Titel: Der Verfall der Staaten
AutorIn: Kropotkin, Peter
Datum: 1885
Quelle: Aus: Peter Kropotkin – Worte eines Rebellen. rowohlt 1972. S.16-19
Bemerkungen: Französischer Originaltitel: "La décomposition des États". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Wenn sich die wirtschaftliche Lage Europas in den Worten zusammenfassen läßt: industrielles und kommerzielles Chaos und Bankerott der kapitalistischen Produktion, – so kann man die politische Lage durch die Worte kennzeichnen: rascher Verfall und baldiger Bankerott der Staaten.

Überblicken wir sie alle, und wir werden keinen finden, der nicht mit beschleunigten Schritten der Auflösung und infolgedessen der Revolution entgegenginge.

Unfähige Greise mit runzliger Haut und wankenden Füßen, von chronischen Krankheiten zerfressen, unfähig, den Strom der neuen Ideen in sich aufzunehmen, vergeuden sie die geringe Kraft, die ihnen noch bleibt, sie fristen ihr Leben auf Kosten ihrer bereits gezählten Jahre, und sie beschleunigen noch ihren Fall, indem sie sich wie alte Megären untereinander zerfleischen.

Eine unheilbare Krankheit verzehrt sie alle: das Alter, der Niedergang. Der Staat, diese Organisation, in der man die allgemeine Besorgung sämtlicher Angelegenheiten aller Menschen in den Händen einiger Menschen läßt, diese Form der menschlichen Organisation hat sich überlebt. Die Menschheit arbeitet sich bereits neue Formen der Vereinigung aus.

Nachdem sie im achtzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht haben, sind die alten Staaten von Europa heute in ihre abnehmende Phase eingetreten; sie zerfallen vor Altersschwäche. Die Völker – besonders jene der lateinischen Rasse – streben bereits nach der Niederreißung dieser Macht, die bloß ihre freie Entwicklung hindert. Sie wollen die Unabhängigkeit der Provinzen, der Gemeinden, der Arbeitsgruppen, die untereinander nicht durch eine von oben sich ihnen aufzwingende Macht zusammengehalten werden, sondern durch die Bande der frei vereinbarten gegenseitigen Abmachungen.

Dies ist das geschichtliche Zeitalter, in das wir jetzt eintreten; nichts könnte dessen Verwirklichung verhindern.

Wenn die herrschenden Klassen ihre Stellung fühlen könnten, würden sie sich beeilen, diesen Bestrebungen zuvor zu kommen. Aber gealtert in ihren Traditionen, ohne einen anderen Kultus als den des Geldsacks, widersetzen sie sich mit aller Kraft dieser neuen Strömung der Ideen. Und unvermeidlich führen sie uns dadurch einem gewaltsamen Umsturze zu. Die Bestrebungen der Menschheit werden sich unaufhaltsam Geltung verschaffen – aber ihre gewaltsamen Verwirklichungsformen werden ihnen von den Herrschenden aufgezwungen.

Als nach dem Falle der mittelalterlichen Einrichtungen die aufkeimenden Staaten in Europa erschienen und sich durch die Eroberung, die List, den Mord verstärkten und vergrößerten – da mischten sie sich erst nur in einen kleinen Kreis der menschlichen Angelegenheiten hinein.

Heute hat es der Staat soweit gebracht, daß er sich in alle Betätigungen unseres Lebens einmischt. Von der Wiege bis zum Grab erstickt er uns in seinen Armen. Bald als zentralistischer Staat, bald in der Form der staatsgleichen Provinz-, Kantons- oder Gemeindeverwaltung verfolgt er uns auf Schritt und Tritt, erscheint er an jeder Straßenecke; er drängt sich uns auf, hält uns fest und quält uns.

Er macht Gesetze über alles, was wir tun. Er häuft Berge von Gesetzen und Verordnungen auf, unter welchen der geriebenste Advokat sich nicht mehr auskennt. Er schafft jeden Tag neue Räderwerke, die er ungeschickt an den alten zusammengeflickten Rumpelkasten anpaßt, und es gelingt ihm schließlich, eine so komplizierte, so verzwackte, so hinderliche Maschine herzustellen, daß selbst jene, die die Aufgabe haben, dieselbe in Bewegung zu halten, empört darüber sind.

Er schafft eine Armee von Angestellten, Spinnen mit krummen Krallen, welche das Weltall nur durch die schmutzigen Fensterscheiben ihrer Büros, oder aus dem absurden Kauderwelsch ihrer Aktenbündel kennen; – eine schwarze Bande, die nur eine Religion hat – jene des Goldes; nur eine Sorge – sich an irgendeine Partei anzuhängen, – sei ihr Abzeichen schwarz, weiß oder rot – damit dieselbe ihr um so mehr Stellen mit je weniger Arbeit sichert.

