#title Die revolutionären Minoritäten #author Peter Kropotkin #LISTtitle revolutionären Minoritäten #SORTauthors Kropotkin, Peter; #SORTtopics Soziale Revolution, Avantgardismus, #date 26. November 1881 #source Aus: Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen, rowohlt 1972. S.57-62 #lang de #pubdate 2016-03-28T12:56:18 #notes Französischer Originaltitel: "Les Minorités Révolutionnaires". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann). «Alles, was ihr behauptet, ist sehr richtig», sagen uns oft unsere Gegner. «Euer Ideal des anarchistischen Kommunismus ist vortrefflich, und seine Verwirklichung würde tatsächlich den Wohlstand und den Frieden auf der Erde schaffen; aber wie wenige begehren, wie wenige verstehen es, und wie wenige haben die nötige Hingebung, um für seine Verwirklichung zu arbeiten! Ihr seid nur eine kleine Minorität, ein paar schwache, hier und da verstreute Gruppen, verloren in der Mitte einer gleichgültigen Masse; und ihr steht einem furchtbaren, wohlorganisierten Feind gegenüber, welcher Waffen, Kapital und Kenntnisse besitzt. Der Kampf, den ihr unternommen, übersteigt eure Kräfte.» Dies ist der Einwand, den wir fortwährend von seiten mancher Gegner und oft auch von seiten unserer Freunde hören. Untersuchen wir also, was an diesem Einwand wahr ist. Daß unsere anarchistischen Gruppen nur eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Millionen von Menschen sind, welche Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland bevölkern – das ist sehr wahr. Alle Gruppen, welche eine neue Idee vertreten, waren im Anfang bloß eine Minderheit. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß wir als Organisation bis zum Tage der Revolution eine Minorität bleiben werden. Aber ist dies ein Argument gegen uns? – In diesem Augenblick sind es die Opportunisten, die die Mehrheit bilden: sollen wir deshalb vielleicht auch Opportunisten werden? Bis zum Jahre 1790 waren in Frankreich die Royalisten und Konstitutionalisten in der Mehrheit; hätten die Republikaner dieser Zeit deshalb ihren republikanischen Ideen entsagen und ebenfalls zu Royalisten werden sollen, wo Frankreich mit großen Schritten der Abschaffung des Königtums entgegenging? Es ist sehr einerlei, ob wir der Anzahl nach in der Minorität sind; das ist nicht die Frage! Das Wichtigste ist, zu wissen, ob die Ideen des anarchistischen Kommunismus im Einklänge sind mit der Entwicklung, die in diesem Augenblick im Geiste der Menschheit, und besonders inmitten der romanischen Völker, vor sich geht? – Darüber ist aber gar kein Zweifel möglich. Die Entwicklung geht nicht im Sinne der Autorität voran; sie vollzieht sich im Sinne der vollständigen Freiheit des einzelnen Menschen, der Produktions- und Konsumgruppe, der Gemeinde, der Vereinigungen, der freien Föderation. Die Entwicklung wirkt nicht im Sinne des Individualismus der Besitzenden, sondern im Sinne der gemeinsamen Produktion und Konsumption. In den Städten fürchtet sich niemand mehr vor dem Kommunismus, wenn er ihn versteht und es sich, wohlverstanden, um den anarchistischen Kommunismus handelt. In den Dörfern vollzieht sich die Entwicklung im selben Sinne, und in manchen Gegenden Frankreichs z.B., nähern sich die Bauern schon in vielen Sachen dem Zustand, die Arbeitsmittel als gemeinsames Eigentum zu erklären. Dies ist der Grund, warum, jedesmal wenn wir der großen Masse des Volkes unsere Ideen darlegen, jedesmal, wenn wir in einfacher, leicht verständlicher Sprache von der Revolution – so wie wir dieselbe verstehen – zu ihnen reden und unsere Erklärungen mit praktischen Beispielen unterstützen, wir sowohl in den großen industriellen Mittelpunkten wie auch in den Dörfern mit Beifall empfangen werden. Und könnte es denn anders sein? – Wenn Anarchie und Kommunismus das Ergebnis der philosophischen Spekulation wären, in der Tiefe der Studierstuben von Gelehrten ausgeheckt, dann würden diese beiden Ideen gewiß keinen Widerklang