Peter Kropotkin
Die Entwicklung der anarchistischen Ideen
Die Vorläufer
Früher verstand man unter dem Namen Anarchie „das Fehlen der Regierung und infolgedessen die Unordnung“. Aber schon zur Zeit der großen französischen Revolution wurde das Wort in viel weiterem Sinne angewendet. Als die Girondisten in 1792 zur Macht gelangten, bezeichneten sie die vorgeschrittenen Revolutionäre als „Anarchisten“ – besonders jene der Kommune von Paris, die, über die Gleichheit der politischen Rechte hinausgehend, die tatsächliche Gleichheit forderten.
Alle jene, welche die Gleichmachung der Vermögen, die Bestimmung eines Maximalpreises für die notwendigsten Lebensbedürfnisse, das Recht aller auf die Erde und die Organisierung des Austausches durch die Nation anstrebten und sich zur Erlangung dieser Ziele der revolutionären Aktion bedienten, waren für die, zu Regierungsmenschen gewordenen Girondisten „Anarchisten“. Dieser Name wurde sogar so allgemein gebraucht, daß die ersten Geschichtsschreiber der Revolution (wie Mignet) ihn durchgängig anwandten, um die vorangeschrittenen volkstümlichen Revolutionäre („über Marat hinaus“, wie Camille Desmoulins sagte) zu bezeichnen.
Während derselben Zeit fand sich in England ein Schriftsteller William Godwin (1756 bis 1863) der, ohne das Wort Anarchie zu gebrauchen, den Mut hatte, in 1793 ein politisches und philosophisches Werk zu veröffentlichen („Untersuchungen über das Wesen der „politischen Gerechtigkeit und ihren Einfluß auf die Tugend und das Glück der Gesellschaft“), in welchem er die Abschaffung des Staates und seiner Gesetze und die Organisierung der Gesellschaft auf kommunistischer Grundlage forderte und die Ansicht vertrat, daß die Gerechtigkeit in der Gesellschaft nur so verwirklicht werden könne, wenn der Staat und dessen von und für die Privilegierten gemachten Gesetze aufhören und der gesellschaftliche Reichtum auf den wirtschaftlichen Beziehungen unter Gleichen und auf dem Gemeinbesitz begründet wird.
Während der großen Revolution bestanden ununterbrochene Beziehungen zwischen den englischen Republikanern, (zu denen Godwin und seine Freunde gehörten) und den französischen Revolutionären, und Godwin ist jedenfalls durch den revolutionären Geist und dem selbständigen Handeln der Pariser Kommune und deren Sektionen beeinflußt worden. Aber für seine Ideen gegen den Staat hatte er auch die französischen Encyclopädisten (besonders Diderot) und deren englische Vorläufer als Vorgänger. So hatte schon der große englische Philosoph Locke das Recht des Individuums gegen den Staat in einer freien Gesellschaft verkündet; und die wirtschaftliche Befreiung, Hand in Hand gehend mit der politischen Befreiung, wurde bereits von Priestley, Price, Thomas Payne und einigen anderen gefordert, trotz der schweren Strafen, denen sich diese Rebellen von Seite der Kirche und des Staates aussetzten. Andernteils fand Godwin auch Nachfolger in den zwei großen englischen Dichtern Shelley (seinem Schwiegersohn) und Byron, deren Hauptwerke vom Geist der Empörung gegen den Staat durchdrungen sind.
So entwickelte sich eine neue Weltanschauung aus der großen französischen Revolution. Wenn einesteils der Sieg der Jakobiner und ihrer Herrschaft durch den Terrorismus unter den demokratischen Politikern aller Länder viele Bewunderer gefunden hatte, sah man auch, daß der Jakobinismus geradenwegs zur zentralistischen Regierung, zur militärischen Herrschaft und schließlich zur Reaktion geführt hatte. Man begann infolgedessen einzusehen, daß eine Revolution, um zu ernsten Erfolgen zu führen, nicht durch eine Versammlung von Volksvertretern gemacht werden kann; sie muß durch das direkte selbständige Handeln des Volkes vollbracht werden, in den Versammlungen des Volkes an Ort und Stelle, in jedem Stadtteil der Großstädte, in jeder Dorfgemeinde. Und man fing auch an zu verstehen, daß, um den Anfang zu einem neuen Leben zu machen, die Gesellschaft sich außerhalb der vom Staate festgesetzten Formen organisieren muß – außerhalb der Gesetze und der Hierarchie des Staates, auf der Grundlage der wirtschaftlichen Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder.
Von dieser Zeit an sieht man unter den Reformatoren des neunzehnten Jahrhunderts zwei Richtungen zutage treten. Einerseits die staatliche, autoritäre, jakobinistisehe Richtung, die ihren Ursprung in der Verschwörung Baboeufs (1794 bis 1796) hat. Sie gibt zu, daß außer der politischen Revolution eine soziale Revolution notwendig ist, aber diese Revolution muß, ihrer Meinung nach, immer zum autoritären Kommunismus, zum Regierungskollektivismus oder zum Staatssozialismus führen. Und um diese Revolution zu vollbringen, halten die Anhänger dieser Richtung es für notwendig, sich der Gewalt im bestehenden Staate zu bemächtigen, nichts von dessen hierarchischer Organisation zu zerstören, sondern dieselbe im Gegenteil noch schärfer zu betonen, indem sie eine diktatorische Macht schaffen und dieser die Aufgabe zuweisen, die Revolution zu verwirklichen. Im Notfalle würden sie sogar die Diktatur eines Einzelnen annehmen.
Baboeuf und seine Nachfolger – Buonarotti, Barbés, Cabet in den Jahren 1820 bis 1848 (autoritäre Kommunisten), Pecqueur und Vidai in 1840 bis 1848 (Staatskollektivisten) und schließlich jene Sozialisten unserer Zeit, die sich Sozialdemokraten, Kommunisten oder Possibilisten nennen – gehören dieser Richtung an. Auch Blanqui hatte ihr angehört, aber er trennte sich von ihr nach dem Pariser Kommuneaufstand (1871) und gab das Losungswort aus: „Weder Gott noch Herr!“
Es gab aber noch eine andere Richtung, welche in dem selbständigen, unvermittelten Vorgehen der Gemeinden und deren Sektionen während der großen Revolution ihren Ursprung fand. Ihr Hauptgrundsatz ist die Umwandlung der Gesellschaft, außerhalb des Staates, sich vom Staat befreiend. Es sind die wirtschaftlichen Beziehungen – sagen die Vertreter dieser Richtung – welche umgestaltet werden müssen, so daß alle Menschen ein gleiches Recht haben auf den Reichtum und die Produktivkräfte, die der heutigen Gesellschaft zu Gebote stehen. Und der Weg, um dieses zu erreichen, ist das selbständige direkte Handeln der Arbeiter selbst, die Verneinung der staatlichen Gesetzgebung und die unmittelbare Organisation der Produzenten und Konsumenten, außerhalb des Rahmens der Staaten.