Die Folgen davon – wir kennen sie nur zu gut. Gibt es in der Tätigkeit des Staates auch nur einen Zweig, der jene, die unglücklicherweise damit zu tun haben, nicht empört? Einen einzigen Zweig, in welchem der Staat nach Jahrhunderte langem Bestehen und Herumbessern nicht seine vollständige Unfähigkeit bewiesen hätte?

Die riesigen und immer wachsenden Summen, welche die Staaten ihrer Bevölkerung aufbürden, genügen ihnen nie. Der Staat besteht immer auf Kosten der kommenden Geschlechter; er verschuldet sich und geht überall dem Ruin entgegen.

Die öffentlichen Schulden der europäischen Staaten haben bereits die ungeheuere, unglaubliche Summe von mehr als hundert Milliarden, Hunderttausend Millionen Franken erreicht. Wenn sämtliche Einkommen des Staates bis zum letzten Groschen dazu verwendet würden, um diese Schuld zu decken, würden sie in fünfzehn Jahren nicht dazu genügen. Aber weit davon abzunehmen, erhöhen sich diese Schulden von Tag zu Tag. Es liegt in der Natur der Dinge, daß die Staaten immer ihre Mittel übersteigen. Der Staat versucht notwendigerweise, seinen Wirkungskreis immer mehr auszudehnen; jede Partei, die ans Ruder kommt, ist gezwungen, für ihre Anhänger und Führer neue Stellungen zu schaffen: das ist unvermeidlich.

Also wachsen die Defizite und Staatsschulden an und werden weiter anwachsen, sogar in Friedenszeiten. Wenn aber ein Krieg ausbricht, nehmen die Staatsschulden im riesigen Maße zu. Es nimmt kein Ende; unmöglich, aus diesem Labyrinth herauszukommen.

Die Staaten gehen mit vollem Dampf dem Ruin, dem Bankrott entgegen; und der Tag ist nicht mehr fern, wo die Völker, müde, jährlich viele Milliarden Zinsen an die Bankiers zu zahlen, das Aufhören der Staaten aussprechen werden, und diese Bankiers Arbeiten schicken werden, wenn sie hungrig sind.

Wer «Staat» sagt, sagt notwendigerweise «Krieg». Der Staat trachtet danach – und muß danach trachten – stark zu sein, stärker als sein Nachbar; sonst wird er ein Spielzeug in deren Händen. Er versucht unvermeidlich andere Staaten schwächer und ärmer zu machen, um ihnen seine Gesetze, seine Politik, seine Handelsverträge aufzuzwingen, um sich auf ihre Kosten zu bereichern. Der Kampf um die Oberherrschaft, der die Grundlage der wirtschaftlichen Organisation der Bourgeoisie ist, ist auch die Grundlage der politischen Organisation. Dies ist die Ursache, warum der immer drohende Krieg heute zum normalen Zustand von Europa geworden ist. Preußisch-dänischer, preußisch-österreichischer, französisch-preußischer, orientalischer und afghanischer Krieg usw. folgen sich ohne Unterbrechung. Neue Kriege bereiten sich vor. Rußland, England, Preußen, Frankreich, die Vereinigten Staaten, Japan sind bereit, ihre Armeen loszulassen, und binnen kurzem werden sie aneinander geraten. Man hat bereits Kriegsursachen auf dreißig Jahre hinaus.

Der Krieg aber – das ist die Arbeitslosigkeit, die Wirtschaftskrise, die Erhöhung der Steuern, die Anhäufung der Staatsschulden. Mehr als dies. Jeder Krieg ist eine moralische Niederlage für die Staaten. Nach einem jeden Krieg merken die Völker, daß der Staat sich als unfähig erweist, sogar in seinem hauptsächlichsten Wirkungskreise: kaum versteht er die Verteidigung des Landes zu organisieren; sogar wenn er siegreich ist, erleidet er eine Niederlage. Man sehe nur die Gärung der Ideen, die aus dem Kriege 1870-71, sowohl in Deutschland, wie in Frankreich entstand; man sehe die Unzufriedenheit, die sich in Rußland infolge des Orientkrieges (1878)[1] erhob.

Die Kriege und die Kriegsrüstungen bringen die Staaten um; sie beschleunigen ihren moralischen und wirtschaftlichen Bankerott. Noch ein oder zwei große Kriege, und diese werden diesen abgenützten Maschinen den Todesstoß geben.