finden. Aber diese beiden Ideen sind im Schoße des Volkes selbst entstanden. Sie sind der Ausdruck dessen, was die Arbeiter und Bauern denken und sagen, wenn sie hier und da, aus dem gewohnheitsmäßigen Gang des Alltagslebens heraustretend, sich den Träumen über eine bessere Zukunft hingeben. Sie sind der Ausdruck der langsamen Entwicklung, welche sich im Geiste der Menschen seit Jahrhunderten vollzogen hat. Sie sind die unverfälschte Auffassung des Volkes über die Umwälzung, welche sich bald verwirklichen muß, um Gerechtigkeit, Solidarität, Brüderlichkeit in unsere Städte und Dörfer zu bringen. Aus dem Volke geboren, werden sie vom Volke immer mit Jubel empfangen, wenn sie in verständlicher Form dargelegt werden. Darin liegt tatsächlich ihre wahre Kraft, und nicht in der Anzahl ihrer tätigen, gruppierten und organisierten Anhänger, welche mutig genug sind, um sich den Gefahren des Kampfes auszusetzen und die Folgen auf sich zu nehmen, denen man sich aussetzt, wenn man für die soziale Revolution des Volkes arbeitet. Die Anzahl dieser Menschen wächst von Tag zu Tag, und wird immerfort anwachsen; aber erst am Vorabend oder im Verlauf der sozialen Revolution wird dieselbe, die jetzt die Minorität bildet, zur Mehrheit werden. Die Geschichte ist da, um uns zu zeigen, daß jene, die am Vorabend der Revolution in der Minorität waren, am Tage der Revolution zur überwiegenden Macht werden, wenn sie den wahren Ausdruck der Bestrebungen des Volkes darstellen und wenn – dies ist die andere wesentliche Bedingung – die Revolution eine gewisse Zeit lang andauert, damit die revolutionäre Idee sich verbreiten kann, damit sie in den Menschen aufkeimen und Früchte tragen kann. Denn, vergessen wir es nicht, es ist nicht durch eine Revolution von ein oder zwei Tagen, daß es uns gelingen wird, die Gesellschaft im Sinne des anarchistischen Kommunismus umzugestalten. Ein Aufstand von kurzer Dauer kann wohl eine Regierung stürzen, um eine andere an deren Platz zu setzen. Er kann eine Monarchie durch eine Republik ersetzen; aber er wird nichts an den Grundlagen, den Einrichtungen der Gesellschaft ändern. Es ist ein ganzer revolutionärer Zeitraum von Jahren, den wir durchmachen werden müssen, um unsere Revolution in der Herrschaftsordnung des Privateigentums und in der Gruppierungsform der Gesellschaft zu vollbringen. Fünf Jahre von fortwährenden Aufständen von 1788 bis 1793 waren notwendig, um in Frankreich die Herrschaft des feudalen Grundeigentums und die unbeschränkte Macht des Königtums zu stürzen; es wird wohl mindestens ebensoviele Jahre dauern, um die Feudalherrschaft der Bourgeoisie und die Allmacht der Geldherrschaft niederzuwerfen. Nun, es ist gerade während dieser Zeit der Aufregung, da der menschliche Geist mit beschleunigter Kraft arbeitet, wo ein jeder, in den glänzenden Straßen der Städte, sowie in den düsteren Hütten einen Anteil an der gemeinsamen Sache nimmt, diskutiert, redet und die übrigen zu überzeugen sucht – zu dieser Zeit ist es, wo die anarchistische Idee, welche heute mit vollen Händen durch die bestehenden Gruppen gesät, annehmen wird. Dies ist die Zeit, wo diejenigen, die heute gleichgültig sind, zu überzeugten Anhängern der neuen Idee werden. Dies war immer der Weg, den die großen Ideen zurückgelegt haben; und die große französische Revolution (1789-1793) kann uns als Beispiel dafür dienen. Gewiß, diese Revolution war nicht so tiefgehend, wie jene, welche wir uns vorstellen. Sie hat bloß die Aristokratie gestürzt, um die Bourgeoisie an deren Stelle zu setzen. Sie hat die Herrschaftsordnung des Privateigentums unberührt gelassen; im Gegenteil, sie hat dieselbe befestigt; sie war es, die die kapitalistische Ausbeutung ins Leben gerufen hat. Aber sie hat einen riesigen Erfolg erreicht durch die Abschaffung der Leibeigenschaft, und sie hat die Leibeigenschaft durch die gegen sie sich betätigende Selbstaktion des Volkes abgeschafft, was etwas ganz anderes ist, als die gesetzliche