Charles Fourier und seine Ideen
Fourier war in Frankreich der erste, der in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Ideen in dieser Richtung aussprach. Leider waren dieselben noch recht unbestimmt. Es gelang ihm nicht, sich ganz vom Staat frei zu machen, er wagte nicht, das Kapital offen anzugreifen, für welches er immer einen gewissen Respekt bewahrte.
Er leistete den sozialistischen Ideen dennoch einen sehr großen Dienst, indem er den Gedanken der Sanskulotten von 1793/94 über die nationale Organisierung des Austausches wieder aufnahm – eine Idee, welche alle, die eine wirksame soziale Revolution anstreben, sich früher oder später zu eigen machen müssen. Und mehr als dies: um diese Organisation ins Leben zu rufen, appellierte er nicht an die Gesetzgebung und die Beamtenherrschaft des Staates, sondern, wie sein Schüler Considerat in einem Buch: „Der Sozialismus vor der Alten Welt“ (1848) treffend gesagt hat, er wollte die unmittelbaren Beziehungen der Produzenten und Konsumenten auf dem Wege kommunaler Vermittlungsorganisationen, die die Lebensmittel, etc. nur in Verwahrung aber nicht in Besitz nehmen sollten, um dieselben direkt von den Erzeugern jenen zuzuführen, die dieselben verbrauchen. Er verkündete also den gesellschaftlichen Austausch, die Nationalisation des Handels, indem er vom Einfachen zum Zusammengesetzten, von der Kommune zur Nation, auf dem Wege der Föderation und nicht durch staatliche Zentralisation voranschritt.
Was die Produktion im Schoße dieser Kommunen (von Fourier „Phalangen“ genannt) betrifft, so begriff er, daß dieselbe so weit wie möglich die Landwirtschaft mit der Industrie vereinigen müsse, und daß es notwendig sei, die Arbeit für Alle anziehend zu machen – was ihm das Gelächter der dummen Leute eintrug, dessen Notwendigkeit und Ausführbarkeit wir aber heute begreifen.
Überdies hatte er den Mut, jeden Zwang zu verwerfen. „Die öffentliche Meinung in jeder Gemeinschaft“, sagte er, „würde genügen, um gesellschaftswidrige Handlungen zu verhindern. Unter den Verhältnissen der Gleichheit, bei Beachtung der persönlichen Bedürfnisse und Duldsamkeit für die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Charaktere, würden die Mitglieder jeder Kommune oder Phalange bald begreifen, daß sogar die Leidenschaften der Menschen eine Quelle des Fortschrittes sein können. Es würde genügen, nützliche, gesellschaftliche Betätigungsmöglichkeiten zu finden für die Abenteuerlust, für das Bedürfnis nach Abwechslung und für die anderen Leidenschaften, die man heute bemeistern will, wo doch die Gesellschaft selbst dieselben heranzüchtet, bis sie zu einer sozialen Gefahr werden.“
Es ist überflüssig, hier auf die Art der Entlohnung der Arbeit innerhalb der Phalangen näher einzugehen, welche Fourier vorschlug – daß nämlich die Hälfte des Ertrages der Arbeit zukommen solle, während die die andere in gleichen Teilen an das Talent und das Kapital zu verteilen wäre. Was für die weitere Entwickelung der Fourierschen Ideen von Wichtigkeit ist, das ist die freie, föderative Organisation unter den Gemeinden der Produzenten, die seiner Überzeugung nach an Stelle der zentralisierten Organisation des Staates treten muß.
J.-P. Proudhon und seine Ideen
Wenn man schon bei Fourier die Keime der anarchistischen Ideen findet, muß man doch bis auf Proudhon kommen, um einen Schriftsteller zu finden, der den Mut hatte, das Kapital und den Staat offen anzugreifen und die Idee der Anarchie, so wie wir sie heute verstehen, zu formulieren. Proudhon tat dies von 1840 angefangen, in seinem Werk, das ein Ereignis für ganz Europa war. Sogar der Titel des Werkes: „Was ist das Eigentum? Oder Untersuchungen über die Grundsätze des Rechts und der Regierungen“, war schon ein Programm.
Nachdem er bewiesen, daß das Eigentum bloß eine Form des Raubes, der Plünderung und des Diebstahls ist, zeigte Proudhon, daß eine Hauptfolge des Eigentums der Despotismus ist. Auf die Frage: „Welche Form der Regierung ziehen Sie vor“, antwortete er geradeheraus: „Gar keine!“ – „Was sind Sie denn?“ – „Ich bin Anarchist. Obwohl sehr ein Freund der Ordnung, bin ich in vollster Bedeutung des Wortes Anarchist.“ – „So wie der Mensch die Gerechtigkeit in der Gleichheit sucht, so sucht die Gesellschaft die Ordnung in der Anarchie“, fügte er hinzu. Die Anarchie, die Abwesenheit der Herrschaft, dies ist die Form der politischen Organisation, welcher die heutigen Gesellschaften notwendigerweise entgegengehen. Niemand ist souverän. „Ob wir wollen oder nicht, sind wir verbündet.“
Da jede menschliche Arbeit das Ergebnis einer vereinigten Kraft ist, da jedes Werkzeug bereits die Frucht vereinigten Denkens und vereinigter Arbeit dars teilt, so muß das Eigentum gemeinschaftlich sein. Ein Mensch oder eine Gruppe kann nur im zeitweiligen Besitz des Bodens und des von der Gesellschaft aufgehäuften natürlichen Reichtums und der Produktionsmittel sein. Und da jeder Austausch auf der Gleichwertigkeit der ausgetauschten Sachen oder Dienste aufgebaut sein muß, „ist der Profit ungerecht.“ Das einzige Mittel, diese Gleichwertigkeit zu erreichen, besteht nach Proudhon‚s Meinung darin, den Wert eines jeden Erzeugnisses durch die Zahl der Arbeitsstunden zu messen, welche bei einem gegebenen Stand der Technik verwendet worden sind, um dasselbe zu erzeugen: – die Arbeitsstunde eines jeden Mitgliedes der Gesellschaft wird dabei als gleichwertig mit jener eines jeden anderen Mitgliedes angenommen.
Wenn die Gesellschaft sich nach diesem Grundsatz organisiert – wenn die freien Verbindungen zwischen den Gruppen der Produzenten und Konsumenten, das gleiche Recht aller auf die Produktionsmittel und der gerechte Austausch aufrechterhalten wird – dann wird die Regierung der Menschen über andere Menschen zur unnotwendigen Bedrückung. Die höchste Vollendung der Gesellschaft würde in der Vereinigung der Ordnung mit der Anarchie – dem Fehlen jeder Regierung – bestehen.
Diese Grundideen bilden bis heute das Wesen der Gedankenrichtung, die wir Anarchie nennen.
