Peter Kropotkin
Der Anarchismus
Seine Philosophie / Sein Ideal
Vorwort
Der Inhalt dieser Schrift, eine der vorzüglichsten, welche Kropotkin geschrieben hat, war eigentlich als Vortrag gedacht, den er am 6. März 1896, im Saale des Tivoli-Vauxhal zu Paris halten sollte. Allein als er seinen Fuß auf französischen Boden setzen wollte, verweigerte man ihm die Landung, sodaß er gezwungen war, unverrichteter Sache nach England zurückzukehren. Unter diesen Umständen entschloß er sich, seinen Vortrag schriftlich erscheinen zu lassen und ihn in dieser Form dem Publikum zu unterbreiten. Die Schrift erschien noch im Juni desselben Jahres und erlebte in kurzer Zeit verschiedene Auflagen und zahlreiche Ueber- setzungen in fremde Sprachen. — Der ungehaltene Vortrag Kropotkins ist ein glänzendes Resümee seiner grundlegenden Ideen, die er der Reihe nach in seinen größeren Werken niedergelegt und entwickelt hat. Alles, was er in seiner langen und rastlosen Tätigkeit auf den verschiedensten Gebieten der sozialen Wissenschaften geleistet hat, fügt sich in dieser Schrift in kurzen Strichen synthetisch zu einem Ganzen zusammen und gewährt dem Leser einen lichtvollen Einblick in die Gedangengänge des genialen Denkers und seiner großen Vorgänger. Möge sie nun auch in deutscher Sprache ihren Zweck erfüllen und dem freiheitlichen Sozialismus neue Kräfte werben, um einer neuen sozialen Kultur den Weg zu bahnen, welche der Menschheit die Pforten zu einer besseren Zukunft öffnen wird.
Neukölln, im Mai 1923 R. R o ck e r.
Der Anarchismus - Seine Philosophie / Sein Ideal
Genossinnen und Genossen! Nicht ohne Zögern habe ich mich entschlossen, zum Gegenstand dieser Vorlesung die Philosophie und das Ideal des Anarchismus zu nehmen.
Jene, die überzeugt sind, daß der Anarchismus nur eine Zusammenstellung von Zukunftsvisionen und ein unbewußter Vorstoß gegen die Zerstörung der ganzen bestehenden Zivilisation ist, sind noch sehr zahlreich, und, um den Weg von den Vorurteilen unserer Erziehung frei zu machen, müßte man sich vielleicht mit Fragen befassen, die man bei einer Vorlesung nicht gut erörtern kann. Ist es nicht erst 2 oder 3 Jahre her, daß die große Pariser Presse behauptete, die einzige Philosophie des Anarchismus sei die Zerstörung, sein einziges Argument - die Gewalt?
Man hat indessen neuerdings soviel von den Anarchisten gesprochen, daß ein Teil des Publikums schließlich unsere Doktrinen gelesen und diskutiert hat. Bisweilen hat man sich sogar die Mühe gegeben, darüber nachzudenken, und augenblicklich ist wenigstens ein Punkt gewonnen. Man räumt gern ein, daß der Anarchist ein Ideal besitzt. Man hält dies sogar für zu schön, zu erhaben für eine Gesellschaft, die nicht nur aus Elite- Menschen besteht.
Aber — es ist nicht meinerseits zu anspruchsvoll, von einer Philosophie da zu sprechen, wo — nach Aussage unserer Kritiker — es nur bleiche Visionen einer fernen Zukunft gibt? Darf der Anarchismus behaupten, eine Philosophie zu besitzen, wenn man es ablehnt, eine Philosophie des Sozialismus anzuerkennen?
Auf diese Frage will ich versuchen zu antworten — und zwar so genau und so klar wie möglich. Ich bitte Sie, dabei im voraus zu entschuldigen, wenn ich ein oder zwei Beispiele wiederhole, die ich bereits in einer Vorlesung in London erwähnt habe, und die, — so scheint es mir, — ein besseres Verständnis für das ermöglichen, was man unter „Philosophie des Anarchismus“ zu verstehen hat [1]).
