Tatsachen des sozialen Lebens befassen. Wenn der Metaphysiker den Naturforscher davon überzeugen will, dass das geistige und emotionale Leben des Menschen sich nach “Gesetzen“ vollzieht, die “dem Geiste immanent“ sind, so zuckt er die Achseln und fährt in seinem geduldigen Studium der Phänomene des Lebens, der Intelligenz, der Leidenschaften fort, um zu beweisen, dass sie alle auf chemische und physische Erscheinungen zurückgeführt werden können. Er versucht, ihre natürlichen Gesetze zu ergründen. Genau so ergeht es einem Anarchisten, dem man sagt, nach Hegel stelle “jede Entwicklung eine These, Antithese und Synthese“ dar oder das Recht habe als “Ziel, die Gerechtigkeit zu schaffen, welche die materielle Substantiierung der höchsten Idee bedeute“ oder wenn man ihn fragt, was seiner Meinung nach “das Ziel des Lebens“ sei. Auch er wird die Achseln zucken und sich fragen “Wie ist es möglich, dass sich bei der heutigen Blüte der Naturwissenschaften noch derart rückständige Menschen finden, die weiterhin an solches Geschwätz glauben? Leute, die noch die Sprache des primitiven Wilden sprechen, der die Natur ‘anthropomorphisierte‘ und sie sich als von menschenähnlichen Wesen beherrscht vorstellte?“ Die Anarchisten lassen sich nicht durch wohlklingende Worte beeindrucken, da sie wissen, dass diese Worte stets dazu dienen, entweder die Unwissenheit, d.h. ein unvollendetes Forschen, oder – was schlimmer ist – den Aberglauben zu verdecken. Das ist der Grund, warum er – spricht man in einer derartigen Sprache zu ihm – ohne innezuhalten weitergeht, um in seinem Studium der sozialen Theorien und Institutionen in Vergangenheit und Gegenwart unter Benutzung der naturwissenschaftlichen Methode weiterzufahren. Und er findet dabei ohne Zweifel, dass die Entwicklung und das Leben der Gesellschaften in Wirklichkeit weitaus komplexer (und in seiner praktischen Zielsetzung weitaus interessanter) sind, als es scheinen möchte, wenn sie nach jenen metaphysischen Formeln beurteilt würden. In letzter Zeit hat man viel von der dialektischen Methode sprechen gehört; die Sozialdemokraten empfehlen sie zur Ausarbeitung des sozialistischen Ideals. Wir anerkennen diese Methode ganz und gar nicht; sie wird übrigens in keiner der Naturwissenschaften akzeptiert. Dem modernen Naturwissenschaftler erscheint diese dialektische Methode als etwas sehr Altes, Überlebtes und von der Wissenschaft glücklicherweise längst Vergessenes. Keine einzige Entdeckung des 19. Jahrhunderts, sei es auf dem Gebiete der Mechanik oder der Physik, der Chemie, der Biologie, der Psychologie, der Anthropologie, wurden mit Hilfe der dialektischen Methode erreicht. Alle wurden mit der induktiv-deduktiven Methode erzielt – der einzigen wissenschaftlichen Methode. Der Mensch ist – wie das Wachstum einer Blume oder die Entwicklung des Gesellschaftslebens bei den Ameisen und Bienen – ein Teil der Natur, und sein persönliches und soziales Leben stellt ebenfalls ein Phänomen der Natur dar. Daher besteht kein Grund, dass wir – von der Blume zum Menschen, von der Biber-Siedlung zur menschlichen Stadt übergehend – die uns bisher äußerst hilfreiche Methode aufgeben sollten, um eine andere im Arsenal der Metaphysik zu suchen. Die induktive Methode, welche wir in den Naturwissenschaften anwenden, hat ihre Reichweite so entschieden bewährt, dass das 19. Jahrhundert die Wissenschaft mehr gefördert hat, als dies vorher während zweier Jahrtausende geschehen konnte. Und als man in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts anfing, sie auf das Studium der menschlichen Gesellschaften anzuwenden, stieß man nirgends auf einen Punkt, wo man sie hätte verwerfen müssen, um zu der von Hegel wiederbelebten mittelalterlichen Scholastik zurückzukehren. Mehr noch: Die Naturforscher wollten uns – ihrer bürgerlichen Erziehung Tribut zollend – weismachen, und sie gaben dabei vor, sich auf die wissenschaftliche Methode des Darwinismus zu stützen: “Vernichtet jeden, der schwächer ist als Ihr: so will es das Naturgesetz!“ Da war es uns ein leichtes, mit Hilfe derselben wissenschaftlichen Methode zu beweisen, dass diese Gelehrten fehlgegangen waren: Ein solches Gesetz existiert nicht, die Natur lehrt uns etwas ganz anderes, derartige Schlussfolgerungen sind keineswegs wissenschaftlich. Das Gleiche gilt für die Behauptung, die ungleiche Verteilung des Reichtums sei ein Naturgesetz oder die kapitalistische Ausbeutung die zweckmäßigste Form gesellschaftlicher Organisation. Gerade die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Tatsachen der Ökonomie erlaubt uns zu beweisen, dass die sogenannten Gesetze der bürgerlichen Sozialwissenschaften samt der aktuellen politischen Ökonomie keineswegs Gesetze sind, sondern nichts weiter als Behauptungen, oder richtiger: Vermutungen, die man zu verifizieren versucht hat. Fügen wir noch ein Wort hinzu. Wissenschaftliches Forschen ist nur unter der Bedingung fruchtbar, dass ihm ein bestimmtes Ziel eigen ist: die Absicht, eine Antwort auf eine klare, eindeutig gestellte Frage zu finden. Die Erforschung wird um so fruchtbarer sein, je klarer man die Beziehungen sieht, welche zwischen der gestellten Frage und den Grundzügen unserer allgemeinen Weltanschauung bestehen. Je besser die Frage in dieser Konzeption aufgeht, desto leichter findet sich eine Antwort. Die Frage nun, die sich der Anarchismus stellt, kann folgendermaßen formuliert werden: Welche sozietären Formen gewährleisten für eine gegebene Gesellschaft und darüber hinaus für die Menschheit im allgemeinen die größte Summe an Glück und folglich auch die größte Lebenskraft? Welche Formen der Gesellschaft erlauben dieser Summe an Glück, qualitativ und quantitativ zu wachsen und sich zu entwickeln, d.h. vollständiger und allgemeiner zu werden? Hiermit ist – nebenbei gesagt – auch die Definition des Fortschritts gegeben. Der Wunsch, die Entwicklung in dieser Richtung zu fördern, bestimmt die Tätigkeit des Anarchisten auf sozialem, wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet.
*** 9. Das anarchistische Ideal und die früheren Revolutionen Der Anarchismus entsprang, wie bereits erwähnt, den Weisungen des praktischen Lebens. Godwin, ein Zeitgenosse der großen französischen Revolution von 1789 – 1793 hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die staatliche Autorität, die während der Revolution und durch sie geschaffen wurde, zu einem Hindernis für die Entwicklung der revolutionären Bewegung wurde. Er wusste auch, was in England, gedeckt vom Parlament, vor sich gegangen war: die Plünderung der Gemeindeländereien, der Verkauf vorteilhafter Ämter, die Jagd auf die Kinder der Armen, die von den England durchstreifenden Agenten aus den Arbeitshäusern entführt und in die Fabriken von Lancashire geschleppt wurden, wo sie in Massen zugrunde gingen usw. Godwin begriff, dass eine Regierung, und sei sie diejenige “der einen und unteilbaren Republik“ der Jakobiner, niemals die notwendige Revolution im Sinne einer kommunistischen sozialen Revolution vollenden kann. Die Regierung ist nämlich stets Hüterin des Staates und seiner Privilegien, die jeder Staat verteidigt, und so wird sie bald einmal ein Hindernis der Revolution. Godwin begriff dies und verkündete diese anarchistische Idee: Für eine siegreiche Revolution müssten sich die Menschen vor allem anderen frei machen von ihrem Glauben an das Recht, die Autorität, die Einheit, die Ordnung, das Eigentum und alle andern Arten von Aberglauben, die sie aus ihrer Vergangenheit als Sklaven geerbt haben. Der zweite Theoretiker des Anarchismus war Proudhon. Er erlebte die gescheiterte Revolution vom Jahre 1848. Auch er konnte mit eigenen Augen die von der republikanischen Regierung begangenen Verbrechen beobachten, gleichzeitig wurde die Machtlosigkeit des Staatssozialismus deutlich. Unter den noch frischen Eindrücken aus der 48er-Bewegung schrieb Proudhon seine Idée générale de la révolution au XIXe siècle, in welcher er mutig die Abschaffung des Staates und den Anarchismus proklamierte. Schließlich reifte der Anarchismus auch in der Internationale nach einer Revolution, d.h. nach der Pariser Kommune von 1871. Zwei Gegebenheiten öffneten vielen die Augen: die völlige revolutionäre Ohnmacht des Rats der Kommune welchem übrigens in sehr gerechtem Verhältnis Vertreter aller revolutionären Fraktionen jener Zeit (Jakobiner, Blanquisten und Mitglieder der Internationale) angehörten, sowie die Unfähigkeit des in London residierenden Generalrats der Internationale und seine so alberne wie schädliche Anmaßung, die Pariser Bewegung durch Befehle aus England dirigieren zu wollen. Sie veranlassten viele Mitglieder der Internationale, u.a. auch Bakunin, über das Übel jeglicher Art von Autorität nachzudenken, mochte sie auch frei gewählt sein wie in der Kommune oder in der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Ein anderes Ereignis zeigte noch deutlicher die Nachteile einer Regierung innerhalb der Arbeiter- Assoziation. Einige Monate später wurde auf einen Entscheid des Generalrates der Internationale hin statt des jährlichen Kongresses eine geheime Konferenz nach London einberufen. Aufgrund eines verhängnisvollen Beschlusses sollten die Kräfte der lnternationale, welche sich bis dahin auf den wirtschaftlich-revolutionären Kampf, den direkten Kampf der Arbeiterverbände gegen die Kapitalmacht der Unternehmer konzentriert hatten, auf eine politische, am Parlamentarismus orientierte Wahlbewegung gerichtet werden, wo sie sich nur aufreiben und vernichten konnten. Dieser Beschluss führte zur offenen Revolte der lateinischen (spanischen, italienischen, jurassischen) Föderationen, teilweise auch der belgischen, gegen den Generalrat. Aus dieser Erhebung entwickelte sich die anarchistische Bewegung, die wir bis auf die heutigen Tage sich fortsetzen sehen. Die anarchistische Bewegung begann jedes Mal wieder aufs Neue unter dem Eindruck einer großen praktischen Lektion. Sie fand also ihren Ursprung in den Lehren des Lebens selbst. Sobald sie einmal auf den Plan getreten war, versuchte sie aber auch sofort ihre theoretische, wissenschaftliche Form und Begründung zu finden – wissenschaftlich nicht in dem Sinne, dass sie sich mit einem unverständlichen Jargon versah oder sich an die alte Metaphysik anlehnte, sondern in dem Sinne, für sich eine Grundlage in der jeweiligen Naturwissenschaft zu schaffen und ein Teil davon zu werden. Gleichzeitig arbeiteten die Anarchisten auch an ihrem Ideal. Kein Kampf kann erfolgreich sein, wenn er unbewusst bleibt, wenn er sich nicht ein klares, reales Ziel setzt. Keine Zerstörung des Bestehenden ist möglich, ohne dass man sich bereits während der Periode der Zerstörung und der Kämpfe, welche diese Zerstörung herbeiführen, eine Vorstellung davon entwickelt, was an die Stelle dessen treten soll, was man zerstören will. Man kann nicht einmal eine theoretische Kritik des Bestehenden leisten, ohne sich ein mehr oder weniger klares Bild von dem gemacht zu haben, was an dessen Stelle treten soll. Ein bewusstes oder unbewusstes Ideal – die Vorstellung von etwas Besserem – entsteht immer im Geiste eines jeden, der die bestehenden sozialen Einrichtungen kritisiert. Dies ist umso mehr der Fall, wenn es sich um Menschen der Aktion handelt. Den Menschen zu sagen: “Zerstören wir zuerst den Kapitalismus oder die Autokratie – wir werden hernach sehen, was wir an ihre Stelle setzen werden“, bedeutet ganz einfach, sich selbst und andere täuschen. Aber niemals hat man durch Täuschung eine Kraft geschaffen. Derjenige, der so spricht, hat trotzdem eine Vorstellung davon, was er an der Stelle des Alten sehen möchte. Arbeitet man beispielsweise an der Beseitigung der Autokratie in Russland, so schwebt den einen in einer nahen Zukunft die Verwirklichung einer Konstitution nach englischem oder deutschem Muster vor Augen; andere träumen von einer Republik, die vielleicht der mächtigen Diktatur ihres Kreises unterworfen sein soll, oder auch von einer monarchischen Republik wie in Frankreich oder einer föderativen wie in den Vereinigten Staaten. Noch andere endlich denken bereits an eine noch größere Beschränkung der staatlichen Macht: an eine größere Freiheit der Städte, der Gemeinden, der Arbeiterverbände sowie jeder Art von föderierten Gruppen. Wer auch immer den Kapitalismus angreift, hat irgendeine, vielleicht nur vage entwickelte Idee davon, was er an Stelle des bürgerlichen Kapitalismus von heute sehen möchte: den Staatskapitalismus oder irgendeine Art von Staatskommunismus oder eine Föderation von mehr oder weniger kommunistischen Vereinigungen für die Produktion, den Austausch, den Konsum dessen, was sie vom Boden erhalten oder was sie produzieren. Jede Partei hat ihre Vorstellung von der Zukunft, ihr Ideal, das ihr zur Beurteilung aller Tatsachen im politischen und ökonomischen Lebens dient, auch um jene Mittel des Handelns zu finden, die ihr gemäß sind und die ihr erlauben, besser an ihr Ziel zu gelangen. Es ist demnach nur natürlich, dass der Anarchismus, obgleich er im täglichen Kampf geboten wurde, auch daran gearbeitet hat, sein Ideal zu entwickeln. Und dieses Ideal, dieses Ziel, diese Absichten trennten die Anarchisten hinsichtlich ihrer Aktionsmittel bald einmal von allen politischen Parteien, zu einem großen Teil auch von den sozialistischen Parteien, die das alte römische und kanonische Staatsideal glaubten aufrechterhalten zu können, um es in die künftige Gesellschaft ihrer Träume zu übertragen.
*** 10. Die Anarchie **** 10.1. Die Prinzipien Die Anarchisten gelangten, wie wir gesehen haben, aufgrund verschiedener Überlegungen in historischer, politischer und ökonomischer Hinsicht wie auch aufgrund der Lehren des modernen Lebens zu einer Vorstellung von Gesellschaft, die sich grundlegend von derjenigen unterscheidet, die bei jenen politischen Parteien zu finden ist, welche selbst an die Macht gelangen wollen. Wir stellen uns eine Gesellschaft vor, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen durch freiwillig eingegangene und jederzeit wieder auflösbare gegenseitige Verpflichtungen sowie durch freiwillig bejahte Gebräuche und Gewohnheiten geregelt werden – nicht mehr durch Gesetze, dem Erbe einer Vergangenheit in Unterdrückung und Barbarei, auch nicht mehr durch irgendwelche Autoritäten, seien es gewählte oder ererbte. Die Gewohnheiten dürfen dabei nicht durch Gesetze und durch Aberglauben erstarrt und festgeschrieben sein; sie sollen sich in einer ständigen Entwicklung befinden, sich anpassend an neue Notwendigkeiten, den Fortschritt des Wissens, die Erfindungen und die Entwicklungsstufen eines mehr und mehr rational orientierten und gehobenen Gesellschaftsideals. Jedenfalls keine Autorität, die den anderen ihren Willen aufzwingt. Keine Herrschaft des Menschen über den Menschen. Keine Erstarrung des Lebens: eine unaufhörliche Entwicklung, mal schnell, mal verlangsamt – wie dies im Leben der Natur auch der Fall ist. Freiheit im Handeln für das Individuum, damit alle seine natürlichen Fähigkeiten entfalten kann, seine Individualität, alles, was ihm eigen, was ihm persönlich ist. Anders ausgedrückt: Das Individuum soll nicht unter Androhung einer wie auch immer gearteten sozialen Sanktion oder einer irrealen, mystischen Strafe zu Handlungen gezwungen werden. Die Gesellschaft verlangt vom Individuum nichts, dem es – auch im betreffenden Moment – nicht freiwillig zugestimmt hätte. Darüber hinaus: vollständige Gleichheit der Rechte für alle. Wir stimmen also einer egalitären Gesellschaft zu, die keinen Zwang irgendwelcher Art ausübt, und trotz dieses Fehlens von Zwang haben wir nicht die geringste Befürchtung, dass in dieser egalitären Gesellschaft die antisozialen Handlungen einiger Individuen einen bedrohlichen Umfang annehmen könnten. Eine Gesellschaft freier Menschen wird besser damit umzugehen wissen als unsere jetzigen Gesellschaften, welche den Schutz ihrer sozialen Moral der Polizei, den Spitzeln, den Gefängnissen (“den Hochschulen der Kriminalität“), den Sträflingsaufsehern, den Henkern und ihren Auftraggebern anvertrauen. Vor allem wird eine freie Gesellschaft die antisozialen Handlungen zu verhindern wissen. Es stimmt, dass bis jetzt niemals eine Gesellschaft existiert hat, die diese Grundsätze praktiziert hätte. Aber zu allen Zeiten hat die Menschheit eine Tendenz zu ihrer Verwirklichung sichtbar werden lassen. Jedes mal, wenn es gewissen Teilen der Gesellschaft für einige Zeit gelang, die sie unterdrückenden Autoritäten abzuschütteln oder die entstandenen Ungleichheiten (Sklaverei, Leibeigenschaft, Autokratie, Herrschaft gewisser Kasten oder Klassen) auszulöschen – jedes mal wenn ein neuer Lichtstrahl der Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft aufleuchtete, versuchten das Volk, d.h. die Unterdrückten, zumindest einen Teil der hier dargelegten Grundsätze in die Praxis umzusetzen. Wir können demzufolge sagen, dass der Anarchismus ein Gesellschaftsideal darstellt, das wesentlich von denen abweicht, welche die Mehrzahl der Philosophen, der Wissenschaftler und der Politiker bisher empfahlen; sie alle hatten die Absicht, die Menschen zu beherrschen und ihnen Gesetze zu geben. Der Anarchismus war nie das Ideal der Privilegierten, aber oftmals und mehr oder weniger bewusst dasjenige der Massen. Dennoch wäre es falsch zu sagen, dass dieses Ideal eine Utopie darstelle, da im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Wort Utopie die Vorstellung von etwas verbunden wird, das sich nicht verwirklichen lässt. Im Grunde sollte das Wort Utopie nur auf jene Gesellschaftskonzepte angewendet werden, die zur Grundlage haben, was ein Schriftsteller in einem theoretischen Sinne als wünschenswert betrachtet, nie aber auf Konzeptionen, die sich auf die Beobachtung dessen stützen, was sich in der Gesellschaft bereits entwickelt. So betrachtet, müssen zu den Utopien gezählt werden: die Republik Platos, die von den Päpsten erträumte universale Kirche, das napoleonische Kaiserreich, die Träume eines Bismarck und der Messianismus der Dichter, die eines Tages den Retter zu begrüßen hoffen, welcher der Welt die großen Ideen der Erneuerung bringen wird. Aber es wäre falsch, das Wort Utopie auf Visionen anzuwenden, welche sich, wie es beim Anarchismus der Fall ist, auf das Studium der Tendenzen stützen, die sich bereits in der Entwicklung der Gesellschaft zeigen. Hier verlassen wir die utopischen Vorhersagen und kehren in den Bereich der Wissenschaft zurück. In unserem Falle ist es umso falscher von Utopie zu reden, als die von uns angeführten Tendenzen schon eine außerordentlich wichtige Rolle in der Geschichte der Zivilisation gespielt haben, waren sie es doch, die zum Gewohnheitsrecht geführt haben, das vom 5. bis zum 16. Jahrhundert in Europa Geltung hatte. Jene Tendenzen bestätigen sich heute von neuem in den zivilisierten Gesellschaften, nachdem diese während mehr als drei Jahrhunderten ihre Erfahrungen mit dem Staat gemacht haben. Auf diese Beobachtungen, deren Bedeutung dem Historiker der Zivilisation nicht entgehen wird, stützen wir uns, wenn wir im Anarchismus ein mögliches, realisierbares Ideal sehen. Man wird uns zweifellos sagen, dass vom Ideal bis zu seiner Verwirklichung ein weiter Weg ist. Aber darauf brauchen wir bloß zu antworten, dass man es am Ende des 18. Jahrhunderts, als sich gerade die Vereinigten Staaten von Amerika konstituierten, als eine absurde Idee betrachtete, eine Gesellschaft einer gewissen Größe in einer anderen Form als der Monarchie begründen zu wollen. Nichtsdestotrotz bewiesen die Republiken von Nord- und Südamerika, ebenso Frankreich, dass die Utopisten nicht auf der Seite der Republikaner, wohl aber bei den Monarchisten zu suchen waren. Die Utopisten waren diejenigen, welche – von ihren Wünschen geleitet – die sich durchsetzenden neuen Tendenzen nicht wahrhaben wollten. Sie waren diejenigen, die den Dingen der Vergangenheiten allzu große Dauerhaftigkeit zuschrieben, ohne sich zu fragen, ob sie nicht bloß das Resultat von bestimmten geschichtlichen, vorübergehenden Bedingungen seien. Wir haben bereits zu Beginn dieser Untersuchung gesagt, dass man einen doppelten Ursprung findet, wenn man die anarchistische Idee erforscht: Einerseits die Kritik an den hierarchischen Organisationen und den autoritären Auffassungen im allgemeinen und andererseits die Analyse der Tendenzen, die sich in den fortschrittlichen Bewegungen der Menschheit durchsetzen – in der Vergangenheit und besonders in der modernen Zeit. Seit den rückständigsten Epochen der Steinzeit haben die Menschen stets die Nachteile wahrnehmen können, die auftraten, sobald sie einigen unter ihnen eine persönliche Autorität einräumten, ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um die Intelligentesten, die Tapfersten oder die Weisesten handelte. Unsere Vorfahren bemühten sich seit ältesten Zeiten, Institutionen zu schaffen, die ihnen gegen die Errichtung derartiger Autoritäten zu kämpfen erlaubten. Die Stämme, die Clans, später die Dorfgemeinden, die Gilden des Mittelalters (Nachbarschaftsgilden, solche des Handwerks und der Künste, der Kaufleute, der Jäger usw.) und schließlich die freien Städte vom 12. bis zum 16. Jahrhundert sind Institutionen, die vom Volk und nicht von den Führern hervorgebracht wurden. Sie hatten zum Ziel, der Autorität zu widerstehen, die man sich ausbreiten sah – sei es durch fremde Eroberer, sei es durch Individuen des Clans, des Stammes oder der Stadt. Dieselben Strömungen zeigten sich in den religiösen Bewegungen der Massen, die in ganz Europa populär wurden, seit der Erhebung der Hussiten in Böhmen und der Bewegung der Wiedertäufer, welche die Vorläufer der Reformation waren. Später dann, von 1793 – 1794, zeigte sich die selbe Tendenz des Denkens und Handelns in der bemerkenswert unabhängigen und aufbauenden Tätigkeit der “Sektionen“ in Paris und anderen größeren und kleineren Städten Frankreichs. Und noch später finden wir dieselbe Strömung trotz drakonischer, verbietender Gesetze in den Arbeitervereinen wieder, die sich in England und Frankreich bildeten, als die moderne Industrie sich zu entwickeln begann. Auch hier noch sehen wir denselben volksnahen Geist an der Arbeit: die Arbeitervereine versuchten sich zu verteidigen – diesmal gegen die Kapitalisten.
**** 10.2. Die anarchistischen Ideen im Altertum, im Mittelalter, bei Proudhon und Stirner Es konnte nicht ausbleiben, dass die volksnahen Strömungen mit anarchistischem Charakter auch in der geschriebenen Literatur ein Echo fanden. Tatsächlich begegnen wir bereits bei den Philosophen der Antike anarchistischen Ideen, insbesondere bei Lao-tse in China und bei einigen der ältesten in Griechenland, so bei Aristippe und den Zynikern, auch bei Zenon und gewissen Stoikern. Da jedoch der anarchistische Geist seinen Ursprung hauptsächlich in den Massen und nicht in einer kleinen Aristokratie von Gelehrten hatte und da diese nur wenig Sympathie für die Volksbewegungen empfanden, so versuchten die Denker im allgemeinen nicht, die tiefe Idee freizulegen, an denen sich diese Bewegungen orientierten. Zu allen Zeiten zogen es die Philosophen und Wissenschaftler vor, die herrschenden Tendenzen und den Geist der hierarchischen Disziplin zu begünstigen. Seit der Morgenröte der Wissenschaften bildete die Kunst des Herrschens ihr bevorzugtes Studiengebiet; daher ist es nicht verwunderlich, dass bei den Philosophen die anarchistische Tendenz so selten in Erscheinung tritt. Beim griechischen Stoiker Zeno war dies indes der Fall. Er predigte die freie Gemeinde ohne Regierung und trat der Herrschaftsutopie – der Republik des Platon – entgegen. Zenon wies schon auf den Instinkt der Geselligkeit hin, den die Natur im Gegensatz zum egoistischen Schutzinstinkt des Individums entwickelt habe. Er sah eine Zeit voraus, in der sich die Menschen über alle Grenzen hinweg vereinigten und den “Kosmos“, das Universum bilden würden, worin sie weder Gesetze noch Gerichte, noch Kirchen, noch Geld benötigten, um ihre Dienste untereinander auszutauschen. Sogar seine Ausdrucksweise ähnelt wie es scheint in überraschender Weise derjenigen, welche die Anarchisten heute verwenden. Der Bischof von Alba, Marco Girolania Vida, bekannte sich im Jahre 1553 zu ähnlichen Ideen gegen den Staat, gegen seine Gesetze und gegen seine “oberste Ungerechtigkeit“. Man begegnet den selben Ideen auch bei den Hussiten (besonders bei Petr Chelcicky im 15.Jahrhundert) und bei den ersten Wiedertäufern sowie bei ihren Vorläufern im 9. Jahrhundert: den Rationalisten in Armenien. Rabelais in der ersten Hälfte 16.Jahrhunderts, Fénelon gegen das Ende des 17. Jahrhunderts und besonders der Enzyklopädist Diderot in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten die selben Ideen, welche dann einige praktische Anwendungen in der Großen Revolution fanden. Es war aber der Engländer William Godw in, der in seinem An Enquiry into Political Justice die politischen und ökonomischen Grundsätze des Anarchismus als erster darlegte. Er verwendete das Wort Anarchismus zwar nicht, doch entwickelte er in seinem Buch dessen Prinzipien sehr anschaulich, indem er die Gesetze angriff, die Nutzlosigkeit des Staates bewies und darüber hinaus sagte, nur mit der Abschaffung der Gerichtshöfe könne es gelingen, eine wirkliche Gerechtigkeit zu etablieren, und das wäre die einzige zuverlässige Grundlage jeder Gesellschaft. Was das Eigentum betrifft, so verlangte er den Kommunismus. Proudhon war der erste, der das Wort Anarchie (ohne Herrschaft) verwendete und der die unfruchtbaren Bemühungen der Menschen, sich eine Regierung zu schaffen, welche die Mächtigen an der Beherrschung der Schwachen hindern sollte und gleichzeitig der Kontrolle der Regierten unterliegen würde, einer ernsten Kritik unterwarf. Reichlich Material zu einer solchen Kritik boten ihm zwei Ereignisse: die nutzlosen Versuche, sich eine Konstitution zu geben, die man in Frankreich seit 1793 gemacht hatte, und das Fehlschlagen der Revolution von 1848. Als Feind aller Formen des Staatssozialismus, von dem die Kommunisten jener Zeit (den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts) einen unwesentlichen Teil darstellten, kritisierte Proudhon mit aller Schärfe die Pläne für eine entsprechende Revolution. Indem er die von Robert Owen vorgeschlagenen “Arbeitsscheine“ zur Grundlage seines System machte, entwickelte er die Idee des “Mutualismus“, die jede Art politischer Regierung unnötig machte. Er sagte, dass der Tauschwert aller Waren aufgrund der für ihre Herstellung nötigen sozialen Arbeit bemessen werden könnte. Aller Tauschverkehr ließe sich durch Vermittlung einer nationalen Tauschbank regeln, die als Zahlungsmittel die Arbeitsscheine annehmen würde. Ein Clearing House (Abrechnungsbörse), wie es heute alle Banken haben, könnte Tag für Tag den nötigen Ausgleich der Eingänge und Zahlungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Nationalbank schaffen. Die zwischen den verschiedenen Personen auf diese Art ausgetauschten Dienstleistungen würden sich ausgleichen. Außerdem wäre die Nationalbank immer imstande, die von den Produzentengruppen für Produktionszwecke benötigten Summen zu leihen – nicht mehr in Geld, sondern in Arbeitsscheinen. Diese Darlehen wären ohne Zinsen, denn um die administrativen Kosten zu decken, würden ein Prozent pro Jahr oder sogar weniger genügen. Unter der Bedingungen zinsfreier Darlehen verlöre das Kapital seinen schädlichen Charakter: es könnte nicht mehr als Instrument zur Ausbeutung benutzt werden. Fügen wir hinzu, dass Proudhon in seinem mutualistischen System große Entwicklungsmöglichkeiten sah, die seine antistaatlichen und Anti-Regierungs-Ideen festigten. Proudhon hat wahrscheinlich seine englischen Vorläufer nicht gekannt; doch Tatsache ist, dass der mutualistische Teil seines Programms bereits früher in England entwickelt worden war: im Jahre 1824 von William Thompson (der Mutualist war, bevor er Kommunist wurde) und von John Gray (1825 – 1831), Hodgskin (1825 – 1832) und J.-T. Bray (1839), die Thompsons Propaganda fortsetzten. Diese Autoren formulierten nicht den Anarchismus, wie Proudhon und seine Nachfolger es taten – in seiner Einleitung zur englischen Übersetzung des beachtenswerten Buches von Anton Menger Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung (Wien 1886) bemerkte der englische Professor Foxwell, im ganzen englischen Sozialismus jener Jahre sei ein anarchistisches Denken spürbar. In den Vereinigten Staaten von Amerika repräsentierte Josiah Warren dieselbe Tendenz. Er wandte sich nach seiner Beteiligung an der von Robert Owen begründeten Kolonie “New- Harmony“ gegen den Kommunismus, und im Jahre 1827 errichtete er in Cincinnati ein Warenhaus (“store“), in dem die Produkte unter der Benutzung von Arbeitsscheinen (labour checkes) ausgetauscht wurden, zu einem mit Hilfe der aufgewendeten Arbeitszeit berechneten Wert. Ähnliche Institutionen existierten noch im Jahre 1865 unter den Namen Equity Stores, Equity Village und House of Equity. Die selben Ideen des Austausches, bei dem der Wert einer Ware durch die Menge der aufgewendeten Arbeit bemessen wurde, fanden auch ihre Propaganda in Deutschland: in den Jahren 1843 und 1845 durch Moses Hess und Karl Grün, und in der Schweiz durch Wilhelm Marr, die auf diese Weise die in der Nachfolge der fanzösischen Babouvisten stehenden kommunistisch-autoritären Lehren Weitlings bekämpften. Ebenfalls in völligem Gegensatz zum autoritären Kommunismus Weitlings, der unter den deutschen Arbeitern eine große Anzahl Anhänger fand, ließ ein deutscher Hegelianer, Max Stirner (Johann Kaspar Schmidt war sein wirklicher Name), im Jahre 1845 das Buch Der Einzige und sein Eigentum erscheinen, welches vor einigen Jahren sozusagen von John Henry Mackay wiederentdeckt wurde. Es wirbelte in unseren anarchistischen Kreisen, wo es als eine Art Manifest der individualistischen Anarchisten betrachtet wurde, viel Staub auf. Das Werk Stirners ist eine Revolte gegen den Staat und gegen die neue Tyrannei, welche aufgezwungen würde, falls es dem autoritären Kommunismus gelänge, sich durchzusetzen. Als echter Metaphysiker der Hegelschen Schule urteilend, forderte Stirner die Wiedereinsetzung des “Ichs“ sowie die “Überlegenheit des Individuums“. So gelangte er dazu, eine “Amoral“ (gar keine Moral) und den “Verein der Egoisten“ zu predigen. Es ist jedoch augenscheinlich, dass diese Art von Individualismus nichts weiter ist als eine verkappte Rückkehr zu dem Erziehungsmonopol, das heute für eine kleine Zahl von “Vornehmen“ und Bürgerlichen unter dem Patronat des Staates existiert. Darauf wiesen schon die anarchistischen Schriftsteller hin sowie vor kurzem der französische Professor Victor Basch in seinem interessanten Buch L‘Individualisme anarchiste: Max Stirner (Paris 1904). Sie kritisierten, dass in diesem Individualismus die “vollkommene Entfaltung“ verlangt werde, nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft, sondern lediglich für diejenigen, die als die Begabtesten betrachtet werden, ohne an die Entfaltung der Persönlichkeit aller zu denken. Es handelt sich hier um das “Recht zur vollständigen Höherentwicklung“ für eine Minorität von Privilegierten. Aber solch ein Monopol könnte nicht aufrechterhalten werden, wenn es nicht durch eine monopolisierte Gesetzgebung und einen vom Staat organisierten Zwang gestützt würde, was darauf hinausläuft, dass die Forderungen der Individualisten sie notwendigerweise zu den Ideen des Staates und der Autorität zurückführen, die sie selbst so großartig kritisiert haben. Ihre Position ist somit die gleiche wie diejenige Spencers oder der Schule der Ökonomisten, bekannt unter dem Namen Manchesterschule, die ebenfalls mit einer strengen Kritik des Staates anfingen, sich am Ende aber vollkommen seiner Funktionen bedienten, um das Eigentums-Monopol aufrechtzuerhalten, dessen bedeutendster Beschützer stets der Staat war.