Später entwickelte Proudhon – die Nutzanwendung aus den Lehren der mißglückten Revolution von 1848 ziehend – die Grundsätze der Anarchie ausführlicher, besonders in seinen zwei Werken: „Allgemeine Ideen über die Revolution im neunzehnten Jahrhundert“ (geschrieben im Gefängnis, erschienen 1851) und „Bekenntnisse eines Revolutionärs“ (1849). Er unterzog in diesen alle Vorschläge, die darauf abzielten, dem System der Regierung durch das Referendum, das „bindende Mandat“ usw. zu neuer Kraft zu verhelfen, einer scharfen Kritik. Unter dem Namen „Mutualismus“ entwickelte er ausführlich seine Ideen über den Austausch und die Entlohnung der Arbeit mittels „Arbeitsnoten“, welche die Arbeitsstunden darstellen würden, die ein jeder der Produktion und den öffentlichen Dienstleistungen gewidmet hat und die durch eine Nationalbank ausbezahlt werden würden.
Er machte sogar einen Versuch zur praktischen Organisierung dieses Austausches, mittels Arbeitsscheinen, die von seiner Volksbank eingelöst wurden. Natürlich schlug dieser Versuch, der notgedrungen in kleinem Maßstab gemacht wurde, fehl und bewies dadurch wiederum, daß jeder Versuch einer teilweisen Reformierung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft von vornherein dem Mißerfolg geweiht ist. Nicht weil er in Kleinem geschieht, sondern weil, solange es Millionen von Menschen gibt, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft und ihre persönliche Unabhängigkeit unter dem Zwang des Hungers zu verkaufen, das Kapital immer jene Macht zur wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Herrschaft bleiben wird, die es heute ist.
Die Internationale Arbeiter-Assoziation
Die endgültige Entwicklung der anarchistischen Ideen vollzog sich im Schoße der Internationalen Arbeitervereinigung, und um dieselben zu verstehen und ihre Tragweite beurteilen zu können, muß man näher auf die Geschichte der Internationale eingehen.
Der Plan einer internationalen Vereinigung der Arbeiter zu ihrer Verteidigung gegen die Kapitalisten reifte seit dreißig Jahren heran (Robert Owen hatte in 1830 in England versucht, eine zu begründen), bis 1862 einige französische Arbeiter, die zum Besuch der Weltausstellung nach London kamen, mit einigen Mitgliedern der englischen Arbeitergewerkschaften (Trade Unions) zusammenkamen. Diese letzteren waren größtenteils Anhänger Owens, während die Franzosen meistens Mutualisten, d.h. Nachfolger Proudhons, waren. Die Begegnung gab den neuen Anstoß und die Möglichkeit dazu, endlich in 1866 die Internationale Arbeitervereinigung zu begründen, welche vor dreißig Jahren weder in Frankreich noch in England geduldet worden wäre. Sie spielte eine ungeheure Rolle, die Idee der sozialen Revolution zu erwecken und nahm in den Jahren 1860–1870 einen raschen und bedeutenden Aufschwung, ehe dieser durch den deutsch-französischen Krieg unterbrochen wurde.
Die Grundidee der Internationale war die Organisierung der Arbeitermassen aller Nationalitäten nach Arbeitszweigen und gewerkschaftlichen und lokalen Vereinigungen, zum unmittelbaren Kampf der Arbeiterschaft gegen das Kapital, auf wirtschaftlichem Gebiet. Doch sollte nach der Idee der Begründer, dieser Kampf nicht auf die teilweisen und zeitweiligen Verbesserungen im Los der Arbeiter beschränkt sein, wie dies in den englischen Gewerkschaften der Fall ist. Die Internationale sollte die vollständige Befreiung der Arbeiter im Auge, haben – das heißt die soziale Revolution, oder wie man es damals nannte, um Verfolgungen zu entgehen, die „soziale Liquidation“.
Aus diesem Grunde wurden außer den Fragen des täglichen wirtschaftlichen Kampfes auch allgemeine Fragen, betreffend die Zukunftsausblicke der Arbeiter auf den Kongressen der Internationalen Arbeiter-Vereinigung besprochen, nachdem dieselben zuvor in den Gewerkschaftsgruppen und lokalen Kongressen beraten worden waren.
In diesen Besprechungen wurde man sich bald über einen Punkt einig. Man begriff, daß die bis dahin vorgeschlagenen Lösungen der sozialen Frage – sei es jene der autoritären Kommunisten, oder der Mutualisten (Proudhon) oder der Bewunderer des Staates (Louis Blanc), der Anhänger Fouriers, Saint-Simons, Robert Owens usw. – noch nicht die richtigen waren. Die richtige Lösung wird nur durch die Arbeiterorganisationen selber gefunden werden – durch die fortwährende Ausübung der Solidarität im Schoße der Arbeiterklasse. Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selber sein. – Dies war das Losungswort der Internationale.
Doch schon von Anfang an traten innerhalb der Internationale selbst zwei Richtungen auf. Ein großer Teil der Arbeiter in den romanischen Ländern (Frankreich, Spanien, Italien) und eine Anzahl Arbeiter in England hatten sich die Lehren der mißglückten Revolution von 1848 und der Chartistenbewegung in England zunutze gemacht. Sie hatten begriffen, daß die Formel der bürgerlichen Demokratie: „Auf dem Wege der demokratischen Republik zur sozialen Revolution!“ falsch ist.
Unter der sozialen Revolution verstanden sie eine so tiefe Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse, daß dieselbe unmöglich durch die Gesetzgebung oder durch einen von Geheimbünden vorbereiteten Handstreich zur Ergreifung der Regierungsmacht im bestehenden Staate verwirklicht werden könnte. Die wirtschaftliche und soziale Revolution müssen Hand in Hand gehen, und die neuen politischen Formen in der Nation, die die Revolution beginnt, werden durch die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt werden, die sich während der Revolution entwickeln. Die politischen Verhältnisse werden die Folgen – und nicht die Ursache – der wirtschaftlichen Verhältnisse sein.
Auf jeden Fall können die neuen politischen Formen, hervorgegangen aus einer Arbeiterrevolution, welche der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende machen wird, nicht mehr jene des zentralisierten Staates sein. Selbst die weniger vorgeschrittenen revolutionären Elemente der Internationale waren wenigstens Föderalisten oder Kommunalisten, während die weiter vorangeschrittenen die vollständige Abschaffung des Staates – „die Auflösung der Regierung in der wirtschaftlichen Organisation“ – voraussahen und sich als Anarchisten bekannten.
