Peter Kropotkin
Die anarchistische Idee und ihre Verwirklichung
1. Das aufmerksame Studium der heutigen ökonomischen und politischen Lage führt uns zur Überzeugung, daß Europa schnell einer Revolution entgegenschreitet; daß diese Revolution sich nicht auf ein einziges Land beschränken, sondern sich, sobald sie irgendwo ausbricht, wie 1848 in die Nachbarländer verbreiten und mehr oder weniger ganz Europa umfassen wird; daß sie ferner zwar, entsprechend dem Stand der historischen Entwicklung und den lokalen Verhältnissen, bei verschiedenen Völkern verschiedene Formen annehmen wird, daß sie aber ein bestimmtes, allgemeines Kennzeichen besitzen wird: Sie wird nämlich nicht nur eine politische, sondern vor allem auch eine ökonomische Revolution sein.
2. Charakter und Intensität der ökonomischen Revolution können bei verschiedenen Völkern unterschiedlich sein. Es ist aber wichtig, daß, worin auch immer dieser besondere Charakter bestehen mag, die Sozialisten aller Länder die Desorganisation der Macht während der revolutionären Periode benutzen und alle ihre Kräfte der gründlichen Umgestaltung des Eigentumsregimes widmen, die dadurch erreicht wird, daß die jetzigen Inhaber des Großgrundbesitzes, der Arbeitsmittel und allen Kapitals unbedingt enteignet und dieses ganze Kapital in den Besitz derer, die das Land bebauen, in den Besitz der Arbeiterorganisationen und der ländlichen und städtischen Gemeinden überführt wird. Diese Enteignung muß durch die Stadt- und Landarbeiter selbst erfolgen. Es wäre ein großer Irrtum zu hoffen, daß irgendeine Regierung diese Enteignung durchführen wird, denn die Geschichte lehrt uns, daß die Regierungen, selbst wenn sie aus einer Revolution hervorgegangen sind, stets nur die bereits vollzogenen revolutionären Tatsachen legalisieren. Und selbst um die Zustimmung zu diesen revolutionären Maßnahmen, die in der Zeit des Aufruhrs laut verlangt worden waren, mußte das Volk einen langwierigen Kampf mit den Regierungen führen. Überhaupt würde eine so wichtige Maßnahme toter Buchstabe bleiben, wenn sie nicht frei in jeder Gemeinde, in jedem Teil des Landes von den Interessenten selbst verwirklicht würde.
3. Die Enteignung und Vergesellschaftung des sozialen Kapitals müssen überall, wo und wann sich die Möglichkeit dazu bietet, vollzogen werden, und zwar ohne daß man sich darum kümmert, ob ganz Europa oder dessen Mehrheit oder die Mehrheit eines Landes dazu bereit ist, die kollektivistischen Ideen zu akzeptieren. Die Nachteile einer nur partiellen Verwirklichung des Kollektivismus werden von den Vorteilen bei weitem aufgewogen. Ist er erst an einem Ort verwirklicht worden, dann wird diese Tatsache selbst das mächtigste Propagandamittel der Idee werden und wie ein starker Motor auch dort eine Bewegung auslösen, wo zur Übernahme der kollektivistischen Idee wenig vorbereitete Arbeiter mit der Enteignung zögern. Es wäre überhaupt müßig, darüber zu diskutieren, ob man mit der Verwirklichung der kollektivistischen Ideen warten müsse, bis sie von der Mehrheit einer Nation akzeptiert worden sind oder nicht; denn es ist gewiß, daß die doktrinären Sozialisten – außer wenn sie sich als Regierung konstituieren, die auf das Volk schießt – nicht verhindern werden, daß die Enteignung schon an Orten vorgenommen wird, die in ihrer sozialistischen Erziehung fortgeschrittener sind, selbst wenn die große Masse der Bevölkerung noch untätig bleibt [1].