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Sie werden es mir hoffentlich nicht verübeln, wenn ich zuerst einige Elementarbeispiele aus der Naturwissenschaft anführe. Nicht, um unsere sozialen Ideen davon abzuleiten. — Keineswegs! Sondern nur, um gewisse Beziehungen besser klar machen zu können, die man leichter in den von den exakten Wissenschaften festgestellten Erscheinungen erkennt, als in den so komplizierten Tatsachen der menschlichen Gesellschaften.
Was uns nun jetzt bei den exakten Wissenschaften vor allem ins Auge fällt, ist die große Einschränkung, die sie seit einigen Jahren in der ganzen Art erfahren, wie sie die Tatsachen des Universums anfassen und erklären.
Es gab bekanntlich eine Zeit, in der sich der Mensch die Erde als Mittelpunkt des Weltalls dachte. Die Sonne, der Mond, die Planeten und die Sterne schienen sich um unsern Erdball zu drehen, und dieser stellte für den Menschen, der ihn bewohnte, den Mittelpunkt der Schöpfung dar. Er selbst — als höchstentwickeltes Wesen auf seinem Planeten — war der Auserwählte der Schöpfung. Die Sonne, der Mond und die Sterne waren nur seinetwegen da. Auf ihn verwandte ein Gott seine ganze Aufmerksamkeit. Er wachte über der geringsten seiner Handlungen, hielt für ihn die Sonne in ihrem Laufe auf, glitt mit den Wolken und schleuderte seine Wogen oder seinen Donner über Dörfer und Städte, um die Tugend zu belohnen oder die Verbrechen der Bewohner zu sühnen. Durch Tausende von Jahren hat der Mensch auf diese Weise das Weltall aufgefaßt.
Es ist Ihnen jedoch bekannt, welche ungeheure Veränderung das 16. Jahrhundert in allen Anschauungen des Menschen hervorbrachte, als ihm bewiesen wurde, daß, weit davon entfernt, der Mittelpunkt des Universums zu sein, die Erde nur ein Staubkorn im Sonnensystem ist — nur eine Kugel — weit kleiner als andere Planeten; daß die Sonne selbst, dieses überwältigende Gestirn im Verhältnis zu unsrer kleinen Erde, — nur ein Stern unter so vielen zahllosen andern Sternen ist, die wir am Himmel glänzen und in der Milchstraße sich drängen sehen. Wie klein erschien der Mensch gegenüber dieser unbegrenzten Ausdehnung, wie lächerlich erschienen seine Behauptungen! Die ganze Philosophie jenes Zeitabschnitts, alle sozialen und religiösen Anschauungen atmen diese Umwandlung in den kosmischen Ideen. Erst von jenem Zeitpunkt stammen die Naturwissenschaften ab, auf deren heutige Entwicklung wir so stolz sind.
Aber eine noch tiefer gehende Veränderung von noch unendlich größerer Tragweite ist im Begriff, sich in der Gesamtheit der Wissenschaften anzubahnen, und der Anarchismus ist, wie Sie sehen werden, nur eine der mannigfachen Manifestationen dieser Entwicklung. Er ist nur ein Zweig der neuen Philosophie, die sich ankündigt.