Aber die von der Internationale begonnene Bewegung hatte auch die politischen Revolutionäre aller Länder an sich herangezogen, die sich schon seit langem zum Zweck einer politischen, demokratischen Umwälzung in Geheim-Gesellschaften vereinigt hatten. Diese schlossen sich aufrichtig an die Arbeiterbewegung an; aber ihre ganze Erziehung, ihre ganze Vergangenheit führte sie dazu, die politische Revolution an erste Stelle zu setzen. „Begründen wir vor allem eine demokratische Republik“, – sagten sie, wie ihre Vorgänger in 1848 gesagt hatten. „Diese wird dann den Arbeitern die wirtschaftliche Revolution möglich machen.“
Außerdem hatte sich die ganze Entwicklung der Radikalen des neunzehnten Jahrhunderts unter dem Einfluß der jakobinischen Traditionen aus der großen Revolution in Frankreich vollzogen – oder besser gesagt unter dem Einfluß der Legenden über den romantisch ausgeschmückten, angeblichen Jakobinismus, den man fälschlich als die hauptsächliche Triebkraft der großen französischen Revolution darstellte. Demzufolge waren sie unbedingte Anhänger der staatlichen Allmacht, der bis ins Äußerste getriebenen Zentralisation, der starken Regierung.
Diese zwei Ideenströmungen entsprachen auch den zwei Abschnitten der politischen Entwicklung, in denen sich einerseits die romaninischen Völker, andererseits die Deutschen befanden. Das Um und Auf der Deutschen – das Ideal, für welches ihre fortschrittlichen Elemente seit den vierziger Jahren gekämpft hatten – war der einheitliche deutsche Staat. Die lokale Autonomie und die Föderation waren ihnen verhaßt. Sie nannten das Partikularismus, die Kirchturmpolitik und Eigenbrödelei der kleinen Bourgeoisie. Das Ideal der Sozialisten müsse, so sagten sie, das einheitliche, zentralisierte, mächtige Deutsche Reich sein. Manche glaubten sogar an eine sozialistische Cäsarenherrschaft.
In Frankreich war das Gegenteil der Fall. Dort hatte das Volk bereits seine Erfahrungen mit dem Jakobinismus, dem zentralisierten Staat, gemacht; und es hatte 1848 gesehen, wie unfähig eine demokratische Republik zur Lösung der sozialen Frage ist. Die Revolutionäre ließen sich nicht mehr durch diese Schlagworte täuschen. Sie erinnerten sich der revolutionären Tätigkeit der Pariser Kommune von 1793 bis 1794 und sahen bereits eine neue Art der politischen Vereinigung der Menschen auf den Ruinen des zentralisierten Staates emporsprießen.
Spanien und Italien, mit der Unabhängigkeit ihrer Provinzen und ihrem regen lokalen Leben, folgten derselben Richtung, obgleich in Italien die vor kurzem stattgehabten Kämpfe für seine nationale Befreiung und Vereinigung den Geist des Föderalismus einigermaßen zurück drängten.
Wie man sieht, standen sich hier zwei entgegengesetzte Richtungen kampfbereit gegenüber – und der Zusammenstoß ließ nicht lange auf sich warten. Die romanischen Föderationen der Internationale empörten sich gegen die Autorität des Generalrates der Vereinigung, in welchem die deutschen und französischen Jakobiner die Herrschaft inne hatten: und der Kampf personifizierte sich in dem Gegensatz des autoritären Einflusses von Marx und des anarchistischen Einflusses von Bakunin.
Nach dem Kommune-Aufstand – Michael Bakunin
Der deutsch-französische Krieg von 1870–71, die Unfähigkeit der republikanischen Regierung (hervorgegangen aus der Erhebung vom 4. September 1870) zur Organisierung des nationalen Widerstandes und die Unmöglichkeit, der Invasion einer mächtigen Armee standzuhalten, ohne an die Volkserhebung zu appellieren; schließlich der Aufstand von Paris nach dem Friedensschluß, die Ausrufung der Kommune am 18. März 1871 und ihr heldenhafter Widerstand gegen die Armeen der Bourgeoisie sowie die Kommunen, die im folgenden Jahr in Spanien (Charthagena, Barcelona) ausgerufen wurden – all diese Ereignisse bewirkten einen vollständigen Umsturz in den landläufigen Ideen über die überwiegende Rolle der Regierungen in der Revolution. Schritt für Schritt entwickelte sich die Idee der Anarchie, deren Verkünder Bakunin und seine italienischen, spanischen und jurassischen Freunde geworden waren, mit immer mehr Klarheit.
Die Erfahrungen der Pariser Kommune, die die heldenhafte Verteidigung der Stadt durch die Pariser Arbeiter gegen die Regierungsarmee von Versailles und der Widerhall, den die Kommune in Frankreich, Spanien und Italien fand, bewiesen, daß von nun an die Erhebungen des Proletariats nicht mehr den Zweck verfolgen werden, eine zentralisierte Republik zu errichten, wie dies in 1848 der Fall war, sondern daß sie in unabhängigen Gemeindeorganisationen (Kommunen) vor sich gehen werden. Und diese Kommunen werden, durch die Erfahrungen von Paris belehrt, sich nicht mehr darauf beschränken, Reformen politischer Art zu verkünden; sie werden dazu schreiten, in ihrer Mitte die notwendigen wirtschaftlichen Änderungen auf dem Gebiet der Produktion und Konsumtion zu verwirklichen.
So schwebte das anarchistische Ideal nicht mehr im Ungewissen: es knüpfte sich an eine Organisationsform, die ohne Zweifel tatsächlich die Form der nächsten Revolution in den romanischen Ländern sein wird.
Aber auch innerhalb der Kommune selbst – wie das traurige Beispiel von Paris es genugsam gezeigt hat – war die zentralisierte, dem jakobinischen Staat nachgebildete Organisation ein nicht mehr gut zu machender Fehler gewesen. Die Dezentralisation muß weiter gehen als die Souveränität der Kommune. Jeder Stadtteil, jede Gasse muß die Initiative der Sozialrevolutionären Maßnahmen ergreifen, über welche ein Gemeinderat – der, wie jede ehrlich gewählte Körperschaft zur Zeit einer Revolution, notwendigerweise aus den verschiedenartigsten Elementen besteht – sich unmöglich einigen kann.
Der Rat der Pariser Kommune bestand natürlich ebenso gut aus den Vertretern der Vergangenheit wie aus jenen der Zukunft. Aber die Maßnahmen, die das Volk selbst ergreifen würde – welche es sicher ergriffen hätte, wenn nicht die Kanonen der deutschen Armee, verbündet mit jenen der französischen Bourgeoisie von Anfang an die Kommune bedroht und ihr jede Lebensmöglichkeit genommen hätten (jede Revolution braucht eine gewisse Zeit, um sich entfalten zu können) – diese Maßnahmen hätten bestimmt den Charakter der sozialen Gleichheit gehabt. Die Umstände selbst, das Elend der Arbeiter in der Kommune, hätten ihnen diesen Charakter gegeben, gegen die Ansicht der Regierung, welche die Kommune sich gegeben hatte. Unnötig und schädlich innerhalb einer Nation, hatte sich die Regierung ebenso unmaßgebend, unfähig und schädlich in der Kommune gezeigt.