**** 10.3. Die sozialistischen Ideen in der Internationale ***** 10.3.1. Autoritäre Kommunisten und Mutualisten Wir haben nun das Werden der anarchistischen Idee seit der französischen Revolution und Godwin bis zu Proudhon skizziert. Die folgende Entwicklung vollzieht sich im Rahmen der großen Internationalen Arbeiter-Assoziation, welche in den Jahren 1868 – 1870, bis unmittelbar vor den französisch-deutschen Krieg, die Arbeiter mit soviel Hoffnung und die Bourgeoisie mit soviel Schrecken erfüllte. Dass diese Assoziation nicht, wie die Marxisten glauben machen wollen, von Marx begründet wurde, liegt klar zu Tage. Sie war das Resultat einer Zusammenkunft französischer Arbeiter, die im Jahre 1862 als Delegierte zum Besuch der zweiten Weltausstellung nach London gekommen waren, mit Vertretern der englischen Berufs-Gewerkschaften (trade unions), denen sich zum Empfang dieser Delegation einige englische Radikale angeschlossen hatten. Die bei diesem Besuch angeknüpften Beziehungen wurden im Jahre 1863 aus Anlass einer Sympathiekundgebung für Polen fester geknüpft; definitiv gegründet wurde die Assoziation im folgenden Jahr. Schon 1830 hatte Robert Owen versucht, eine “Internationale Vereinigung aller Gewerbe“ zu organisieren, um dieselbe Zeit, als in England die “Große National-Vereinigung der Gewerbe“ (The Great National Trade Unions) gegründet wurde. Diese Idee musste aber bald einmal wegen der wilden Verfolgungen, welche die englische Regierung gegen die National-Vereinigung zu richten begann, aufgegeben werden. Die Idee verlor sich indes nicht. In England glomm sie unter der Asche weiter; in Frankreich fand sie Anhänger, und nach der Niederlage der Revolution von 1848 wurde sie durch französische Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten von Nordamerika gebracht, wo sie in der Zeitung Internationale propagiert wurde. Die französischen Arbeiter, die 1862 nach London kamen, waren hauptsächlich Proudhon-Mutualisten; die englischen Gewerkschafter gehörten vor allem der Robert Owenschen Schule an – so reichten sich englischer “Owenismus“ und französischer “Mutualismus“ die Hände. Das Resultat war die Schaffung einer starken internationalen Arbeiter-Organisation, deren Ziel es war, die Unternehmer auf wirtschaftlichem Gebiet zu bekämpfen und ein für allemal mit den radikalen, rein politischen Parteien zu brechen. In Marx und anderen fand dieser Zusammenschluss der zwei hauptsächlichen Strömungen der sozialistischen Arbeiter jener Zeit eine Unterstützung durch die Reste der geheimen politischen Organisation der Kommunisten, die das verkörperten, was von den geheimen Gesellschaften von Barbes und Blanqui übrig geblieben war. Diese Geheimgesellschaften hatten wie diejenigen der deutschen Kommunisten ihren Ursprung in der Verschwörung Babeufs. In einem früheren Kapitel haben wir gesehen, dass die Jahre 1856 – 1862 charakterisiert waren durch einen bewundernswerten Aufschwung in den Naturwissenschaften und in der Philosophie. Es waren dies auch Jahre eines allgemeinen Aufschwungs der radikalen Ideen in Europa und in den Vereinigten Staaten. Diese beiden Bewegungen brachten auch die Massen der Arbeiter zum Erwachen, welche zu begreifen begannen, dass ihnen selbst die Aufgabe oblag, die proletarische Revolution vorzubereiten. Die Weltausstellung von 1862 stellte sich als ein großes Fest der Weltindustrie dar, das zu einem neuen Ausgangspunkt für die Kämpfe der Arbeit um ihre Befreiung wurde. Daher erzielte die Internationale Arbeiter-Assoziation aufgrund ihrer stolzen Erklärung, mit allen alten politischen Parteien brechen zu wollen, und aufgrund der Resolution der Arbeiter, ihre Befreiung nunmehr selbst in die Hand zu nehmen, notwendigerweise einen starken Eindruck. Die Internationale begann sich auch rasch in den lateinischen Ländern auszubreiten. Ihre Kampfkraft wurde bald einmal bedrohlich, und hinsichtlich ihrer Ideen boten die Kongresse der Föderationen sowie der jährliche Kongress der Assoziation den Arbeitern die Möglichkeit zur Diskussion darüber, worin die soziale Revolution bestehen sollte und wie sie herbeigeführt werden könnte. Auf diese Weise stimulierten sie die schöpferische Kraft der arbeitenden Massen auf der Suche nach neuen Vereinigungsformen für die Produktion, den Konsum und den Austausch. Überall erwartete man, dass bald eine große europäische Revolution ausbrechen werde. Es existierte indes nicht die geringste Idee darüber, welche politischen Formen sie annehmen könnte, noch über die ersten Schritte, welche sie zu unternehmen hätte. Im Gegenteil: Verschiedene entgegengesetzte sozialistische Strömungen standen sich innerhalb der Internationale gegenüber und stießen aufeinander. Die vorherrschende Idee in der Assoziation war der direkte Kampf der Arbeit gegen das Kapital auf ökonomischem Gebiet, d.h. die Emanzipation der Arbeit nicht durch Gesetzgebung, welcher die Bourgeoisie ja zustimmte, sondern durch die Arbeiter selber, die den Unternehmern Zugeständnisse entreißen und sie eines Tages zu voller Kapitulation zwingen sollten. Doch wie sollte die Befreiung der Arbeiter vom Joch des Kapitalismus verwirklicht werden?Welche Formen einer neuen Organisation von Produktion und Austausch sollte sie annehmen? Über diese Fragen waren sich die Sozialisten in den Jahren 1864 – 1870 ebenso wenig einig wie zwanzig Jahre zuvor, als die Repräsentanten der verschiedenen sozialistischen Schulen sich in der Verfassungsgebenden Versammlung der Republik trafen, die im Jahre 1848 in Paris ihre Sitzungen abhielt. Wie ihre französischen Vorgänger von 1848, deren unterschiedliche Bestrebungen Considérant in seinem Buche Le socialisme devant le vieux monde so treffend zusammenfasste, so wollten sich auch die Sozialisten der Internationale nicht unter das Banner einer einzigen Doktrin scharen. Sie schwankten zwischen den verschiedenen Lösungen, und keine war gerecht und überzeugend genug, um die Geister zu einen, umsomehr als die einen mit dem Respekt vor dem Kapital und der Autorität noch nicht gebrochen hatten. Werfen wir also einen Blick auf diese verschiedenen Strömungen. Als erstes gab es als direktes Erbe des Jakobinertums der Großen Revolution die Verschwörung von Babeuf, d.h. die geheimen Gesellschaften der französischen und der deutschen Kommunisten (Blanquisten und Kommunisten-Bund). Die einen wie die anderen lebten in den Traditionen des leidenschaftlichen Jakobinertums von 1793. Man weiß, dass sie 1848 davon träumten, eines Tages mit Hilfe einer Verschwörung die politische Macht im Staate ergreifen zu können – vielleicht mit Hilfe eines Diktators. Daraufhin würden sie nach dem Modell der Jakobinergesellschaften von 1793 (aber diesmal zum Vorteil der Arbeiter) die “Diktatur des Proletariats“ errichten. Diese Diktatur, so glaubten sie, würde durch gesetzliche Mittel den Kommunismus durchsetzen. Eigentümer zu bleiben würde wegen verschiedener einschränkender Gesetze und Steuern derart schwierig werden, dass die Eigentümer selbst bald einmal glücklich sein würden, sich ihres Besitzes entledigen und ihn dem Staat überschreiben zu können. Dann würden “Arbeiterarmeen“ zur Bewirtschaftung aufs Land geschickt, und die ebenfalls staatliche industrielle Produktion würde in einer ebenfalls halb-militärischen Art organisiert? Derartige Ideen waren zur Zeit der Gründung der Internationale sehr verbreitet, und sie zirkulierten noch lange Zeit später: in Frankreich bei den Blanquisten und in Deutschland bei den Lasalleanern und Sozialdemokraten. Die Arbeiter aus der Robert Owenschen Schule standen in diametraler Opposition zu diesen jakobinistischen Ideen. Sie weigerten sich strikte, zu einer Regierungsgewalt Zuflucht zu nehmen. Um die Revolution durchzuführen und eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren, zählten sie in erster Linie auf die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Berufsverbände (die trade unions). Die englischen Owenisten wollten keinen Kommunismus, doch wie die französischen Fourieristen maßen sie den Kommunen und den frei konstituierten und föderierten Gruppen große Bedeutung bei. Diese besäßen den Boden und die Fabriken gemeinschaftlich, soweit sie sich dazu eigneten, ebenso die Lagerhäuser für die von ihren Mitgliedern produzierten Waren. Sie würden je nach den Bedürfnissen der Produktion gemeinschaftlich oder einzeln arbeiten; die Vergütung für die Arbeit in der Kommune oder Gruppe sowie der Austausch zwischen den Kommunen würde durch Arbeitsscheine geregelt werden. Diese repräsentierten die Zahl der Arbeitsstunden, die jeder für die landwirtschaftliche Arbeit der Kommune sowie für diejenige in den Werkstätten und Fabriken leistete. Oder man würde von den Kommunen für die individuell produzierten Waren entschädigt, die man in den gemeinschaftlichen Austausch-Lagerhäusern ablieferte. Dieselbe Idee der Vergütung durch Arbeitsscheine wurde, wie wir gesehen haben, auch von Proudhon und den Mutualisten akzeptiert. Auch sie verwarfen die Einmischung irgend einer Staatsgewalt in eine Gesellschaft, welche aus der Revolution hervorgehen würde. Sie sagten, dass die heute vom Staat ausgeübten Funktionen auf ökonomischem Gebiet sich als unnötig erwiesen hätten; alle Tauschgeschäfte können durch die Vermittlung von Volksbanken und Rechnungsbureaus (Clearing houses) abgewickelt werden; während die Erziehung, die Gesundheitseinrichtungen, die notwendigen Unternehmen, die Kommunikationsmittel usw. in den Händen der unabhängigen Kommunen liegen. Zwei beachtenswerte Schriftsteller, die heute von den Sozialisten hartnäckig totgeschwiegen werden, propagierten 1848 ebenfalls die Idee der das Geld ersetzenden Arbeitsscheine: Pecqueur und Vidal, die ihrem System den Namen Kollektivismus gaben. Sie verbanden diese Idee mit der Vorstellung, dass der Staat Besitzer allen Bodens, aller Bergwerke, Eisenbahnen und Fabriken würde. Vidal war der Sekretär der Kommission von Luxemburg; Pecqueur schrieb um diese Zeit eine Abhandlung zu diesem Thema. Darin entwickelte er sein System im Einzelnen – sogar in Form von Gesetzen, welche nach seiner Meinung nur von der Verfassungsgebenden Versammlung hätten angenommen werden müssen, um die soziale Revolution durchzuführen. Als die Internationale gegründet wurde, schienen die Namen Pecqueur und Vidal vollkommen vergessen zu sein, sogar von ihren Zeitgenossen; aber ihre Ideen zur sozialen Organisation waren sehr verbreitet und wurden bald einmal als eine neue Entdeckung unter den Namen “wissenschaftlicher Sozialismus“, “Marxismus“ und “Kollektivismus“ propagiert.
***** 10.3.2. Der Saint-Simonismus Neben den bereits erwähnten sozialistischen Schulen gab es auch die Ideen der Saint-Simonisten. Nachdem diese schon in den Jahren vor 1848 einen starken Einfluss auf das Denken ausgeübt hatten, war nun ihre Wirkung unter den Mitgliedern der Internationale erheblich. Eine große Anzahl hervorragender Schriftsteller, Denker, Politiker, Historiker und Industrieller hatte sich in den dreißiger und vierziger Jahren unter dem Einfluss des Saint-Simonismus entwickelt. Es genügt hier, von den Philosophen Auguste Comte, von den Historikern Augustin Thierry und Sismondi von den Ökonomen zu nennen. Alle sozialen Reformer der Epoche waren von dieser Schule beeinflusst worden. Der in der Menschheit erzielte Fortschritt, sagten sie, bestehe in der Umwandlung der Sklaverei in Leibeigenschaft und von dieser zum Lohnsystem. Aber nun komme die Zeit heran, wo es notwendig werde, auch das Lohnsystem abzuschaffen. Und damit müsse auch das Privateigentum an dem, was zu produzieren notwendig sei, verschwinden. In diesen Veränderungen solle man nichts Unmögliches sehen, fügten sie hinzu, denn das Eigentum und die Autorität hätten im Laufe der Geschichte schon viele Modifikationen erfahren. Heute würden sich neue Modifikationen aufdrängen, sie würden sich zwangsläufig durchsetzen. Die Abschaffung des Privateigentums kann in der Auffassung der Saint-Simonisten nach und nach aufgrund einer Reihe von Maßnahmen erfolgen, zu denen die große Revolution bereits den Anstoß gegeben hat. Diese Maßnahmen erlauben dem Staat – beispielsweise durch das Mittel hoher Erbschaftssteuern -‚ sich einen Teil der stets anwachsenden Reichtümer anzueignen, die sich sonst von einer Generation auf die andere übertragen. Die individuelle Vererbung des Besitzes vermindert sich so laufend, um schließlich ganz zu verschwinden, da die Reichen selbst die Vorteile bei der Abschaffung eines Privilegs einsehen, das einer verflossenen Zeitepoche angehört. Die freiwillige Aufgabe des Privateigentums durch die Reichen und die gesetzliche Abschaffung der Erbes werden den saint-simonistischen Staat konstituieren, welcher der universelle Eigentümer des Bodens und der Industrie, der oberste Regulator der Arbeit, der unangefochtene Chef und Direktor dreier Funktionen sein wird: der Kunst, der Wissenschaft und der Industrie. Jeder, der in einem dieser Gebiete als Arbeiter beschäftigt ist, wird so ein Funktionär des saintsimonistischen Staates, dessen Regierung sich aus einer Hierarchie der “besten Menschen“ zusammensetzt, – den besten in der Wissenschaft, der Kunst und der Industrie. Die Verteilung der Produkte wird in diesem System nach der Formel vor sich gehen: Jedem nach seiner Tüchtigkeit, und jedem Tüchtigen nach seiner Leistung. Abgesehen von diesen Zukunftsvisionen hat die saint-simonistische Schule und die aus ihr entstandene positive Philosophie dem 19. Jahrhundert eine Anzahl sehr bemerkenswerter historischer Schriften gebracht, in denen der Ursprung der Autorität, des privaten Eigentums und des Staates in einer wirklich wissenschaftlichen Weise diskutiert werden. Diese Arbeiten haben ihren ganzen Wert bis heute bewahrt. Zur gleichen Zeit unterzogen die Saint-Simonisten die politische Ökonomie der sogenannten klassischen Schule Adam Smiths und David Ricardos, die später unter dem Namen “Manchesterschule“ bekannt wurde und “die Nichteinmischung des Staates“ propagierte, einer strengen Kritik. Aber während die Saint-Simonisten so das Prinzip des industriellen Individualismus und der Konkurrenz bekämpften, verfielen sie selbst demselben Irrtum, gegen den sie zuerst angekämpft hatten, als sie den Militärstaat und seine hierarchischen Klassen kritisiert hatten. Schließlich anerkannten sie die Allmacht des Staates; sie stützten ihr System – wie es Considérant bereits bemerkt hat – auf die Ungleichheit, die Autorität und auf eine Verwaltungshierarchie. Sie gingen sogar soweit, ihrer Regierungshierarchie den Charakter einer Art Priesterschaft zu verleihen. Von den Kommunisten unterschieden sich die Saint-Simonisten durch die rein individuelle Art, nach der die Zuteilung jeder einzelnen aus der Masse der produzierten Ware erfolgen sollte. Trotz der hervorragenden Arbeiten, die mehrere von ihnen über politische Ökonomie verfasst hatten, waren sie nicht dahin gelangt, die Produktion der Reichtümer als eine soziale und globale Tatsache aufzufassen. Hätten sie dies getan, wären sie unweigerlich zu verstehen gezwungen worden, dass es materiell gesehen zu entscheiden unmöglich ist, welcher Anteil vom Ganzen der produzierten Reichtümer gerechterweise dem einzelnen der Produzenten zukommt. Über diesen Punkt herrschte zwischen den Kommunisten und den Saint-Simonisten eine tiefe Meinungsverschiedenheit. Aber in einer Hinsicht deckten sich ihre Ansichten. Die einen wie die anderen ignorierten das Individuum und seine Rechte. Das einzige, was die Kommunisten ihm zubilligten, war das Recht, seine Beamten und Beherrscher auszuwählen – die Saint- Simonisten taten dies gegen ihre Überzeugung. Am Anfang anerkannten sie nicht einmal ein Wahlrecht. Doch sowohl im Kommunismus als auch im Saint-Simonismus blieb das Individuum ein Funktionär des Staates. Seinen besten Ausdruck fand der jakobinische Kommunismus und die Unterdrückung der Individualität bei Cabet, dem Autor von Die Reise nach Ikarien und Gründer einer kommunistischen Kolonie in Amerika. In Die Reise nach Ikarien sehen wir überall die Autorität, den Staat, bis in die Küche eines jeden Haushalts. Nicht allein, dass die Republik von Ikarien jeder Familie einen “Führer für die Küche“ liefert und die Liste mit den erlaubten Nahrungsmitteln festlegt, sie lässt sie auch durch ihre Bauern und Arbeiter produzieren und verteilen. “Die Republik lässt“, schreibt Cabet, “keine anderen als die vom Speiserat anerkannten Nahrungsmittel anbauen, und so findest du denn auch keine anderen bei ihren Ackerwirthen.“ Das Komitee geht so weit, dass es die Anzahl der Mahlzeiten festlegt, ihre Zeit, ihre Dauer, die Zahl der Gänge, ihre Art sowie die Ordnung des Service. Auch die Kleider sind alle vom Komitee vorgeschrieben; sie basieren auf einem allgemeinen Muster, jedes Individuum trägt eine Uniform, welche seine Bedingungen und seine Position anzeigt. Die Arbeiter stellen immer die gleichen Stücke her; sie verhalten sich wie ein Regiment – “so viel Ordnung und Disziplin sollen da herrschen!“ ereifert sich Cabet. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass jemand nur mit Zustimmung der Republik etwas publizieren darf, und das auch nur, nachdem er offiziell aufgrund einer Prüfung die Autorisation zum Schreiben erhalten hat. Zweifel sind berechtigt, dass Cabets Utopie als ganzes viele Anhänger in der Internationale gehabt hat, doch der Geist dieser Utopie hatte Bestand. Es besteht kein Zweifel – wir stellen es in den Diskussionen mit den autoritären Kommunisten, vor allem mit den deutschen, sehr wohl fest -‚ dass die eben zitierten Reglementationen, die wir heute als völlig absurd betrachten, immer noch als Ausdruck von Weisheit betrachtet werden. Auf unsere Kritik antwortet man mit den Worten Cabets: “Ohne Zweifel auferlegt die Kommune Unbehagen und Einschränkungen, denn ihre hauptsächliche Aufgabe ist, Reichtum und Glück zu produzieren. Damit sie doppelspurige Posten und Verluste vermeiden, sparen und die landwirtschaftliche und industrielle Produktion verzehnfachen kann, ist es absolut nötig, dass die Gesellschaft alles zentralisiert, disponiert und dirigiert. Es ist nötig, dass sie jeden Willen und alle Handlungen ihren Regeln, ihrer Ordnung und ihrer Disziplin unterordnet. Der gute Bürger muss sich sogar dessen enthalten, was ihm nicht ausdrücklich verordnet wird.“ Das Schlimmste ist, dass nach all dem bei den Autoritären die Überzeugung blieb, die Cabet so ausdrückte: “Die Gemeinschaft ist mit einem Monarchen nicht weniger unmöglich als mit einem republikanischen Präsidenten“. Es ist diese Idee, welche den Weg für den Staatsstreich Napoleons des Dritten bahnte und einiges später den autoritären Sozialisten erlaubte, die bürgerliche Reaktion derart unbehelligt gewähren zu lassen. Schließlich müssen wir noch die Schule von Louis Blanc erwähnen, welche in der Zeit, als die Internationale gegründet wurde, zahlreiche Anhänger in Frankreich und Deutschland hatte, wo sie durch die kompakte Körperschaft der Lassalleaner vertreten war. Diese Sozialisten, genauso staatsfreundlich wie die vorher beschriebenen, glaubten, dass der Übergang der industriellen Besitztümer aus den Händen des Kapitals in diejenigen der Arbeiter dann vollzogen werden könnte, wenn eine aus einer Revolution hervorgegangene, sozialistisch orientierte Regierung die Arbeiter darin unterstützen würde, auf einer breiten Basis kooperative Arbeiterassoziationen selber zu organisieren, für welche die Regierung das nötige Kapital leihen würde. Diese Assoziationen sollten untereinander in einem ausgedehnten System der nationalen Produktion vereinigt sein. Als Übergangsform war ein gleicher Arbeitslohn für alle gedacht; das endgültige Ziel sah die Verteilung der Produkte nach den Bedürfnissen eines jeden Produzenten vor. Es war also – wie Considérant treffend meinte – “ein kommunistischer Saint-Simonismus“ unter der Herrschaft eines demokratischen Staates. Indem diese Arbeiterassoziationen sich auf ein großzügiges System einer nationalen Kreditvergabe stützen könnten, von der sie das Geld zu einem sehr tiefen Zinssatz erhielten, kämen sie in die Lage, die kapitalistische Produktion zu konkurrenzieren. Da sie überdies durch staatliche Aufträge unterstützt würden, wären sie bald fähig, die Industrie Kapitalisten zu verjagen und an ihre Stelle zu treten. Sie wären auch fähig, sich auf dem Gebiet der Landwirtschaft auszubreiten. Dieses sozialistische ökonomische Ziel – und nicht das bloß demokratische Ideal bürgerlicher Politiker – dürften die Arbeiter niemals aus den Augen verlieren. Alle diese von der sozialistischen Propaganda vor 1848 und von der Februar und Junirevolution dieses Jahres ausgearbeiteten Ideen waren mit verschiedenen Modifikationen in den Einzelheiten innerhalb der Internationalen Arbeiter-Assoziation weit verbreitet. Die Meinungsunterschiede waren groß, doch die Anhänger dieser Schulen waren sich darin einig, eine starke Regierung als Basis für die kommende Revolution anzuerkennen, die das ganze wirtschaftliche Leben der Nation in ihren Händen halten sollte. Alle stimmten darin überein, die zentralisierte und hierarchische Organisation des Staates anzuerkennen. Glücklicherweise gab es als Gegengewicht zu diesen jakobinischen Ideen diejenigen der Fourieristen, die wir im nächsten Kapitel analysieren werden.