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Nehmen sie eine beliebige Arbeit über Astronomie aus dem Ende des vergangenen oder dem Anfang des jetzigen Jahrhunderts. Sie finden selbstverständlich darin unsern kleinen Planeten nicht mehr als Mittelpunkt des Weltalls hingestellt. Aber Sie begegnen bei jedem Schritt der Idee von einem ungeheuren Zentralgestirn — der Sonne, — die durch ihre gewaltige Anziehungskraft unsere Planetenwelt beherrscht. Von diesem Zentralgestirn strahlt eine Kraft aus, die den Gang seiner Satelliten leitet und die Harmonie des Systems aufrechterhält. Aus einer Zentralanhäufung hervorgegangen, sind die Planeten sozusagen nur Sprößlinge davon. Dieser Anhäufung verdanken sie ihre Entstehung. Dem strahlenden Gestirn, das diese noch darstellt, verdanken sie alles: den Rythmus ihrer Bewegungen, ihre weise verteilten Bahnen, das Leben, das ihre Oberfläche belebt und schmückt. Und wenn irgend welche Störungen ihren Lauf verwirren und sie von ihrer Bahn abbringen, stellt das Mittelgestirn die Ordnung im System wieder her. Es sichert ihre Existenz und verleiht ihnen Beständigkeit.
Diese Anschauung schwindet nun ebenso, wie die andre geschwunden ist. Nachdem der Astronom seine ganze Aufmerksamkeit auf die Sonne und die großen Planeten verwandt hat, begibt er sich jetzt an die Erforschung der unendlich kleinen Körper, die das Weltall bevölkern. Und er entdeckt, daß die Himmelsräume nach allen denkbaren Richtungen hin mit kleinen, unsichtbaren Schwärmen von Materie bevölkert und durchzogen sind, die, wenn man sie einzeln betrachtet, nichts bedeuten, aber durch ihre Zahl allmächtig sind. Unter diesen Massen sind einige, wie der feurige Körper, der neulich durch seinen Fall in Spanien Schrecken verbreitete, noch von ziemlicher Größe. Andre wiegen kaum einige Gramm oder Zentrigramm; während um sie herum noch fast mikroskopische Staubkörnchen schweben, die den Weltraum anfüllen.
Und mittels dieser Staubkörnchen, dieser unendlich kleinen Körper, die den Raum in allen Richtungen mit schwindelerregender Geschwindigkeit durcheilen, aneinanderstoßen, sich zusammenballen und sich trennen, überall und immer, sucht der Astronom heute den Vorsprung unsres Systems zu erklären, — die Sonne, die Planeten und die Satelliten, — die Bewegungen, die seine verschiedenen Teile beleben, und die Harmonie seiner Gesamtheit. Noch ein Schritt weiter, und bald wird die allgemeine Anziehungskraft selbst nur noch eine Resultante aller ungeordneten oder unzusammenhängenden Bewegungen dieser unendlich kleinen Körper sein — dieser Atomschwingungen, die nach allen nur möglichen Richtungen stattfinden.
So wird der Mittelpunkt, der Ursprung der Kraft, der von der Erde auf die Sonne verlegt wurde, jetzt verteilt, dezentralisiert: er ist überall und nirgends. Mit dem Astronomen bemerkt man, daß die Sonnensysteme nur das Werk der unendlich kleinen Körper sind, daß die Kraft, die man für die herrschende hielt, selbst — vielleicht — nur die Resultante der Stöße jener unendlich kleinen Körper ist; daß die Harmonie der Sternensysteme nur deshalb Harmonie ist, weil sie eine Anpassung, eine Resultante aller jener unzähligen, zusammenfallenden und einander ausgleichenden Bewegungen ist.
Die ganze Auffassung des Universums wechselt mit dieser neuen Anschauungsweise. Die Idee von der weltregierenden Kraft, dem vorherbestimmten Gesetz, der innewohnenden Harmonie schwindet, um jener Harmonie Platz zu machen, die Fourier einst geahnt hatte, und die nur die Resultante dieser zahllosen Schwärme von Materie sind, von denen jeder einzelne seinen Weg geht, und die einander im Gleichgewicht halten.
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Wenn es im übrigen nur die Astronomie wäre, die jenem Wechsel unterlag! Aber nein! Die gleiche Aenderung erfuhr die Philosophie aller Wissenschaften ohne Ausnahme: sowohl jene, die die Natur zum Gegenstand haben, wie jene, die die menschlichen Beziehungen behandeln.