Abschaffung von irgend etwas. Sie hat das Zeitalter der Revolutionen eröffnet, die seitdem in kurzen Zeiträumen einander folgen und sich immer mehr der sozialen Revolution nähern. Sie hat dem französischen Volk jenen revolutionären Anstoß gegeben, ohne welchen die Völker für Jahrhunderte in der entwürdigendsten Knechtschaft verharren können. Sie hat der Welt eine ganze Reihe fruchtbarer Zukunftideen als Erbteil hinterlassen; sie hat den Geist der Empörung geweckt, dem französischen Volk eine revolutionäre Erziehung gegeben. Wenn 1871 sich in Frankreich die Revolution der Pariser Kommune ereignete, wenn heute die französische Arbeiterschaft die Ideen des anarchistischen Kommunismus mit offenem Verständnis aufnimmt, während die übrigen Nationen sich noch im autoritären oder konstitutionellen Zeitalter befinden (welches Frankreich vor 1848 oder sogar vor 1789 durchgemacht hat), so ist dies, weil es am Ende des 18. Jahrhunderts die vier Jahre der großen Revolution durchlebte. Rufen wir uns nur in die Erinnerung zurück, welch ein trauriges Bild Frankreich einige Jahre vor dieser Revolution bot, und welch eine kleine Minorität jene bildeten, die von der Abschaffung des Königtums und des feudalen Systems träumten. Die Bauern waren in solches Elend und solche Unwissenheit versunken, daß wir uns heute davon nur schwer einen Begriff machen können. In ihren Dörfern begraben, ohne regelmäßigen Verkehr, nicht wissend, was zwanzig Meilen entfernt geschieht, schienen diese armen Geschöpfe, über den Pflug gebeugt und in verpestete Höhlen eingesperrt, zu ewiger Knechtschaft verdammt gewesen zu sein. Eine gemeinsame Verständigung unter ihnen war unmöglich, bei dem geringsten Aufstand war das Militär da, um die Rebellen niederzuhauen und die Rädelsführer in der Mitte des Dorfes auf einen hohen Galgen aufzuknüpfen. Kaum, daß ein paar unbekannte Propagandisten von Dorf zu Dorf wanderten, den Haß gegen die Bedrücker schürend und die Hoffnung in einigen wenigen Menschen erweckend, die so kühn waren, ihnen zuzuhören. Kaum, daß der Bauer es wagte, Brot und eine kleine Herabsetzung der Steuern zu verlangen. Man muß nur die Bittgesuche der Dörfer durchlesen, um sich davon zu überzeugen. Was die Bourgeoisie anbelangt, so war es vor allem die Feigheit, welche dieselbe kennzeichnete. Einzelne Personen erkühnten sich sehr selten und vereinzelt, die Regierung anzugreifen und erweckten durch diese mutige Tat den Geist der Empörung. Aber die große Masse der Bourgeoisie krümmte erbärmlich ihren Rücken vor dem König und seinem Hof, vor dem Edelmann und dem Bedienten desselben. Man lese nur die Munizipalakten dieser Zeit, und man wird sehen, von welcher knechtischen Demut die Worte der Bourgeoisie vor 1789 durchdrungen sind. Eine tiefe Verzweiflung ergreift die vereinzelten, wenigen Revolutionäre jener Zeit, wenn sie um sich blicken, und Camille Desmoulins[1] sagte mit Recht: «Wir waren kaum ein Dutzend Republikaner in Paris vor 1789.» Und dennoch, welch eine Umwandlung drei oder vier Jahre nachher! Vom Augenblick an, wo die Macht des Königtums auch nur im geringsten durch die Ereignisse erschüttert ist, fängt das Volk an, sich zu empören. Während des ganzen Jahres 1788 sind es nur kleine zerstreute Aufstände der Bauern; wie die kleinen Einzelstreike von heute, brechen sie hier und dort auf der Oberfläche Frankreichs aus, aber bald werden sie ausgedehnter, allgemeiner, schärfer, schwerer zu unterdrücken. Zwei Jahre vorher wagte man kaum eine Herabsetzung der Abgaben zu verlangen (so wie man heute eine Lohnerhöhung fordert). Zwei Jahre danach, in 1789, gehen die Bauern schon weiter. Eine allgemeine Idee bricht sich Bahn: das Joch des Edelmannes, des Priesters, des Bourgeois-Grundbesitzers vollständig abzuschütteln. Um Hippolyte Taines drastische Schilderung in seinem berühmten Werk Die Grundlagen des modernen Frankreichs[2] zu gebrauchen: Sobald die Bauern merken, daß die Regierung nicht mehr die Kraft hat, dem