Deshalb konnten, nach der Pariser Kommune von 1871, Bakunin und seine Freunde sich auf die allgemein erkannten Tatsachen stützen und die Idee der vollständigen Abschaffung des Staates verkünden. In der Vergangenheit war der Staat eine historische Notwendigkeit gewesen; aber heute ist es die Abschaffung des Staates, welche zur historischen Notwendigkeit geworden ist, denn der Staat ist die Verneinung der Gleichheit und Freiheit, er ist die Hauptwaffe zur Aufrechterhaltung der Privilegien, der Klassenstellung, der Macht des Kapitals, das Hauptwerkzeug zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse. Die vollständige Unabhängigkeit der Kommune, die Föderation der freien Kommunen, und die soziale Revolution innerhalb der Kommune – durch das Volk selber vollbracht – dies ist der nächste Schritt, den wir in der kommenden Revolution zu tun haben werden. Der freie Mensch ist die erste Grundlage einer freien Gesellschaft. Seit dieser Zeit haben sich diese Ideen immer weiter verbreitet und entwickelt.
Jahre des Stillstandes
Es ist wahr, daß infolge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 die Entwicklung des europäischen Proletariats vom Weg, den dieselbe in der Internationale genommen hatte, abgelenkt wurde. Die Unterwerfung Frankreichs und die Errichtung eines mächtigen Militärstaates im Mittelpunkt von Europa hielten die internationale Entwicklung des direkten Kampfes der Proletarier gegen ihre Ausbeuter auf. Diese Ereignisse drängten sie wieder auf den unfruchtbaren Weg der parlamentarisch-politischen Kämpfe.
Es war übrigens nicht bloß ein mächtiger Militärstaat, der in Deutschland entstanden war. Es war auch die Entfaltung einer neuen industriellen Nation, gekräftigt durch alle vorhergegangenen Errungenschaften der Wissenschaft, voll jugendlicher Lebenskraft und mit einem erschreckend raschen Anwachsen ihrer Bevölkerung. Diese ganze, riesig anwachsende Bevölkerung strömte in die Städte, und innerhalb dreißig Jahren entwickelte sich eine riesige Industrie. Im Schoße dieser industriellen Bevölkerung, der die Regierung unter Bismarck das allgemeine Wahlrecht gewährt hatte und die noch ihr ganzes Vertrauen auf dieses allgemeine Wahlrecht setzte, nahm der staatliche politisch-parlamentarische Sozialismus eine rasche Entwicklung.
Bis dahin hatte es in den verschiedenen Staaten und kleinen Fürstentümern, aus denen Deutschland bestand, keine radikalen politischen Parteien gegeben. Nun bildete sich im Parlament des Deutschen Reiches unter dem Namen der Sozialdemokratie eine gemischte, radikalsozialistische Partei. Sie nahm in der Einleitung zu ihrem Programm sozialistische Ausblicke für die fernste Zukunft an, aber sie beschränkte ihre unmittelbaren Forderungen in ihren Wahlprogrammen auf die allerbescheidensten Wünsche für eine Arbeitergesetzgebung. So gewann die sozialdemokratische Partei sowohl die immerfort anwachsende Masse des städtischen Proletariats, wie auch die kleine Bourgeoisie, welche mit dem feudalen Charakter, den die Regierung beibehalten hatte, unzufrieden war. Auf diese Art gelang es der Partei im Laufe der Jahrzehnte, bei den Wahlen ein, zwei, drei und sogar vier Millionen Stimmen auf sich zu vereinigen und bis zu 110 Sitzen im Reichstag zu erhalten.
Freilich hat die Sozialdemokratie, trotz dieser imposanten Zahlen, den Beweis ihrer jämmerlichen Unfähigkeit gegeben, was das Erreichen von Reformen, sowohl wirtschaftlicher wie politischer Art, betrifft. Aber die Zahlen imponieren eben, und infolgedessen triumphierte während der letzten dreißig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts der parlamentarische Sozialismus über die anarchistische Richtung und über die Arbeiterorganisationen, welche sich den direkten Kampf der Arbeit gegen das Kapital zum Ziel gesteckt hatten.
Unter diesen Verhältnissen fand die Propaganda des Anarchismus allerdings keinen günstigen Boden, bis die Enttäuschung über die parlamentarische Agitation begann, während die Erfolge der direkten Aktion und des Generalstreiks den Arbeitern endlich die Augen öffneten. Diese Jahre des Stillstandes ermöglichten übrigens den Anarchisten, ihre Ideen zu vertiefen und deren historische Grundlagen und Bedeutung für die Zukunft besser zu erkennen.
Die heutige Auffassung
Die Anarchie stellt sich heute als eine Auffassung der herrschaftslosen Gesellschaft dar; eine Gesellchaft, in welcher die Harmonie der Beziehungen unter den Menschen nicht durch die Unterwerfung Aller unter ein System von Gesetzen oder die gewählte oder erbliche Autorität von irgend jemand zustande kommen wird, sondern durch die freiwillige Übereinkunft zwischen den verschiedenen Gruppen entsteht – jener Gruppen, die sich je nach dem gemeinsamen Wohnsitz, dem Beruf und anderen gemeinschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder bilden werden, um die Erzeugung, den Verbrauch und den Austausch von Gütern, sowie die Befriedigung der tausenderlei Bedürfnisse des zivilisierten Menschen möglich zu machen.
In einer Gesellschaft, welche sich nach diesem Grundsatz organisiert, wird die freiwillige Vereinigung, die wir schon heutzutage für alle Lebensnotwendigkeiten erstehen sehen, eine neue mächtige Entfaltung nehmen. Sie wird an die Stelle des Staates treten – noch viel mehr, als dies bereits heute der Fall ist -; sie wird sich auf all jene Gebiete ausdehnen, welche heute als Machtsphäre des Staates angesehen werden. Die Gesellschaft wird dann ein Netzwerk von Gruppen aller Größen und von Föderationen aller möglichen Abstufungen werden – von lokalen, regionalen, internationalen, langandauernden oder zeitweiligen Verbindungen – von Verbindungen zur Befriedigung aller nur denkbaren Bedürfnisse, welche das Zusammenwirken einer gewissen Anzahl Menschen erfordern. Produktion, Konsum und Austausch; innerer und internationaler Verkehr; Erziehung, Gesundneitsmaßnahmen, Verteidigung, gegenseitige Versicherung gegen Unglücksfälle; schließlich all die tausenderlei wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen und geselligen Bedürfnisse einer zivilisierten Gesellschaft könnten durch diese Vereinigung befriedigt werden, ohne daß es im geringsten notwendig ist, sich dafür an die Kirche oder den Staat zu wenden.