In der Physik schwinden die Begriffe: Wärme, Magnetismus, Elektrizität. Wenn heute ein Physiker von einem erhitzten oder elektrisierten Körper spricht, sieht er keine unbelebte Masse mehr, der sich eine unbekannte Kraft zugesellt. Er bemüht sich, in diesem Körper und in dem ihn umgebenden Raume, den Gang, und die Schwingungen der unendlich kleinen Atome zu erkennen, die sich nach allen Richtungen hin bewegen, schwingen, streben, leben und — durch ihre Schwingungen, ihre Stöße, ihr Leben — die Erscheinungen von Wärme, Licht, Magnetismus oder Elektrizität hervorbringen.
In den Wissenschaften, die das organische Leben behandeln, verblaßt die Anschauung von der „Art“ und ihren Variationen und wird durch die Anschauung vom Individuum ersetzt. Der Botaniker und der Zoologe studieren das Individuum — sein Leben, seine Anpassungsfähigkeit an das Milieu. Veränderungen, die sich in ihm vollziehen — unter der Einwirkung der Trockenheit oder der Nässe, der Wärme oder der Kälte, des Ueberflusses oder des Mangels an Nahrung, seiner größeren oder geringeren Senzibilität gegenüber den Einflüssen des äußeren Milieus — gebären die Arten. Und die Veränderlichkeiten der Art sind für den Biologen nur noch Resultanten — Summen von Veränderungen, die sich in jedem Individuum getrennt vollziehen. Die „Art“ wird das sein, was die Einzelwesen sind, von denen ein jedes die zahllosen Einwirkungen der Umgebung, in der es lebt, erleidet, und auf welche ein jedes auf seine Weise antwortet.
Und wenn die Physiologie von dem Leben einer Pflanze oder eines Tieres spricht, so sieht sie dabei eher eine Anhäufung, eine Kolonie von Millionen getrennter Individuen, als eine einzige und unteilbare Persönlichkeit. Sie spricht von einer Verbindung von Organen für Verdauung, Sinne, Nerven usw., die alle sehr eng mit einander verknüpft sind, und die alle die Rückschläge des Wohl- oder des Uebelbefindens des Einzelnen spüren, aber doch ein jedes sein eigenes Leben leben. Jedes Organ, jede Organmenge, ist aus unabhängigen Zellen zusammengesetzt, die sich verbinden, um gegen die ihrer Existenz ungünstigen Bedingungen zu kämpfen. Das Individuum ist eine ganze Welt voll Verbindungen, es ist ein ganzer „Kosmos" für sich!
Und in dieser Welt erkennt der Physiologe die autonomen Zellen des Blutes, der Gewebe, der Nervenzentren. Er sieht die Milliarden weißer Körperchen — die Phagozyten —, die nach den Stellen des Körpers drängen, die von den Mikroben infiziert sind, um den Eindringlingen eine Schlacht zu liefern. Ja, noch mehr: In jeder mikroskopischen Zelle entdeckt er heute eine Welt von autonomen Elementen, von denen jedes sein eigenes Leben lebt, für sich selbst Wohlbefinden erstrebt und dieses durch die Gruppedie Verbindung mit anderen Elementen erreicht. Kurz, jedes Individuum ist ein Kosmos von Organen, jedes Organ ist ein Kosmos von Zellen, jede Zelle ist ein Kosmos unendlich kleiner Elemente. Und in diesem Komplex hängt das Wohlbefinden der Gesamtheit gänzlich von der Summe des Wohlbefindens ab, dessen sich jede der kleinsten mikroskopischen Parzellen der organischen Materie erfreut.
Eine ganze Revolution wird auf diese Weise in der Philosophie des Lebens herbeigeführt.
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Aber vor allem führt in der Psychologie diese Revolution zu Folgen von größter Tragweite.