4. Nachdem die Enteignung vollzogen und der Widerstand der Kapitalisten gebrochen worden ist, wird sich nach einer Periode der Versuche zunächst in begrenztem, dann in erweitertem Rahmen unvermeidlich eine neue Organisationsform und Austauschweise herausbilden. Diese Form wird den Erwartungen des Volkes, den Erfordernissen des Lebens und der gegenseitigen Beziehungen mehr entsprechen als jede Theorie, und sei sie noch so schön, die dem Nachdenken und der Phantasie von Reformern oder der Tätigkeit einer gesetzgebenden Körperschaft entspringt. Doch glauben wir uns nicht zu täuschen, wenn wir schon heute voraussehen, daß die Basis der neuen Organisation, wenigstens in den romanischen Ländern, die freie Föderation von Produzentengruppen und die freie Föderation von Kommunen und von Gruppen unabhängiger Kommunen bilden werden.
5. Wenn die Revolution sofort die Enteignung durchführt, gewinnt sie dadurch eine innere Kraft, die es ihr erlaubt, sowohl den Angriffen von außen als auch den Bemühungen im Innern zu widerstehen, die darauf ausgehen, eine Regierung zu bilden, die die Revolution unterdrücken soll. Selbst wenn die Revolution besiegt würde oder die Enteignung nicht in dem von uns vorausgesehenen Umfang durchgeführt werden könnte, würde eine auf dieser Grundlage begonnene Volksbewegung doch der Menschheit den ungeheuren Dienst erweisen, das Kommen der sozialen Revolution zu beschleunigen. Da sie (wie alle Revolutionen) trotz ihrer Niederlage dem Proletariat eine gewisse sofortige Verbesserung seines Schicksals bringt, wird sie für die Zukunft Erhebungen unmöglich machen, deren Ausgangspunkt nicht die Enteignung der Wenigen zum Nutzen aller ist. Ein künftiger revolutionärer Ausbruch würde dann zwangsläufig zur Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung und dadurch zur ökonomischen und politischen Gleichheit, zur Arbeit für alle, zur Solidarität, zur Freiheit führen.
6. Damit die Revolution alle die Früchte trägt, die das Proletariat nach Jahrhunderten beständiger Kämpfe und unzähligen Opfern mit Recht erwartet, muß die revolutionäre Periode mehrere Jahre lang dauern, damit sich die Propaganda der neuen Ideen nicht nur auf die großen geistigen Zentren beschränkt, sondern bis in die letzten Dörfer dringt, um die Trägheit zu überwinden, zu der die Massen unvermeidlich neigen, bevor sie sich in eine gründliche Umgestaltung der Gesellschaft stürzen, kurz: damit die neuen Ideen Zeit haben, sich in einer Weise weiterzuentwickeln, die dem wirklichen Fortschritt der Menschheit dient. Statt also sofort nach dem Sturz der Regierung eine neue Regierung zu bilden, die, zu Beginn der Revolution und zur Zeit des ersten Erwachens der neuen Ideen entstanden, ihrem Wesen nach unvermeidlich konservativ sein würde, die als Repräsentantin der ersten Phase der Revolution nur die freie Entwicklung ihrer weiteren Phasen stören und außerdem unbedingt danach streben würde, die Revolution aufzuhalten und zum Stillstand zu bringen – statt dessen ist es die Pflicht der Sozialisten, die Bildung jeder neuen Regierung zu verhindern und vielmehr die Kräfte des Volkes zu ermuntern, die das alte System zerstören und zugleich die neue Gesellschaftsordnung schaffen.
7. Das ist unsere Vorstellung von der kommenden Revolution und das Ziel, das wir uns gestellt haben. Für die gegenwärtige Übergangsperiode folgt daraus, daß wir alle unsere Anstrengungen auf eine umfassende Propaganda der Idee der Enteignung und des Kollektivismus konzentrieren müssen. Statt diese Grundsätze in einem Winkel unseres Gehirns ruhen zu lassen, um zum Volk nur von den genannten politischen Fragen zu sprechen (wodurch die Geister auf eine primär politische Revolution vorbereitet werden und deren ökonomischer Charakter, der ihr allein die notwendige Durchschlagskraft verleihen kann, verwischt wird), müssen wir im Gegenteil immer und überall diese Ideen vertreten, ihre praktische Bedeutung aufzeigen, ihre Notwendigkeit beweisen; wir müssen alle unsere Bemühungen darauf richten, das Volk auf die Übernahme dieser Ideen vorzubereiten, die zwar denen, die politisch-ökonomische Vorurteile hegen, auf den ersten Blick so fremd erscheinen, die aber für die, die sich aufrichtig mit ihnen beschäftigen, zur unbestreitbaren Wahrheit werden, einer Wahrheit, deren sich heute sogar die Wissenschaft bemächtigt und die oft auch von denen anerkannt wird, die sie öffentlich bekämpfen.