In einer Gesellschaft, die sich auf dem System der freiwilligen Vereinigung aufbaut – anstatt auf dem System der Vorrechte und Monopole, die der Staat heute zum Profit der herrschenden Minoritäten geschaffen hat – könnte der Mensch leicht einen sehr hohen Grad von Wohlstand für Alle und auch die vollständige Entfaltung seiner Persönlichkeit erreichen, welche heute unter dem gesellschaftlichen System des Individualismus der Bourgeoisie einfach unmöglich ist, und welche unter was immer für staatssozialistischem oder autoritär-kommunistischem System ebenfalls unmöglich wäre.
Die Idee dieser Gesellschaft ist keine Utopie, denn sie folgt aus der Beobachtung der Tendenzen, die sich bereits heute in der Gesellschaft zeigen. Das Recht der Persönlichkeit wird nicht mehr bloß yon einigen vereinzelten Rebellen verkündet; es ist ein fester Standpunkt, den sich unser Fortschritt erobert hat. Unser Zeitalter wird sich nicht mehr zum Cäsarismus bequemen, von dem man nach 1848 träumte, und ebensowenig wird es sich an den allmächtigen Staat der deutschen Sozialdemokratie anpassen.
Man beginnt zu verstehen, daß es unsinnig ist, sich einzubilden, daß die Kirche, nachdem sie Jahrhunderte lang ein Werkzeug der Unterdrückung war, jetzt auf einmal ein Mittel zur Befreiung werden könne; und ebenso kindisch ist es, sich einzubilden, daß der Staat, dessen Ursprung und Aufgabe die Schaffung von Monopolen zugunsten der besitzenden Klassen war, das Werkzeug dazu werden könne, die Masse des Volkes vom Druck dieser Monopole zu befreien. Man merkt auch, wie verfehlt es ist, unter dem Vorwand der Nationalisation (Verstaatlichung) der natürlichen Reichtümer in der Gesellschaft den bestehenden Bourgeoisiestaat mit der riesigen Macht auszustatten, welche ihm der Besitz der Eisenbahnen, der Bergwerke und aller Art Monopole – Banken, Verkauf von Spirituosen usw. – gibt. Um so mehr, da die Arbeiter in England bereits die Frage aufgestellt haben, ob die Gewerkschaften der Eisenbahn- und Hafenarbeiter die zu Gemeindeeigentum gemachten Eisenbahnen und Hafenanlagen nicht ebenso gut verwalten könnten, als die Ministerien mit ihrer Hierarchie von Beamten? – eine Frage, deren Aktualität durch den großen Streik der russischen Eisenbahnarbeiter und der transsibirischen Linie in 1905 so trefflich bewiesen wurde.
Auf jeden Fall steht eines fest: Wenn die Idee des Staates als Verwalter aller Industrien für einen Augenblick wünschenswert erscheinen mochte, so ist jetzt diese Idee dazu verurteilt, immer mehr an Ansehen zu verlieren, in dem Maße, wie die Fähigkeit der Arbeiterklassen, sich selbst zu organisieren, immer mehr durch ihre direkte Aktion zutage tritt.
Die Richtung, in welcher heute unsere Gesellschaft voranschreitet, ist die Dezentralisation; sowohl die territoriale Dezentralisation, je nach Provinzen, Gemeinden, Stadtteilen, Gassen; wie auch die Dezentralisation der Funktionen, die Bildung von mannigfachen Gruppen je nach Berufszweigen, von Gruppen von Konsumenten, Gruppen für den Austausch und für alle nur denkbaren bestimmten Zwecke.
Der kommunistische Anarchismus
Was die Abschaffung des Staates und seiner Regierungstätigkeit, sowie die vollständige Verneinung der kapitalistischen Herrschaft betrifft – darüber sind sich alle Anarchisten klar und vollkommen einig. Andererseits sind sie, in Übereinstimmung mit jedem Sozialisten, die noch der Idee der sozialen Revolution treugeblieben sind, vollständig einig darüber, das Recht des Privateigentums an Boden, Wohnhäusern, Bergwerken, Verkehrsmitteln, Fabriken, Werkstätten, Lebensmittelniederlagen usw. – kurzum an allem, was zum Leben und Produzieren notwendig ist, zu verneinen.
Aber die Anarchisten sind noch weit davon entfernt, sich über die Mittel einig zu sein, welche es ermöglichen würden, den gesellschaftlichen Reichtum Allen zugänglich zu machen. Die Unsicherheit, welche über diesen Punkt in allen sozialdemokratischen Parteien vorhanden ist – vielleicht infolge der ungenügenden Aufmerksamkeit, welche man gewöhnlich dieser wichtigen Frage zugewendet hat – findet sich auch bei den Anarchisten.
Alles, was sich diesbezüglich heute sagen läßt, ohne in optimistische Übertreibung zu verfallen, ist dies: Wenn in naher Zukunft eine kommunale Revolution in den Städten und Gemeinden der romanischen Länder ausbricht, so wird es Kommunen geben, die nicht zögern werden, die Wohnhäuser als Gemeindeeigentum zu erklären, um so für jedermann eine anständige Wohnung zu sichern; und unter irgendeiner Form wird die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln als eine Frage von öffentlichem Interesse betrachtet werden. Andernteils ist es auch sehr wahrscheinlich, daß an vielen Orten die Gewerkschaften der Arbeiter sich unter irgendeiner Form der Eisenbahnlinien, Hafenanlagen, Fabriken und Werkstätten bemächtigen werden. Was dies betrifft, so hat man es schon heute in England gesehen, daß, als die Unternehmer die Bezahlung eines zum Leben notwendigen Arbeitslohnes (living wage) verweigerten, die Arbeiter zu den Unternehmern sagten: „Dann geht fort! Wir werden schon wissen, wie den Betrieb aufrecht zu erhalten, ohne daß die Arbeiter Not zu leiden brauchen!“ Und diejenigen, die die Industrie kennen, wissen, daß dies kein leeres Prahlen ist.
Wenn man noch einige Zweifel darüber hegen mag, ob die Arbeitergewerkschaften fähig sind, den Verkauf jener Erzeugnisse zu organisieren, für welche eine künstliche Nachfrage geschaffen werden muß – so steht doch ihre Fähigkeit, die Produktion und den Verkauf jener Gegenstände, welche für die große Masse notwendig sind, zu organisieren, außer Zweifel: sie haben in ihren Genossenschaften reichlich bewiesen, daß sie dies können. Und was jene Gegenstände betrifft, die heute noch Luxusgegenstände sind – die Muße für Alle, welche eine von Ausbeutern befreite produktive Arbeit jedem sichern wird, und der Geist der Vereinigung werden genügen, um die notwendigen Gruppierungen zu schaffen, welche all die Unzahl Gegenstände erzeugen werden, die heute bloß der Luxus der Wenigen sind, dann aber den allen zugänglichen Fortschritt der Industrie darstellen werden.