Aufstand zu widerstehen, erheben sie sich gegen ihre Feinde. Ein paar entschlossene Männer machen den Anfang, während die große Masse noch unterwürfig und furchtsam wartet, bis die herrschaftlichen Schlösser ihrem Schicksal der Einäscherung verfallen sind, um sich dann gegen den Steuereintreiber zu wenden und ihre bei den früheren Bauernaufständen ermordeten Kameraden zu rächen. Und diesmal kommt das Militär nicht, um den Aufstand zu unterdrücken; es hat anderswo zu tun; die Empörung pflanzt sich von Dorf zu Dorf fort, und bald steht halb Frankreich in revolutionären Flammen. Während alle die zukünftigen Revolutionäre der Bourgeoisie sich noch vor dem König auf die Kniee werfen, während die großen Persönlichkeiten der kommenden Revolution den Aufstand durch Brocken von Zugeständnissen zu bemeistern trachten, erheben sich die Dörfer und Städte lange vor dem Zusammentreten der Abgeordneten der Generalstände und den Reden Mirabeaus. Hunderte von Aufständen (Taine kennt deren dreihundert) brechen in den Dörfern aus, ehe das Volk von Paris, mit Picken und ein paar schlechten Kanonen bewaffnet, sich der Bastille bemächtigt. Von da an ist es unmöglich, der Revolution Einhalt zu tun. Wenn dieselbe nur in Paris ausgebrochen wäre, wenn sie bloß eine parlamentarische Revolution geblieben wäre, so hätte man sie im Blute ertränkt und die Banden der Gegenrevolutionäre hätten die Fahne des Königs von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt getragen und hätten die aufständischen Bauern und Stadtproletarier (die Sansculotten)[3] niedergemetzelt. Aber glücklicherweise hatte die Revolution von Anfang an einen anderen Charakter angenommen. Sie brach beinahe gleichzeitig an tausend Stellen aus; in jedem Dorf, jedem Marktflecken, jeder großen Stadt der aufständischen Provinzen marschierten die revolutionären Minoritäten, stark durch ihren Mut und die stillschweigende Unterstützung, welche sie in den Bestrebungen des Volkes fanden, zur Eroberung des Herrenschlosses, des Rathauses, der Bastille; sie erschreckten die französische Aristokratie und die hohe Bourgeoisie und vernichteten die Standesvorrechte. Die Minorität begann die Revolution und riß die Masse mit sich. Dasselbe wird in der Revolution der Fall sein, deren Kommen wir vorher sehen. Die Idee des anarchistischen Kommunismus, heute bloß durch schwache Minoritäten vertreten, aber sich immer klarer im Geiste des Volkes gestaltend, wird sich ihren Weg in der großen Masse bahnen. Die überall verbreiteten Gruppen, so schwach sie auch sind, was die Anzahl ihrer Mitglieder betrifft, aber stark durch die Unterstützung, welche sie im Volke finden werden, werden einstmals den Weg der Verwirklichung beschreiten. Diese Verwirklichung, an tausend Punkten des Landes auf einmal ausbrechend, wird die Bildung was immer für einer Regierung, welche fähig wäre, die Ereignisse aufzuhalten, verhindern und die soziale Umgestaltung der Grundlage unseres Lebens wird vorangehen, bis sie ihre Aufgabe: die Abschaffung des Privateigentums und des Staates, erfüllt hat. An diesem Tag wird die heutige Minorität das Volk, die große Masse selber werden, und diese Masse wird, sich gegen das monopolistische Eigentum und den Staat kehrend, dem anarchistischen Kommunismus entgegengehen. [1] Desmoulins, Camille (1760-1794), französischer Revolutionär, Initiator des Sturmes auf die Bastille am 14. Juli 1789, Hg. der einflußreichen Zeitung ‹Revolutions de France et du Brabant›, beteiligte sich am Sturm auf die Tuilerien (10. August 1792), Sekretär Dantons, stimmte im Konvent für den Tod Ludwig XVI. und bekämpfte die Girondisten, wandte sich jedoch Ende 1793 gegen die Schreckensherrschaft Robespierres, zusammen mit Danton hingerichtet. [2] Taine, Hippolyte, ‹Les Origines de la France contemporaine›, 6 Bde., 1875 bis 1893. [3] Sansculotten - urspr. spöttische Bezeichnung der Bauern und Proletarier, die keine Kniehosen (culottes), sondern lange Hosen (pantalons) trugen.