Noch vor kurzem sprach der Psychologe vom Menschen als von einem einzigen und unteilbaren Gesamtwesen. Treu der kirchlichen Tradition teilte er die Menschen gern in gute und schlechte, kluge und dumme, egoistische und altruistische ein. Selbst bei den Materialisten des 18. Jahrhunderts hielt sich die Anschauung von einer Seele, einem unteilbaren Ganzen, noch aufrecht.
Aber was würde man heute von einem Psychologen, der diese Sprache redete, denken! Der Psychologe unserer Zeit sieht im Menschen eine Vielheit getrennter Fähigkeiten, autonomer Neigungen, die unter sich gleichwertig sind, aber unabhängig von einander funktionieren, sich beständig ausgleichen und befehlen. Als Ganzes genommen, ist der Mensch nichts als eine immer veränderliche Resultante aller dieser verschiedenen Fähigkeiten, aller dieser autonomen Tendenzen der Gehirnzellen und der Nervenzentren. Alle sind untereinander bis zu dem Grade verbunden, daß sie aufeinander reagieren, aber ihr eigenes Leben leben, ohne einem Zentralorgan der Seele — untergeben zu sein.
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Ohne in ausführlichere Einzelheiten einzugehen, ersehen Sie nun, daß sich augenblicklich eine große Veränderung in den gesamten Naturwissenschaften vollzieht. Diese treiben ihre Analyse nicht etwa bis in Details, die man zuerst vernachlässigt hatte. Nein! Die Tatsachen sind keineswegs neu, aber die Art, sie zu betrachten, im Begriff, sich neu zu entwickeln, und wenn man diese Tendenz in wenigen Worten charakterisieren sollte, so könnte man sagen, daß, wenn sich die Wissenschaft ehemals bemühte, die großen Resultate und die großen Summen zu studieren (die „Intregale“, wie der Mathematiker sagen würde), so versucht sie heute vor allem, die unendlich kleinen Einzelwesen zu erforschen, aus denen jene Summen bestehen, und deren Unabhängigkeit und Individualität sie schließlich zugleich mit ihrer intimen Vereinigung erkannt hat.
Was die Harmonie anbetrifft, die der menschliche Geist in der Natur entdeckt, und die im Grunde nur die Bestätigung einer gewissen Stabilität der Erscheinungen ist, so erkennt der moderne Gelehrte sie heute zweifellos mehr als jemals an. Aber er sucht sie nicht mehr durch die Einwirkung planvoller Gesetze zu erklären, die von einem durchdachten Willen aufgestellt worden sind. ‘
Das, was man „Naturgesetz“ nannte, ist nichts als eine von uns geahnte Beziehung zwischen gewissen Erscheinungen, und jedes „Naturgesetz“ nimmt einen bedingenden Charakter der Kausalität an. D.h : Falls jenes Phänomen sich unter jenen Bedingungen vollzieht, wird jenes andere Phänomen folgen. Kein Gesetz mehr außerhalb des Phänomens: jede Erscheinung beherrscht die auf sie folgende, nicht das Gesetz.
Es gibt nichts Vorherbestimmtes in dem, was wir die Harmonie der Natur nennen. Der Zufall der Stöße und Zusammentreffen hat genügt, um das zu beweisen. Jenes Phänomen wird Jahrhunderte andauern, weil die Anpassung, das Gleichgewicht, das es darstellt, Jahrhunderte gebraucht hat, um in die Erscheinung zu treten. Dagegen wird jenes andere nur einen Augenblick dauern, wenn jene augenblickliche Form des Gleichgewichts in einem Augenblick geboren wurde. Wenn die Planeten unseres Sonnensystems nicht täglich Zusammenstößen und einander zerstören, wenn sie Millionen von Jahren andauern, so geschieht es darum, weil sie ein Gleichgewicht darstellen, das Millionen von Jahrhunderten zu seiner Herstellunggebraucht hat als Resultante von Millionen blinder Kräfte. Wenn das Festland nicht ständig von vulkanischen Stößen erschüttert wird, so kommt das daher, daß Tausende und Abertausende von Jahrhunderten erforderlich waren, um Molekül auf Molekül zu bauen und ihm seine jetzige Gestalt zu geben. Aber der Blitz dauert nur einen Augenblick an, weil er nur eine momentane Störung des Gleichgewichts darstellt, ein plötzliches Auseinanderstreben der Kräfte.