Neben dem äußeren Krieg – der innere Krieg.

Von den Völkern unter der Bedingung anerkannt, daß er der Beschützer von allen und besonders von den Schwachen gegen die Starken sein solle, ist heute der Staat die Feste der Reichen gegen die Ausgebeuteten, der Besitzenden gegen die Proletarier geworden.

Wozu dient jene ungeheuere Maschine, die wir Staat nennen? – Dient sie dazu, die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten, des Bauern durch den Rentier zu verhüten? Oder um uns Arbeit zu sichern? Oder um uns vor dem Wucherer zu schützen? Uns Nahrung zu geben – wenn wir sehen, daß die Frau ihrem Kinde, das an ihrer vertrockneten Brust weint, nur Wasser geben kann, um es zu beruhigen?

Nein, tausendmal nein! Der Staat, das ist die Beschützung der Ausbeutung, der Spekulation, des monopolistischen Privateigentums. Der Proletarier, dessen einziges Vermögen seine Arme sind, hat nichts vom Staate zu erwarten; er wird in demselben nur eine Organisation finden, die dazu geschaffen ist, seine Befreiung um jeden Preis zu verhindern.

Alles für den müßigen Besitzer, alles gegen den arbeitenden Proletarier: der Schulunterricht der Bourgeoisie, der schon von jung auf das Kind verdirbt, indem er ihm Vorurteile gegen die menschliche Gleichheit einimpft; die Kirche, die den Geist der Frauen verwirrt; das Gesetz, das den Austausch der Ideen von Solidarität und Gleichheit verhindert; das Geld, um jenen zu bestechen, der sich zu einem Apostel der Solidarität der Arbeiter macht; Gefängnis und Kartätschen, so viel man nur braucht, um jenen den Mund zu verschließen, die sich nicht bestechen lassen. Das ist der Staat.

Wird das so weiterdauern? Kann das so weiterdauern? Sicherlich nicht. Eine ganze Klasse der Menschheit, jene welche alles produziert, kann nicht für immer eine Organisation aufrechterhalten, die ausdrücklich gegen sie geschaffen ist. Überall – unter der russischen Brutalität sowohl als unter der heuchlerischen Scheinfreiheit der französischen Republik – empört sich das unzufriedene Volk. Die Geschichte unserer Tage, das ist die Geschichte des Kampfes, welchen die privilegierten Regierenden gegen die Gleichheitsbestrebungen des Volkes führen. Dieser Kampf ist die Hauptsorge der Regierungen; derselbe bestimmt ihre Handlungen. Es sind nicht ethische Prinzipien, nicht Rücksichten aufs allgemeine Wohl, die heute das Erscheinen irgend eines Gesetzes oder einer Regierungsmaßnahme bestimmen; es sind nur Rücksichten auf den Kampf gegen das Volk für die Wahrung der Privilegien der Ausbeuter und Herrschenden.

Dieser Kampf allein würde genügen, die stärkste politische Organisation zu erschüttern. Wenn er sich aber in Staaten vollzieht, welche infolge des unabwendbaren Laufes der Geschichte dem Untergang entgegengehen; wenn die Staaten mit vollem Dampf dem Ruin zueilen und überdies sich noch untereinander zerfleischen; wenn endlich der allmächtige Staat sich sogar denen verhaßt macht, die er beschützt – wenn soviel Ursachen zu einem einzigen Ziel Zusammenwirken, dann kann der Ausgang des Kampfes nicht zweifelhaft sein.

Das Volk, das die Kraft ist, wird über seine Bedrücker siegen; der Sturz der Staaten ist bloß die Frage einer relativ kurzen Zeit unserer Geschichte, und der ruhigste Philosoph sieht den Schein einer großen Revolution, die sich ankündigt.

[1] Der Orientkrieg 1877/78 zwischen Rußland (Alexander II.) und der Türkei (Osman Pascha) wurde bestimmt von den panslavistisch-imperialistischen Interessen des Zarenreichs, das sich berufen fühlte, die unter der Türkenherrschaft lebenden slavischen und christlich-orthodoxen Brüder zu befreien. Die in dem Vertrag von San Stefano den Türken auferlegten Gebietsabtretungen brachten jedoch Rußland in Gegensatz zu den Interessen Englands, das seinerseits ein Bündnis mit der Türkei schloß. Der daraufhin drohende europäische Konflikt konnte schließlich durch das Übereinkommen der europäischen Mächte auf dem Berliner Kongreß (Juni/Juli 1878) gebannt werden.