***** 10.3.3. Der Fourierismus Fourier, ein Zeitgenosse der großen Revolution, lebte nicht mehr, als die Internationale gegründet wurde. Doch seine Ideen waren von seinen Schülern – besonders von Considérant, der ihnen eine gewisse wissenschaftliche Autorität zu geben gewusst hatte – derart gut popularisiert worden, dass die aufgeklärtesten Geister innerhalb der Internationale, bewußt oder unbewußt, unter Fouriers Einfluss standen. Um den Einfluss des Fourierismus in jenen Jahren zu verstehen, muss man darauf hinweisen, dass die leitende Idee in Fouriers Lehre nicht diejenige vom Zusammenschluß des Kapitals, der Arbeit und des Talents zur Produktion der Reichtümer ist, wie in den Geschichtsbüchern des Sozialismus immer gesagt wird. Sein Hauptziel sah er darin, dem individuellen Handel ein Ende zu bereiten, der nur im Hinblick auf Profite getätigt und der notwendigerweise zu großen, unlauteren Spekulationen führt. Um dies zu erreichen, schlug er die Gründung einer freien nationalen Organisation für den Austausch aller Produkte vor. Er nahm, wie man sieht, damit jene Idee wieder auf, welche die große Revolution 1793 – 94 zu verwirklichen versucht hatte, nachdem das Volk von Paris die Girondisten aus dem Konvent ausgeschlossen und das Maximalgesetz angenommen hatte. Wie schon Considérant in seinem Socialisme devant le vieux monde (ein Werk, das den modernen Sozialisten nicht warm genug empfohlen werden kann) gesagt hat, sah Fourier das Mittel, allen Gemeinheiten der aktuellen Ausbeutung ein Ende zu machen, darin, “die Produzenten mit den Konsumenten in eine direkte Beziehung zu bringen, und zwar durch die Organisation vermittelnder kommunale Verwaltungskörper – Verwahrer und nicht Eigentümer der Produkte, die sie direkt von den Produzenten erhalten und sie direkt an die Konsumenten weitergeben.“ Die Preise würde unter diesen Bedingungen nicht mehr das Objekt von Spekulationen sein. Sie könnte nicht um mehr als “die einfachen Kosten des Transports, der Lagerung und Verwaltung erhöht werden, welche lediglich einen kaum wahrnehmbaren Zuschlag ausmachen würden.“ Schon in seiner Jugend hatte Fourier, der von seinen Eltern einem Handelshaus in die Lehre gegeben worden war, dem Handel, dessen betrügerische Schliche er aus nächster Nähe sah, Haß entgegengebracht. Damals schwor er, ihn zu bekämpfen. Später, während der großen Revolution, konnte er sozusagen an der Quelle die wilden Spekulationen beobachten, welche beim Verkauf der Nationalgüter gemacht wurden. Das gleiche sah er bei der Steigerung aller Lebensmittelpreise während des Kriegs. Er musste auch mitansehen, dass weder der jakobinische Konvent noch die Schreckensherrschaft dieser Spekulationen Herr zu werden imstande war. So verstand er, wie das Fehlen eines vergesellschafteten Austausches die ökonomische Revolution lähmte. Sogar die Enteignung des Klerus und der Adligen, die zu Gunsten der Demokratie vorgenommen worden waren, kam nicht zum Tragen. Und so erkannte er die Notwendigkeit der Nationalisierung des Handels; er hieß den Versuch, den die Sansculottes von 1793 und 1794 in diesem Sinne unternommen hatte, gut. Er wurde zum Verkünder dieser Ideen. Die freie Kommune als Sachwalter der Produkte war Fouriers Idee, um das große Problem des Austausches und der Verteilung der notwendigsten Waren zu lösen. Aber die Kommune sollte nicht Eigentümerin sein, wie es heute die Kaufleute oder die kooperativen Genossenschaften sind, sondern bloß eine Art Agentur, die die Produkte für die Magazine in Empfang nimmt, um sie wieder zu verteilen, doch ohne von den Konsumenten irgend einen Tribut zu erheben oder auf der Fluktuation der Preise zu spekulieren. Dass er den sozialen Problemen über den Konsum und die Verteilung zu Leibe rücken wollte, machte Fourier zum gründlichsten sozialistischen Denker. Aber Fourier blieb an diesem Punkt nicht stehen; er baute seine Idee weiter aus. Er schlug vor, dass alle Familien einer ländlichen oder industriellen Kommune, oder besser: einer gemischten, eine Phalanstère bilden sollten. Sie sollten ihren Bodenbesitz, ihr Vieh, ihre Maschinen und Werkzeuge zusammenlegen und so die Erde bearbeiten oder in der Industrie tätig sein, wie wenn der Boden, die Maschinen usw. ihr gemeinsames Eigentum wären – bei alledem würde jedoch darüber Buch geführt werden, was jedes Mitglied zum gemeinsamen Kapital beitrüge. Zwei grundsätzliche Prinzipien müssen in der Phalanstère respektiert werden. Zum einen darf es keine unangenehme Arbeit geben. Alle Arbeit muss so organisiert, aufgeteilt und aufgelockert werden, dass sie immer anziehend bleibt. Zum andern darf in einer auf dem Prinzip der freien Assoziation gegründeten Gesellschaft keine Form von Zwang zugelassen werden; sie hat keine Daseinsberechtigung. Mit ein wenig intelligenter Aufmerksamkeit für die individuellen Bedürfnisse eines jeden Mitgliedes, mit etwas Toleranz gegenüber den Eigenheiten der verschiedenen Charaktere und mit einer Vereinigung agrarischer, industrieller, intellektueller und künstlerischer Arbeit erkennen die Mitglieder der Phalanstère bald einmal, dass sogar die menschlichen Leidenschaften zu einer Quelle des Fortschritts werden können – die Leidenschaften, die für die bestehende Gesellschaft sehr oft ein Übel und eine Gefahr darstellen und aus diesem Grunde stets als Entschuldigung für die Anwendung von Gewalt dienen müssen. Es genügt, sie zu erkennen und die geeigneten sozialen Anwendungsformen für sie zu finden. Neue Unternehmungen, gefahrvolle Abenteuer, die Beteiligung am sozialen Leben, das Bedürfnis nach Abwechslung usw. schaffen für sie die notwendigen Betätigungsfelder. Es stimmt, dass Fourier den Staatsideen noch seinen Tribut zollte. So gestand er zu, dass “ein Fürst eingreifen könnte“, wenn es darum ginge, einen Versuch zur Assoziation zu machen, “eine einfache Harmonie“ zu begründen, welche der Vorläufer “der wahren Harmonie“ sein würde. “Dem Oberhaupt Frankreichs könnte die Ehre zuteil werden, die Menschheit dem sozialen Chaos zu entreißen, die Harmonie zu begründen und die Welt zu befreien“, schrieb er in einer seiner ersten Schriften; und er wiederholte diese Idee im Jahre 1808 in seiner Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Später ging er sogar soweit, sich mit seinem Anliegen an Louis Philipp selbst zu wenden. Allerdings ging es dabei immer nur um einen ersten Versuch. In der “wahren Harmonie“, der “universellen Harmonie“ sollte es keinerlei Regierung geben. Diese Harmonie konnte auch nicht “nach und nach“ eingeführt werden. Die Umgestaltung sollte auf sozialer, politischer, ökonomischer und moralischer Ebene zugleich erfolgen. Und als Fourier bei der Kritik des Staates anlangte, verfuhr er hier ebenso unerbittlich wie wir heutzutage. “Die politische Unordnung“, sagte er, “ist gleichzeitig Folge und Ausdruck der sozialen Unordnung. Die Ungleichheit verwandelt sich in Ungerechtigkeit. Der Staat, in dessen Namen die Macht handelt, ist in jedem Fall, durch Ursprung und Prinzip, der Diener und Beschützer der privilegierten Klassen gegen die anderen.“ In der “harmonischen Gesellschaft“, welche die vollständige Anwendung seiner Prinzipien entstehen lässt, wird jeder Zwang ausgeschlossen sein. Da Fourier im Anschluss an die Niederlage der großen Revolution schrieb, neigte er stark zu friedlichen Lösungen. Er bestand darauf, dass das Prinzip der Vereinigung des Kapitals, der Arbeit und des Talents anerkannt werde. Demzufolge sollte der Wert jedes durch die Phalanstère hergestellten Produkts in drei Teile geteilt werden: die Entschädigung für die Arbeit (die Hälfte oder sieben Zwölftel), für das Kapital (drei Zwölftel) und für das Talent (zwei oder drei Zwölftel). Der größte Teil der Anhänger der Ideen Fouriers in der Internationale schenkten diesem Teil seines Systems jedoch keine Bedeutung. Sie erkannten den Einfluss der Zeitepoche, in der Fourier geschrieben hatte. Im Gegensatz dazu stützten sie sich besonders auf die folgenden Grundzüge seiner Lehre: 1. Die freie Gemeinde, d.h. eine kleine unabhängige territoriale Siedlung sollte die Basis bilden, die Einheit der neuen Sozialistischen Gesellschaft. 2. Die Gemeinde ist der Sachwalter all dessen, was in ihrer Umgebung produziert wird, sowie die Vermittlungsinstanz für allen Austausch. Sie repräsentiert auch die Vereinigung der Konsumenten und sehr wahrscheinlich wird sie auch in der Mehrzahl der Fälle die Einheit der Produktion ausmachen, welche übrigens auch berufliche Gruppen oder noch besser: eine Föderation der Produzentengruppen sein können. 3. Die Gemeinden föderieren sich freiwillig untereinander um so die Föderation, die Region und die Nation zu konstituieren. 4. Die Arbeit muss anziehend gestaltet werden. Ohne dies wird sie immer Sklaverei sein. Solange dies nicht erreicht ist, bleibt die Lösung der sozialen Frage unmöglich. Dies zu erreichen ist jedenfalls machbar. Die Arbeit muss aber auch – und sie kann es – viel produktiver sein als heute. 5. Um in einer solchen Gemeinde die Harmonie aufrechtzuerhalten ist keinerlei Zwang notwendig; der Einfluss der öffentlichen Meinung genügt. In der Internationale waren, was die Verteilung der Produkte an die Konsumenten betrifft, die Meinungen sehr geteilt. Seit der Gründung der Internationale hatten die sozialistischen Ideen Fortschritte gemacht. Die Internationale sprach sich zuerst auf dem Kongress von Brüssel (1868) und dann auf demjenigen von Basel (1869) mit großen Mehrheiten für das kollektive Eigentum an Ackerland, Wäldern, Eisenbahnen, Kanälen, Telegraphen Bergwerken, Maschinen usw. aus. Nachdem sie den Kollektivbesitz und die Enteignung als Mittel, dorthin zu gelangen, akzeptiert hatten, bezeichneten sich die Antietatisten der Internationale als Kollektivisten, um sich klar vom etatistischen und zentralistischen Kommunismus von Marx und Engels und ihrer Anhänger zu unterscheiden ebenfalls von den französischen Kommunisten, die in der autoritären Tradition eines Babeuf und eines Cabet verblieben waren. Man findet in der Broschüre Idées sur l‘organisation sociale, das James Guillaume, selber ein rühriger Vertreter des Kollektivismus im Jahre 1876 publizierte, sowie in seinem Hauptwerk L‘Internationale: Documents et Souvenirs, 1864 – 1878 (vier Bände, Paris 1905 – 1910) und schließlich in seinem Artikel Collectivisme de l´Internationale, den er kürzlich für die Encyclopédie syndicaliste schrieb, alle Einzelheiten, welche die aktivsten Mitglieder der Föderalistischen Internationale (Varlin, Guillaume, De Paepe, Bakunin und ihre Freunde) dem Wort “Kollektivismus“ zuschrieben. Sie erklärten dass sie im Gegensatz zu den autoritären Kommunisten unter dem Begriff “Kollektivismus“einen nicht-autoritären, föderalistischen oder anarchistischen Kommunismus verstanden. Indem sie sich Kollektivisten nannten, wollen sie vor allem das antiautoritäre Moment betonen: Sie wollten die Form, welche der Konsum in einer enteigneten Gesellschaft annehmen wird, nicht von vornherein festschreiben. Das Wesentliche für sie war, die Gesellschaft nicht in einen strengen Rahmen einzubinden: Man wollte den fortgeschrittenen Gruppen die weitestgehenden Lösungsmöglichkeiten offenhalten. Leider hatten die in der Internationale hinsichtlich des Kollektiv-Eigentums entwickelten Ideen noch nicht die Zeit gehabt, sich unter den Arbeitern auszubreiten, als der französisch-deutsche Krieg kaum zehn Monate nach dem Basler Kongress ausbrach. Dies führte dazu, dass während der Pariser Kommune keine ernsthaften Versuche in diese Richtung unternommen wurden. Und nach der Niederschlagung der Kommune musste die Föderalistische Internationale alle Kräfte darauf konzentrieren, wenigstens diese Grundideen zu erhalten: die antiautoritäre Organisation der Arbeiterschaft mit Blick auf den direkten Kampf der Arbeit gegen das Kapital, um zur sozialen Revolution zu gelangen. Gezwungenermaßen wurden die Fragen der Zukunft vernachlässigt, und wenn die Idee des Kollektivismus, verstanden als kommunistischer Anarchismus, von einigen weiterhin propagiert wurde, so stieß sie sich zum einen am Konzept des etatistischen Kollektivismus, der von den Marxisten nach der Aufgabe der Ideen aus dem Kommunistischen Manifest weiterentwickelt worden war, zum anderen am autoritären Kommunismus der Blanquisten. Die Ideen des anarchistischen Kommunismus stießen sich auch an den sehr verbreiteten Vorurteilen gegen den Kommunismus im allgemeinen, die sich in den Arbeitermassen der lateinischen Länder seit 1848 unter dem Einfluss der kraftvollen Kritik Proudhons am autoritären Kommunismus eingenistet hatten. Dieser Widerstand war so stark, dass man beispielsweise in Spanien, wo die Föderalistische Internationale in enger Verbindung mit einer breiten Föderation von gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen stand, den Kollektivismus damals und auch noch viel später als bloße Bejahung des Kollektiv-Eigentums interpretierte. Man fügte noch “anarchistisch“ hinzu (anárquia y collectivismo), um die antietatistische Idee zu bekräftigen, ohne indes eine Entscheidung über die Art des Konsums (kommunistischer oder anderer) zu treffen, die von jeder einzelnen Gruppe der Produzenten und Konsumenten hätte akzeptiert werden können. Was schließlich die Mittel betrifft, durch welche die gegenwärtige Gesellschaft in die sozialistische umgewandelt werden sollte, so maßen die Arbeiter der Internationale dem, was Fourier darüber gesagt, keine Bedeutung bei. Sie fühlten eine revolutionäre Situation sich entwickeln und sahen eine Revolution kommen, die gründlicher und allgemeiner als die von 1848 sein würde. Dann aber, so sagten sie, würden sie alles tun, was in ihrer Macht stände, um dem Kapital die Monopole zu entreißen, welche es sich angeeignet hatte, und zwar ohne die Befehle einer Regierung abzuwarten.
***** 10.3.4. Der Einfluss der Kommune – Bakunin Durch den kurzen Überblick in den vorhergehenden Kapiteln haben wir das Terrain kennen gelernt, auf dem sich die anarchistische Idee in der Internationale entwickelte. Wir fanden da eine Mischung von Ideen des zentralistischen und autoritären Jakobinertums mit solchen lokaler Unabhängigkeit und der Föderation. Die einen wie die anderen haben ihren Ursprung in der großen französischen Revolution. Denn wie die zentralistischen Ideen in direkter Linie von den Jakobinern des Jahres 1793 herkommen, so sind diejenigen lokaler Unabhängigkeit das Erbe der machtvollen konstruktiven und revolutionären Tätigkeit der Pariser Sektionen und anderer Gemeinden von 1793 – 94. Es muss indes gesagt werden, dass die erstere der beiden Strömungen ohne jeden Zweifel die stärkere war. Die bürgerlichen Intellektuellen, welche der Internationale beitraten, waren sehr oft Jakobiner in ihrem Denken, und die Arbeiter unterzogen sich ihrem Einfluss. Es bedurfte eines Ereignisses von solch großer Tragweite wie der Kommune von Paris, um dem revolutionären Denken unter den Massen der Arbeiter in Europa und Amerika eine neue Richtung zu geben. Im Juli 1870 begann der schreckliche französisch deutsche Krieg, in den sich Napoleon III. Und seine Ratgeber stürzten, um das Kaiserreich vor einer republikanischen Revolution zu retten. Der Krieg führte zu einer vernichtenden Niederlage, zum Zusammenbruch des Kaisertums, zur provisorischen Regierung der Thiers und Gambetta, zur Kommune von Paris sowie zu einer Reihe von Versuchen der gleichen Art in Saint-Etienne, Narbonne und anderem südfranzösischen Städten und später auch in Spanien: in Barcelona und Carthagena. Für die Mitglieder der Internationale – wenigstens für diejenigen, welche zu denken und aus den Ereignissen zu lernen verstanden – waren diese kommunalen Aufstände eine Offenbarung. Unternommen unter dem Zeichen des roten Banners der sozialen Revolution, das die Arbeiter in Paris bis zu ihrem Tod auf den Barrikaden verteidigten, ließen diese Erhebungen erkennen, welcher Art die politische Form der kommenden Revolution in den lateinischen Ländern sein müsste und wahrscheinlich auch sein werde. Nicht mehr die demokratische Republik, wie man 1848 dachte, sondern die Kommune: frei, unabhängig und sehr wahrscheinlich kommunistisch. Es versteht sich von selbst, dass die Kommune noch die Folgen jener Konfusion verspürte, welche damals hinsichtlich der während einer Revolution des Volkes zu ergreifenden ökonomischen und politischen Maßnahmen herrschte. Dieselbe Konfusion, welche wir in der Internationale gesehen haben, zeigte sich auch in der Kommune. Jakobiner und Kommunalisten, d.h. diejenigen, die eine zentralistische Regierung bejahten, und die Föderalisten waren in gleicher Weise am Aufstand von Paris beteiligt, und in der Kommune gerieten sie bald einmal in Konflikt. Die kämpferischsten Elemente gehörten zu den Jakobinern und Blanquisten. Aber Blanqui war im Gefängnis, und bei den blanquistischen Führern – zum größten Teil bürgerlicher Herkunft – war nicht mehr viel von den kommunistischen Ideen ihrer babouvistischen Vorgänger geblieben. Für sie war die Ökonomie eine Frage, mit der man sich erst später, nach dem Siege der Kommune, beschäftigen würde. Da sich diese Meinung bereits zu Beginn durchsetzte, blieb der kommunistischen Idee nicht die Zeit, sich zu entwickeln; noch weniger, um sich während der so kurzen Lebensdauer der Pariser Kommune durchzusetzen. Unter diesen Umständen ließ die Niederlage nicht auf sich warten, und die grausame Rache der verängstigten Bourgeoisie bewies einmal mehr, dass der Sieg eines Volkskommuneaufstandes unmöglich ist, wenn nicht Errungenschaften auf Ökonomischem Gebiet parallel dazu die Masse des Volkes für die Kommune begeistern. Um eine politische Revolution durchzuführen, muss man verstehen, die ökonomische Revolution in den Vordergrund zu schieben. Doch gleichzeitig erteilte die Pariser Kommune eine andere wertvolle Lektion. Sie präzisierte in den lateinischen Nationen die Ideen der revolutionären Proletarier. Die freie Kommune – das ist die politische Form, welche eine soziale Revolution wird annehmen müssen. Auch wenn die ganze Nation, wenn alle benachbarten Nationen dagegen sein sollten, so müssen die Bewohner einer Gemeinde und eines begrenzten Territoriums selber und bei sich handeln – unter der Voraussetzung, dass sie sich entschlossen haben, dass sie ihren Konsum an den vordringlichsten Waren für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse kommunalisieren wollen, ebenso den Austausch der Produkte und die Produktion. Und wenn sie es tun, wenn sie ihre Energien in den Dienst einer so großartigen Sache stellen, werden sie in ihrer Kommune eine Kraft finden, die sie nie finden würden, wenn sie versucht hätten, die ganze Nation mit ihren rückständigen, feindseligen und indifferenten Teilen mit sich fortzureißen. Es ist besser, diese Teile offen zu bekämpfen, als sie mit sich ziehen zu wollen wie die einstmals eisernen Kugeln an dem Füßen der Revolution. Doch mehr als das: Wir werden imstande sein zu verstehen, dass auch eine munizipale Zentralregierung unnötig und schädlich ist, wenn wir keiner Zentralregierung mehr bedürfen, die den freien Kommunen Befehle erteilt, wenn die nationale Regierung verjagt ist und wenn die nationale Einheit durch die freie Föderation der Kommunen erreicht ist. Die Geschäfte, die innerhalb einer Kommune zu erledigen sind, sind in Wirklichkeit viel einfacherer Natur und die Interessen der Bürger viel weniger vielseitig und widersprüchlich, als dies bei einer ganzen Nation der Fall ist. Das föderative Prinzip muss also genügen, um unter den Konsumenten-, Produzenten- und anderen Gruppen in der Kommune eine Übereinstimmung zu schaffen. Die Pariser Kommune beantwortete also eine Frage, die jeden wahren Revolutionär beunruhigt hatte. Zweimal hatte Frankreich den Versuch unternommen, eine Revolution in sozialistischem Sinne durchzuführen, und zwar indem es sie mit Hilfe einer zentralen Regierung durchzusetzen versuchte: 1793 – 94, als nach dem Sturz der Girondisten mit dem Mittel strenger gesetzlicher Maßnahmen versucht wurde, die “Gleichheit der Fakten“ – die tatsächliche ökonomische Gleichheit einzuführen; und im Jahre 1848, als die Verfassungsgebende Versammlung eine “demokratisch-sozialistische Republik“ zu schaffen versuchte. Zweimal schlug der Versuch fehl. Nun zeigte das Leben selbst eine neue Lösung: die freie Kommune. Sie selber muss auf ihrem eigenen begrenzten Gebiet die Revolution durchführen, gleichzeitig befreit sie sich vom zentralisierten Staat. Diese neue Idee verstärkte das Ideal der Anarchie. Nun begriffen wir, dass in Proudhons Schrift Idée générale sur la Révolution du dix-neuvième siècle eine tiefgründige praktische Idee steckte: die Idee der Anarchie. In den lateinischen Ländern begann nun das Denken der fortschrittlichen Menschen, in dieser Richtung zu arbeiten. Leider nur in den lateinischen Ländern: in Frankreich, Spanien, Italien, der französischen Schweiz und dem wallonischen Teil Belgiens. Die Deutschen dagegen zogen aus ihrem Siege über Frankreich eine vollkommen andere Lehre; sie gelangten zur Bewunderung des zentralistischen Etatismus. Sie blieben in der robespierreistischen Phase stecken. Sie pflegten weiterhin den Kult der Jakobiner, wie ihn – im Gegensatz zur Realität – die jakobinischen Historiker beschrieben haben. Der zentralisierte Staat, der sogar den Tendenzen zu nationaler Unabhängigkeit feindlich gegenübersteht, eine ausgeprägte hierarchische Zentralisation und eine starke Regierung – das waren die Schlussfolgerungen, zu denen die deutschen Sozialisten und Radikalen gelangten. Sie wollten nicht einmal einsehen, dass ihre Siege über Frankreich nichts anderes waren, als die Siege der größeren Bataillone, des Systems der allgemeinen Wehrpflicht über dasjenige der Rekrutierung, welches 1870 in Frankreich noch in Kraft war – ein Sieg, in erster Linie errungen über die Fäulnis des Zweiten Kaiserreichs, das bereits von einer Revolution bedroht wurde, von der die ganze Menschheit profitiert hätte, wäre sie nicht durch die deutsche Invasion verhindert worden. In den lateinischen Ländern aber gab die Pariser Kommune der Idee der Anarchie einen erheblichen Anstoß. Andererseits bestätigten sich die autoritären Tendenzen des Generalrats der Internationale mehr und mehr; sie begannen, die Kraft der Assoziation zu unterminieren. Auf diese Weise trugen sie zu einer Stärkung der anarchistischen Strömung bei. Der Generalrat, geführt von Marx und Engels, welche von den nach der Niederlage der Kommune nach London geflüchteten französischen Blanquisten unterstützt wurde, benutzte die ihm anvertraute Macht, um einen Staatsstreich innerhalb der Internationale durchzuführen. Er ersetzte im Aktionsprogramm der Assoziation den direkten Kampf der Arbeit gegen das Kapital durch die Agitation in den bürgerlichen Parlamenten. Dieser Staatsstreich erledigte die Internationale, öffnete aber vielen die Augen. Er zeigte sogar den Leichtgläubigsten, wie absurd es ist, seine Angelegenheiten einer Regierung anzuvertrauen, auch wenn diese demokratisch gewählt wurde wie der Generalrat der Internationale. Auf diese Weise wurde die Rebellion der spanischen, italienischen, jurassischen und belgisch-wallonischen Föderationen sowie einer englischen Sektion gegen die Autorität des Generalrats provoziert. In Michael Bakunin fand die anarchistische Tendenz, die sich in der Internationale entwickelte, einen kräftigen und inspirierten Verteidiger. Und um Bakunin und seine jurassischen Freunde gruppierte sich in der Folge ein kleiner Kreis von jungen Spaniern und Italienern, welche seinen Ideen eine breitere Entwicklung gaben. Bakunin nutzte seine reichen geschichtlichen und philosophischen Kenntnisse und entwickelte die Prinzipien des modernen Anarchismus in einer Reihe bedeutender Broschüren, Zeitungsartikel und Briefe. Tapfer stellte er die Idee der vollständigen Abschaffung des Staates, mit all seinen Organisationen, seinem Ideal und seinen Tendenzen, in den Vordergrund. In der Vergangenheit war der Staat eine geschichtliche Notwendigkeit gewesen, eine Institution, welche sich aus der von der religiösen Kaste eroberten Autorität entwickelt hatte. Heute jedoch ist die vollkommene Vernichtung des Staates seinerseits eine historische Notwendigkeit, da der Staat ja die Verneinung der Freiheit und Gleichheit bedeutet und da er alles, was er unternimmt, nur verderben kann, sogar dann, wenn er einmal eine Idee von allgemeinem Interesse in die Praxis umzusetzen unternimmt. Jede Nation, so klein sie auch sein mag, jede Region, jede Kommune muss völlig frei in, sich nach ihrem Verständnis zu organisieren, so lange sie es nicht tun, um andere zu bedrohen. “Föderalismus“ und “Autonomie“ genügen indes nicht. Das sind nur Worte, mit denen stets die Autorität des zentralisierten Staates verdeckt wurden. Die vollkommene Unabhängigkeit der Kommune, die Föderation der freien Kommunen und die soziale Revolution innerhalb der Kommune, d.h. die kooperativen Gruppierungen, ersetzen die etatistische Organisation der heutigen Gesellschaft – das ist, so lehrte Bakunin, das Ideal, welches sich aus dem Dunkel der Vergangenheit vor unserer Zivilisation erhebt. Das Individuum begreift, dass es nur dann wirklich frei sein wird, wenn alle anderen Individuen ebenfalls frei sind. Mit diesen Ansichten war Bakunin gleichzeitig ein feuriger Propagandist der sozialen Revolution, welche der größte Teil der Sozialisten in Kürze erwarteten und die er in seinen Schriften und Briefen mit flammenden Worten herbeirief.