So entstand unter den Anarchisten eine gewisse Übereinstimmung in der Auffassung der wesentlichen Züge der anarchistischen Gesellschaft und der revolutionären Mittel zur Erreichung derselben. Der Punkt, der aber noch unsicher ist, ist die Frage, nach welchem Grundsatz die produktive Arbeit eines Jeden entlohnt werden solle. Früher, in der föderalistischen Internationale, begnügte man sich damit, zu sagen, daß dies der Kollektivismus sein würde. Dieses Wort war 1848 von Pecqueur eingeführt worden, um die Entlohnung der Arbeiter-Untertanen durch die staatskapitalistische Regierung nach der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden zu bezeichnen; später wurde der Name von Collins in weiterem Sinne gebraucht und durch die französischen Mitglieder der Internationale in diese letztere eingeführt, um eine genaue Bezeichnung der Entlohnungsart zu vermeiden, welche nach der gesellschaftlichen Besitznahme der zum Leben und Produzieren notwendigen Sachen angenommen werden könnte. Man sagte zu dieser Zeit: Einige produktive Gruppen könnten die kommunistische Verteilung der Produkte annehmen, während andere vielleicht die Entlohnung durch Arbeitsscheine oder nach was immer für einem System vorziehen würden.
Aber dieses Wort „Kollektivismus“ gab zu Mißverständnissen Anlaß, besonders seit es durch die Sozialdemokraten für ihren sozialistischen Staat angenommen wurde; und da ein Teil der Anarchisten offen kommunistisch gesinnt war, wurde im Jahre 1880 durch die italienische Föderation und einige Monate später durch die Juraföderation der Internationale beschlossen, sich anarchistische Kommunisten zu nennen.
Unsere Gegner versäumten nicht, uns zu sagen, daß die Worte „Anarchie“ und „Kommunismus“ sich nicht miteinander vertragen. Man antwortete ihnen darauf, daß es ein großer Irtum sei, den Kommunismus nur unter der staatlichen Form aufzufassen, den ihm Cabet und seine Nachfolger gegeben. Die kommunistische Auffassung, die darin besteht, daß eine bestimmte Gruppe, Föderation oder Gesellschaft, von ihren Mitgliedern nur soviel fordert, als dieselben ihren Fähigkeiten gemäß leisten können und ihnen dafür die Befriedigung der Bedürnisse eines jeden sichert – diese Auffassung beeinträchtigt nicht im geringsten den Charakter der persönlichen Beziehungen, die in dieser Gruppe oder Gesellschaft unter den Mitgliedern bestehen werden. Sie können – wie Cabet es wollte – auf der vollständigen Unterwerfung, des Einzelnen, oder auf der Gleichheit und vollen Freiheit eines jeden begründet sein.
Außerdem läßt diese Idee sich den verschiedensten Formen anpassen. Man kann sich z.B. eine Kommune oder sogar einen Landstrich oder eine Arbeitergewerkschaft vorstellen, in welchen alles, was heute als ein nur den Wenigen zugänglicher Reichtum angesehen wird, jedem Mitglied gesichert sein würde, als Gegenwert für, sagen wir, täglich fünf Stunden Arbeit in irgend einem Arbeitzszweig, der durch die Gemeinde oder Gewerkschaft als allgemein nützlich anerkannt ist. Und es ist begreiflich, daß in einer derartigen Gesellschaft die ganze Menge von Beamten, die heute auf Kosten der Arbeitenden leben, gänzlich überflüssig sein würde.
Aber der Wohlstand, gesichert als Entgelt für einen halben Arbeitstag – wo heute, bei der Ausbeutung der Arbeit durchs Kapital, durch das kommerzielle Monopol und durch den Staat, wir nicht einmal nach zehn- bis zwölfstündiger, erschöpfender und ungesunder Arbeit zum Wohlstand gelangen können – dies ist schon ein Recht auf Muße für alle, welches heute nur einer kleinen Minorität von privilegierten Personen zukommt. Und die Muße gibt jedem das Recht, nicht bloß auf den Luxus, sondern hauptsächlich auf die volle Entwicklung seiner Persönlichkeit.
Die Bourgeois dachten, sich dieses Recht, welches jedem unabhängigen Wesen so teuer ist, durch den industriellen und kommerziellen Individualismus zu sichern; sie machten denselben zu ihrer Religion, und es gibt noch naive Leute, die diesen unabhängigen Wohlstand zu erreichen hoffen, wenn sie sich „Individualisten“ nennen. Doch die intelligenteren Bourgeois fangen schon an, zu verstehen, daß diese Zeit von (übrigens sehr beschränktem) Wohlstand und Unabhängigkeit, welche von einigen unter ihnen auf Kosten der Versklavung der Massen erobert worden ist, bereits zu Ende geht. Die Massen weigern sich, die Lasttiere des Bourgeoisindividualismus zu bleiben.
Die Idee der kommunistischen Anarchisten, daß nämlich die volle Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden bloß in einer Vereinigung erreicht werden kann, welche jedem die Befriedigung seiner wichtigsten Bedürfnisse, gegen ein Minimum von gesellschaftlich nützlicher Arbeit gewähren wird – diese Idee wird allmählich begriffen, und in Folge dessen klären sich die Mißverständnisse, mit welchen der anarchistische Kommunismus bei seinem Erscheinen empfangen wurde.
Die mutualistische Richtung
Im Gegensatz zur kommunistischen Richtung gab es unter den Anarchisten von jeher eine Richtung, welche man oft die individualistische genannt hat, die aber mehr den Namen des anarchistischen Kollektivismus oder Mutualismus (im Sinne Proudhon‚s) verdient. Seine hauptsächlichen Vertreter waren die Amerikaner Stephan Pearl Andrews, W. Greene, Joshua Warren, Lysander Spooner in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; und späterhin Benjamin Tucker, der eine Kombination der antistaatlichen Ideen des englischen Philosophen Herbert Spencer mit jenen Proudhon‚s vertritt und seit 1881 in Boston die mit viel Geschick redigierte Zeitschrift „Liberty“ (Freiheit) herausgibt.
Diese individualistischen Anarchisten, besonders Spooner und Tucker, haben eine treffliche Kritik des Staates geliefert. Tucker verwirft den Staat in all seinen Formen, einerlei, ob derselbe auf erblichen Rechten oder auf der Herrschaft der Majorität, dem allgemeinen Wahlrecht begründet ist. Er anerkennt nur die freiwillige Vereinigung, begründet durch einen frei geschlossenen und jeden Moment durch jedes Mitglied widerrufbaren Vertrag. Aber er erkennt dieser Vereinigung das Recht zu, ihre Mitglieder zur Erfüllung ihrer gegenüber der Vereinigung und den übrigen Mitgliedern auf sich genommenen Verpflichtungen zu zwingen und sie zu diesem Zwecke mit Strafen (die Todesstrafe mit eingerechnet) zu belegen; er nimmt sogar für diesen Zweck die Notwendigkeit eines besonderen Organes an. Da er außerdem auch das Recht auf Privateigentum anerkennt, muß man sich fragen, ob diese Zugeständnisse nicht eine Wiederherstellung der Regierung und des Staates bedeuten? Die Funktion würde sich schließlich wieder ihr Organ schaffen.
