Titel: Die politischen Rechte
AutorIn: Kropotkin, Peter
Datum: 18. Februar 1882
Quelle: Aus: Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen. rowohlt 1972. S.28-32.
Bemerkungen: Französischer Originaltitel: "Les Droits Politiques". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Die Bourgeoisiepresse singt uns jeden Tag in allen Tonarten den Wert und die Tragweite der politischen Freiheiten, der «politischen Rechte der Staatsbürger»: Allgemeines Wahlrecht, Freiheit der Wahlen, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, usw. usw.

«Da ihr diese Freiheiten habt, wozu noch wirtschaftliche Massenaktionen, soziale Kämpfe wollen?» sagt sie uns. «Die Freiheiten, die ihr besitzt, sichern sie euch denn nicht die Möglichkeit aller notwendigen Reformen, ohne daß ihr es nötig habt, zu anderen Waffen zu greifen?» Untersuchen wir also, was diese berühmten «politischen Freiheiten» von unserem Standpunkt aus wert sind; nämlich vom Standpunkt jener Klasse, die nichts besitzt, die über niemanden herrscht, die sehr wenig Rechte und viele Pflichten hat.

Wir wollen nicht sagen, wie dies manchmal gesagt worden ist, daß die politischen Rechte für uns gar keinen Wert haben. Wir wissen recht gut, daß seit den Tagen der Leibeigenschaft und sogar seit dem achtzehnten Jahrhundert gewisse Fortschritte vollbracht worden sind. Der Mann aus dem Volk ist nicht mehr dieses ganz rechtlose Geschöpf wie ehedem. Der französische Bauer z.B. kann nicht mehr durchgepeitscht werden, wie dies zur Zeit des Zarentums in Rußland geschah. Auf öffentlichen Plätzen, außerhalb der Werkstatt, betrachtet sich der Arbeiter, besonders in den großen Städten als wem immer gleichgestellt. Der französische Arbeiter ist mit einem Wort nicht mehr jenes Wesen ohne jedwede menschlichen Rechte, das seinerzeit von der Aristokratie als ein Lasttier angesehen wurde. Dank der Revolutionen, dank dem Blute, welches das Volk opferfreudig vergossen hat, hat es sich gewisse persönliche Rechte gesichert, deren Wert wir nicht herabsetzen wollen.

Aber wir wissen zu unterscheiden, und wir sagen, daß es Rechte und Rechte gibt. Es gibt solche, die einen wirklichen greifbaren Wert haben, und solche, die diesen Wert nicht besitzen – und jene, die die beiden zu verwechseln trachten, täuschen nur das Volk. Es gibt Rechte, wie zum Beispiel die des Bauernburschen und des Aristokraten in ihren privaten Beziehungen zueinander, die körperliche Unantastbarkeit des Menschen usw., welche in heißem Kampfe genommen worden sind und die dem Volke teuer genug sind, damit es sich empört, wenn man dieselben verletzen wollte. Und es gibt andere, wie das allgemeine Wahlrecht, Preßfreiheit usw., welche das Volk immer kühl gelassen haben, weil es sehr gut gefühlt hat, daß diese Rechte, die sich so gut dazu eignen, die herrschende Bourgeoisie gegen die Übergriffe der Regierung und der Aristokratie zu schützen, nur ein Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen sind, um ihre Herrschaft über das Volk zu behaupten. Diese Rechte sind nicht einmal wirkliche politische Rechte, da sie für die Masse des Volkes nichts sichern; und wenn man ihnen noch diesen hochtönenden Namen beilegt, ist dies weil unsere politische Sprache bloß ein Kauderwelsch ist, welches von regierenden Klassen zu ihrem Gebrauch und in ihrem Interesse ausgearbeitet wurde.