**** 10.4. Der Anarchismus in der Gegenwart Nahm vor 1848 und später bis zur Internationale die Revolte gegen den Staat, die hauptsächlich vom jungen Bürgertum ausging, den Charakter einer Auflehnung des Individuums gegen die Gesellschaft und ihre konventionelle Moral an, so reicht seither in den Arbeiterkreisen diese Empörung viel tiefer. Sie wurde zu einem Suchen nach einer Gesellschaftsform, die frei ist von Unterdrückung und Ausbeutung, die heute mit Hilfe des Staates geschehen. Die Internationale Arbeiter-Assoziation sollte nach der Absicht ihrer Begründer, wie wir gesehen haben, eine große Föderation von Arbeitergruppierungen sein, welche den Keim einer durch die soziale Revolution erneuerten Gesellschaft darstellen würde: einer Gesellschaft, in welcher das gegenwärtige Räderwerk der Regierung und der kapitalistischen Ausbeutung verschwände, um neuen Beziehungen zwischen den Föderationen der Produzenten und Konsumenten Platz zu machen. Unter diesen Umständen konnte das anarchistische Ideal nicht individuell bleiben; es wurde sozietär. In dem Maße, wie die Arbeiter aller Länder sich näher kennenlernten und über die Landesgrenzen hinweg in direkte Beziehungen zueinander traten, verstanden sie den Stand der sozialen Probleme besser und gelangten zum Bewusstsein ihrer wirklichen Macht. Sie sahen ein, dass man ohne große Schwierigkeiten allen Bedürfnissen der Gesellschaft in reichlichem Maße entsprechen könnte, wenn der Boden wieder dem Volk gehörte, die industriellen Arbeiter die Fabriken und Werkstätten in ihren Besitz nähmen, sich so zu Verwaltern der Industrie machten und sie in dem Sinne leiteten, dass sie vor allem die für das Leben der Nation notwendigen Dinge produzierten. Die neuesten Fortschritte in Wissenschaft und Technik bürgten dafür. Dann wüssten die Produzenten der verschiedenen Nationen sehr wohl, unter sich einen internationalen Austausch der Waren auf gleichwertiger Grundlage zu etablieren. Für diejenigen, die die Werkstatt, die Fabrik, das Bergwerk, die Landwirtschaft und den Handel kannten, war das alles ganz selbstverständlich. Zur gleichen Zeit wurde eine wachsende Zahl von Arbeiter gewahr, dass der Staat mit seiner Beamtenhierarchie und mit den Bleigewichten historischer Traditionen das Aufblühen einer neuen, von Monopolen und Ausbeutung befreiten Gesellschaft nur behindern konnte. Der Staat war im Laufe der Geschichte entwickelt worden, um die Monopole an Grund und Boden zu Gunsten einer Klasse einzurichten und aufrechtzuerhalten, die gerade dadurch zur herrschenden Klasse par excellence wurde. Welches Mittel hätte nun dieser Staat zur Abschaffung dieses Monopols bieten können, das die Arbeiterklasse nicht in ihrer eigenen Kraft und ihren eigenen Vereinigungen hätte finden können. Im Laufe des 19. Jahrhunderts vervollkommnete sich der Staat soweit, dass er auch das Monopol der Industrie, des Handels und Bankwesens zur Bereicherung der neuen Klassen zu sichern vermochte. Den Herrschenden lieferte er billige “Hände“, indem er den Dorfgemeinden den Grund und Boden nahm und die ackerbautreibenden Bauern durch Steuern zu Grunde richtete. Welche Vorteile konnte dieser Staat bieten, um gerade diese Privilegien abzuschaffen? Konnte seine Regierungsmaschine, die zur Aufrechterhaltung dieser Privilegien entwickelt wurde, dazu dienen, sie abzuschaffen? Verlangten neue Einrichtungen nicht auch neue Organe? Und mussten diese neuen Organe nicht jetzt durch die Arbeiter selbst geschaffen werden, in ihren Vereinigungen, in ihren Föderationen, ganz und gar außerhalb des Staates? In demselben Moment, wo die vom Staat geschaffenen und gestützten Monopole zu existieren aufhören würden, hätte er selbst jede Daseinsberechtigung verloren. Neue Formen des Zusammenschlusses würden entstehen, wenn die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr solche zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten wären. Das Leben würde sich von dem Moment an vereinfachen, wo der gegenwärtig existierende Mechanismus, der dem Reichen die Ausbeutung der Armen gestattet, nicht mehr bestände. Die Idee der freien Kommunen erlaubte den Arbeitern, in einer konkreten, fassbaren Form die machbare Organisation einer befreiten Gesellschaft ins Auge zu fassen. Sie tat es mit den territorialen Gruppierungen einerseits und mit den durch die breiten gewerkschaftlichen Föderationen geschaffenen sozialen Gruppierungen andererseits – die beiden waren aufs engste verknüpft und unterstützten sich gegenseitig zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Es war nur noch nötig, Gruppierungen aufgrund persönlicher Affinitäten hinzuzufügen – zahllose Gruppierungen also, in unendlichen Variationen, dauerhafte oder vorübergehende, aufgrund eines momentanen Bedarfs oder aufgrund vielfältigster Bedürfnisse entstandene, wie wir sie in der heutigen Gesellschaft bereits außerhalb der politischen oder beruflichen Gruppen entstehen sehen. Diese drei Arten von Gruppen, die wie ein Netz ineinander greifen, würden dahin gelangen, die Befriedigung aller sozialen Bedürfnisse zu gestatten: den Konsum, die Produktion, den Austausch, die Kommunikation, die Gesundheitseinrichtungen, die Erziehung, den gegenseitigen Schutz gegen Aggressionen, die gegenseitige Hilfe, die Verteidigung des Territoriums, schließlich die Befriedigung wissenschaftlicher, künstlerischer, literarischer und Unterhaltungs-Bedürfnisse. Das Ganze: immer voll von Leben und stets bereit, mit neuen Antworten auf neue Bedürfnisse und auf neue Einflüsse des sozialen oder intellektuellen Milieus zu antworten. Wenn eine Gesellschaft dieser Art sich über ein genügend großes und hinreichend bevölkertes Territorium erstreckt, um der nötigen Verschiedenheit des Geschmacks und der Bedürfnisse freien Spielraum zu gewähren, so würde man bald feststellen, dass ein Zwang durch die Autorität, welcher Art auch immer, hier unnötig wäre, für die Aufrechterhaltung des ökonomischen Lebens in der Gesellschaft und auch zur Verhinderung des größten Teils antisozialer Handlungen. In Wirklichkeit besteht im heutigen Staat das schwerwiegendste Hindernis zur Entwicklung und Erhaltung des moralischen Niveaus, das für das Leben in Gesellschaften notwendig ist, in der Abwesenheit sozialer Gleichheit. Ohne sie – “Gleichheit der Tatsachen“, wie man 1793 sagte – ist es für das Gefühl der Gerechtigkeit absolut unmöglich, sich zu verallgemeinern. Die Gerechtigkeit kann nur eine egalitäre sein: Die Gefühle für Gleichheit werden heute in unserer in Klassen geschichteten Gesellschaft bei jedem Schritt, bei jeder Gelegenheit verletzt. Es bedarf einer Praxis der Gleichheit, damit das Gerechtigkeitsgefühl gegen alle in die Sitten und Gebräuche Einzug hält. Das wird in einer egalitären Gesellschaft der Fall sein. Dann werden sich das Bedürfnis nach Zwang, oder vielmehr der Wunsch, zum Zwang zurückzukehren, nicht mehr bemerkbar machen. Man wird sich überzeugen, dass die Freiheit des Individuums keiner Begrenzung bedarf, wie es heute der Fall ist, sei es durch die Furcht vor gesetzlicher oder mystischer Strafe, sei es durch den Gehorsam gegenüber den als höherstehend anerkannten Individuen oder gegenüber den durch Angst und Unwissenheit geschaffenen metaphysischen Größen. Heute führt dies zu intellektueller Knechtschaft, zur Unterdrückung persönlicher Initiative, zur Herabsetzung des moralischen Niveaus und zum Stillstand des Fortschritts. In einem Milieu der Gleichheit wird sich der Mensch voll Vertrauen der Führung seiner eigenen Vernunft überlassen können, die, entwickelt in diesem Milieu, zwangsläufig das Gepräge von dessen sozialen Gewohnheiten tragen wird. Er kann die vollkommene Entwicklung all seiner Fähigkeiten erreichen: Die volle Entwicklung seiner Individualität. Der Individualismus dagegen, der heute vom Bürgertum als Mittel zur höchsten menschlichen Entfaltung “für höherstehende Naturen“ angepriesen wird, ist nichts als ein Trug. Ein solcher Individualismus ist im Gegenteil das sicherste Hindernis für die Entwicklung jeder hervorragenden Individualität. Im Schoße einer Gesellschaft, welche die individuelle Bereicherung verfolgt und die gerade dadurch in ihrer Gesamtheit zur Armut verurteilt ist, wird selbst der begabteste Mensch auf einen rauhen Kampf reduziert, allein schon um sich die notwendigen Existenzmittel zu beschaffen. Und was die sehr kleine Zahl derjenigen betrifft, welche sich darüber hinaus eine gewisse, für die Entfaltung der Individualität notwendige Muße zu verschaffen vermögen, so garantiert ihnen die heutige Gesellschaft dies nur unter einer Bedingung: sich dem Joch der Gesetze und den Gebräuchen der bourgeoisen Mittelmäßigkeit zu unterwerfen, niemals durch eine zu weitreichende Kritik oder durch revoltierende Handlungen das Königreich dieser bürgerlichen Mittelmäßigkeit erschüttern zu wollen. So ist “die volle Entwicklung der Individualität“ nur denen gestattet, welche für die bürgerliche Gesellschaft keine Gefahr bedeuten, die für sie zwar “interessant“ sind, ohne ihr aber jemals gefährlich zu werden. Die Anarchisten stützen sich bei ihren Visionen für die Zukunft auf das, was sie beobachten. Analysieren wir die Tendenzen, welche seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die zivilisierten Gesellschaften dominieren, so stellen wir fest, dass die Tendenz zu Zentralismus und Autorität in den Kreisen der Bourgeoisie noch sehr stark vertreten ist, auch bei jenen Arbeitern, welche eine bürgerliche Erziehung genossen haben und nun selbst Bourgeois werden wollen. Doch auch die antiautoritären, antizentralistischen und antimilitaristischen Tendenzen und die Idee der freien Vereinbarung zeigen sich sehr deutlich in den Arbeiterkreisen, ebenso in denen der gebildeten und mehr oder weniger freigeistigen Intellektuellen der Bourgeoisie. So existiert heute (wie ich übrigens schon in meinen Büchern “Wohlstand für Alle“ und “Gegenseitige Hilfe“ gezeigt habe) tatsächlich eine starke Strömung, die frei, außerhalb von Staat und Kirche, Tausende und Abertausende von Gruppierungen zu begründen sucht, um verschiedenste Arten von wirtschaftlichen Bedürfnissen befriedigen zu können: Eisenbahngesellschaften, Gewerkschaften, Unternehmerverbände, landwirtschaftliche Genossenschaften und solche für den Export usw. Die gleiche Tendenz zeigt sich in den Bereichen der Politik, der Intelligenz, der Kunst, der Erziehung, des Vergnügens, der Propaganda usw. Was früher zu den unbestreitbaren Funktionen von Staat und Kirche gehörte, wird heute von den freien Gruppen übernommen. Diese Tendenz ist augenfällig. Ein Hauch von Freiheit hat genügt, die eifersüchtig gehütete Macht von Staat und Kirche zu begrenzen und Tausende von freiwilligen Organisationen entstehen zu lassen. Und man kann voraussehen, dass die freien Gruppen ihre Tätigkeitsgebiete noch mehr ausdehnen werden, sobald der Macht dieser beiden säkularen Feinde der Freiheit eine weitere Begrenzung auferlegt wird. Die Zukunft und der Fortschritt weisen in diese Richtung, und der Anarchismus wird sie beide vereinigen.
**** 10.5. Die Verneinung des Staates Die ökonomischen Konzeptionen der Anarchisten sind von jenem chaotischen Zustand beeinflusst, der in der politischen Ökonomie heute noch vorherrscht. Wie bei den Staatssozialisten kann man auch bei den Anarchisten in dieser Frage verschiedene Meinungen unterscheiden. Wie jene Sozialisten, die tatsächlich Sozialisten geblieben sind, betrachten die Anarchisten das derzeitige System des Privateigentums an Grund und Boden und an allem, was zur Produktion notwendig ist, sowie das profitorientierte Produktionssystem, das nur die Folge vom vorangehenden ist, als ein Übel. Unsere heutige Gesellschaft muss diese Systeme abschaffen, auch wenn sie dabei zu Grunde geht, wie schon frühere Zivilisationen zu Grunde gegangen sind. Was nun aber die Mittel betrifft, mit Hilfe derer diese Umwälzung herbeigeführt werden könnte, so unterscheiden sich die Anarchisten vollständig von allen Fraktionen der Staatssozialisten, insbesondere weil sie verneinen, dass für die soziale Frage eine Lösung gefunden werden könnte, indem ein kapitalistischer Staat die ganze Produktion, oder zumindest die hauptsächlichsten Zweige, in Besitz nehmen würde. Die heutigen Staatsbetriebe Post und Eisenbahn, die von den durch das Parlament gewählten Ministern geleitet werden, bedeuten keineswegs das Ideal, das uns vorschwebt. Wir sehen darin nur eine neue Form des Lohnsystems und der Ausbeutung. Wir glauben nicht, dass man dadurch der Abschaffung des Lohnsystems und der Ausbeutung näher kommt oder dass darin eine Übergangsform auf jenes Ziel hin liegt. Auch in diesem Punkt gingen die Anarchisten mit den Sozialisten einig, sofern der Sozialismus in diesem breiten und wahren Sinne aufgefaßt würde: Die Abschaffung der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital. Der Unterschied würde allein in der antiautoritären Form der Gesellschaft bestehen, die sie aus der Revolution auftauchen sehen möchten, deren Nahen die einen und die anderen voraussehen und wünschen. Doch die Anarchisten mussten sich vollständig von den Etatisten trennen, weil eine ihrer Fraktionen, oder gar die Mehrheit der Staatssozialisten, sich der Idee anschlossen, es handle sich gar nicht darum, die kapitalistische Ausbeutung sogleich abzuschaffen; für unsere Generation und für die Entwicklungsphase, welche die Wirtschaft derzeit durchlaufe, könne nur die Rede davon sein, die Ausbeutung zu mildern, indem den Kapitalisten gewisse gesetzliche Einschränkungen auferlegt würden. Dem konnten die Anarchisten nicht zustimmen. Für uns gilt weiterhin, dass wir all unsere Kraft auf die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung richten müssen, wollen wir je diese Abschaffung verwirklichen. Ab heute müssen wir die Übergabe all dessen, was zur Produktion notwendig ist, aus den Händen des persönlichen Kapitals in die Produzentenvereinigungen anstreben: Die Bergwerke, die Fabriken, die Kommunikationsmittel und vor allem die Existenzmittel der Produzenten. Anstreben – und entsprechend handeln. Überdies müssen wir uns davor hüten, die Existenz- und Produktionsmittel in die Hände des heutigen bürgerlichen Staates zu übergeben. Die sozialistischen politischen Parteien fordern in ganz Europa die Übergabe der Eisenbahnen, des Bodens, der Eisenminen und Kohlengruben und beispielsweise in der Schweiz der Banken und des Alkoholmonopols in den Besitz des bürgerlichen Staates, sowie er heute existiert. Wir sehen in dieser Inbesitznahme der gemeinsamen Reichtümer durch den Staat eines der größten Hindernisse, die sozialen Reichtümer eines Tages in die Hände der Arbeiter, Produzenten und Konsumenten zu übergeben. Wir sehen darin ein Mittel, den Kapitalisten zu stärken, seine Macht im Kampf gegen den revoltierenden Arbeiter zu erhöhen. So sehen es inzwischen auch die intelligentesten unter den Kapitalisten. Ihre Kapitalien, mit denen sie sich beispielsweise bei den Eisenbahnen beteiligen, sind sicherer, weil sie dem Staat gehören und von ihm in militärischer Art ausgebeutet werden. Für jemanden, der über die sozialen Tatsachen in ihrer Gesamtheit nachzudenken gewohnt ist, kann es über diesen Punkt nicht den Schatten eines Zweifels geben, der als ein soziales Axiom betrachtet werden kann: “Man kann keine gesellschaftliche Veränderung vorbereiten, ohne bereits einen Schritt auf die gewünschte Veränderung hin zu tun; man entfernt sich davon, wenn man nicht diesem Weg folgt.“ Man entfernt sich tatsächlich vom Ziel, dass nämlich die Produzenten und die Konsumenten ihre eigene Meister der Produktion und des Austausches sein werden, wenn man beginnt, die Produktion und den Handel in die Hände der Parlamente, der Ministerien, der Funktionäre zu übertragen, die heute gezwungenermaßen die Instrumente des großen Kapitals sind, da ja alle Staaten davon abhängen. Es wir nicht gelingen, die in der Geschichte geschaffenen Monopole zu zerstören, indem neue Monopole – stets für den Profit der alten Monopolisten – kreiert werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kirche und der Staat die politische Macht waren, auf die sich die privilegierten Klassen stützten, als sie sich zu bilden begannen. Mit ihrer Hilfe, ausgestattet mit gesetzlich legitimierten Privilegien und mit Rechten über andere Menschen wurden sie zur dominierenden Klasse. Der Staat war die Institution, die dazu diente, die gegenseitige Sicherheit für den Genuss solcher Vorrechte zu etablieren. Aus eben diesem Grunde kann heute weder die Kirche noch der Staat die Macht werden, diese Privilegien zu bekämpfen. Weder die eine noch der andere kann zur Organisationsform werden, die sich entfalten wird, wenn die Privilegien erst einmal abgeschafft sind. Die Geschichte lehrt uns im Gegenteil, dass jedes mal, wenn eine neue Wirtschaftsform sich entwickelte, es auch nötig wurde, eine neue Form der politischen Gruppierung zu entwickeln. Das gilt für den Übergang von der Sklaverei zur Leibeigenschaft und von dieser zum Lohnsystem. Es wird für die ökonomische Befreiung nicht genügen, die alten politischen, durch den Staat repräsentierten Formen zu durchbrechen. In gleicher Weise war es nie möglich, die Kirche dafür einzusetzen, den Menschen von seiner Unterwerfung unter den alten Aberglauben zu befreien oder ihm eine neue, aus freien Stücken bejahte Ethik zu geben. Das Empfinden der Gleichheit, der Solidarität und der Zusammengehörigkeit aller Menschen brach in allen Religionen irgendwie durch; die verschiedenen Kirchen bemächtigten sich dieser Strömungen, um sie zum Vorteil der Geistlichkeit auszubeuten – nie werden ihnen die Kirche selbst andere Formen geben. Der Mensch ist gezwungen, andere Organisationsformen für die gesellschaftlichen Funktionen zu finden, die der heutige Staat unter seine Beamten verteilt hat. Nichts wird gemacht sein, solange dies nicht gemacht ist! Der Anarchismus arbeitet dafür, das Werden dieser neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu fördern. Und dieses Werden wird mit Hilfe der konstruktiven Kraft der Volksmassen, unterstützt durch die moderne Aufklärung, voranschreiten, wie dies in der Vergangenheit während der großen Erschütterungen der Befreiungskämpfe immer der Fall war. Aus diesem Grunde weigern sich die Anarchisten, die Funktionen der Gesetzgeber oder irgend eine andere staatliche Funktion zu übernehmen. Wir wissen, dass die soziale Revolution nicht durch Gesetze geschieht. Denn die Gesetze, auch wenn sie im Parlament unter dem Druck der Straße geschaffen wurden (darüber hinaus: wie sind sie beschaffen, wenn es darum geht, die widersprüchlichsten Interessen zu versöhnen?) – denn die Gesetze sind nichts weiter als eine einfache Verpflichtung, auf eine bestimmte Richtung hin zu arbeiten, eine Einladung an jene, die an Ort und Stelle sind, um von ihrer Energie, ihrem Erfindungsgeist, ihrem Organisations- und Konstruktionstalent Gebrauch zu machen. Aber um daraus etwas zu machen, braucht es an Ort und Stelle die Kräfte, die bereit und fähig sind, die Paragraphen, die “desiderata“ eines Gesetzes in das wirkliche Leben umzusetzen. Aus diesem Grunde auch hat eine große Anzahl Anarchisten, von den Anfängen der Internationale bis heute, sich aktiv in den Arbeiterorganisationen beteiligt, welche sich zum Zweck des direkten Kampfes der Arbeit gegen das Kapital gebildet haben. Dieser Kampf, der in viel wirksamerer Art dazu beitrug, einige Verbesserungen im Leben der Arbeiter zu erreichen, als alle indirekten Aktionen, öffnete den Arbeitern die Augen über das Übel, das in der Gesellschaft durch die kapitalistische Organisation und den sie aufrechterhaltenden Staat geschaffen wurde. Dieser Kampf weckte in den Arbeitern auch den Gedanken an Formen der Konsums, der Produktion und des direkten Austausches unter den Interessierten ohne Intervention der Kapitalisten und des Staates. Darüber, wie die Arbeit in einer von Kapital und Staat befreiten Gesellschaft entschädigt werden soll, sind die Meinungen, wie wir bereits gesagt haben, bei den Anarchisten geteilt. Alle sind sich einig in der Ablehnung der neuen Form des Lohnsystems, welches sich entwickelt, wenn der Staat von den Produktionsmitteln und vom Handel Besitz ergreift, wie er dies ja schon bei den Eisenbahnen, der Post, der Erziehung, der Versicherung und der Landesverteidigung getan hat. Eine noch weitergehende Macht – zu den sich bereits in seinem Besitz befindlichen Steuern, Militär, Religion etc. käme noch die Industrie hinzu – würde ein neues, riesiges Instrument der Tyrannei darstellen. Der größte Teil der Anarchisten hat sich heute in dieser Frage dem kommunistischen Anarchismus zugewandt. Man beginnt einzusehen, dass die einzig mögliche Form des Kommunismus innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft die Form des kommunistischen Anarchismus ist. Da er seinem Wesen nach egalitär ist, bedeutet der Kommunismus die Verneinung jeder Autorität. Andererseits wäre eine anarchistische Gesellschaft von einer gewissen Größe nicht möglich, könnte sie nicht von vornherein für alle zumindest ein Minimum eines gemeinschaftlich erzeugten Wohlstandes garantieren. Kommunismus und Anarchismus sind zwei Konzeptionen, die sich notwendigerweise ergänzen. Aber neben der großen kommunistischen Strömung besteht noch eine Richtung weiter, welche im Anarchismus eine Rehabilitierung des Individualismus sieht. Über diese Strömung werden wir zum Schluss einige Worte sagen.
**** 10.6. Die individualistische Strömung Die individual-anarchistische Strömung scheint uns ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten zu sein, in denen die Produktionsmittel noch nicht jene Leistungsfähigkeit erreicht hatten, die ihnen heute die Wissenschaft und der technische Fortschritt verleiht. Kommunismus war damals gleichbedeutend mit gemeinsamem Elend und gemeinsamer Unterwerfung. Vor kaum sechzig Jahren noch war ein mäßiger Wohlstand, verbunden mit etwas Freizeit, in Wirklichkeit nur für eine kleine Anzahl von Menschen möglich, welche die Arbeit der anderen ausbeuteten. Alle, die Wert auf eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit legten, sahen mit Schrecken dem Tage entgegen, an dem sie nicht mehr zu dieser kleinen privilegierten Minorität gehören könnten. Man darf tatsächlich nicht vergessen, dass in jener Epoche Proudhon die gesamte Produktion Frankreichs auf fünf Rappen pro Tag und Einwohner veranschlagte. Heute indessen existiert dieses Hindernis nicht mehr. Mit Hilfe der ungeheuren Produktivität der menschlichen Arbeit, die wir in der Landwirtschaft und in der Industrie erreicht haben, könnte innerhalb weniger Jahre mit einer Arbeitszeit von nicht mehr als vier bis fünf Stunden pro Tag für alle ein sehr hoher Grad an Wohlstand erreicht werden, eine intelligent organisierte kommunistische Arbeitsweise vorausgesetzt. Mindestens fünf Stunden blieben uns zur vollkommenen Musse übrig. Jener Einwand gegen den Kommunismus existiert also nicht mehr. Die individualistische Strömung teilt sich heute in zwei hauptsächliche Richtungen. Es gibt einerseits die reinen Individualisten im stirnerschen Sinne, die in der letzten Zeit durch die künstlerische Schönheit von Nietzsches Schriften eine Stärkung gefunden haben. Bei diesen werden wir uns aber nicht lange aufhalten; wir haben bereits in einem früheren Kapitel darauf hingewiesen, wie metaphysisch und wie weit vom tatsächlichen Leben entfernt diese “Bestätigung des Individuums“ ist und wie sehr sie das Gleichheitsgefühl – die Basis jeder Befreiung – verletzt. Man kann sich nicht befreien, solange man jemanden dominieren möchte. Dieser “Individualismus“ nähert diejenigen, die sich dazu bekennen, jenen Minoritäten des Adels, der Geistlichkeit, der Bourgeoisie, der Beamten usw. an, die sich ebenfalls für den Massen “überlegen“ halten und denen wir den Staat, die Kirche, die Gesetze, die Polizei, den Militarismus und alle Unterdrückung des Jahrhunderts verdanken. Die andere Richtung der “Individual-Anarchisten“ umfasst die Mutualisten im Sinne Proudhons. Sie suchen die Lösung des sozialen Problems in einer freien und freiwilligen Organisation, welche den Austausch der Produkte auf der Grundlage der bewertenden Arbeitsscheine einführen wollen. Diese Scheine repräsentieren die Anzahl der Arbeitsstunden, die bei einem gegebenen Stand der Industrie notwendig sind, um ein Produkt herzustellen oder die Zahl der Stunden, die ein Individuum zur Ausübung von Funktionen braucht, welche für die Öffentlichkeit als nützlich anerkannt sind. In Wirklichkeit ist dieses System nicht mehr individualistisch. Es stellt einen Kompromiss zwischen Individualismus und Kommunismus dar. Individualismus bei der Entschädigung für den Produzenten – Kommunismus beim Besitzes von all dem, was der Produktion dient. Nach unserer Ansicht liegt gerade in diesem Dualismus ein unüberwindliches Hindernis für die Einführung dieses Systems. Es ist für eine Gesellschaft unmöglich, sich nach zwei gegensätzlichen Prinzipien zu organisieren: die Vergesellschaftung all dessen, was bis zu einem bestimmten Tag hergestellt wurde, individuelles Eigentum aber bei dem, was zukünftig produziert werden soll. Und dieser Widerspruch soll nicht allein für die Produktion von Luxusgütern gelten, für welche der Geschmack und die Nachfrage unendlich variieren, sondern sogar für die dringend notwendigsten, die ja in jeder Gesellschaft in einer gewisse Einheitlichkeit akzeptiert werden. Noch weniger darf man außer acht lassen, wie überraschend verschiedenartig in einer großen und in Entwicklung stehenden Gesellschaft die angewendeten Methoden und Maschinen sind, mit denen an den verschiedenen Orten produziert wird. Das führt dazu, dass mit der einen Maschine zwei- oder dreimal mehr produziert werden kann als mit einer anderen. So sind z.B. in der heutigen Textilindustrie die Herstellungsarten für Stoffe verschiedener Qualitäten derart unterschiedlich, dass die Zahl der Webstühle, die ein einzelner Mensch überwacht, zwischen drei und zwanzig schwankt (Northrop-Webstühle). Man darf auch nicht die Unterschiede vergessen, welche bei verschiedenen Produktionszweigen zwischen den körperlichen und geistigen Anforderungen bestehen. Zieht man diese Tatsachen in Betracht, so muss man sich doch fragen, ob die Arbeitszeit jemals einen Maßstab für den kaufmännischen Austausch von Waren abgeben kann. Man versteht wohl den gegenwärtigen kaufmännischen Austausch, aber man versteht keinen kaufmännischen Austausch, der sich auf eine Wertschätzung aufgrund der geleisteten Arbeitszeit stützt, die nicht mehr kaufmännisch ist, sobald die Arbeitstätigkeit aufhört, wie eine Ware behandelt zu werden. Die Arbeitszeit kann nur in einer Gesellschaft, die bereits für einen Großteil der lebensnotwendigen Produkte das kommunistische Prinzip eingeführt hat, als äquivalenter Ausdruck (oder vielmehr: zu einer ungefähren Schätzung) des Werts der Produkte dienen. Wenn man als Konzession an die Idee einer individualistischen Entschädigung eine nach “einfacher“ und “qualifizierter“ Arbeit, die eine Lehrzeit erfordert, unterschiedliche Entschädigung einführte oder wenn man auf eine “Aussicht auf Beförderung“ innerhalb der industriellen Beamtenhierarchie zurückgreifen würde, etablierte man von neuem die differenzierenden Elemente des modernen Lohnsystems, mitsamt den Übeln, welche wir an ihm kennen und zu deren Abschaffung wir ja gerade Mittel und Wege suchen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Ideen der Mutualisten einen gewissen Erfolg in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten hatten, wo dieses System anscheinend bei einigen genügend großen Farmerorganisationen weiterhin funktioniert. Überdies gibt es in Amerika die sich den Mutualisten nähernden individualistischen Anarchisten, die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch S.P. Andrews, W. Greene und später durch Lysander Spooner repräsentiert wurden – heute ist es Benjamin Tucker, der langjährige Herausgeber der Zeitschrift “Liberty“. Ihre Ideen stammen von Proudhon, aber auch von Herbert Spencer. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass das einzige verpflichtende Gesetz für den Anarchisten darin besteht, sich selbst um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern, so dass jedes Individuum und jede Gruppe das Recht hat, so zu handeln, wie sie wollen – dass sie sogar die ganze Menschheit unterdrücken können, wenn sie dazu die Macht haben. Wenn diese Prinzipien, sagt Tucker, zur allgemeinen Anwendung kämen, so würden sie überhaupt keine Gefahr beinhalten, da ja die Macht eines jeden Individuums durch das gleiche Recht jedes anderen begrenzt würde. Aber derartig zu räsonnieren heißt unseres Erachtens denn doch, der Metaphysik einen zu großen Tribut zu zollen und allzu imaginäre Vermutungen anzustellen. Zu sagen, dass einer das Recht habe, sich die ganze Menschheit zu unterwerfen, wenn er nur über die nötige Macht verfüge, und dass die Rechte dieses Individuums durch die gleichen Rechte anderer begrenzt seien, bedeutet, vollständig in die Dialektik einzutauchen. Überdies ist es für uns, die wir auf dem Boden der Realitäten bleiben, absolut unmöglich, sich eine Gesellschaft oder auch nur einen einfachen Zusammenschluß von Menschen mit einem Minimum an gemeinsamem Handeln vorzustellen, ohne dass die Angelegenheiten eines jeden diejenigen eines großen Teils, wenn nicht gar aller anderen berühren. Noch weniger können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der die dauernden Kontakte unter den Menschen nicht zu einem Interesse eines jeden für die anderen führen und in der es die Handlungen eines jeden materiell unmöglich machen, nicht auch über deren Konsequenzen auf die Gesellschaft nachzudenken. Tucker, der wie Spencer eine ausgezeichnete Kritik des Staates und eine nachdrücklichen Verteidigung der Rechte des Individuums geleistet hat, anerkennt das Privateigentum an Grund und Boden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er zur Wiedereinsetzung des Staates gelangt, indem er ihm das Recht einräumt, die individualistischen Bürger an der Schädigung anderer zu hindern. Es stimmt, dass Tucker dem Staat lediglich das Recht, seine Mitglieder zu verteidigen, zuerkennt. Doch dieses Recht und diese Funktion genügen, einen Staat mit seinen aktuellen Rechten zu konstituieren. Studiert man die Geschichte der Institution des Staates, so findet man, dass gerade unter der Vorgabe, die Rechte des Individuums zu schützen, sich der gegenwärtige Staat gebildet hat. Seine Gesetze, seine zum Schutze des geschädigten Individuums bestimmten Beamten, seine Hierarchie, welche etabliert wurde, um die Ausführung der Gesetze zu beaufsichtigen, seine Universitäten, auf denen die Quellen des Rechts studiert werden, seine Kirche, welche das Recht sanktioniert, seine Klassen, um die “Ordnung“ aufrechtzuerhalten, der Zwang zum militärischen Dienst, seine Monopole, schließlich seine Verbrechen und seine Tyrannei – das alles entstand aus dieser ersten ihm zugestandenen Befugnis: Dem Schutz der Rechte des Individuums, das von einem anderen Individuum geschädigt wird. Diese kurzen Anmerkungen erklären, warum die Systeme des individualistischen Anarchismus zwar Anhänger unter den “Intellektuellen“ der Bourgeoisie finden, jedoch keine in den Massen der Arbeiter haben. Das soll uns aber nicht daran hindern, die Bedeutung der von den individualistischen Anarchisten geleisteten Kritik anzuerkennen; sie ist für ihre kommunistischen Namensbrüder eine Mahnung, nicht auf Zentralismus und Bürokratie einzuschwenken. Diese Kritik trägt ebenfalls dazu bei, immer wieder die Gedanken dem freie Individuum zuzuwenden, das die erste Quelle einer freien Gesellschaft darstellt. Die Tendenz, den Irrtümern der Vergangenheit zu verfallen, existiert nur zu sehr, sogar – wir wissen es – unter den fortgeschrittenen Revolutionären. Man kann also sagen, dass im gegenwärtigen Moment der kommunistische Anarchismus die Lösung darstellt, welche am meisten Verbreitung unter den Arbeitern – besonders der lateinischen Länder – gewinnt, welche sich für die Fragen der revolutionären Aktion in einer mehr oder weniger weit entfernten Zukunft interessieren und welche den Glauben an die Wohltaten des Staates verlieren. Die Arbeiterbewegung, die es den Arbeitern gestattet, sich als Stützpunkte außerhalb der nichtigen Agitation der politischen Parteien zu fühlen und ihre Kräfte und Fähigkeiten als wirksamer in anderen Bereichen als im vorübergehenden Wahlmechanismus einzuschätzen, trägt viel dazu bei, diese Ideen zu verbreiten. Und zwar so nachhaltig, dass es vorauszusehen nicht übertrieben ist: Wenn einmal ernsthafte Bewegungen unter den Arbeitern in den Städten und auf dem Lande beginnen werden, wird es zu Versuchen im anarchistischen Sinne kommen. Diese Versuche werden ohne Zweifel gründlicher sein als diejenigen, welche das französische Volk in den Jahren 1793 – 94 angedeutet hat.