Wenn wir diesen Weg beschreiten, ohne uns von dem oft künstlichen Augenblickserfolg der politischen Parteien blenden zu lassen, dann arbeiten wir daran, daß unsere Ideen in die Massen eindringen; dann fördern wir unmerklich einen Meinungsumschwung zugunsten unserer Ideen und sammeln die nötigen Männer für die breite Propaganda der Ideen in der bevorstehenden Gärungszeit. Die geschichtliche Erfahrung zeigt uns, daß gerade in solchen Gärungszeiten, in denen Ideen mit einer Schnelligkeit verbreitet und weiterentwickelt werden, wie man sie in ruhigen Zeiten gar nicht kennt, sich die Ideen der Enteignung und des Kollektivismus flutartig verbreiten und die großen Volksmassen zu ihrer Verwirklichung inspirieren können.
8. Damit die Revolutionsperiode mehrere Jahre dauern und ihre Früchte tragen kann, darf die kommende Revolution sich keinesfalls nur auf die großen Städte beschränken; die Erhebung zugunsten der Enteignung muß sich vor allem auf dem Land vollziehen. Deshalb müssen wir, ohne uns auf den revolutionären Schwung zu verlassen, der sich in Gärungszeiten gewöhnlich von den Städten auf die Dörfer überträgt, schon jetzt auf dem Land den Boden bereiten.
Vorläufig und um Erfahrung zu erwerben sollen es sich deshalb die Jurasektionen zur Pflicht machen, in den benachbarten Dörfern ständig Propaganda im Sinne der Enteignung des Bodens durch die Landgemeinden zu betreiben. Solche Versuche sind bereits unternommen worden, und wir können versichern, daß sie erfolgreicher waren, als man anfänglich vermutet hatte. Die Erfahrung wird zeigen, welcher Weg der beste ist und welche Mittel es zur Erweiterung dieser Propaganda gibt. So schwierig auch die Anfänge sein mögen, es muß doch sofort damit begonnen werden. Wir können auch gar nicht oft genug dazu raten, sich mit den Bauernerhebungen in Italien und der revolutionären Propaganda zu beschäftigen, die gegenwärtig in den Dörfern Spaniens betrieben wird [2].
9. Wenn wir empfehlen, alle unsere Bemühungen auf eine umfassende Propaganda der Enteignungsidee in allen ihren Formen zu konzentrieren, dann wollen wir damit keineswegs sagen, daß wir nicht im Zusammenhang mit allen Problemen, die in den Ländern um uns herum auftauchen, Agitation treiben sollen. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß die Sozialisten jede Gelegenheit zur ökonomischen Agitation benutzen sollten; und wir sind davon überzeugt, daß jede im Bereich des Kampfes der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter begonnene Agitation, und mögen ihr Aktionskreis, ihre Ziele und Ideen zu Beginn noch so beschränkt sein, eine fruchtbare Quelle sozialistischer Agitation werden kann, sofern sie nicht in die Hände ehrgeiziger Intriganten gerät. Die Sektionen dürfen also nicht hochmütig die örtlichen Probleme der Arbeiter übergehen, nur weil diese Probleme mit dem Sozialismus sehr wenig zu tun haben. Wir können im Gegenteil dadurch, daß wir auf diese Probleme eingehen und von dem Interesse, das sie hervorrufen, profitieren, unsere Agitation gewaltig ausdehnen. Ohne die praktische Seite der Frage einen Augenblick aus den Augen zu lassen, können wir außerdem versuchen, die theoretischen Vorstellungen zu erweitern und den Geist der Unabhängigkeit und der Empörung bei denen zu wecken, die sich für die Agitation interessieren. Diese Anteilnahme ist um so notwendiger, als sie das einzige Mittel ist, die in jedem dieser Fälle von der Bourgeoisie verbreiteten irrigen Meinungen zu bekämpfen und zu verhindern, daß die Aktivität der Ehrgeizigen die Arbeiteragitation in Bahnen lenkt, die den Interessen der Arbeiter völlig zuwiderlaufen.