Was ist in Wirklichkeit ein politisches Recht, wenn es nicht ein Mittel ist, um die Unabhängigkeit, die Menschenwürde, die Freiheit jener zu sichern, die noch nicht die Kraft haben, andere dazu zu zwingen, dieses Recht zu achten? Was ist der Nutzen davon, wenn es nicht eine Waffe der Befreiung für jene ist, die es notwendig haben, befreit zu werden? Die Regierenden aller Zeiten, die Gambettas, Bismarcks und Gladstones[1] haben weder die Preßfreiheit noch die Versammlungsfreiheit nötig, da sie schreiben, was sie wollen, mit jenen zusammenkommen, mit denen es ihnen gut dünkt, und jene Ideen verkünden, die ihnen gefällten; sie sind schon befreit, sie sind frei. Wenn es notwendig ist, irgend jemand die Freiheit zu gewährleisten, sprechen und schreiben und sich mit anderen vereinigen zu können, so sind dies gerade jene, die nicht mächtig genug sind, ihrem Willen Geltung zu verschaffen. Dies war ja auch der Ursprung aller politischen Freiheiten.

Aber sind, von diesem Standpunkt aus, die politischen Rechte, von denen wir sprechen, für jene gemacht, die allein dieselben notwendig haben?

Nein, auf keinen Fall. Das allgemeine Wahlrecht kann manchmal wohl bis zu einem gewissen Grade die Bourgeoisie gegen die Übergriffe der zentralen Regierung schützen, ohne daß die vorgenannte es nötig hat, in ihrer Verteidigung immerfort Gewalt anwenden zu müssen. Es kann dazu dienen, das Gleichgewicht zwischen zwei Mächten, die sich um die Herrschaft streiten, herzustellen, ohne daß die Rivalen gezwungen sind, mit Messerstichen gegeneinander zu kämpfen, wie sie dies vor Zeiten taten. Aber es kann nichts nützen, wenn es sich darum handelt, die herrschende Macht zu stürzen oder auch nur zu beschränken, die Herrschaft abzuschaffen. Ein treffliches Mittel, um die Streitigkeiten unter den Herrschenden auf friedliche Art zu lösen – aber was für einen Nutzen kann es für die Beherrschten haben?

Ist nicht die Geschichte des allgemeinen Wahlrechtes da, um das zu beweisen? So lange die Bourgeoisie befürchtet hat, daß das allgemeine Wahlrecht in den Händen des Volkes zu einer Waffe wird, welche gegen die Privilegierten gekehrt werden könnte, solange hat sie dasselbe aufs wütendste bekämpft. Aber am Tage wo – in 1848 – es ihr bewiesen wurde, daß man im Gegenteil mit dem allgemeinen Wahlrecht das Volk sehr gut auch an der Nase herumführen kann, da hat sie dasselbe voll und ganz angenommen. Jetzt ist es die Bourgeoisie selbst, die dasselbe verteidigt, denn sie hat begriffen, daß es eine vortreffliche Waffe ist, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, aber ganz und gar unfähig, um ihren Vorrechten einen Schaden zuzufügen.

Dasselbe ist mit der Preßfreiheit der Fall. Was war in den Augen der Bourgeoisie das entscheidende Argument zu Gunsten der Freiheit der Presse? – Ihre Machtlosigkeit! Ja, ihre Machtlosigkeit. Ein französischer Schriftsteller, De Girardin, hat ein ganzes Buch über dieses Thema geschrieben: Die Machtlosigkeit der Presse. «Ehemals» – sagte er – «verbrannte man die Hexenmeister, weil man so dumm war, sie für allmächtig zu halten; heute begeht man dieselbe Dummheit in Bezug auf die Presse, weil man sie auch für allmächtig hält. Aber es ist nichts dabei; denn sie ist ebenso machtlos, wie die Hexenmeister des Mittelalters. Also, keine Verfolgung der Presse mehr!» Und wenn jetzt die Bourgeois unter einander über die Preßfreiheit diskutieren, was für Gründe bringen sie zu deren Gunsten vor? «Seht», sagen sie, «England, die Schweiz, die Vereinigten Staaten. Die Presse ist dort frei, und dennoch ist die kapitalistische Ausbeutung fester begründet als in allen anderen Ländern, die Herrschaft des Kapitals ist sicherer als irgendwo anders. Laßt nur die gefährlichen Ideen sich entwickeln. Besitzen wir nicht alle Mittel, um die Stimme ihrer Blätter zu ersticken, ohne zur Gewalt Zuflucht zu nehmen? Und dann, wenn eines Tages, in einem Moment der Gärung, die revolutionäre Presse zu einer gefährlichen Waffe werden sollte – nun, an dem Tag wird man Zeit genug haben, sie unter irgend welchem Vorwand mit einem Schlage zu vernichten!»[2]