*** 11. Einige theoretische Gesichtspunkte des Anarchismus Nachdem wir den Ursprung und die Prinzipien das Anarchismus dargelegt haben, wollen wir nun einige Illustrationen geben, die uns erlauben, den Platz genauer festzulegen, den unsere Ideen in den wissenschaftlichen und sozialen Bestrebungen der Gegenwart einnehmen. Wenn man uns vom Recht als einer Institution sagt, es sei “die Objektivation der Wahrheit“ oder “seine Entwicklungsgesetze seien die Entwicklungsgesetze des menschlichen Geistes“ oder “Recht und Moralität seien identisch und unterschieden sich nur in der Form“, so empfinden wir gegenüber diesen wohlklingenden Behauptungen ebenso wenig Ehrfurcht, als sie Mephisto im Goetheschen Faust an den Tag legte. Wir wissen, dass diejenigen, welche diese Sätze geschrieben haben und sich dabei tiefschürfend vorkamen, zwar eine gewisse Anstrengung des Geistes unternommen haben, um dorthin zu gelangen. Wir wissen aber auch, dass diese Denker fehlgegangen sind, und wir sehen in ihren schönen Worten nichts weiter als unbewusste Verallgemeinerungen, die jedoch auf völlig ungenügenden und unklaren Grundlagen gewonnen wurden, und außerdem mit Worten, welche die Leute hypnotisieren. Einstmals bemühte man sich, dem Recht einen göttlichen Ursprung zu verleihen, später eine metaphysische Grundlage. Heute aber können wir den Ursprung der Rechtssysteme und deren Entwicklung in gleicher Weise studieren wie die Entwicklung der Weberei oder die Art, wie die Bienen ihren Honig produzieren. Wir können uns beim Studium der gesellschaftlichen Sitten und der Rechtsanschauungen die Arbeiten der anthropologischen Schule zu Nutze machen. Wir beginnen bei den Wilden als der tiefsten Entwicklungsstufe und verfolgen die fortlaufende Entwicklung in den Gesetzbüchern der verschiedenen Geschichtsepochen bis auf unsere heutigen Tage. So gelangen wir zur bereits ausgesprochenen Schlussfolgerung: Alle Gesetze haben einen doppelte Ursprung, und genau das unterscheidet sie von den durch den steten Gebrauch etablierten Sitten, welche die moralischen Prinzipien einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeitepoche repräsentierten. Das Gesetz bestätigt die Sitten: es legt sie fest, doch zu gleicher Zeit benutzt es die Gelegenheit, um – meistens in versteckter Form – neue, im Interesse der Minorität der Regierenden und der Krieger liegende Elemente einzuführen. Ein Gesetz beispielsweise sanktioniert oder führt die Sklaverei ein, die Trennung der Gesellschaft in Klassen, die Autorität des Familienvaters, des Priesters und des Kriegers, oder es schmuggelt unversehens die Leibeigenschaft und später die Unterwerfung unter den Staat ein. Auf diese Weise gelang es stets, den Menschen ein Joch aufzubürden, ohne dass sie sich dessen gewahr wurden – ein Joch, von dem sie sich später nur durch blutige Revolutionen befreien konnten. Wir können das Gleiche in der heutigen Gesetzgebung, selbst in der sogenannten Arbeiterschutzgesetzgebung beobachten. Neben dem “Arbeiterschutz“, der das eigentliche Ziel dieser Gesetzgebung darstellt, führt man geräuschlos die Idee des obligatorischen Schiedsgerichts durch den Staat im Streikfall ein; obligatorisches Schiedsgericht – welch ein Widersinn! Oder man schmuggelt unversehens einen obligatorischen Minimalarbeitstag von so und soviel Stunden ein, man öffnet einem militärischen Eisenbahnbetrieb im Streikfall die Tür, man gibt der Enteignung der Bauern in Irland eine legale Genehmigung. Oder man führt eine Versicherung gegen Krankheit, für das Alter und sogar für Arbeitslosigkeit ein, und dabei versieht man den Staat mit dem Recht und der Pflicht, jeden Tagesablauf der Arbeiter zu kontrollieren, das Recht, ihn für immer darauf zu verpflichten, sich ohne die Genehmigung des staatlichen Funktionärs keinen freien Tag zu geben. All dies wird so bleiben, solange ein Teil der Gesellschaft die Gesetze für alle macht und dabei stets die Macht des Staates – der hauptsächlichsten Stütze des Kapitalismus – erweitert. All dies wird so bleiben, solange man Gesetze macht. Man kann unter diesen Umständen begreifen, warum die Anarchisten seit Godwin stets die Berechtigung aller geschriebenen Gesetze geleugnet haben, obgleich sie mehr als alle Gesetzgeber nach Gerechtigkeit streben, welche für sie gleichbedeutend mit Gleichheit und ohne diese unmöglich ist. Wendet man ein, mit der Zurückweisung des Gesetzes würde jegliche Moralität verneint, da wir den “kategorischen Imperativ“ Kants nicht anerkennen, so erwidern wir, dass uns schon die Ausdrucksweise dieses Einwurfs unverständlich und absolut fremd ist. Sie ist uns so fremd und unbegreiflich, wie sie jedem Naturforscher wäre, der sich mit der Ethik beschäftigt. Bevor wir auf die Diskussion eintreten, müssen wir daher unseren Kritikern die Frage stellen: “Sagt uns doch endlich, was wollt ihr mit eurem kategorischen Imperativ sagen? Könnt ihr eure Behauptungen nicht in eine gemeinverständliche Sprache kleiden, wie es beispielsweise Laplace tat, als er Mittel und Wege fand, die Formeln der hohen Mathematik in einer jedem verständlichen Sprache auszudrücken? Alle großen Gelehrten fanden eine solche Sprache. Warum ihr nicht?“ Was meint man in Wirklichkeit, wenn man vom “Universalgesetz“, vom “kategorischen Imperativ“ spricht? Vielleicht, dass alle Menschen die Idee besitzen: “Tue einem andern nicht, von dem du willst, dass man es dir selbst nicht tue?“ Wenn es das ist – sehr gut! Beginnen wir (wie es Francis Hutcheson und Adam Smith bereits getan haben) zu studieren, woher diese Vorstellungen bei den Menschen kommen und wie sie sich entwickelt haben. Untersuchen wir ferner, bis zu welchem Grade die Idee der Gerechtigkeit die der Gleichheit einschließt. Das ist eine sehr wichtige Frage, denn nur diejenigen, welche den andern als gleichwertig betrachten, können sich der Regel unterziehen: “Tue einem andern nicht, von dem du willst, dass man es dir selbst nicht tue?“ Ein Besitzer von Leibeigenen und ein Sklavenhändler können das “Universalgesetz“ oder den “kategorischen Imperativ“ dem Leibeigenen oder dem Neger gegenüber offensichtlich nicht anerkennen, da sie diese nicht als ihresgleichen anerkennen. Und wenn unsere Bemerkung korrekt ist, so lasst uns doch sehen, ob es nicht absurd ist, die Moral vertreten zu wollen, wenn gleichzeitig der Ungleichheit das Wort geredet wird. Untersuchen wir schließlich, wie Guyau es getan hat, die “Selbstaufopferung“. Und schauen wir, was in der Geschichte am stärksten zur Entwicklung moralischer Empfindungen des Menschen beigetragen hat? Sind das nicht allein die Empfindungen, die sich im egalitären Denken hinsichtlich des Nächsten zeigen? Nur wenn wir diese drei Untersuchungen vorgenommen haben, können wir ableiten, welche sozialen Bedingungen und welche Institutionen die besten Resultate für die Zukunft versprechen. Nur dann sehen wir: Wieviel trägt die Religion dazu bei? Wieviel die durch die Gesetze festgeschriebenen ökonomischen und politischen Ungleichheiten, wieviel das Gesetz, wieviel die Bestrafung durch das Gefängnis, wieviel der Richter, der Gefängniswärter, der Henker? Studieren wir dies alles für sich und im Detail. Dann werden wir mit Gewinn wieder über Moral und deren Verbesserung durch das Gesetz, den Gerichtshof und den Polizeikommissar reden können. Aber die großen Worte, welche nur dazu dienen, die Oberflächlichkeit unseres Halbwissens zu verstecken, wollen wir lieber beiseite lassen. Vielleicht waren sie in einer gewissen Zeit nicht zu vermeiden; ob sie aber jemals nützlich gewesen sind, wollen wir dahingestellt sein lassen. Doch heute, wo wir ja in der Lage sind, die schwierigsten sozialen Fragen in der gleichen Weise zu studieren wie der Gärtner und der Botaniker die günstigsten Wachstumsbedingungen für eine Pflanze, sollten wir es tun! Das gleiche gilt für die wirtschaftlichen Fragen. Wenn uns der Nationalökonom sagt: “In einem vollständig freien Markt bemisst sich der Wert einer Ware nach der in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ (vgl. Ricardo, Proudhon, Marx und viele andere), so nehmen wir diese Behauptung keineswegs als einen Glaubenssatz hin, mag sie auch von dieser oder jener Autorität herrühren, oder mag es “verteufelt sozialistisch“ klingen, wenn gesagt wird, die aufgewendete Arbeit sei der wahre Maßstab für den Wert eines Produkts. – “Es ist unmöglich, dass diese Aussage stimmt“, sagen wir. “Bemerkt ihr denn nicht, dass ihr mit dieser Behauptung den Satz aufstellt, dass der Wert und die Quantität der aufgewendeten Arbeit proportional sind – in einem gleichen Sinne, wie die Schnelligkeit eines fallenden Steins der Anzahl von Sekunden proportional ist, die der Fall gedauert hat? Ihr behauptet also ein bestimmtes quantitatives Verhältnis zwischen diesen beiden Größen. Aber habt ihr Beobachtungen gemacht, quantifizierte Messungen? Nur solche könnten eure Behauptungen bezüglich der Quantitäten beweisen. Ihr könnt sagen, im allgemeinen steige der Tauschwert an, wenn die Quantität der notwendigen Arbeit steigt. Diese Schlussfolgerung hat zuerst Adam Smith gezogen. Doch zu sagen, dass demzufolge sich die beiden Quantitäten proportional zueinander verhalten, dass die eine das Maß der andern sei, bedeutet einen groben Fehler, wie wenn man z.B. sagen wollte, dass die Quantität des Regens, der morgen fallen soll proportional zur Quantität der Millimeter sei, um die das Barometer unter den mittleren Luftdruck des Ortes und der Jahreszeit fällt. Derjenige, welcher zuerst bemerkte, dass eine gewisse Beziehung zwischen dem niedrigen Stande des Barometers und der Quantität des fallenden Regens besteht; derjenige, welcher zuerst erkannte, dass der von einer größeren Höhe fallende Stein eine größere Geschwindigkeit erreichte als jener, der nur um einen Meter fiel, – sie machten eine wissenschaftliche Entdeckung (was Smith bezüglich des Wertes tatsächlich getan hat). Aber der Mensch, der darauf behauptete, die Quantität des gefallenen Regens bemesse sich nach der Quantität, welche das Barometer unter das Mittel gefallen sei, oder der vom fallenden Stein zurückgelegte Weg verhalte sich proportional zur Dauer des Falles und bemesse sich danach – sie sagen Torheiten. Sie beweisen überdies, dass ihnen die Methode des wissenschaftlichen Forschens vollständig fremd ist und dass sie nicht wissenschaftlich zu arbeiten verstehen, wie sehr ihre Formulierungen auch von Wörtern strotzen mögen, die dem wissenschaftlichen Jargon entstammen. Auch wenn man sich dahinter verschanzen wollte, es seien eben noch nicht genügend exakte Messdaten vorhanden, um den Wert einer Ware und die Menge der dazu notwendigen Arbeit zu bestimmten – so wäre das keine Entschuldigung. Wir kennen in den Wissenschaften Tausende von ähnlichen Fällen: Korrelationen, in denen wir zwei voneinander abhängige Größe sehen (wenn eine Größe zunimmt, so wächst die andere auch). So hängt beispielsweise die Schnelligkeit des Wachstums einer Pflanze unter anderem davon ab, wie viel Wärme und Licht sie erhält, oder der Rückstoß einer Kanone wird größer, wenn wir die Menge des Pulvers, das bei der Zündung verbrennt, erhöhen. Aber welcher Gelehrte, der dieses Namens würdig ist, würde die absurde Idee haben, zu behaupten, dass demzufolge die Schnelligkeit des Wachstums bei einer Pflanze zur Menge des erhaltenen Lichts oder der Rückstoß der Kanone zur Menge des verbrannten Pulvers sich proportional verhalte. Oder anders gesagt: dass sich die eine nach der anderen bemesse, wie das seit Ricardo für den Wert und die Arbeit gesagt wird. Wer würde es wagen, die Hypothese, zwischen zwei Größen bestehe eine Beziehung, gleich als Gesetz auszugeben, nachdem er sie gerade aufgestellt hat? Nur Nationalökonomen und Gesetzgeber, die keine Ahnung davon haben, was in der Wissenschaft unter einem “Gesetz“ verstanden wird, können derartiges tun. Im allgemeinen ist das Verhältnis zwischen zwei Größen ein äußerst komplexes. Dies gilt auch für Wert und Arbeit. Gerade Tauschwert und Arbeitsquantum sind nicht einander proportional; das eine bemisst sich nie nach dem andern. Darauf hat schon Adam Smith hingewiesen. Nachdem er gesagt hatte, der Tauschwert einer jeden Ware bemesse sich nach der Quantität der dafür notwendigen Arbeit, fügte er (nach einer Studie über den Wert von Waren) hinzu, dieses Verhältnis gelte nicht mehr unter den Bedingungen des Kapitalismus, auch wenn dies unter denjenigen eines primitiven Warenaustausches der Fall sei. Damit hat er vollkommen recht. Das kapitalistische System mit seiner erzwungenen Arbeit und dem gewinnorientierten Austausch zerstört diese einfachen Beziehungen. Es führt mehrere neue Faktoren ein, die das Verhältnis zwischen Arbeit und Tauschwert verfälschen. Diese zu ignorieren bedeutet, sich nicht mehr auf dem Boden der Nationalökonomie zu befinden. Es bedeutet, die Ideen zu verwirren und die Entwicklung einer ökonomischen Wissenschaft zu behindern. Was wir jetzt über den Wert ausgeführt haben, ließe sich über fast alle nationalökonomischen Behauptungen sagen, die sich heute, insbesondere bei den Sozialisten, die sich wissenschaftlich zu nennen belieben, als Wahrheiten etabliert haben und die mit einer unbezahlbaren Naivität als Naturgesetze hingestellt werden. Nicht allein, dass die meisten dieser sogenannten Gesetze inkorrekt sind, wir behaupten auch noch, dass diejenigen, welche an sie glauben, dies bald bemerken würden, sähen sie doch nur die Notwendigkeit ein, ihre quantitativen Behauptungen mit entsprechenden, d.h. ebenfalls quantitativen, Untersuchungen zu verifizieren. Übrigens erscheint die gesamte Nationalökonomie uns Anarchisten in einem andern Lichte als den Nationalökonomen aus dem bürgerlichen oder sozialdemokratischen Lager. Da den einen wie den andern die wissenschaftliche, induktive Methode vollkommen fremd ist, geben sie sich keine Rechenschaft über die Bedeutung des Wortes “Naturgesetz“, trotz ihrer ausgeprägten Vorliebe für diesen Ausdruck. Sie sehen nicht, dass jedes Naturgesetz einen konditionalen Charakter hat. Das drückt sich immer folgendermaßen aus: “Wenn in der Natur die und die Bedingungen eintreten, so wird das Resultat dieses oder jenes sein. – Wenn eine gerade Linie von einer zweiten Geraden so durchschnitten wird, dass sich gleiche Winkel an beiden Seiten bilden, so ergibt sich folgendes. – Wenn die im interstellaren Raum bestehenden Kräfte auf zwei Körper wirken und wenn keine anderen von einer nicht unendlichen Entfernung auf diese einwirken, so nähern sich die Schwerpunkte der beiden Körper mit der und der Geschwindigkeit (Gesetz der allgemeinen Anziehung).“ Und so weiter. Immer gibt es ein “Wenn“, eine Bedingung. Demzufolge sind alle angeblichen Gesetze und Theorien der Nationalökonomie in Wirklichkeit nur Behauptungen folgenden Charakters: “Wenn man davon ausgeht, dass sich in einem bestimmten Lande stets eine beträchtliche Anzahl von Menschen findet, die nicht einen Monat, nicht einmal 14 Tage leben können, ohne die Arbeitsbedingungen anzunehmen, die der Staat ihnen (in Form von Steuern) aufzwingt oder die ihnen von denen geboten werden, die der Staat als Besitzer des Bodens, der Fabriken, der Eisenbahnen usw. anerkennt, so werden sich die und die Konsequenzen daraus ergeben.“ Bis heute ist die Nationalökonomie immer nur eine Aufzählung dessen gewesen, was unter derartigen Bedingungen geschieht. Doch fast nie wurden die Bedingungen selbst aufgezählt und analysiert; nie wurde geprüft, wie diese Bedingungen sich im einzelnen Fall auswirken, auch nicht, was diese Bedingungen aufrechterhält. Und waren sie einmal erwähnt worden, so wurden sie im Augenblick danach gleich wieder vergessen. Doch die Nationalökonomen beschränkten sich nicht auf dieses Vergessen; sie stellten die aus diesen Bedingungen entstehenden Tatsachen hin, als wären sie schicksalhafte, unabänderliche Gesetze. Die sozialistische Nationalökonomie kritisiert tatsächlich gewisse dieser Schlussfolgerungen; andere erklärt sie auf eine andere Art. Doch bei ihnen findet sich das gleiche Vergessen, sie hat jedenfalls ihren eigenen Forschungsweg noch nicht gefunden. Sie verbleibt in dem alten Rahmen, sie folgt den gleichen Spuren. Das Höchste, was sie (durch Marx) geleistet hat, war, dass sie die Definitionen der metaphysischen bürgerlichen Nationalökonomie untersuchte und sagte: “Seht, selbst auf Grund eurer Definitionen gelangt man zu dem Beweise, dass der Kapitalist den Arbeiter ausbeutet!“ In einem Flugblatt klingt das vielleicht gut, mit Wissenschaft aber hat es nichts zu tun. Im allgemeinen meinen wir, dass die Wissenschaft von der politischen Ökonomie anders beschaffen sein müsste. Sie muss wie eine Naturwissenschaft behandelt werden, und sie muss sich ein neues Ziel setzen. Hinsichtlich der menschlichen Gesellschaften muss sie eine dem Verhältnis der Physiologie zu den Pflanzen und Tieren analoge Stellung einnehmen. Sie muss zu einer Physiologie der Gesellschaft werden. Als Ziel muss sie sich das Studium der stets wachsenden Bedürfnisse der Gesellschaft und der verschiedenen Mittel, diese zu befriedigen, setzen. Sie hat diese Mittel zu analysieren, um zu erkennen, wie weit sie früher diesem Zweck angemessen waren, und wie weit sie es heute sind. Schließlich – da ja das letzte Ziel jeder Wissenschaft (Bacon sagte es schon vor sehr langer Zeit) in der Voraussage, in der Anwendung im praktischen Leben liegt – muss sie untersuchen, mit welchen Mitteln die Summe der modernen Bedürfnisse am besten befriedigt werden können: die Mittel, unter dem geringsten Energieaufwand (ökonomisch also) die besten Resultaten für die Menschheit im allgemeinen zu erreichen. Man wird jetzt begreifen, warum wir zu Schlussfolgerungen gelangen, die sich in gewissen Punkten von denen der meisten bürgerlichen und sozialdemokratischen Nationalökonomen so sehr unterscheiden, warum wir gewissen von ihnen aufgedeckten Korrelationen nicht den Namen von Gesetzen zuerkennen wollen, warum unsere Darlegung des Sozialismus so ganz anders lautet und warum wir aus dem Studium der Tendenzen im heutigen ökonomischen Leben derart andere Schlussfolgerungen hinsichtlich dessen ableiten, was wünschenswert und möglich ist. Mit anderen Worten: warum wir zum libertären Kommunismus gelangen, während sie den Staatskapitalismus und das kollektivistische Lohnsystem zu ihrem Ideal machen. Es ist möglich, dass wir Unrecht haben und dass das Recht bei ihnen liegt. Möglich! Doch zu verifizieren, wer von uns sich im Unrecht und wer im Recht befindet, gelingt weder mit byzantinischen Kommentaren über das, was dieser oder jener Schriftsteller gesagt hat oder sagen wollte, noch indem man uns vom Hegelschen Dreischritt erzählt, d.h. weiterhin von der dialektischen Methode Gebrauch macht. Es wird nur gelingen, indem man sich daran macht, die ökonomischen Beziehungen in gleicher Weise wie die Fakten in den Naturwissenschaften zu studieren. Der Anarchismus gelangt zu seinen Schlussfolgerungen auf dem Gebiete der politischen Formen, insbesondere des Staates, indem er stets die gleiche Methode anwendet. Der Anarchist kann sich nicht mit metaphysischen Behauptungen der folgenden Art begnügen: “Der Staat ist die Bestätigung der Idee der größten Gerechtigkeit in der Gesellschaft“, oder “Der Staat ist das Werkzeug und der Träger des Fortschritts“, oder etwa: “Ohne Staat keine Gesellschaft“. Getreu seiner Methode begibt sich der Anarchist an das Studium des Staates mit der gleichen Unvoreingenommenheit, wie wenn ein Naturforscher die Gesellschaften der Ameisen, der Bienen oder der Vögel, die ihre Nester an den Ufern der Seen in den nördlichen Regionen bauen, studieren wollte. Ich habe in früheren Kapiteln gezeigt, zu welchen Schlussfolgerungen wir im Laufe dieser Studien bezüglich der politischen Formen der Vergangenheit und deren wahrscheinlichen und wünschenswerten künftigen Entwicklung gelangt sind. Fügen wir lediglich hinzu, dass für unsere europäische Zivilisation (die Zivilisation der letzten 15 Jahrhunderte, der wir angehören) der Staat eine Form des gesellschaftlichen Lebens ist, welche sich erst im 16. Jahrhundert entwickelt hat, und zwar unter dem Einfluss einer Kette von Ursachen, die man in meiner Studie Die historische Rolle des Staates dargelegt findet. Vor dieser Epoche bestand (seit dem Sturz des römischen Kaisertums) der Staat in seiner spezifisch römischen Form nicht. Wenn er in den offiziellen Geschichtsbüchern trotzdem zu finden ist, so als ein Produkt der Einbildung jener Historiker, welche den Stammbaum des Königtums in Frankreich auf die Häuptlinge der merowingischen Banden und in Russland auf Rurik usw. zurückführen wollten. Für die tatsächliche Geschichtsschreibung bildete sich der Staat erst auf den Ruinen der mittelalterlichen Städte. Andererseits stellen in unseren Augen der Staat als politische und militärische Macht, die Rechtsprechung durch die moderne Regierung, die Kirche und der Kapitalismus Institutionen dar, die voneinander nicht zu trennen sind. In der Geschichte entwickelten sich diese vier Institutionen unter ständiger gegenseitiger Unterstützung und Stärkung. Sie sind miteinander verbunden, nicht etwa weil sie zufällig in Raum und Zeit zusammentrafen; sie sind durch eine Kette von Ursache und Wirkung miteinander verknüpft. Der Staat stellt eine auf gegenseitige Sicherung beruhende Institution zwischen dem Eigentümer des Grund und Bodens, dem Krieger, dem Richter und dem Priester dar, die zu dem Zwecke geschaffen wurde, jedem unter ihnen die Herrschaft über das Volk und die Ausbeutung der Armut zu sichern. Das war der Ursprung des Staates, das war seine Geschichte, und das ist auch heute noch sein Wesen. Sich die Abschaffung des Kapitalismus unter Aufrechterhaltung und mit Hilfe des Staates vorzustellen, ist nach unserem Dafürhalten ebenso verfehlt, als wollte man die Befreiung der Arbeiter durch Vermittlung der Kirche oder des Cäsarismus erreichen. Denn der Staat wurde ja gerade geschaffen, um bei der Entwicklung des Kapitalismus mitzuhelfen, und mit ihm wuchs er stetig heran. Gewiss gab es in den dreißiger, vierziger und auch fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts viele Träumer, die vom sozialistischen Cäsarismus träumten: Diese Tradition lebt von Babeuf bis in die heutigen Tage. Doch sich von diesen Illusionen beim Eintritt in das 20. Jahrhundert nähren zu wollen, wäre tatsächlich zu naiv. Einer neuen ökonomischen Organisationsform muss notwendigerweise eine neue politische Organisationsform entsprechen. Erfolgt die Veränderung plötzlich durch eine Revolution oder allmählich auf dem Wege langsamer Evolution – so oder so müssen die beiden Veränderungen – auf politischem wie auf ökonomischem Gebiete – Hand in Hand vor sich gehen. Jeder Schritt zur ökonomischen Befreiung, jeder wirkliche Sieg über das Kapital wird auch ein Sieg über die Autorität sein, ein Schritt in Richtung politischer Befreiung: das bedeutet die Befreiung vom Joch des Staates durch die freie Vereinbarung aller Beteiligten auf territorialer, beruflicher und funktionaler Hinsicht.