Die Harmonie erscheint so als ein an Zelt gebundenes Gleichgewicht sämtlicher Kräfte, als eine provisorische Anpassung. Und dieses Gleichgewicht wird nur unter einer Bedingung Dauer haben: nämlich, wenn es sich fortwährend ändert und in jedem Augenblick die Resultante sämtlicher entgegengesetzter Einwirkungen darstellt. Ist nur eine einzige dieser Kräfte für einige Zeit in ihrer Tätigkeit behindert, so wird dir Harmonie verschwinden. Die Kraft wird ihre Wirkung aufspeichern, sie muß sich Bahn brechen, sie muß ihre Einwirkung ausüben, und wenn sie durch andere Kräfte an ihrer Betätigung behindert wird, so wird sie deshalb nicht untergehen, sondern schließlich das Gleichgewicht stören, die Harmonie brechen, um eine neue Konstellation des Gleichgewichts zu finden und eine neue Anpassung herauszuarbeiten. So vollzieht sich der Ausbruch eines Vulkans, dessen eingekerkerte Kraft am Ende die versteinte Lava bricht, die ihn hinderte, Gas, Lava und weißglühende Asche auszuspeien. So vollziehen sich die Revolutionen.
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Eine analoge Umwandlung vollzog sich gleichzeitig in den Wissenschaften, die den Menschen behandeln.
Daher sehen wir, daß die Geschichte, nachdem sie die Geschichte der Königreiche gewesen ist, die Geschichte der Völker zu werden strebt und zum Studium der Einzelwesen übergeht. Der Geschichtsforscher will wissen, wie die Mitglieder, aus denen ein bestimmtes Volk bestand, zu einer bestimmten Zeit lebten, welchen Glauben, welche Existenzmittel sie hatten, welches soziale Ideal ihnen vorschwebte, und welchen Weg sie nach dieser Richtung einschlugen. Und durch die Aktion aller dieser ehemals vernachlässigten Kräfte wird er die großen geschichtlichen Phänomen erklären.
Ebenso begnügt sich der Gelehrte, der die Rechtswissenschaften studiert, nicht mehr mit der Kenntnis dieses oder jenes Gesetzbuches. Wie Ethnologe will er die Genesis der Einrichtungen, die aufeinander folgen, verstehen lernen. Er verfolgt ihre Entwicklung durch die Zeitalter und hält sich bei diesem Studium weniger an das geschriebene Gesetz als an die Lokalsitten, — „das Gewohnheitsrecht“, — in denen der aufbauende Genius der unbekannten Massen zu jeder Zeit seinen Ausdruck gefunden hat. Eine ganz neue Wissenschaft ringt sich in dieser Richtung empor und wird die vorhandenen Anschauungen, die wir in der Schule gelernt haben, Umstürzen und dazu gelangen, die Geschichte in derselben Weise zu erklären, wie die Naturwissenschaften die Erscheinungen der Natur.