Dieselben Argumente wenden sie auch für die Versammlungsfreiheit an. «Gewähren wir volle Versammlungsfreiheit» sagt die Bourgeoisie – «sie wird unsere Vorrechte nicht gefährden. Was wir zu fürchten haben, das sind die geheimen Gesellschaften, und die öffentlichen Versammlungen sind das beste Mittel, diese zu paralysieren. Wenn aber in einem Moment der Aufregung die öffentlichen Versammlungen gefährlich werden würden, nun so werden wir immer die Mittel haben, dieselben zu unterdrücken, da wir die Regierungsmacht besitzen.»

«Die Unverletzlichkeit des Privatheimes? – Selbstverständlich! Nehmt es in die Gesetzbücher auf, verkündet es über alle Dächer!» sagen die verschmitzten Bourgeois. «Wir wollen nicht, daß die Polizisten uns in unserer Häuslichkeit stören kommen. Aber wir werden eine Geheimpolizei, ein ‹schwarzes Kabinett› schaffen, um die verdächtigen Leute zu überwachen; wir werden das Land mit Spionen bevölkern, wir werden eine Liste der gefährlichsten Menschen aufstellen und sie scharf überwachen lassen. Und wenn wir eines Tages ausgeschnüffelt haben, daß die Sachen schlecht stehen, dann drauf los! Kümmern wir uns den Teufel um die Unverletzlichkeit, verhaften wir die Leute in ihren Betten, durchwühlen wir ihre Wohnung! Aber vor allem, gehen wir unerschrocken vor, und wenn es Menschen gibt, die zu laut dagegen schreien, sperren wir auch die ein und sagen zu den übrigen: ‹Was wollen Sie, meine Herren! Krieg ist Krieg!› Und man wird uns ganz gewiß Beifall klatschen.»

«Das Briefgeheimnis? – Sagt überall, schreibt, schreit, daß die Korrespondenz unverletzlich ist. Wenn ein Dorfpostmeister aus Neugierde einen Brief aufmacht, entlaßt ihn sofort, schreibt in großen Buchstaben über ihn: ‹Was für ein Scheusal! Was für ein Verbrecher!› Gebt gut acht, daß die kleinen Geheimnisse, die wir einander in unseren Briefen mitteilen, nicht an die Öffentlichkeit gelangen.

Wenn wir aber von einer Verschwörung gegen unsere Vorrechte Wind bekommen – dann genieren wir uns nicht; öffnen wir alle Briefe, stellen wir, wenn notwendig, tausend Beamte dafür an und wenn jemand sich erkühnt, zu protestieren, so antworten wir offen, wie es unlängst ein englischer Minister unter dem Beifall des Parlamentes getan hat: ‹Ja, meine Herren, es ist mit schweren Herzen und dem größten Widerwillen, daß wir die Briefe öffnen lassen; aber es geschieht einzig und allein nur darum, weil das Vaterland (man verstehe: die Aristokratie und Bourgeoisie) in Gefahr ist.›»

Da habt Ihr, was diese sogenannten politischen Freiheiten wert sind.

Preß- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit des Privatheimes und alles übrige werden nur dann respektiert, wenn das Volk davon nicht gegen die Privilegierten Gebrauch macht. Aber von dem Tag, wo es anfängt, dieselben zu gebrauchen, um die Vorrechte der herrschenden Klasse zu untergraben – da werden alle diese angeblichen Freiheiten über Bord geworfen.

Das ist ganz natürlich. Der Mensch besitzt nur die Rechte, die er sich in hartem Kampf erobert hat. Er hat nur die Rechte, die er bereit ist, jeden Augenblick mit den Waffen in der Hand zu verteidigen.