*** 12. Die Taktik des Anarchismus Wenn sich der Anarchismus in seinen Forschungsmethoden wie in seinen Grundprinzipien so sehr von der akademischen Wissenschaft und den Sozialdemokraten unterscheidet, so ist es naheliegend, dass er auch in der Taktik andere Wege gehen muss. Bei unserer Art, das Recht, das Gesetz und den Staat zu beurteilen, können wir in der fortwährend stärker werdenden Unterwerfung des Individuums unter den Staat keine Garantie für Fortschritt, schon gar nicht ein Weg in Richtung sozialer Revolution sehen. Von oberflächlichen Kritikern der Gesellschaft wird häufig behauptet, dass der moderne Kapitalismus seinen Ursprung in der “Anarchie der Produktion“, in der “Doktrin von der Nichtintervention des Staates“ habe, von der man behauptet, sie vertrete das Prinzip des “laisser aller, laisser faire“. Wir können diese Behauptungen nicht gelten lassen, denn wir wissen, dass sie einfach nicht wahr ist. Wir wissen sehr genau, dass der Staat im gleichen Augenblick, wo er dem Kapitalismus die volle Freiheit, sich mit Hilfe der Arbeit verelendeter Massen zu bereichern, gelassen hat, niemals und nirgends im Laufe des l9. Jahrhunderts es den Arbeitern überließ, zu tun, was sie wollten. Die Formel “laisser aller, laisser faire“ wurde nie angewandt. Warum soll man das Gegenteil behaupten? In Frankreich sprach selbst der schreckliche, “revolutionäre“ Konvent, also die Jakobiner, für diejenigen das Todesurteil, die streikten oder Koalitionen bzw. einen Staat im Staate bildeten! Was soll man da noch zu Kaiserreich, restauriertem Königtum oder der Bourgeoisrepublik sagen? In England hängte man noch im Jahre 1813 für Streikvergehen, und 1831 deportierte man die Arbeiter, welche die Union der Gewerkschaften Robert Owens gegründet hatten, nach Australien. Noch in den sechziger Jahren verurteilte man Streikende zu Zwangsarbeit, unter dem wohlbekannten Vorwand, die Freiheit der Arbeit zu verteidigen. Und selbst im Jahre 1903 setzte es ein Unternehmen in England durch, dass eine Gewerkschaft ihr 1.275.000 Francs dafür als Entschädigung zahlen musste, dass ihre Streikposten Arbeiter davon abhielten, sich in die Fabrik zu begeben. Und was soll man zu Frankreich sagen, wo die Erlaubnis, Gewerkschaften zu gründen, erst 1884 nach der anarchistischen Gärung in Lyon und jener der Bergwerksarbeiter in Montceaules-Mines erteilt wurde? Was zu Belgien, zur Schweiz (man denke an das Massaker von Airolo!) und vor allem zu Deutschland oder Russland? Ist es andererseits nötig, in Erinnerung zu rufen, wie der Staat den Arbeiter auf dem Land und in den Städten ins Elend treibt, mit seinen Steuern und seinen Monopolen, die er in einer Art geschaffen hat, die jene oft an Händen und Füßen gebunden dem Fabrikanten ausliefert? Ist es nötig zu berichten, wie man in England früher und auch noch heute den Gemeindebesitz zerstörte und zerstört, indem man den lokalen Herren, die früher nichts waren als Richter, niemals: Eigentümer, erlaubte, die Gemeindeländereien einzuzäunen und sich ihrer auf eigene Rechnung zu bemächtigen? Oder soll man davon berichten, dass der Boden in Russland in eben diesem Moment durch die Regierung Niklolaus des Zweiten den Bauernkommunen gestohlen wird? Bedarf es endlich der Erwähnung dessen, wie alle Staaten heute ohne Ausnahme riesige Monopole aller Arten begründen, ohne von jenen zu sprechen, die man in eroberten Ländern, wie Ägypten, Tonkin oder Transvaal, schafft? Was soll man von der “ursprünglichen Akkumulation“ sprechen, wie dies Marx tut, als ob es sich um eine Sache der Vergangenheit handelte, wo doch jedes Jahr von den Parlamenten neue Monopole auf dem Gebiete der Eisenbahnen, der Straßenbahnen, der Gas- und Wasserversorgung, der Elektrizität, des Schulwesens und so fort konstituiert werden? Mit einem Wort: Niemals, in keinem Staat, nicht für ein Jahr, nicht einmal für eine Stunde existierte das System des ‘laisser faire“. Der Staat hat immer – und macht es auch heute – das Kapital unterstützt und auch – direkt oder indirekt – geschaffen. Auch wenn es den bürgerlichen Nationalökonomen, welche das Elend der Massen als ein Naturgesetz hinzustellen sich bemühen, zu behaupten noch erlaubt ist, dass dieses System der “Nichtintervention“ existiert – wie aber können die Sozialisten in dieser Sprache zu den Arbeitern reden! Die Freiheit, sich der Ausbeutung zu widersetzen, hat bis heute niemals und nirgends bestanden. Überall musste sie Schritt für Schritt erobert werden; die Felder des Kampfes wurden dabei mit einer unerhörten Zahl an Opfern bedeckt. Diese sogenannte “Nichtintervention“, vielmehr: Hilfe, Schutz und Patronage des Staates, haben immer nur zu Gunsten der Ausbeuter existiert. Und es konnte gar nicht anders sein. Der Sozialismus – in welcher Form er sich auch einmal dem Kommunismus nähern möge – wird ihm eigene politische Ausdrucksform finden müssen. Er kann nicht von den alten politischen Formen profitieren, wie er auch nicht aus der religiösen Hierarchie und ihrem Unterricht oder aus dem Cäsarismus und der Diktatur samt ihren Theorien Vorteil ziehen kann. Auf die eine oder andere Weise wird er volksnaher, öffentlicher sein müssen als die Repräsentativregierung. Er wird weniger auf dem Prinzip der Vertretung beruhen und mehr Self-government werden müssen, mehr Regierung seiner selbst und durch sich selbst. Das war es, was das Proletariat von Paris im Jahre 1871, was die Gemeinde-Sektionen in Paris und in kleineren Städten 1793 -94 zu verwirklichen versuchten. Betrachten wir das gegenwärtige politische Leben in Frankreich, England und in den Vereinigten Staaten, so sehen wir tatsächlich eine sehr entschiedene Tendenz aufkeimen, die dahin zielt, selbständige städtische und ländliche Gemeinden für tausend verschiedene Bedürfnisse zu schaffen, die untereinander durch Föderativverträge verbunden sind, deren jeder einem bestimmten, deklarierten Zwecke dient. Diese Kommunen tendieren mehr und mehr dazu, Produzenten von notwendigen Annehmlichkeiten zu werden, welche die Bedürfnisse all ihrer Mitglieder befriedigen. Zu den kommunalen Straßenbahnen kommen das oft von föderierten Gemeinden von weit her herbeigeschaffte gemeinsame Wasser, das Gas, das Licht, die Energie für die Fabriken, sogar kommunale Kohlenbergwerke, Milchverarbeitungsbetriebe, Ziegenherden für die Lungenkranken (in Torquay), die Verteilung von warmem Wasser in den Häusern, kommunale Suppen usw. Es sind zweifellos nicht der in Deutschland herrschende Kaiser oder die Jakobiner, die augenblicklich die Schweiz regieren, welche solche Ziele ansteuern: Sie versuchen – den Blick auf die Vergangenheit gerichtet – im Gegenteil, alles in den Händen des Staates zu zentralisieren und jede Spur von territorialer und administrativer Unabhängigkeit zu vernichten. Es ist nötig, den fortschrittlichen Teil der europäischen und amerikanischen Gesellschaft zu betrachten. Dort finden wir eine ausgesprochene Tendenz, sich außerhalb des Staates zu organisieren und ihn zunehmend zu ersetzen, indem man einerseits wichtige wirtschaftliche Funktionen übernimmt, andererseits jene Funktionen des Staates, die er weiterhin als die seinen betrachtet, aber niemals angemessen auszufüllen verstand. Die Kirche hatte stets die Aufgabe, das Volk in einer intellektuellen Knechtschaft zu halten. Die Aufgabe des Staates bestand darin, es – halbverhungert – in der wirtschaftlichen Sklaverei zu halten. Heute tritt man daran heran, die beiden Joche abzuschütteln. Angesichts dieser Sachverhalte können wir in der immer stärker werdenden Unterwerfung unter den Staat keine Garantie für Fortschritt sehen. Die Institutionen ändern nicht ihren Charakter den Theoretikern zuliebe! Wir suchen den Fortschritt vielmehr in einer möglichst vollständigen Befreiung des Individuums: in einer möglichst ausgedehnten Entwicklung der Initiative des Individuums und der Gruppe sowie einer gleichzeitigen Einschränkung der staatlichen Funktionen, nicht ihrer Erweiterung. Den Weg in den Fortschritt stellen wir uns vor als einen Weg in die Beseitigung der Regierungsautorität, die sich der Gesellschaft vor allem seit dem 16. Jahrhundert aufgenötigt und ständig seinen Wirkungskreis erweitert hat. Sodann führt er zu einer möglichst breiten Entwicklung des Elements der Verständigung, des auf eine bestimmte Zeit beschränkten Vertrages sowie der Unabhängigkeit aller Gruppierungen, die sich zu einem bestimmten Zweck bilden und die durch ihre Föderation schließlich die ganze Gesellschaft umfassen. Die Gesellschaft erscheint uns als etwas, was nie endgültig konstituiert ist, sondern stets erfüllt von Leben; demzufolge ändert sie immer wieder je nach den Bedürfnissen des Augenblicks die Form. Diese Ansicht von der Möglichkeit eines Fortschritts sowie unsere Anschauungen darüber, was für die Zukunft wünschenswert ist (alles, was zur Steigerung unseres Glücks beiträgt), führen uns notwendigerweise dazu, unsere eigene Taktik für den Kampf auszuarbeiten. Sie besteht in der Entwicklung der größtmöglichen Summe individueller Initiative in jeder Gruppe und bei jedem Individuum. Die Einheit des Handelns ergibt sich durch die Einheit des Ziels und die Macht der Überzeugung, welche jede frei ausgesprochene, ernsthaft diskutierte und als richtig befundene Idee besitzt. Diese Tendenz drückt der gesamten Taktik der Anarchisten sowie dem inneren Leben ihrer Gruppen den Stempel auf. Wir sind daher der Meinung, dass für die Einsetzung eines in den Händen einer Regierung zentralisierten Staatskapitalismus zu arbeiten, gegen die Richtung des Fortschritts zu arbeiten bedeutet; Fortschritt bedeutet gerade, neue Organisationsformen der Gesellschaft außerhalb des Staates zu suchen. In dieser Unfähigkeit der Staatssozialisten, das wirkliche historische Problem des Sozialismus zu verstehen, sehen wir einen groben Mangel – ein Weiterleben von absolutistischen und religiösen Vorurteilen, gegen die wir ankämpfen. Es bedeutet unseres Erachtens einen historischen Fehler und grenzt an ein Verbrechen, den Arbeitern zu sagen, sie könnten sozialistische Strukturen einführen, wenn sie die Staatsmaschine nicht beseitigten, sondern nur die an der Macht befindlichen Personen auswechselten; sie daran zu hindern, anstatt ihnen zu helfen, ihr geistiges Streben auf die Suche nach neuen, ihnen eigenen Lebensformen zu richten. Schließlich erforschen wir – da wir uns ja als eine revolutionäre Partei verstehen – in der Geschichte insbesondere die Ursachen und die Entwicklung der früheren Revolutionen. Wir sind bestrebt, die Geschichtsschreibung von ihren fälschlicherweise etatistischen Interpretationen zu befreien, die ihr bisher immer zugeordnet wurde. In der Geschichtsschreibung der verschiedenen Revolutionen finden wir fast nie das Volk; wir erfahren nichts über die Genese der Revolution. Die Phrasen über den verzweifelten Zustand des Volkes am Vorabend der Erhebung, die man in jedem Geschichtswerke wiederholt findet, sagen uns noch nichts darüber, wie inmitten dieser Verzweiflung die Hoffnung auf eine mögliche Besserung auftauchen konnte, woher der Geist der Revolte kam und wie er sich verbreitete. Deshalb wenden wir uns nach der Lektüre dieser Geschichtswerke an die primären Quellen, um dort Aufschluss darüber zu finden, wie das Erwachen im Volke vor sich ging und welchen Anteil das Volk an den Revolution hatte. Auf diesem Wege bekommen wir von der großen französischen Revolution ein ganz anderes Bild, als es Louis Blanc entwarf, der sie vor allem als eine große, vom Club der Jakobiner geleitete Bewegung hinstellte. Wir sehen in ihr in erster Linie eine große Volksbewegung und verstehen die Rolle, welche hauptsächlich die Bauern und die anderen Bewohner der ländlichen Gebiete einnahmen: “Ein jedes Dorf hatte seinen Robespierre“, sagte sehr treffend der Abbé Grégoire, der Berichterstatter des Komitees der Jacquerie, zum Historiker Schlosser. Es war eine Bewegung, die zum hauptsächlichen Ziel die Abschaffung der Reste der lehensherrlichen Leibeigenschaft hatte, darüber hinaus die Wiedereroberung des Landes durch die Bauern, das den Dorfgemeinden durch allerlei Räuber entrissen worden war. Und darin waren sie, nebenbei gesagt, erfolgreich, namentlich im Osten von Frankreich. In der revolutionären Situation, die durch die Erhebungen der Bauern während vier Jahren geschaffen wurde, entwickelte sich einerseits vor allem in den Städten eine Tendenz zu kommunistischer Gleichheit. Andererseits wuchs die Macht der Bourgeoisie, die in einer intelligenten Weise ihre Autorität an der Stelle der zerstörten Autorität des Königtums und des Adels aufbaute. Für dieses Ziel kämpften die Bourgeois hartnäckig und wenn nötig grausam, um einen mächtigen, zentralisierten Staat zu errichten, der alles absorbierte und ihnen das Recht auf Eigentum sicherte (z.T. auf Güter, die sie eben erst während der Revolution erobert hatten). Gleichzeitig schufen sie sich die volle Freiheit, die Armen auszubeuten und mit den nationalen Reichtümern ohne jegliche gesetzliche Einschränkung zu spekulieren. Diese Autorität, dieses Recht zur Ausbeutung, dieses einseitige laissez faire verschaffte sich die Bourgeoisie tatsächlich. Und um sie aufrechtzuerhalten, schuf sie sich ihre eigene Form der Politik: die repräsentative Regierung im zentralisierten Staat. Darin fand Napoleon der Erste den bereits vorbereiteten Boden für sein Kaiserreich. Das Gleiche fünfzig Jahre später: Napoleon der Dritte fand im Traum von einer demokratisch-zentralistischen Republik, der sich in Frankreich gegen 1848 entwickelte, die – bereits vorbereiteten – Elemente des Zweiten Kaiserreichs. An dieser zentralisierten Macht, die sechzig Jahre lang jedes Leben tötete (sei es lokal oder sei es außerhalb des Staates: in beruflichen Bestrebungen, dem Berufsverband, privaten Assoziationen, der Kommune usw.), leidet Frankreich bis heute. Der erste Versuch, dieses Joch abzuschütteln, – ein Versuch, der eine neue historische Ära einleitete – wurde erst 1871 unternommen. Wir gehen sogar weiter und behaupten: Solange die Staatssozialisten ihren Traum von der Vergesellschaftung der Arbeitsinstrumente in den Händen des zentralisierten Staates nicht aufgeben, wird die zwangsläufige Folge ihrer staatskapitalistischen und staatssozialistischen Bestrebungen der Misserfolg ihrer Träume und die Militärdiktatur sein. Ohne hier in eine Analyse der verschiedenen revolutionären Bewegungen eintreten zu wollen, die unsere Betrachtungsweise bestätigen, genügt es zu sagen, dass wir die kommende soziale Revolution nicht als eine jakobinische Diktatur erwarten, auch nicht als eine von einem Konvent, einem Parlament oder einer Diktatur vorgenommene Umwandlung der Institutionen. Niemals ist eine Revolution derart vor sich gegangen, und wenn die gegenwärtige Arbeiterbewegung einen solchen Weg einschlüge, wäre sie zum Scheitern verurteilt, bevor sie irgend ein dauerhaftes Ergebnis erzielt hätte. Wir verstehen die Revolution als eine volksnahe Bewegung, welche sich in die Breite ausdehnt und in der das Volk in jeder Stadt, in jedem Dorf der aufständischen Regionen den Neuaufbau der gesellschaftlichen Organisation selbst in die Hand nimmt. Das Volk – die Bauern und die städtischen Arbeiter – muss die konstruktive, aufbauende Tätigkeit selbst beginnen, nach mehr oder weniger weitgefaßten kommunistischen Prinzipien und ohne auf Befehle und Anordnungen von oben zu warten. Zuerst wird es vor allem darum gehen, allen Nahrung und Wohnung zu verschaffen, und dann darum, das für die Ernährung, Wohnung und Kleidung aller Notwendige zu produzieren. Auf eine Regierung setzen wir keine Hoffnung, sei sie durch Gewalt oder durch Wahlen begründet, sei es “die Diktatur des Proletariats“, von der man in den vierziger Jahren in Frankreich sprach und von der in Deutschland heute noch die Rede ist, seien es durch Wahlen oder Akklamation eingesetzte “provisorische Regierungen“ oder ein “Konvent“. Wir behaupten im voraus, dass sie nichts vollbringen kann – nicht etwa, weil eine solche Institution wider unseren persönlichen Geschmack ist, sondern weil die ganze Geschichte uns lehrt, dass jene Männer, die eine revolutionäre Welle in eine Regierung schwemmte, nicht auf der Höhe ihrer Aufgaben waren. Denn bei der Aufgabe einer Neuorganisation der Gesellschaft auf Grund neuer Prinzipien erleiden isolierte Männer – wie intelligent und aufopferungsfreudig sie auch sein mögen – unfehlbar Schiffbruch. Hierzu bedarf es des Kollektivgeistes der Massen, der an konkreten Dingen arbeitet: das gepflügte Feld, das bewohnte Haus, die arbeitende Fabrik, die Eisenbahnen, die Wagen einer bestimmten Linie, die Dampfschiffe. Einzelne Personen können den gesetzlichen Ausdruck, die Formulierung für die Zerstörung alter sozietärer Formen finden, wenn sich die Zerstörung bereits vollzieht. Darüber hinaus können sie dieses zerstörerische Werk ein wenig fördern und, was in einem Teil des Landes sich anbahnt, auf ein größeres Gebiet ausdehnen. Aber die Zerstörung durch ein Gesetz erzwingen ist völlig unmöglich, wie es unter anderem die Revolution von 1789 – 1794 bewiesen hat. Was die neuen Formen des Lebens betrifft, die während einer Revolution unter den Trümmern der vorangehenden zu keimen beginnen, so kann keine Regierung ihren eigenen Ausdruck finden, solange die neuen Formen sich nicht selber im Werk des Neuaufbaus durch die Massen an tausend Punkten zugleich bilden. Wer hätte es vor 1789 tatsächlich geahnt, wer hätte es ahnen können, welche Rolle die Gemeinden, im speziellen die Gemeinde von Paris und ihre Sektionen in den revolutionären Ereignissen von 1789 – 93 spielen würde? Man kann die Zukunft nicht in Gesetze fassen. Alles, was man vermag, ist, die wesentlichsten Tendenzen vage zu ahnen und ihnen den Weg zu ebnen. Das ist unsere Aufgabe. Es ist klar, dass bei einer derartigen Auffassung von sozialer Revolution sich der Anarchismus nicht durch ein Programm verleiten lässt, das “die Eroberung der politischen Macht im gegenwärtigen Staate“ zum Ziele hat. Wir wissen, dass diese Eroberung auf pazifistischem Wege nicht möglich ist. Die Bourgeoisie wird ihre Macht nicht kampflos aufgeben; sie wird sich nicht enteignen lassen, ohne Widerstand zu leisten. Doch sobald die Sozialisten Regierungspartei werden und sich mit der Bourgeoisie in der Macht teilen, wird notwendigerweise ihr Sozialismus verblassen – wie das bereits der Fall ist. Ohne das wird das Bürgertum, das in Bezug auf Zahl und Intelligenz bei weitem mächtiger ist, als man es nach der sozialistischen Presse meinen sollte, ihnen nicht das Recht zugestehen, die Macht mit ihm zu teilen. Auf der anderen Seite wissen wir auch: Falls es einer Erhebung gelingt, Frankreich, England oder Deutschland eine provisorische sozialistische Regierung zu verschaffen, würde sie ohne die konstruktive, spontane Aktivität des Volkes völlig machtlos bleiben und bald zu einem Hindernis, einer Bremse für die Revolution werden. Sie würde zum Trittbrett für einen Diktator, für einen Repräsentanten der Reaktion. Durch das Studium jener Perioden, in denen sich soziale Revolutionen vorbereiteten, gelangen wir zu der Überzeugung, dass keine Revolution im Widerstand oder im Angriff eines Parlaments oder irgend einer andern repräsentativen Körperschaft ihren Ursprung hatte. Alle Revolutionen sind vom Volke ausgegangen. Noch nie ist eine Revolution aufgetaucht, bewaffnet vom Scheitel bis zur Sohle wie die aus dem Hirn Jupiters geborene Minerva. Alle haben neben ihrer “Inkubationszeit“ ihre Phase der Entwicklung durchlebt, während der die Volksmassen anfangs äußerst bescheidene Forderungen aufstellten, dann allmählich, und zwar recht langsam, einen mehr und mehr revolutionären Geist entwickelten. Sie wurden kühner, wagten mehr, sie gewannen Vertrauen, und aus ihrer Lethargie und Verzweiflung heraustretend erweiterten sie mehr und mehr ihr Programm. Es brauchte Zeit, um aus den anfänglich “bescheidenen Vorhaltungen“ revolutionäre Forderungen werden zu lassen. Tatsächlich bedurfte es in Frankreich vier Jahre (1789–93), bis sich eine republikanische Minorität bildete, die genügend mächtig war, sich durchzusetzen. Die Phase der “Inkubation“ verstehen wir folgendermaßen: Zuerst revoltieren isolierte Individuen, die von dem, was sie um sich herum sehen, zutiefst angeekelt sind. Viele von ihnen gehen, ohne dass sie etwas erreicht hätten, zugrunde. Doch die Gleichgültigkeit der Gesellschaft wurde durch diese verlorenen Wachposten wachgerüttelt. Die Zufriedensten und die Borniertesten müssen sich fragen: “Warum geben die jungen, ehrlichen, kraftvollen Menschen ihr Leben?“ Es ist nicht möglich, weiterhin gleichgültig zu bleiben; man muss sich dafür oder dagegen aussprechen. Das Denken beginnt zu arbeiten. Nach und nach durchdringt der gleiche Geist der Revolte kleine Menschengruppen. Sie beginnen ebenfalls zu revoltieren, bald mit der Hoffnung auf einen Teilerfolg, z.B. demjenigen, einen Streik zu gewinnen, Brot für die Kinder zu erhalten oder sich von einigen verhassten Funktionären zu befreien – bald aber ohne Hoffnung auf Erfolg: lediglich Revolten, weil es unmöglich wurde, länger zu warten. Nicht eine, zwei oder zehn ähnliche Revolten, sondern Hunderte von Erhebungen gehen jeder Revolution voran. Es gibt eine Grenze für jede Geduld. Man sieht es zur Zeit sehr gut in den Vereinigten Staaten. Man erwähnt zuweilen die friedliche Befreiung von der Leibeigenschaft in Russland; doch man vergisst oder man weiß nicht, dass eine lange Reihe von Erhebungen dieser Emanzipation voranging und sie schließlich auch herbeiführte. Diese Revolten begannen in den fünfziger Jahren – vielleicht wie ein Echo auf 1848 oder auf die Aufstände in Galizien im Jahre 1846. Jedes Jahr breiteten sie sich in Russland weiter aus; gleichzeitig wurden sie ernsthafter und nahmen eine zuvor nicht gekannte Schärfe an. Das dauerte bis 1857, als Alexander der Zweite seinen Brief an den Adel Litauens schrieb, der das Versprechen enthielt, die Leibeigenen zu befreien. Das Wort Herzens (“besser die Freiheit von oben zu geben, als zu warten, bis sie von unten kommt“), das Alexander der Zweite vor dem sklavenhaltenden Adel in Moskau wiederholte, war keine vergebliche Warnung: es antwortete auf die Wirklichkeit. So ist es immer, wenn eine Revolution sich nähert. Als generelle Regel kann man auch sagen, dass der Charakter einer Revolution sich danach bemisst, welchen Charakter die sie vorausgehenden Revolten annehmen. Mehr als das: Man kann es als eine historische Tatsache nehmen, dass keine ernsthafte politische Revolution sich verwirklichen konnte, wenn sie – war sie einmal begonnen – nicht von einer großen Zahl lokaler Erhebungen begleitet war und wenn die Gärung nicht die Form von Erhebungen, an Stelle von individuellen Racheakten, annahm, wie es in Russland in den Jahren 1906 und 1907 der Fall war. Demzufolge ist es kindisch und absurd, auf eine soziale Revolution zu hoffen, die nicht durch Revolten eingeleitet wird, welche den Geist der kommenden Revolution bestimmen. Diese Revolten zu verhindern versuchen, mit der Begründung, man bereite die allgemeine Erhebung vor, ist bereits kriminell. Doch die Arbeiter davon zu überzeugen versuchen, dass sie alle Wohltaten einer sozialen Revolution erringen würden, wenn sie sich auf eine Wahlagitation beschränkten, und all seine Galle auf jene aufständischen Teil-Akte zu vergießen, wenn diese sich in historisch revolutionären Nationen ereignen – dies stellt ein Hindernis für den revolutionären Geist und für jeden Fortschritt dar, ein ebenso unheilvolles Hindernis, wie es zu allen Zeiten die christliche Kirche war.
*** 13. Schlussfolgerungen Unsere bisherigen Ausführungen werden hier längere Erörterungen über die Prinzipien des Anarchismus oder über ein anarchistisches Aktionsprogramm unnötig machen und wahrscheinlich genügen, um die Stellung der anarchistischen Theorie im Rahmen der heutigen menschlichen Kenntnisse zu bestimmen. Der Anarchismus stellt den Versuch dar, aufgrund der durch die induktiv-deduktive Methode der Naturwissenschaften gewonnenen Verallgemeinerungen zu einer Wertung der menschlichen Institutionen zu gelangen. Er ist auch der Versuch, auf der Grundlage dieser Wertung den Weg der Menschheit in die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu finden, um so das größtmögliche Glück für jede Einheit in der menschlichen Gesellschaft zu gewinnen. Der Anarchismus ist das folgerichtige Resultat der intellektuellen Bewegung in den Naturwissenschaften, die gegen das Ende des 18. Jahrhunderts begann, dann durch die triumphierende Reaktion Europas nach dem Sturz der französischen Revolution gebremst wurde und mit dem Ende der fünfziger Jahre unter voller Entfaltung ihrer Kräfte wieder einsetzte. Die Wurzeln des Anarchismus liegen in der Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts. Doch erst nach der Renaissance der Wissenschaften zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte er seine vollständige Grundlage finden. Jene bedeutete für das Studium der menschlichen Institutionen und Gesellschaften eine Erneuerung auf naturwissenschaftlicher Basis. Die sogenannten “wissenschaftlichen Gesetze“, mit denen sich die deutschen Metaphysiker in den Jahren 1820 – 1830 begnügten, finden in der anarchistischen Theorie keinen Platz. Sie anerkennt keine andere Forschungsmethode als die wissenschaftliche, und sie wendet diese Methode auf die Wissenschaften an, die gemeinhin unter dem Namen Humanwissenschaften bekannt sind. Mit Hilfe dieser Methode sowie aller Forschungen, die unter ihrem Einfluss in der letzten Zeit gemacht wurden, bemüht sich der Anarchismus, den Teil der Wissenschaften, die speziell den Menschen betreffen, neu aufzubauen sowie unsere landläufigen Kenntnisse über das Recht, die Rechtspflege usw. sowie über die Ethnologie zu revidieren und sie zu verbreiten. Er stützt sich dabei auf die Werke seiner Vorläufer aus dem 18. Jahrhundert. Der Anarchismus stellt sich an die Seite des Individuums gegen den Staat, auf die Seite der Gesellschaft gegen Autorität, welche sie auf Grund historischer Bedingungen dominiert. Indem er sich auf die von der modernen Wissenschaft angehäuften Dokumente stützt, beweist der Anarchismus, dass die Autorität des Staates, dessen Unterdrückung heute mehr und mehr wächst, in Wirklichkeit nichts als eine aufgesetzte Struktur ist: schädlich und unnötig. Für uns Europäer existiert sie erst seit dem 15. und 16. Jahrhundert. Sie stellt eine aufgesetzte Struktur dar, die im Interesse des Kapitalismus errichtet wurde und die bereits im Altertum der Grund für den Sturz der Griechen und Römer war, ebenso für alle anderen Zentren der Zivilisation im Orient und in Ägypten. Die Autorität wurde im Laufe der Geschichte mit dem Ziel konstituiert, den Grundherrn, den Richter, den Krieger und den Priester für ihre gemeinsamen Interessen zu einigen. Sie bedeutete im Laufe der Geschichte stets ein Hindernis für die Versuche der Menschheit, sich ein einigermaßen freies und gesichertes Leben zu schaffen. Diese Autorität kann kein Werkzeug der Befreiung werden, ebenso wenig wie der Cäsarismus, der Imperialismus oder die Kirche Instrumente der sozialen Revolution werden können. In der politischen Ökonomie zieht der Anarchismus die Schlussfolgerung, dass das gegenwärtige Übel nicht in dem besteht, was sich der Kapitalist als “Mehrwert“ oder als Reingewinn aneignet, sondern darin, dass dieser Mehrwert oder Reingewinn überhaupt möglich sind. Der “Mehrwert“ existiert nur, weil Millionen von Menschen nichts haben, um sich davon zu ernähren, außer sie verkauften ihre Kräfte oder ihre Intelligenzen zu einem Preis, der die Bildung von “Mehrwert“ oder Reingewinn erst möglich macht. Aus diesem Grunde glauben wir, dass es in der Volkswirtschaft vor allem darauf ankommt, das Kapitel Konsum zu studieren, und bei einer sozialen Revolution wird es die erste Aufgabe sein, den Konsum neu zu organisieren, so dass Wohnung, Nahrung und Kleidung für alle gesichert sind. Unsere Ahnen von 1793 – 94 haben dies sehr gut begriffen. Die Produktion wird dann derart organisiert werden müssen, dass die primären Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft zuerst und so schnell wie möglich befriedigt werden können. Deshalb erwartet der Anarchismus von einer kommenden Revolution nicht eine bloße Ersetzung des Münzgeldes durch Arbeitsscheine, auch nicht die Ersetzung der heutigen Kapitalisten durch den kapitalistischen Staat. Er sieht in ihr einen ersten Schritt in Richtung freier Kommunismus ohne Staat. Hat der Anarchismus mit seinen Schlussfolgerungen recht? Das wird uns einerseits die wissenschaftliche Kritik seiner Grundlagen und andererseits das praktische Leben zeigen. Doch in einem Punkte ist der Anarchismus unzweifelhaft im Recht. Das ist sein Standpunkt, dass er das Studium der sozietären Institutionen als ein Kapitel der Naturwissenschaften betrachtet, dass er für immer der Metaphysik den Rücken gekehrt hat und dass er sich als Denkmethode derjenigen bedient, welche die moderne Wissenschaft sowie die materialistische Philosophie unserer Zeit begründete. Dieser Umstand hat zur Folge, dass die Irrtümer, denen die Anarchisten bei ihren Untersuchungen verfallen können, leichter erkannt werden. Will man unsere Schlussfolgerungen verifizieren, so ist dies nur mit Hilfe der wissenschaftlichen, induktiv-deduktiven Methode möglich. Jede Wissenschaft stützt sich heute auf sie, und jede Konzeption des Universums entwickelt sich entsprechend dieser Grundlage.