Und endl[i]ch wird die Nationalökonomie, die anfangs ein Studium der Reichtümer der Nationen war, nun ein Stadium der Reichtümer des Individuums. Es liegt ihr weniger daran, zu erfahren, ob irgend eine Nation einen großen Außenhandel betreibt oder nicht. Sie will sich versichern, daß das Brot nicht in der Hütte des Bauers oder des Arbeiters fehlt. Sie klopft an alle Türen — an die des Palastes wie an die der elenden Hütte — und fragt den Reichen wie den Armen: „Bis zu welchem Grade sind eure Bedürfnisse für das Notwendige und den Luxus befriedigt?“ Und da sie feststellt, daß die dringendsten Bedürfnisse fürs Wohlbefinden für neun Zehntel der Menschheit nicht erfüllt sind, so stellt sie dieselbe Frage, welche sich ein Physiologe einer Pflanze oder einem Tiere gegenüber stellen würde: „Welche Mittei gibt es, die Bedürfnisse aller mit dem geringsten Kräfteaufwand zu befriedigen? Wie kann eine Gesellschaft jedem Einzelnen — und folglich allen — die größte Summe von Befriedigung und Glück gewährleisten?“ Nach dieser Richtung entwickelt sich die Nationalökonomie. Und nachdem sie lange eine einfache Betätigung der im Interesse der reichen Minoritäten gedeuteten Erscheinungen gewesen ist, strebt sie jetzt danach (oder arbeitet vielmehr die Gesetze danach aus), eine Wissenschaft im wahren Sinne des Wortes zu werden — eine Physiologie der menschlichen Gesellschaften.
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Zu gleicher Zeit, wie sich so eine neue Weltanschauung, eine neue Philosophie, in den Wissenschaften entwickelt, bereitet sich auch eine Auffassung von der menschlichen Gesellschaft vor, die von der bisher geltenden völlig abweicht. Unter dem Namen des „Anarchismus" wächst eine neue Erklärung des vergangenen und jetzigen Lebens der Gesellschaften empor, zugleich mit einer Voranschauung ihrer Zukunft, beide im gleichen Geiste gesehen, wie die Auffassung von der Natur, von der ich soeben gesprochen habe. Der Anarchismus stellt sich so als ein wesentlicher Bestandteil der neuen Philosophie dar, und darum steht der Anarchist im Kontakt hinsichtlich einer sehr großen Anzahl von Gesichtspunkten mit den größten Denkern und Dichtern unserer Zeit.
Tatsächlich ist es sicher, daß — in dem Maße, wie das menschliche Gehirn sich von den Ideen befreite, die ihm von den Minoritäten der Priester, der militärischen Anführer, der Richter, die ihre Herrschaft erhalten wollten, und der für die Verbreitung bezahlten Gelehrten, eingeimpft wurden, — eine Anschauung von der Gesellschaft erwächst, in der kein Platz mehr für diese herrschenden Minderheiten bleibt. Diese Gesellschaft, die in den Besitz des ganzen durch die Arbeit der vorangehenden Geschlechter angehäuften Kapitals tritt, organisiert sich, um dieses Kapital im Interesse aller arbeiten zu lassen und bildet sich, ohne die Welt der Minoritäten wieder herzustellen. Sie umfaßt in ihrem Schoße eine unendliche Vielfältigkeit an Fähigkeiten, Temperamenten und individuellen Energien: sie schließt niemanden aus, Sie ruft sogar den Kampf und den Konflikt herbei, weil sie weiß, daß die Epochen der frei ausgefochtenen Streitigkeiten, — ohne daß das Gewicht einer konstituierten Autorität auf eine Seite der Balance geworfen wurde, — die Zeiten der höchsten Entwicklung des menschlichen Genies waren. Von der Voraussetzung ausgehend, daß alle ihre Mitglieder tatsächlich gleiche Rechte auf alle von der Vergangenheit angehäuften Schätze haben, kennt sie nicht mehr die Teilung in Ausgebeutete und Ausbeuter, Beherrschte und Herrschende, Regierte und Regierende und bemüht sich, eine gewisse harmonische Ausgeglichenheit in ihrem Innern herzustellen, nicht durch Unterwerfung ihrer Mitglieder unter eine Autorität, die — durch Fiktion — als Repräsentant der Gesellschaft angesehen würde, nicht durch Errichtung einer Einheitsform, sondern durch den Ruf an alle Menschen, an der freien Entfaltung, der freien Initiative, der freien Betätigung und der freien Verbindung mitzuwirken.