Wenn man nicht Männer und Frauen in den Straßen von Paris durchpeitscht, wie man dies in Odessa tat, so ist das, weil am Tag, wo die Regierung dies wagen würde, das Volk die Büttel in Stücke zerreißen würde. Wenn ein Aristokrat nicht durch Stockschläge seiner Bedienten sich den Weg durch die Straßen bahnen läßt, so ist dies, weil man die Bediensteten des Herrn, dem das einfiele, auf der Stelle erschlagen würde. Wenn auf der Straße und auf öffentlichen Orten zwischen Arbeiter und Kapitalist eine gewisse Gleichheit besteht, so ist dies, weil der Arbeiter, dank der vorhergegangenen Revolutionen, ein Gefühl der persönlichen Würde besitzt, das ihm nicht erlaubt, die Beleidigungen des Kapitalisten zu ertragen – und nicht, weil diese Rechte in den Gesetzen verzeichnet sind.

Es ist offenkundig, daß in der bestehenden Gesellschaft, welche in Herren und Knechte geteilt ist, es keine wahre Freiheit geben kann; sie wird solange nicht bestehen, so lange es Ausbeuter und Sklaven, Herrschende und Beherrschte gibt. Aber daraus folgt nicht, daß, bis nicht die anarchistische Revolution die gesellschaftlichen Ungleichheiten wegfegt, wir die Presse geknebelt sehen wollen wie in Deutschland, das Versammlungsrecht aufgehoben, wie in Rußland, die Unantastbarkeit der Person zu dem herabgesetzt wird, was sie in der Türkei ist. Sklaven des Kapitals, die wir sind, wollen wir dennoch schreiben und veröffentlichen, was uns gutdünkt, wir wollen uns versammeln und organisieren können, wie es uns gefällt – gerade um das Joch des Kapitals abzuschütteln.

Aber es ist sehr an der Zeit zu verstehen, daß man diese Rechte nicht von den konstitutionellen Gesetzen verlangen darf. Es ist nicht in einem Gesetz – in einem bloßen Blatt Papier, welches durch jede Laune der Regierungen zerrissen werden kann – daß wir die Aufrechterhaltung dieser natürlichen Rechte suchen werden. Nur, wenn wir uns zu einer Macht entwickeln, stark genug, um unserem Willen unbedingt Geltung zu verschaffen, nur dann werden wir erreichen, daß man unsere Rechte respektiert.

Wollen wir die Freiheit haben zu sagen und zu schreiben, was uns gefällt? Wollen wir uns versammeln und organisieren? Wir dürfen nicht vor einem Parlament die Erlaubnis dazu erbitten; wir dürfen nicht um ein Gesetz beim Senat betteln. Laßt uns eine organisierte Macht sein, fähig, jedesmal die Zähne zu zeigen, wenn wer immer es wagt, unsere Redefreiheit und unser Versammlungsrecht zu beschränken. Seien wir stark, und wir können sicher sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht streitig zu machen, all das zu reden, zu schreiben, zu drucken, was wir wollen und uns zu versammeln, wann und wo wir wollen.

Am Tage, wo es uns gelungen ist, unter den Ausgebeuteten eine so starke Einigkeit zu schaffen, daß tausende von Menschen bereit sind, in den Kampf für ihre Rechte einzutreten oder diese zu verteidigen, an diesem Tage wird es niemand wagen, uns diese Rechte – und noch viele andere, welche wir dann fordern werden können – streitig zu machen. Dann, aber nur dann werden wir diese Rechte wirklich erobert haben, um die wir beim Parlament Jahrzehnte lang umsonst betteln würden; dann werden uns diese Rechte ganz anders gewährleistet sein, als wenn man sie wieder auf Papierfetzen aufzeichnen würde.

Freiheiten werden nicht geschenkt, man muß sie sich nehmen.

[1] Gambetta, Léon (1838-1882), französischer republikanischer Politiker, Gegner Napoleon III., proklamierte 1870 die Republik, 1881 Ministerpräsident. - Bismarck, Otto Fürst von (1815-1898), 1871-1890 Kanzler des Deutschen Reiches. - Gladstone, William (1809-1898), liberaler englischer Politiker, 1865-1894 mehrfach englischer Ministerpräsident, Gegner Disraelis.

[2] Zit. konnte nicht aufgefunden werden.