*** Erklärende Anmerkungen
Anthropologie: die Wissenschaft, die den Menschen studiert: seine physische Konstitution in verschiedenen Klimaten, seine Rassen, seine körperliche Entwicklung, die Entwicklung seiner Institutionen, seiner sozialen, moralischen und religiösen Auffassungen. Die Institutionen und die sozialen, moralischen und religiösen Auffassungen werden häufig als der Teil der “Ethnologie“ betrachtet. Unter der “anthropologischen Schule“ versteht man die Gesamtheit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert durchgeführten Arbeiten, die den Ursprung und die Entwicklung die sozialen Auffassungen und Institutionen aus der Sicht der Naturwissenschaft untersuchen.
Babeuf, François Noel (1764 – 1797): französischer Kommunist; nahm an der Revolution teil; Herausgeber von Le Tribun du Peuple, in welcher er die soziale Revolution predigt. Mit Buonarotti, Sylvain Maréchal, Darthé und anderen gründet er eine geheime Gesellschaft, die das Ziel hat, die Macht zu übernehmen und ein Direktorium zur Verwirklichung eines Kommunismus auf nationaler Basis zu konstituieren. Die Verschwörung wird entdeckt, und Babeuf wie Darthé werden guillotiniert. (Vgl. Filippo Buonarroti: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, Brüssel 1828)
Bacon, Francis (1561 – 1621): großer englischer Philosoph, der als der Vater der induktiven Methode betrachtet wird, da er – im Unterschied zu Scholastik und Metaphysik, die damals herrschten – als erster hervorhebt, Entdeckungen und Erfindungen könnten nur vorankommen, wenn der menschliche Geist sich daran zu begreifen gewöhne, dass die Beobachtung und das freie, methodische, experimentierende Forschen das einzige Mittel darstellten, die Naturgesetze zu entdecken, die wirklichen Ursachen der Erscheinungen zu verstehen und sie voraussagen zu können. Scholastische Gelehrsamkeit, die mit Worten spiele, müsse aufgegeben werden, und wirkliches Wissen sei allein durch Induktion zu erzielen. Dies ist der hauptsächliche Gedanke aller Werke Bacons; somit kann er als der Vater der modernen Naturwissenschaften, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt werden, betrachtet werden.
Bain, Alexander (1818 – 1903): einer der hauptsächlichsten englischen Repräsentanten jenes Systems der Philosophie, das sich nicht auf die abstrakten metaphysischen Spekulationen, sondern auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften, im speziellen auf die Physiologie und die Physio-Psychologie gründet, welche die Möglichkeiten des menschlichen Geistes und den Grad der Sicherheit in unseren Beurteilungen erforscht. Hauptwerke: Geist und Körper – Die Theorien über ihre gegenseitige Beziehung (1872), The senses and the intellect (1853), Logic (1870).
Bakunin, Michael (1814 – 1876): russischer politischer Schriftsteller, Revolutionär und unermüdlicher Agitator. Beteiligt sich an revolutionären Bewegungen seiner Zeit in Deutschland, der Schweiz, in Frankreich, Italien, Österreich und Polen. Nimmt an der Dresdener Revolution im Jahre 1849 teil, wofür er zum Tode verurteilt wird; von Sachsen wird er an Österreich und von da 1852 an Nikolaus den Ersten ausgeliefert. Nach zwei Jahren in einem österreichischen Gefängnis (angekettet an der Mauer seiner Zelle), nach sechs Jahren Festungshaft in St. Petersburg wird er 1856 nach Nikolaus‘ Tode freigelassen. Er wird nach Sibirien verbannt, von wo er 1861 flieht; in London trifft er seinen intimen Freund Alexander Herzen wieder. Er wird Mitglied der Internationale, wo er für einige Zeit die Seele der Juraföderation verkörpert. Diese Föderation setzt sich hauptsächlich aus Sozialisten der französischen Schweiz zusammen; gemeinsam mit den Föderationen aus Spanien, Italien sowie West- und Zentralbelgien repräsentiert sie im Gegensatz zu dem von Marx geführten Generalrat der Internationale einen föderalistischen, staatsfeindlichen Sozialismus, der die direkten Aktionen im Kampf gegen das Kapital befürwortet. Dieser Gegensatz führt zum Bruch der Föderationen mit dem Generalrat, der durch die Marxisten im Jahre 1872 nach New York übersiedelt wird, um dort zugrunde zu gehen. Die lateinischen Föderationen, die unter sich einen föderativen Vertrag abschließen, halten das Leben der Internationale bis 1878 aufrecht; danach verschwindet die Internationale – nach einer mit Verbissenheit geführten Verfolgung durch die Regierungen. Die lateinischen Föderationen begründen einerseits die moderne anarchistische Bewegung und andererseits den Syndikalismus. Bakunins Hauptwerke: Gott und der Staat (1882), Staatlichkeit und Anarchie (1873) sowie viele Pamphlete. Eine detaillierte Biographie wird von Max Nettlau in drei großen Bänden geschrieben, die er vervielfältigt und in den großen Bibliotheken deponiert. Eine kurze Zusammenfassung verfasst der Autor selbst: Michael Bakunin. Eine biographische Skizze, Berlin 1901. Beljaev, Ivan Dmitrievic (1810 – 1873): russischer Historiker, der besser als sonst jemand in vier Bänden mit dem Titel Erzählungen aus der russischen Geschichte das innere Leben der Städte Novgorod und Pskov – der mittelalterlichen Republiken Russlands – schildert. Er schreibt kurz vor der Abschaffung der Leibeigenschaft eine ausgezeichnete Geschichte der Bauern in Russland und veröffentlicht eine große Arbeit über die russischen Annalen.
Bentham, Jeremy (1748 – 1832): englischer Publizist, ein wegen seiner reformatorischen Arbeiten über die Gesetzgebung vom Konvent anerkannter Bürger Frankreichs. Er begründet die englische philosophische Schule des “Utilitarismus“, welche anerkennt, dass das Wohlbefinden der größtmöglichen Anzahl Menschen das Ziel einer Gesellschaft sei. Die Moral müsse zum Ziel haben, dem Individuum zu zeigen, dass das soziale Interesse mit dem persönlichen übereinstimme.
Bernard, Claude (1813 – 1878): französischer Physiologe. Beachtenswert nicht allein wegen seiner Entdeckungen in der Physiologie, sondern vor allem wegen seines materialistischen Geistes, in welchem seine Arbeiten gehalten sind, in denen er alle Prozesse des physiologischen und psychischen Lebens durch physikalische und chemische Prozesse zu interpretieren versucht. Seine Legons de physiologie expérimentale (1855) und seine Werke über die Wirkungen giftiger Stoffe (1857) und vor allem über die Physiologie des Nervensystems (1858) sind in der Wissenschaft epochemachend.
Berthelot, Marcellin (1827 – 1907): französischer Chemiker. Öffnet durch seine beachtenswerten Synthesen organischer Stoffe der Chemie einen neuen Weg: Indem er in verschiedenen Verhältnissen Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoffe miteinander mischt, erzeugt er im Labor verschiedene Stoffe, die mit lebenden Wesen in Verbindung treten oder Produkte ihrer Organe darstellen (Kohlenwasserstoff, Zucker, Alkohole, Öle, Äther, Fettstoffe usw.). Seine ganze Arbeit ist eine schöne Illustration dieser Einheit der physikalischen Kräfte, welche die größte Errungenschaft der Wissenschaft des 19. Jahrhundert darstellt. Berthelot vermag auch grenzenlose Hoffnungen zu nähren, hinsichtlich der Möglichkeiten der Wissenschaften, das menschliche Wohlbefinden zu fördern und in der Philosophie und deren Anwendungen den schönsten Traditionen der Enzyklopädisten treu zu bleiben. Er veröffentlicht gegen 1200 Arbeiten. Hauptwerke: Chimie or ganique fondée sur la synthese (1860), Leçons sur les méhodes générales de synthese en chimie organique (1864), Sur l‘isomérie (1866), Die chemische Synthese (1875).
Blanc, Louis (1811 – 1881): französischer Sozialist, Publizist und Historiker. Veröffentlicht 1840 sein Werk Organisation der Arbeit, das ihn zum Führer einer sozialistischen Schule macht. Da für ihn das Elend der Massen ihre Ursache im Individualismus der Gesellschaft und in der bürgerlichen Konkurrenz hat, verlangt er die Organisation der Arbeit auf der Grundlage der Solidarität und gleicher Löhne, die allen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und eine Arbeit nach ihren Möglichkeiten erlauben sollen. Blanc wird in die Regierung des 24. Februar 1848 nominiert und gründet eine “Kommission für die Arbeiter“, die ihren Sitz in Luxemburg hat. Wegen des Aufstandsversuchs vom 15. Mai verfolgt, muss er Frankreich verlassen und bleibt bis 1870 im Exil. Hauptwerke: Organisation der Arbeit (1840), Geschichte der Französischen Revolution (12 Bde., 1847–62), Geschichte der zehn Jahre von 1830 bis 1840 (1843).
Brehons: Bei allen freien Völkern (den Galliern, den Kelten, den Finnen u.a.), die nicht vom römischen Reich erobert werden und die während der ersten Jahrhunderte der christlichen Ära keine geschriebenen Gesetze besitzen, wird das traditionelle Recht, d.h. die früher von den Volksversammlungen gefassten Entscheide, im Gedächtnis aufbewahrt, vorwiegend von gewissen Familien, von gewissen Bruderschaften oder speziellen Gilden. Sie haben die Aufgabe, während der die Volksversammlungen begleitenden Feste das traditionelle Recht vor dem Volk zu rezitieren. Um das Recht besser in Erinnerung behalten zu können, wird es oft in rhythmisierte Sätze oder besser: in “Triaden“ gefasst. Diese Gewohnheit lebt noch bei den Nomadenvölkern Asiens weiter. In Irland werden diejenigen, die das Recht zu bewahren beauftragt sind, Brehons genannt. Sie kombinieren diese Aufgabe mit priesterlichen Funktionen. Die Sammlung des irischen Rechts, das im 5. Jahrhundert zusammengestellt wird, ist unter dem Namen Senchus Mar (“Große Überlieferung“) bekannt und stellt eines der beachtenswertesten Dokumente unter vergleichbaren Sammlungen dar. Einige moderne Historiker betrachten die Brehons und ähnliche Rezitatoren des Rechts wie Gesetzgeber, was jedoch nicht korrekt ist. Die Gesetzgeber sind die Volksversammlungen, welche mit ihren Entscheiden die Vorläufer des Rechts schaffen, während die irischen Brehons, die skandinavischen Knung, die russischen Knyaz usw. nur jene sind, denen man zutraut, den Wortlaut der Gesetze in ihren alten Formen aufzubewahren.
Büchner, Ludwig (1824 – 1901): deutscher Naturforscher und materialistischer Philosoph, hauptsächlich berühmt durch sein Werk Kraft und Stoff (1855), das einen Versuch darstellt, auf Grund moderner Naturwissenschaft eine atomistisch-materialistische Weltanschauung zu schaffen. Er wird ein leidenschaftlicher Verfechter des Darwinismus, den er in seinen Werken popularisiert: Der Mensch und seine Stellung in der Natur (1869), Liebe und Liebesleben in der Tierwelt (1886), sowie viele Beiträge zur Popularisierung der Wissenschaft. Alle seine Arbeiten tragen dazu bei, seine dynamische Auffassung von der Natur zu propagieren.
Buffon, Georges-Louis (1707- 1788), bekannter französischer Naturforscher. Begründer der vergleichenden Anatomie, macht als erster den Versuch, ein alles umfassendes System der Natur aufzubauen, in dem die Theologie keinen Platz hat, und einen vollständigen Kursus der Zoologie zu schreiben. Hauptwerk: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren bes. Teilen abgehandelt (1749 – 1804), dessen erste Bände eine allgemeine Skizze der Natur enthalten und deshalb von der Kirche verfolgt werden.
Buonarotti, Filippo (1761 – 1837), italienischer Jurist. Beeinflusst durch Rousseaus Schriften betreibt er revolutionäre Propaganda. Er wird aus der Toskana, aus Korsika und Sardinien verbannt. Schließt sich 1796 in Pans der kommunistisch-autoritären Verschwörung Babeufs an. Später beschreibt er sie in Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit (1828). In den dreißiger und vierziger Jahren ist er einer der hauptsächlichen Organisatoren der politischen Geheimgesellschaften der Kommunisten.
Burnouf, Emile (1821 – 1856): französischer Hellenist. Schreibt 1872 auf rationalistischer Grundlage ein wichtiges Werk über Religionswissenschaft.
Cabet, Etienne (1788 – 1856): französischer Kommunist, der seine Ideen in der Zeitschrift Le Populaire entwickelt und 1840 der anonym sein wichtigstes Werk veröffentlicht: Die Reise nach Ikarien; darin stellt er sein Ideal des autoritären Kommunismus dar. Es wird seither in verschiedenen Ausgaben neu aufgelegt, von der diejenige von 1842 und die folgenden eine Analyse von Cabets Vorläufer enthalten. Cabet versucht, seine Ideen 1848 in Texas, und später im Staate Illinois, in die Tat umzusetzen; es mißlingt. Doch die Kolonie Junges Ikarien existiert noch in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. (Vgl. darüber die Werke von Jules Prudhommeaux).
Clausius, Rudolf (1822 – 1888): deutscher Physiker, berühmt für seine Studien zur Optik, zur Elastizität und vor allem zur mechanischen Theorie der Wärme, die er als einen bewegten Zustand der Materie betrachtet. Entdeckt eines der Grundgesetze dieser Theorie. Hauptwerk: Abhandlung über die mechanische Wärmetheorie (1864 – 1867).
Comte, Auguste (1798 – 1857): Begründer des Positivismus. Seine hauptsächlichsten Werke sind: Cours de philosophie positive (1830 – 1842, dt.: Soziologie, Auszug in drei Bänden), ein monumentales Werk; es stellt den Versuch zu einer synthetischen Philosophie unseres Wissens vom rein wissenschaftlichem Standpunkt dar. Sein zweites großes Werk, Systeme depolitique positive ou Traité de sociologie instituant la riligion de l‘humanité, (1851 -1854), ist eine Anwendung der positiven Philosophie auf die zwischenmenschlichen Beziehung in der Gesellschaft. Doch es verfolgt – im Gegensatz zum Wesen der positiven Philosophie – auch zum Ziel, eine Religion zu begründen, deren Gegenstand die “Menschheit“ ist. Das Wort “positiv“ hat für Comte ursprünglich folgenden Sinn: Er stellt fest, dass alles menschliche Wissen mit theologischen Anschauungen beginnt (der Mensch hält z.B. den Donner für die Stimme eines zürnenden Gottes), dann zu metaphysischen Anschauungen übergeht, die in allen physischen Fakten eine abstrakte, imaginierte Kraft außerhalb der Naturerscheinungen (“Lebenskraft“, “Naturseele“ usw.) annehmen. Schließlich gelangt die Wissenschaft zum positiven Wissen, das sich nicht mit “letzten Ursachen“ oder “Wesen“ befaßt, sondern lediglich die Gesetze zu formulieren versucht, nach denen gewisse Ursachen unveränderbar von gewissen Folgen begleitet werden, d.h. Beziehungen zwischen den Phänomenen und ihrer zwangsläufigen Folge zu etablieren. Die Aussagen der positiven Philosophie basieren allein auf Erfahrung; etwas außerhalb der Erfahrung Stehendes kann nicht erkannt werden. Die positive Philosophie ist die Synthese der sechs wichtigsten Wissenschaften: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Soziologie. Sie weist jeden übernatürlichen Glauben zurück. Comtes Werk übt einen tiefgreifenden Einfluss auf alle Wissenschaften und auf die Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert aus. Die hauptsächlichen Nachfolger Comtes sind Littré und John Stuart Mill (vgl. diese beiden Stichworte).
Considerant, Victor (1802 – 1893): französischer sozialistischer Schriftsteller, Schüler und Fortsetzer Fouriers. Leitete die Zeitschriften La Phalange (1837) und La Démocratie pacifique (1845). In Texas versucht er ein Phanlanstère zu gründen. Entwickelt die Ideen Fouriers in einer Reihe von Werken von großem Wert; die hauptsächlichen sind: Destintée sociale, exposition élémentaire complète de la théorie sociétaire (1834 – 1845), Theorie der natürlichen und anziehenden Erziehung (1835), Bases de la politique positive: manifeste de l‚école sociétaire, fondé par Fourier (1841), Principes du socialisme: manifeste de la démocratie pacifique (zuerst 1843, erweiterte 2. Aufl. 1847), Le socialisme devant le vieux monde ou le vivant devant les morts (1848), eine Zeitschrift verschiedener sozialistischer Schulen.
Darwin, Charles (1809 – 1882): englischer Naturwissenschafter, der mit seinen Werken Über die Entstehung der Arten im Tier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung (1859), Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871), Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation (1868) usw. eine wahre Revolution in den Ideen auslöst. Der Übergang bzw. die Veränderung der verschiedenen Arten durch den Einfluß des Milieus oder durch den Nicht-Gebrauch von Organen unter neuen Lebensbedingungen ist bereits durch Buffon angenommen worden. Lamarck propagiert und verteidigt diese Annahmen seit 1809; später findet er einen Mitstreiter in Geoffroy Saint- Hilaire. Darwins Werk, das sich auf dreißig Jahre Forschung, vielfältiger Beobachtungen und Experimente gründet, ruft mit einem Schlag die Aufmerksamkeit der Forscher hervor. Es findet trotz des Widerstandes der Akademien, der Universitäten und der Kirchen schnell den Beifall der gebildeten Menschen. Die Theorie vom “Kampf ums Dasein“ wird in der damaligen Gesellschaft viel leichter aufgenommen als diejenige der direkten Einwirkung des Milieus und der Bildung der Arten unter dem Einfluss des Milieus, die Lamarck vertritt. Darwin selbst beeilt sich, die lamarckschen Faktoren anzuerkennen, je mehr er in seinen Forschungen vorankommt (z.B. in Das Variieren der Tiere und Pflanzen ...). Er bemüht sich in Die Abstammung des Menschen, die übertriebene Bedeutung, welche die Vereinfacher dem “Kampf ums Dasein“ gegeben haben, zu mildern.
Diderot, Denis (1713 – 1784): französischer Philosoph. Nachdem er wegen seiner Schrift Philosophische Gedanken (1846) verfolgt und wegen seinem Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden (1749) gar mit Gefängnis bestraft wurde, beginnt er das Projekt der Enzyklopädie, ein riesiges Werk für seine Zeit, das er in 21 Jahren (1751 – 1772) mit Hilfe von D‘Alembert, Holbach u.a. trotzdem zu einem guten Ende führt, gegen den Widerstand und die Intrigen der Priesterschaft und der zivilen Autoritäten.
Enzyklopädisten: die Begründer und Mitarbeiter der großen französischen Enzyklopädie. Diderot, D ‘Alembert, Buffon, Condillac, Helvetius, d‘Holbach, Mably, Turgot usw. arbeiten daran mit. Die Bedeutung dieses Werks liegt vor allem dann, dass es nicht allein alles menschliche Wissen zusammenzufassen sucht und die Naturwissenschaften, Mathematik, Geschichte, Kunst und Literatur mit der gleichen Objektivität behandelt, sondern dass es auch zum gemeinsamen Organ für das nicht-religiöse Denken Frankreichs im 18. Jahrhundert wird. Der Name Enzyklopädisten wird daher häufig auf alle jene angewandt, welche die philosophischen Ideen der Enzyklopädie teilen.
Fechner, Gustav (1801 – 1887): deutscher Physiologe und Philosoph. Obwohl er Metaphysiker und Schüler Schellings ist, beginnt er nichtsdestotrotz die Psychologie auf einer rein physiologischen, experimentellen Grundlage zu studieren. Für ihn sind Materie und Geist von gleichem Wesen; sie stellen nur zwei unterschiedliche Arten dar, in denen die menschliche Intelligenz die gleichen Phänomene erfaßt. Sie folgen den gleichen Gesetzen. Seine Elemente der Psychophysik (1860) sind für die Psychologie epochemachend.
Fourier, François-Charles (1772- 1837): mit Saint-Simon und Robert Owen einer der drei hauptsächlichen Begründer des Sozialismus. Der Kernpunkt seiner Theorie besteht darin, dass die volle und freie Entfaltung der menschlichen Natur die wichtigste Bedingung für das Glück und die Tugend darstellt, während Elend und Kriminalität zwei unvermeidliche Folgen des Zwanges sind, mit dem die Gesellschaft im Widerspruch zur Natur die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse behindert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines vollständigen Neuaufbaus der Gesellschaft auf neuen kooporativen Grundlagen. Hauptwerke: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimrnungen (1808), Traitté de l‚association domestique-agricole (1819), Le nouveau monde industriel er sociétaire (1829). Vgl. die Studie von Charles Pellarin: Charles Fourier, sa vie, sa theorie, 4. Aufl., Paris 1849. Ein Phalanstère, das einen Teil von Fouriers Ideen zu verwirklichen sucht, wird in Guise von Godin Lemaire gegründet. Fouriers Nachfolger bilden eine wichtige Schule, zu denen Leute wie Considérant, Pierre Leroux und viele andere gehören.
Godwin, William (1756 – 1836): englischer politischer Schriftsteller und Historiker. Sein wichtigstes Werk: An enquiry concerning the principles of political justice, and its influence on general virtue and happiness (2 Bde., 1793). Unter “politischer“ Gerechtigkeit versteht Godwin einen Zustand, in welchem das gesellschaftliche Leben von den Prinzipien der Moralität und Wahrhaftigkeit beeinflusst wird. Er zeigt in seinem Werk, dass jede Regierung, allein schon durch die bloße Tatsache ihrer Existenz, durch ihr Wesen, eine Entwicklung der öffentlichen Moral im Wege steht. Er sieht den Tag kommen, wo jedermann, frei von Zwang und nach eigenem Wunsche handelnd, sich zum Wohle der Gemeinschaft verhält, da er durch die Prinzipien der reinen Vernunft geleitet wird.
Grove, William Robert (1811 – 1896): englischer Physiker. Veröffentlicht 1846 eine bemerkenswerte Arbeit über On the correlation of physical forces und 1856 ein weiteres Werk zu diesem Thema, um zu beweisen, dass der Ton, die Wärme, das Licht, die Elektrizität und der Magnetismus keine “Substanzen“ oder isolierte Gebilde sind, wie man zuvor gesagt hat, sondern nichts anderes als verschiedene Formen von Molekularbewegungen. Die mechanische Bewegung kann in Ton, Licht, Hitze, Elektrizität und Magnetismus umgewandelt werden, und umgekehrt kann Licht oder Elektrizität in Hitze, Magnetismus, Ton und mechanische Bewegung umgeformt werden. Grove wagt auch die Frage aufzuwerfen, ob die Schwerkraft nicht ein Resultat aus diesen verschiedenen Arten von Bewegungen sei. Jeder in der Mechanik in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert erzielte Fortschritt ist eine Anwendung dieses fundamentalen physikalischen Prinzips: das der Transformation der verschiedenen physikalischen Kräfte. Haeckel, Ernst (1834 – 1919): deutscher Zoologe und Philosoph. Er ist ein ergebener Mitstreiter Darwins und veröffentlicht drei beachtenswerte Werke: Generelle Morphologie der Organismen (1866), Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), Anthropgenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. Keimes- und Stammes-Geschichte (1874). Später wird er zum Verteidiger des “Monismus“ als Bindeglied zwischen der Religion und der Wissenschaft. Darüber veröffentlicht er zwei Werke, die zwar ein großes Echo finden, jedoch die Erwartungen, die man an ihn stellen könnte, nicht erfüllen: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft (1892) und Die Welträtsel (1899).
Hegel, Georg Wilhelm (1770 – 1831): deutscher metaphysischer Philosoph, der in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts einen großen Einfluss ausübt. Für ihn ist die Idee das universelle Prinzip, das sich in verschiedenen Seinsformen manifestiert. Sein System gliedert sich in drei große Gedankenkreise: Der erste umfasst die Logik, die Wissenschaft von der “Idee an sich“. Der zweite Teil, die Philosophie der Natur, handelt von der “veräußerlichten“ Idee in den Dingen der Natur. Im dritten Teil, der Philosophie des Geistes, zeigt Hegel, wie die “Idee an sich“, nach dem sie sich in der Natur “veräußerlicht“ hat, zu sich als Geist zurückkommt und so ihre vollendete Verwirklichung erfährt (These, Antithese, Synthese). Hauptwerke: Die Phänomenologie des Geistes (1807), Wissenschaft der Logik (1812–13), Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte (1837).
Helmholtz, Hermann Ludwig (1821 – 1894): deutscher Physiologe. Veröffentlicht 1847 sein beachtenswertes Werk Über die Erhaltung der Kraft, das eine der Grundlagen der wissenschaftlichen, materialistischen Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhundert darstellt. Ein weiteres Werk ist das Handbuch der physiologischen Optik (1856 – 1867). Herzen, Alexander (1812- 1870): russischer politischer Schriftsteller. Nachdem er in Russland wegen seiner Meinungen verfolgt wurde, geht er nach Paris, wo er mit Proudhon Le Peuple gründet. Nach dem 13. Juni 1849 wird er aus Frankreich ausgewiesen. In der Folge der Niederlage der europäischen Revolution von 1848 schreibt er ein Buch von außergewöhnlicher Schönheit: Vom anderen Ufer, das eine Kritik der Revolution aus sozialistischer Sicht enthält. Später lebt er in London und gründet die erste freie russische Druckerei und die Zeitschrift Kolokol, an der sein enger Freund Ogarew und auch Turgenew mitarbeiten und die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland ausübt. Er greift mit einer seltenen Kraft die Leibeigenschaft und die Autokratie an. Seine wichtigsten Werke: Vom anderen Ufer (1850), Briefe aus Italien und Frankreich (1847 – 1849) und die Autobiographie Mein Leben – Memoiren und Reflexionen (1868), die über ihren politischen Gehalt hinaus von einer großen literarischen Schönheit ist.
Hobbes, Thomas (1588- 1679): englischer Philosoph und politischer Schriftsteller. Am Vorabend der Revolution von 1648 eindeutig Royalist; er ist gezwungen, nach Frankreich zu flüchten. Hauptwerke: Vom Bürger (1642), Leviathan oder Form, Stoff und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates (1651), Vom Körper (1655). Das Recht, so sagt er, ist die Macht: Nichts ist gerecht oder ungerecht in sich. Er betrachtet die primitiven Menschen als Wesen, die sich untereinander in fortwährendem Kampf befinden. In der Furcht der Menschen voreinander und im gemeinsamen Elend sieht er die Hauptursache für die Entstehung des Staates. Eine starke Autorität sei notwendig, um den Frieden zu garantieren und um die Existenzbedingungen der Menschen zu verbessern. Demzufolge ist er ein entschiedener Verfechter der absoluten Rechte des Königs, gleichzeitig ein Feind der Kirche als politischer Autorität. Er ist der erste, der eine materialistische Weltanschauung ohne Religion formuliert.