Die individualistischen Anarchisten
Es gibt endlich eine Anzahl Anarchisten, die sich individualistisch nennen und das Selbstinteresse als Grundsatz proklamieren. Sie bestehen aus sehr verschiedenartigen Elementen, aber den besten Ausdruck der Ideen, die unter ihnen vorherrschen, hat wohl ein Deutscher namens Johann Kaspar Schmidt gegeben, der in 1845 unter dem Namen Max Stirner ein kraftvoll und mutig geschriebenes Werk: „Der Einzige und sein Eigentum“ veröffentlichte. Das Buch wurde bald wieder vergessen und erst vor rund 15 Jahren von J.H. Mackay wie neu entdeckt, und von den individualistischen Anarchisten als der Ausdruck ihrer Ideen bewillkommnet.
Im Grunde genommen enthält dieses Werk keine Idee einer neuen auf die Gerechtigkeit gegründeten Gesellschaft. Es ist eher ein kräftiger Aufruf zur Empörung des Einzelmenschen gegen den Staat und gegen alle Einrichtungen und Grundsätze der bestehenden Gesellschaftsordnung – gegen die Fesseln, die sie dem Menschen auferlegt. Eine Revolution bezweckt die Umwälzung der Einrichtungen; aber was, bei der heutigen Erniedrigung der Menschen, Not tue – meint Stirner – das ist die Empörung, die Kraftanstrengung des Einzelmenschen gegen alles, was besteht, gegen alle Fesseln, durch welche die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ihn in Knechtschaft zu halten sucht.
Diese Empörung des Individums war eine notwendige Folge der Hegelschen Philosophie, welche zu dieser Zeit die Geister vollständig beherrschte und die vollständige Selbstvernichtung des Individuums vor dem Gottes-Staat lehrte. Die Hegelianer waren bis zur Rechtfertigung alles Bestehenden gelangt – mit Einschluß der politischen Reaktion, die damals in Deutschland und Rußland ihren Höhepunkt erreicht hatte; und Stirner wurde – im Gegensatz zur herrschenden Reaktion – so zum Apostel der bis zum Äußersten getriebenen Empörung.
„Alles, was heilig ist, ist eine Fessel, eine Kette“, sagte er. „Halte dich für mächtiger als du scheinst, und du wirst es werden...“ „Die Armen werden bloß dann frei werden, wenn sie sich empören, wenn sie sich erheben werden...“ „Es ist nur vom Egoismus, daß das Volk eine Hilfe erwarten darf; diese Hilfe muß es sich selber leisten...“ Es ist nur durch die willkürliche Kühnheit, daß der Staat“ besiegt werden kann“, und so weiter.
Dies sind jedenfalls Worte, die im Stande sind, die Empörung zu entfachen. Doch Stirner blieb nicht dabei stehen. Im selben Tone fortfahrend, sagt er weiterhin: „Ich werde vor gar keiner Tat Halt machen, was immer sie sei. Ich werde nicht zurückweichen vor dem Geist der Ruchlosigkeit, der Immoralität, der Ungerechtigkeit, welche dieselbe beseelt... Das Recht auf Leben und Tod, welches sich Kirche und Staat vorbehalten haben, nehme ich für Mich in Anspruch; ihre Güter, sowohl materielle, wie geistige, gehören Mir. Ich behandle sie als Eigentümer gemäß Meiner Kraft.“
Man muß übrigens diese letzten Redensarten nicht wörtlich nehmen, denn, ähnlich wie andere deutsche Philosophen, die, nachdem sie auf dem Papier „alles zerstört“ haben „um den Geist zu befreien“, sich den preußischen Gendarmen fügten – ebenso endete Stirner; (zwar, ohne so weit zu gehen) damit, daß er, nachdem er in Worten alles zerstört hatte, die „Vereinigung der Egoisten“ anerkannte, in welcher nichts dergleichen zugelassen würde. Hier, sagte er, würde „der Kampf zwischen Egoisten“ bald „die Gerechtigkeit“ in gegenseitigen Zugeständnissen herbeiführen. Dann, indem er vom Grundeigentum spricht, sagt er: „Das, woran alle einen Anteil haben wollen, wird jenem, der es für sich allein besitzen will, entzogen und als Gemeingut erklärt werden“, wie „unserem alten Erbrecht gemäß ein Haus, das fünf Erben gehörte ihr gemeinsames, ungeteiltes Eigentum wird während bloß ein Fünftel des Ertrages einem jeden als Eigentum zufällt.“
Man kann sogar sagen, daß in seinem sozialen und politischen Ideal Stirner sich Proudhon nähert, dessen Werk gegen das Eigentum gerade erschienen war. So wie Proudhon und Godwin, sprach er zu Gunsten der freien Vereinigungen, die sich immerfort an die Verhältnisse anpassen und den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen gemäß entstehen.
Wie wir, verkündete er den Generalstreik und die soziale Expropriation. Er erkannte sogar die Vorteile des teilweisen Kommunismus an und sagte, daß die „menschlichen und universalen“ Bedürfnisse (wir nennen sie die vor allen notwendigsten Bedürfnisse) durch die Gesellschaft befriedigt werden müssen. Er sah darin schließlich doch den besten Weg, um der großen Mehrzahl der Menschen die Entfaltung ihrer Persönlichkeit möglich zu machen.
Man sieht aus all dem, daß Stirner im allgemeinen viel mehr den Staat angriff als die Gesellschaft; aber er verwechselt die beiden oft, wie der größte Teil seiner Zeitgenossen besonders in Deutschland. Nur ging er, ähnlich wie die heutigen Kollektivisten, nicht so weit, um die gleiche Entlohnung aller Arbeit und aller der Gesellschaft geleisteten Dienste zu fordern. Für seine aus Literaten und Künstlern bestehenden „Vereinigungen von Egoisten“ verlangte er Vorrechte, die, seiner Meinung nach, den Wesen höheren Ranges zukommen. „Wenn du tausenden Genuß verschaffen kannst, werden tausende dich belohnen. – Soll Ich, der Machtvolle, keine Vorteile über den Machtlosen haben?“; also die höheren Ansprüche des „Intellektuellen“ sind ihm geblieben.
Dies ist wahrschein lich die Ursache, warum sein Buch, trotz dem mächtigen Hauch der Empörung, der in demselben enthalten ist, auf die Empörung der Arbeiter nicht jene Wirkung ausübte, welche es sonst gehabt hätte. Seine Leser begriffen, daß sein „Individualismus“ ein aristokratischer Individualismus ist und diesen hatte man bei der Bourgeoisie genugsam am Werk gesehen. Für uns ist die Arbeit Stirners, wie jene Nietzsche‚s und Spencer‚s nur eine neuerliche Bekräftigung des kommunistischen Anarchismus.