10. Da die Anstrengungen der Anarchisten darauf gerichtet sind, den Staat in allen seinen Teilen zu erschüttern, sehen wir keinen Nutzen darin, eine politische Partei zu bilden, die sich bemüht, in das Regierungsräderwerk einzugreifen, und dabei hofft, eines Tages einen Teil der gegenwärtigen Staatlichkeit zu erben. Wir glauben, daß das beste Mittel, das Staatsgebäude zu erschüttern, darin besteht, aktiv den ökonomischen Kampf zu führen. Aber wir glauben auch, daß es nützlich ist, immer offene Augen für die Handlungen und Heldentaten unserer Regierungen zu haben, die politischen Fragen, die die arbeitende Bevölkerung interessieren, gründlich zu studieren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Finger auf die Unfähigkeit, die Heuchelei und den Egoismus der gegenwärtigen herrschenden Klasse sowie auf den verderbten und schädlichen Charakter des Regierungssystems an sich zu legen. Wir führen Krieg gegen den Staat und seine Repräsentanten, nicht um einen Sitz in ihrem Rat einzunehmen, wie das die politischen Parteien erstreben, sondern um jene Gewalt zu erschüttern, mit der sie den Forderungen der Arbeiter begegnen, und um ihren unvermeidlichen Sturz zu beschleunigen.
11. Wir sind davon überzeugt, daß die Form der Gruppierung, deren Verwirklichung in naher Zukunft (wenigstens in den romanischen Ländern) bevorsteht, die Kommune sein wird, die vom Staat unabhängig ist, in ihrem Bereich das Repräsentativsystem abgeschafft und die Enteignung der Rohstoffe, der Arbeitswerkzeuge und des Kapitals zum Nutzen der Gemeinschaft durchgeführt hat. Deshalb halten wir es für notwendig, die kollektivistische Kommune ernsthaftem Studium zu empfehlen und darüber zu diskutieren, welchen Anteil die Anarchisten am politischen und ökonomischen Kampf zwischen den Gemeinden und dem Staat nehmen können. Wir beschränken uns im Augenblick darauf, die Aufmerksamkeit unserer Freunde auf diese Form der Gruppierung zu lenken, beabsichtigen jedoch, bald in einer besonderen Untersuchung darauf zurückzukommen.
[1] Nettlau bemerkt zu dieser Stelle: «Dies wurde vor dem Zeitalter der Noske und Konsorten geschrieben, die ganz seelenruhig das Volk niederschießen ließen.» Nettlau, a.a.O., S.290.
[2] Kropotkin, der 1878 selbst in Barcelona gewesen war, schreibt 1899 in seinen Memoiren: «In Katalonien allein gehörten hunderttausend Arbeiter zu stramm organisierten Gewerkschaften, während die Internationale in ganz Spanien mehr als achtzigtausend Mitglieder zählte, die regelmäßig Kongresse veranstalteten und mit wahrhaft spanischem Pflichtgefühl ihre Beiträge an die Assoziationen entrichteten. Ich kann von diesen Organisationen nach eigener an Ort und Stelle gewonnener Erfahrung reden und weiß, daß die Arbeiter dort bereit waren, die Vereinigten Staaten von Spanien zu proklamieren, die Herrschaft über die Kolonien aufzugeben und zum Teil – in den fortgeschrittensten Gegenden – einen ernstlichen Versuch in der kollektivistischen Richtung zu machen.» P.Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, Frankfurt 1969, S. 458–459.