Holbach, Paul Henri (1723 – 1789): französischer Philosoph, der gemeinsam mit den Enzyklopädisten eine Systematik der Wissenschaften auf offen materialistischer Grundlage zu erarbeiten sucht. Er veröffentlicht sie in seinem grundlegenden Werk System der Natur (1770). In seinen folgenden Werken zeigt er, dass die Religion nicht nur unnötig, sondern für die Sittlichkeit und das Glück eines Volkes schädlich sei. Vgl. Das entschleierte Christentum (1756), Die allgemeine Ethik (1776), Die natürliche Politik (1773).
Hutcheson, Francis (1694 – 1746): einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten Schottischen Philosophenschule. Er bemüht sich zu zeigen, dass wir wohl die Motive unseres Handelns in egoistische und altruistische einteilen, jedoch nur den letzteren sowie den durch sie bedingten Handlungen zustimmen. Dies sei auf ein “moralisches Empfinden“ zurückzuführen, das uns durch die Natur verliehen worden sei. Hauptwerk: Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue (1725). Huxley, Thomas Henry (1825 – 1895): englischer Biologe, Autor eines ausgezeichneten Werks über die vergleichende Anatomie der Tiere. Wird ein Freund und leidenschaftlicher Mitstreiter Darwins. Bekannt vornehmlich durch seine kühnen Theorien über die Evolution und den tierischen Ursprung des Menschen. Hauptwerk: Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (1863).
Induktiv-deduktive Methode: Die Methode der Naturwissenschaften, der wir die immensen Fortschritte in den Wissenschaft des 19.Jahrhunderts verdanken. Sie beinhaltet folgendes: 1. Durch Beobachtung und Experiment sucht man eine Kenntnis der Tatsachen zu gewinnen, welche den Gegenstand der Forschung betrifft. 2. Man diskutiert diese Tatsachen und sieht, ob sie zu einer Verallgemeinerung (d.h. zu einer generellen Bestätigung hinsichtlich einer großen Zahl und einer großen Spannbreite der Fakten) oder zu einer Hypothese führen (lat. inducere = hineinführen), welche eine Verknüpfung bzw. eine Integration der Tatsachen ermöglicht. Zum Beispiel: Nachdem Kepler viele Fakten hinsichtlich der Planetenbewegungen beobachtet hat, nimmt er eine Verallgemeinerung vor und stellt die Hypothese auf, dass alle Planeten sich in einer elliptischen Bahn um die Sonne bewegen, deren einer Brennpunkt von der Sonne eingenommen wird. 3. Aus dieser Hypothese/diesen Hypothesen leitet man Schlüsse (Deduktionen) ab (lat. Deducere = herleiten), die neue Fakten vorauszusehen und vorauszusagen erlauben. Diese müssen – wenn die Hypothese richtig ist -zutreffen. 4. Man vergleicht diese Deduktionen mit den in Abschnitt 1 erwähnten Tatsachen. Wenn nötig, macht man neue Beobachtungen und Experimente, um herauszufinden, ob die Hypothesen mit den beobachteten oder in Experimenten gewonnenen Fakten übereinstimmen. Man verwirft oder modifiziert die Hypothesen so lange, bis man zu einer gelangt, welche mit dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis vereinbar ist. Von der Keplerschen Hypothese leitet man die Positionen ab, welche die einzelnen Planeten zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Bahn um die Sonne einnehmen müssen. Man vergleicht die errechneten Positionen mit den tatsächlichen. Wenn sie übereinstimmen, trifft die Hypothese zu. Überdies errechnet man die Geschwindigkeiten der Planeten, die sich aus der Hypothese ergeben, um sie mit den Fakten zu vergleichen. Was die minimen Abweichungen betrifft, so beginnt man mit der gleichen induktiven Methode erneut nach einer Begründung zu suchen. 5. Eine Hypothese wird als Gesetz betrachtet, wenn sie in einer Menge von Fällen bestätigt wird und wenn man die Ursache, d.h. eine durch die Induktion ermittelte, noch generellere Tatsache, gefunden hat. Für die Planeten: Die Hypothese von Kepler wird als Gesetz (als ständige Beziehung) anerkannt, wenn sie während Jahrhunderten bestätigt wird und wenn die noch generellere Tatsache, die allgemeine Gravitation ihr eine erste Begründung gibt.
Jakobiner: der Name für die Mitglieder eines politischen Klubs (“Amis de la Constitution“), welcher einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der französischen Revolution von 1789 – 93 ausübt. Er umfasst alle fortgeschrittenen republikanischen und revolutionären Elemente des Bürgertums. Mutig bekämpft der Klub das Königtum und später, Robespierre unterstützend, den “Klub der Cordeliers“, dem Danton sowie die weiter fortgeschrittenen Leute wie Hébert, Chaumette und die herragenden Mitglieder der Pariser Gemeinde angehören. Er wird nach dem 9. Thermidor von der Reaktion geschlossen. Heute wird der Ausdruck Jakobiner oft den Anhängern einer stark zentralisierten revolutionären Regierung zugeordnet.
Joule, James Prescott (1818 – 1889): englischer Physiker, der als erster ein exaktes Maß für das mechanische Äquivalent der Wärme findet (vgl. Mechanische Theorie der Wärme). Kant, Immanuel (1724 – 1804): deutscher Philosoph, der einen großen Einfluss ausübte und immer noch ausübt. In seinen früheren Werken beschäftigt er sich hauptsächlich mit Naturwissenschaft; sein Ruhm indes gründet sich auf sein System der kritischen Philosophie, das er in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) darstellt. Es stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, die Prinzipen und Grenzen des menschlichen Wissens zu erkennen. Dafür gibt es für ihn den folgenden Weg: Es existieren zwei Welten. Erstens diejenige der physischen Erscheinungen, welche sich in Raum und Zeit bewegen und die wir lediglich durch unsere Erfahrung kennen, d.h. dass sie (nach der Lehre seines “kritischen, transzendentalen Idealismus“) nur Erscheinungen sind, nicht aber für sich selbst existierende Wirklichkeit. Zweitens die Welt der angeborenen Ideen, der “Dinge an sich“, die nur in der Zeit, und nicht im Raum, existieren. Anders ausgedrückt: Wir haben eine durch unsere Sinne gegebene Materie und eine durch unseren Verstand gegebene Form, die uns keine absolute Wahrheit erkennen lässt. Um die Welt der “Dinge an sich“ zu erfassen, die sich hinter den durch unsere Sinne wahrgenommenen Erscheinungen versteckt, studiert er den Ursprung unserer sittlichen Ideen (Kritik der praktischen Vernunft, 1788). In diesem Werk zeigt er, dass die Vernunft die Fähigkeit besitzt, sich selbst Gesetze zu geben. Die Pflicht des mit sittlichem Bewusstsein begabten Menschen ist, dem kategorischen Imperativ (einem Imperativ, der dem Wesen unseres Geistes entspringt) zu gehorchen. Dieser schreibt uns vor, den anderen gegenüber sich so zu verhalten, dass unsere Handlung zu einem generellen Gesetz werden könnte. Aus dieser Idee des angeborenen moralischen Bewusstseins leitet er mit den Mitteln seiner Metaphysik die Idee des freien Willens, der Unsterblichkeit und Gottes ab. In seiner Rechtsphilosophie befürwortet Kant, dass die absolute Achtung der sittlichen Freiheit die Grundlage jedes gesellschaftlichen und staatlichen Lebens bilden müsse. Als Ziel für die künftige historische Entwicklung bezeichnet er die Realisierung dieses Freiheitsideals.
Kostomarov, Nikolaj (1817 – 1885): russischer Historiker, Gründer der föderalistischen Schule in der russischen Geschichtsforschung.
Lamarck, Jean Baptiste (1744 – 1829): französischer Naturforscher. Er schafft die Grundlagen zu einer neuen Klassifizierung der Pflanzen- und Tierwelt (Flore françoise, 3 Bde., 1779 und Histoire naturelle des animaux sans vertèbres, 7 Bde., 1815 – 22). In seiner Zoologische Philosophie (1809) formuliert er seine Idee des Transformismus, d.h. der ständigen Variation der pflanzlichen und tierischen Arten und ihrer graduellen Evolution durch die Einwirkung des Milieus und den daraus entstehenden Nicht-Gebrauch von gewissen Organen. Diese Idee ruft einen starken Widerstand der offiziellen, universitären Wissenschaft hervor, besonders von Seiten Cuviers. Hier fährt man fort, die Unveränderlichkeit der Arten zu predigen (dem sich auch Comte anschließt), bis die öffentliche Meinung, angestachelt durch das Werk Darwins und das allgemeine Erwachen der naturwissenschaftlichen Forschung in den Jahren 1855 – 1862, die Gelehrten und die Universitäten zwingt, ihre Meinungen zu ändern.
Laplace, Pierre (1749 – 1827): einer der größten Mathematiker und Astronomen aller Zeiten. Hauptwerke: Darstellung des Weltsystems (1796), in welchem er die mechanische Erklärung für den Ursprung des um die Sonne kreisenden Planetensystems gibt. Mechanik des Himmels (5 Bde., 1799- 1825) sein Meisterwerk, in dem er mit der universellen Schwerkraft die materialistische Erklärung des Weltsystems gibt. Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit (1812) und eine große Zahl von Arbeiten. Alle seine großen Werke sind ein Modell eines klaren und hellsichtigen Denkens.
Lavoisier, Antoine Laurent (1743 – 1794): großer französischer Chemiker. Er ist der erste, der die Zusammensetzung des Wassers aus Sauerstoff und Wasserstoff entdeckt. Er widmet der Herausarbeitung einer Theorie der Verbrennung, der Wärme und der Gärung viel Zeit. Im Jahre 1786 schafft er ein neues System chemischer Nomenklatur; er trägt sehr viel zur Entwicklung der Chemie bei. Hauptwerk: Traue elimentaire de chimie (1789). Lewes, George Henry (1817 – 1878): englischer Physiologe, ein eifriger Schüler Comtes. Er gehört zu denen, welche die Grundlagen der Psychologie im physiologischen Studium des Gehirns und des Nervenzentrums suchen. Hauptwerke: Physiology of common life (1859 – 1860), Problems of life and mind (1873 – 1879), Histoire biographique (populaire) de la philosophie (1845), Goethes Leben und Werke (1855) und Comte‘s philosophy of the sciences (1853).
Littré, Maximilien-Emile (1801- 1881): französischer Positivist, Mediziner und Publizist, der sich später vertieften Studien über die Sprachen und die Literatur widmet. Er ist einer der wichtigsten Repräsentanten der Comteschen Philosophie, zu deren Popularisierung er viel beiträgt, indem er in der Revue positive eine Serie von Artikeln und Werken zu diesem Thema publiziert. Er verfasst den Dictionnaire de la langue française, ein monumentales Werk, dem er 30 Jahre Arbeit widmet.
Lomonossov, Michail (1711 – 1765): russischer Schriftsteller, von dem man mit Recht sagen könnte, dass er allein eine ganze Universität darstellt. Er ist einer der Begründer der russischen Wissenschaft und Literatur. Er verfasst Oden in Versen, eine russische Grammatik (die es bis dahin nicht gab), eine physikalische Geographie über die Polarregionen, in welcher er bereits die Theorie der mechanischen Wärme ausdrückt, sowie eine große Zahl wissenschaftlicher Arbeiten.
Lyell, Charles (1797 – 1875): englischer Geologe. Sein bewunderswürdig geschriebenes, in späteren Auflagen stark erweitertes Werk Grundsätze der Geologie (1830- 1833), das in alle Sprachen übersetzt wurde, repräsentiert eine ganze wissenschaftliche Epoche. Zu Beginn des 19. Jahrhundert schreiben die Gelehrten (Cuvier, L. von Buch) die Veränderungen auf der Oberfläche der Erde plötzlichen Katastrophen zu, welche die Pflanzen und Tiere auf der Erde zerstörten und nach denen neue Schöpfungen lebender Wesen erfolgten. Lyell dagegen beweist, dass sie auf die Akkumulation der Wirkungen von langsamen physikalischen Veränderungen zurückzuführen sind, die sich überall auf der Erdoberfläche, sogar unter unseren Augen ereignen. Als Darwin 1859 sein Werk über die Entstehung der Arten publiziert, beeilt sich Lyell, sich seinem Freund anzuschließen und veröffentlicht ein zweites beachtenswertes Buch Das Alter des Menschengeschlechts auf der Erde und der Ursprung der Arten durch Abänderung (1863), in dem er die Tatsache einer Eiszeit akzeptiert, welche die Gelehrten bisher stets geleugnet hatten (die Überreste dieser Epoche schrieben sie bis anhin der “Sinflut“-Periode aus der Bibel zu). LyelI bestätigt dadurch die in Frankreich von einigen Pionieren (Boucher de Pertes u.a.) ausgesprochene Idee, dass der Mensch aus einer Zeit stamme, in der Europa noch ein Gletscher-Klima hatte und sich von Mammuts, Rentieren, Höhlenbären und anderen großen, an ein kaltes Klima angepassten Tieren bevölkert sah. Dieses für seine Zeit und vor allem für England kühne Buch beeinflusst die moderne Wissenschaft nachhaltig und trägt dazu bei, die Hindernisse wegzuschaffen, die ihr die Kirche in den Weg gestellt hatte.
Maine, Henry Summer (1822 – 1888): englischer Jurist und Erforscher des Lebens und der Gesetze in den ersten Dorfgemeinschaften. Sein Werk Ancient law: its connection with the early history of society and its relation to modern ideas (1861) ist in Westeuropa eine Sensation, wo man – unter dem Einfluss des römischen Rechts – sich nicht für dieses Thema interessiert. Andere Werke: Village-communities in the East and West, Early history of institutions (1875). Frankreich fährt leider immer noch weiter, die Werke der durch Maine begründeten Rechtsschule zu ignorieren.
Marx, Karl (1818 – 1883): deutscher Ökonom, Führer der modernen sozialdemokratischen Schule. In den vierziger Jahre flüchtet er nach Frankreich; in Paris veröffentlicht er zusammen mit Ruge eine Zeitschrift (zwei Nummern). Seine sozialistischen Artikel lassen in den radikalen und sozialistischen Zirkeln aufhorchen. Er wird zuerst aus Frankreich (1844) und dann aus Belgien (1848) ausgewiesen, er kehrt zuerst nach Deutschland zurück (1848 – 1849), wo er die Rheinische Zeitung veröffentlicht. Das ist die Phase seiner wichtigste Aktionen. Bald gewinnt die Reaktion die Oberhand, und Marx muss Deutschland erneut verlassen. Mit Engels ist er eng verbunden; er nimmt Wohnsitz in London. Als die Internationale im September 1864 gegründet wird, lädt man ihn ein, an der Redaktion ihrer Statuten teilzunehmen; er wird zum Mitglied des provisorischen zentralen Rates ernannt. Bald wird er das Einflussreichste Mitglied des Generalrates der Assoziation, die in London ihren Sitz hat. Hauptwerke: Das Elend der Philosophie (1847), eine Antwort auf Proudhons Die Widersprüche der Nationalökonomie oder Philosophie des Elends; Das Kommunistische Manifest (1848); Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857) und vor allem Das Kapital, dessen erster Band 1867 erscheint; später folgen noch drei Bände (bereits der zweite posthum). Der erste Band von Das Kapital, der die wohlbekannte Analyse der Herkunft des Kapitals zum Thema hat, wird zur Grundlage der sozialdemokratischen Ideen.
Maurer, Georg (1790- 1872): Begründer der deutschen Schule, er studiert mit Sorgfalt die dörflichen und städtischen Kommunen und verfasst eine Menge von Arbeiten zu diesem Thema. Hauptwerke: Einleitung zur Geschichte der Institution der Mark-, Dorf und der Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt (1854), Geschichte der Markenverfassung in Deutschland (1856), gefolgt von mehreren anderen Werken über die Stadt und das Dorf.
Mechanische Theorie der Wärme: Diese Theorie erklärt die verschiedenen Erscheinungen der Wärme als das Resultat von Molekularschwingungen in den Körpern, in denen wir die Temperatur erhöht sehen. Wenn die Summe dieser von Auge nicht wahrnehmbaren Bewegungen in einem Stück Eisen, in einer Flüssigkeit oder in irgend einem Gas größer wird, so sehen wir die Temperatur in diesem Gas, dieser Flüssigkeit oder in diesem festen Körper steigen. Wärme ist lediglich eine Art von Bewegung. Deshalb erzeugt jede Reibung Wärme. Wenn die kräftigen Bremsen die Rotation der Zugräder anhalten, so transformieren ihre Bewegungen in eine Reibung der Räder auf den Schienen, und sie erscheinen unter der Form von Wärme in den erhitzten Schienen und Rädern und als Funken, die erhitzte und den Schienen entrissene Eisenpartikel sind. Die exakte Quantität mechanischer Bewegung, welche erforderlich ist, um einen Liter Wasser um einen Grad des Thermometers zu erwärmen, heißt “mechanisches Äquivalent der Wärme“. Die mechanische Theorie der Wärme wird bereits im 18.Jahrhundert erahnt und zum Teil formuliert. Später, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, wird sie durch den Ingenieur Séguin den Älteren, einen Mann von großem Talent, formuliert, dessen Ideen von seinen Zeitgenossen indes nicht akzeptiert werden. Der deutsche Mediziner R. Meyer formuliert 1845 in einer klaren und vollständigen Weise die mechanische Theorie der Wärme, doch kann er sich bei den Gelehrten nicht die Anerkennung verschaffen. Joule macht bereits 1856 exakte Experimente, um das mechanische Äquivalent der Wärme zu messen. Erst 1860 wird diese Theorie, welche die größte Eroberung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert darstellt, endlich verstanden und allgemein akzeptiert. Die Zahl ihrer Anwendungen in Wissenschaft und Industrie ist unendlich.
Mill, John Stuart (1806- 1873): englischer Ökonom und Philosoph. Mit seiner Logik einer der wichtigsten Repräsentanten des “Empirismus“ (d.h. der Forschung aufgrund von Beobachtungen und Experimenten); in bewundernswerter Art entwickelte er die Theorie von der induktiv-deduktiven Methode. Autor von Grundsätze der politischen Ökonomie (1848), Über Freiheit (1859), Betrachtungen über die repräsentative Demokratie (1861) und System of Logic (1843).
Moleschott, Jacob (1822- 1893): holländischer materialistischer Physiologe. Er schreibt auf Deutsch mehrere populäre Werke, um die materialistische Philosophie bekannt zu machen. Unter anderen hat Der Kreislauf des Lebens (1852) ein großes Echo.
Owen, Robert (1771 – 1858): der wichtigste Begründer des englischen Sozialismus sowie einer der wichtigsten Förderer der Genossenschaftsbewegung und des Gewerkschaftswesens, das er von 1830 – 31 an national und international zu gestalten versucht. Er unternimmt den Versuch, seine Prinzipien in einer Manufaktur und einem Genossenschaftsdorf anzuwenden, und publiziert eine Masse von Propagandaschriften und volksnaher Zeitschriften. Hauptwerke: Eine neue Auffassung von der Gesellschaft (1812), Der Katechismus der neuen moralischen Welt (1838), Die Revolution im Denken und Tun der Menschheit oder der künftige Übergang von der Unvernunft zur Vernunft (1849). Mit Fourier und Saint-Simon ist er einer der drei großen Begründer des modernen Sozialismus; er vertritt einen freiwilligen, nichtetatistischen Sozialismus und übt eine starke Wirkung auf die Köpfe aus, vor allem in England, wo seine Ideen bis auf den heutigen Tag eine große Zahl von Radikalen inspiriert.
Proudhon, Pierre Joseph (1809 – 1865): französischer Sozialist. Er übt die stärkste Kritik am kapitalistischen und staatlichen System sowie an der etatistischen und autoritären Theorien des Kommunismus und des Sozialismus. Hauptwerke: Was ist das Eigentum? (1840), Die Widersprüche der Nationalökonomie oder Philosophie des Elends (1846), Bekenntnisse eines Revolutionärs (1849), Idée générale de la revolution au XIXe siècle (1849), Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche (1858), De la capacité politique des classes ouvrières (1864).
Ricardo, David (1772 – 1823): englischer Nationalökonom aus der von der universitären Wissenschaft “klassisch“ bezeichneten Schule. Er entwickelt, nach Adam Smith, die Theorie vom Messen des Wertes durch die für ein Produkt notwendige Arbeit und eine Theorie der Grundrente, der die Ökonomen der Universität einen wissenschaftlichen Wert beimessen. Hauptwerk: Die Grundsätze der politischen Ökonomie oder die Staatswirthschaft und die Besteuerung (1817).
Rousseau, Jean-Jacques (1712- 1778): französischer sozialistischer Schriftsteller und Philosoph. Einer der Vorläufer der großen Revolution, dessen demokratische und deistische Ideen einen tiefgehenden Einfluss auf das hauptsächliche Denken jener Zeit (Robespierre gehört zweifellos auch dazu) und der Radikalen des 19.Jahrhunderts ausüben. Hauptwerke: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754), Emile (1762), Der Gesellschaftsvertrag (1762), den Roman Die neue Heloise (1759), Bekenntnisse (nach seinem Tod veröffentlicht). Saint-Simon, Claude-Henri (1760–1825): französischer Sozialist, einer der Begründer des modernen Sozialismus. Seine Kritik des kapitalistischen ökonomischen Systems ist derart penetrant und wissenschaftlich, dass diejenigen, die sich neue “wissenschaftliche Sozialisten“ nennen, bis heute nichts Neues hinzugefügt haben und dass man in Frankreich die besten Köpfe der Zeit sich der saint-simonistischen Schule anschließen sah. Hauptwerke: Über das Industriesystem (1821 – 22), Catechisme des industriels (1824), Opinions litteraires, philosophiques et industrielles (1825).
Schelling, Friedrich (1775- 1854): deutscher Philosoph. Versucht ein System der Naturphilosphie aufzubauen, das die Identifikation von Natur und Geist verwirklichen, und den metaphysischen “Worten“ seiner Vorgänger eine realere Bedeutung geben soll; er hat keinen Erfolg.
Séguin, Marc (1786 – 1875): französischer Ingenieur, Erfinder der Röhrenheizung und Autor einer Konzeption physikalischer Kräfte, die sich heute zum Teil durch die Studien über die Schwingungen des Äthers bestätigt finden. (Vgl. Mechanische Theorie der Wärme).
Smith, Adam (1723 – 1790): schottischer Nationalökonom und Philosoph, Schüler von Hutcheson. Bekannt ist er vor allem als Begründer der politischen Ökonomie als Wissenschaft. In seinem bemerkenswerten Werk Theorie der Gefühle (1759), das bis heute durch die religiösen Moralisten boykottiert wird, schreibt er, dass der Ursprung der moralischen Empfindungen in der natürlichen Sympathie für Seinesgleichen liege. Und in seinen Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums (1776), dessen guter Ruf sich bald in Frankreich ausbreitet, betrachtet er den Reichtum als das Resultat der Arbeit und das Kapital als akkumulierte Arbeit. Er diskutiert die vielen Hindernisse, welche die Regierungen der Entwicklung der Industrie und des Handels sowie dem Reichwerden der Nationen in den Weg stellen. Mit diesem Werk wird er zum Begründer der liberalen Schule der Nationalökonomie.
Spencer, Herbert (1820 – 1903): englischer Philosoph. Er arbeitet daran, ein allgemeines System der synthetischen Philosophie auf materialistischer Basis auszuarbeiten: System der synthetischen Philosophie (1862- 1896); das Werk enthält u.a. folgende Bände: Grundlagen der Philosophie (1862), Die Principien der Biologie (1864), Die Principien der Psychologie (1855), Die Principien der Sociologie (der erste, viel fortgeschrittenere Band erschien 1851 unter dem Titel Social statistics (1850); die anderen Bände erscheinen zu verschiedenen Zeiten), Die Thatsachen der Ethik (1879), The Man versus the state (1884).
Thierry, Augustin (1795 – 1856): berühmter französischer Historiker, Saint-Simonist, der als erster die wirkliche Geschichte der primitiven Institutionen studiert; er beschreibt sie frei von den Ideen des Etatismus und der königlichen Dynastien, mit welchen die Legalisten und die in den Ideen des römischen Rechts erzogenen Historiker die primitiven Perioden der gallischen, germanischen, skandinavischen, slavischen usw. Gesellschaft zu “schmücken“ versuchen; sie betrachten diese Zeiten vor und nach dem Fall des römischen Reiches als barbarisch. Thierrys Lettres sur l‚histoire de France (1820), seine Erzählungen aus den merowingischen Zeiten (1840) und seine Essai sur l‘histoire de la formation et des pro gras du tiers Etat (1853) eröffnen einen neuen Weg für die Geschichte Frankreichs und Europas im allgemeinen, der von der universitären Wissenschaft leider nicht begangen wird. Thierry verbindet, in seiner gerechten Sicht auf die Geschichte und in seiner immensen Gelehrsamkeit, die deskriptive und dramatische Kunst des Dichters. Über die erwähnten Werke hinaus veröffentlicht er 1821 eine Histoire dc la conquête de l‘Angleterre par les Normands und eine Sammlung sehr wertvoller Dokumente für die Geschichte des Dritten Standes.
Vogt, Karl (1817 – 1895): Schweizer Naturforscher, Professor der Geologie und Zoologie und Politiker. Er nimmt an der Revolution von 1848 teil. Seine materialistischen Werke, vor allem Köhler glaube und Wissenschaft (1855), Altes und Neues aus Tier- und Menschenleben (1859), Zoologische Briefe (1861), erzielen ein großes Echo. Wallace, Alfred Russel (1823- 1913): englischer Naturforscher. Unabhängig von Darwin schickt er im Jahre 1857 (aus Asien, wo er an naturgeschichtlichen Sammlungen arbeitet) an die Linné-Gesellschaft in London ein Werk, in welchem er die Veränderbarkeit der Arten durch das Mittel natürlicher Selektion im Existenzkampf verteidigt. Diese Arbeit wird der Gesellschaft zur gleichen Zeit übergeben wie diejenige Darwins, der seit 1844 zur gleichen Idee gelangt ist. Hauptwerke: Beiträge zur Theorie der natürlichen Züchterwahl (1870), Archipel Mali (1869), Darwinism, an exposition of the theory of natural selection (1889). Schon in seiner Jugend hat er die Idee von Robert Owen gelehrt, später kommt er darauf zurück und unternimmt eine ernsthafte Kampagne zur Nationalisierung des Bodens.
Wiedertäufer: Religiöse Bewegung aus der Zeit der Reformation. Sie wendet sich gegen die Autorität der Kirche, doch sie geht auch darüber hinaus. Die Wiedertäufer verlangen die vollständige Freiheit des Individuums in den Bereichen Religion und Moral. In sozialer Hinsicht predigen sie die Gleichheit und die Beseitigung des Privateigentums. Sie verneinen jede Art von Zwang, d.h. den Schwur, das Obrigkeitliche Gericht, den Kriegsdienst und den Gehorsam der Regierung gegenüber, welche sie den Prinzipien des Christentums als zuwiderlaufend betrachten. Im allgemeinen schenken die Historiker dieser Bewegung erst nach deren Verfolgung in Zwickau im Jahre 1520 Beachtung. Ihr Ursprung reicht jedoch bis zur Bewegung Wiclifs und den Lollards in England (14. Jahrhundert) und der Bewegung der Hussiten in Böhmen (am Endes des 14. Jahrhunderts). Lange bevor Luther seine „Reform- Thesen“ an die Kirchentür in Wittenberg nagelt, keimt schon eine Revolte in den Köpfen der städtischen Handwerker und der Bauern, die Kommentare zur Bibel gehört haben. Sie richtet sich gegen die Kirche, den Staat und das Gesetz, das stets den Herren günstig war. Die Wiedertäufer werden zum linken Flügel dieser Bewegung, während die Lutheraner ihre gemäßigte, von den Fürsten und Herren begünstigte Fraktion repräsentierten. Während des Bauernkrieges (1525) und in der Stadt Münster treten die Wiedertäufer zusammen mit Jean des Leyde und Thomas Münzer in eine offene Revolte. Die beiden Bewegungen werden durch eine Massenhafte Ausrottung gestoppt; man schätzt, daß Zehntausende von Wiedertäufern (bis 100.000 nach einigen Historikern) massakriert oder verbrannt werden. Später übersiedelt die Bewegung nach England, wo sie pazifistische Züge annimmt. Sie wird auch in Österreich fortgesetzt (mährische Brüder), in Russland durch die Mennoniten, sogar in Grönland; überall nehmen sie mehr oder weniger kommunistische Formen an. (Vgl. die deutschen Werke von Ludwig Keller: Geschichte der Wiedertäufer und ihres Reiches zu Münster (1880), Karl August Hase: Das Reich der Wiedertäufer (8. Aufl. 1860), Carl A. Cornelius: Geschichte des Münsterischen Aufruhrs (1855–1860) sowie die ausgezeichnete Zusammenfassung in Englisch von Richard Heath: Anabaptism from its rise at Zwickau to its fall at Münster 1521 – 1536, London 1895)