Sie sucht die vollständige Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der unter allen Gesichtspunkten freiwilligen Verbindung für alle möglichen Stufen, für alle denkbaren Ziele: eine stets wandelbare Verbindung, die in sich selbst die Grundlagen für ihre Dauer trägt und die Formen annimmt, die in jedem Augenblick am besten der mannigfachen Bestrebungen aller entsprechen. Kurz und gut — eine Gesellschaft, der die durch das Gesetz vorgefaßten, erstarrten Formen widerstehen, aber die die Harmonie im stetig wechselnden und flüchtigen Gleichgewicht zwischen den vielfachen und verschiedenen Kräften und Einflüssen jeder Natur sucht, die ihrem Lauf folgen, und die, gerade dank der Freiheit, sich am hellen Tage zeigen und ausgleichen zu können, die ihnen günstigen Energien auslesen können, wenn sie sich dem Fortschritt zuwenden.
Diese Anschauung und dieses Ideal der Gesellschaft sind sicherlich nicht neu. Im Gegenteil. Bei der Analyse der Geschichte der volkstümlichen Einrichtungen — Clan, Gemeinde, Dorf, Handwerkervereinigung, „Zunft“, und sogar der Stadtgemeinde des Mittelalters an ihren Anfängen — finden wir die gleiche volkstümliche Tendenz, die Gesellschaft in dieser Richtung zu konstituieren — eine Tendenz, die immer übrigens von den herrschenden Minderheiten behindert wurden Alle Volksbewegungen tragen mehr oder weniger diesen Charakter, und bei den Wiedertäufern und ihren Vorläufern finden wir die gleichen klar ausgedrückten Ideen, trotz der religiösen Sprache, deren man sich damals bediente. Unglücklicherweise wurde dieses Ideal bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts immervon einem theokratischen Geiste befleckt, und erst heute ist es frei von der religiösen Sprache und ist eine Vorstellung von der Gesellschaft geworden, die von der Betrachtung der gesellschaftlichen Erscheinungen abgeleitet wird.
Erst heute behauptet sich das Gesellschaftsideal, — daß sich jeder nur durch seinen eigenen Willen regiert, (der offenbar nur ein Ergebnis der sozialen Einflüsse ist, denen jeder unterliegt) — nach seiner wirtschaftlichen, politischen und moralischen Seite zugleich und stützt sich auf die Notwendigkeit des Kommunismus, der unsern modernen Gesellschaften durch den hervorragend sozialen Charakter unserer heutigen Produktion aufgezwungen wird.
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Wir wissen heute tatsächlich sehr wohl, daß es sinnlos ist, von Freiheit zu sprechen, so lange die wirtschaftliche Sklaverei besteht.
„Sprich nicht von Freiheit — die Armut ist die Sklavereil“ das ist keine leere Redensart mehr: sie ist in die Ideen der großen Arbeitermassen eingedrungen, sie durchtränkt die gesamte Literatur unserer Zeit, sie ergreift selbst jene, die von der Armut der anderen leben und nimmt ihnen die Anmaßung, mit der sie vordem ihr Recht auf Ausbeutung behauptet hatten.
Daß die jetzige Form der Aneignung des sozialen Kapitals nicht mehr andauern kann — darüber sind sich Millionen von Sozialisten in beiden Welten einig. Die Kapitalisten selbst fühlen, daß sie schwindet und wagen sie nicht mehr mit demselben Nachdruck wie früher zu verteidigen. Ihre einzige Verteidigung kommt im Grunde darauf heraus, daß sie uns sagen: „Ihr habt nichts Besseres erfunden!“ Die verhängnisvollen Folgen der jetzigen Formen des Besitzes leugnen, ihr Recht auf Besitz rechtfertigen — das können sie nicht mehr. Sie üben dieses Recht aus, so lange man ihnen noch die Freiheit dafür läßt, aber ohne den Versuch, sich auf eine Idee zu berufen.
Das ist verständlich.
Betrachten Sie zum Beispiel dieses Paris — die Schöpfung so vieler Jahrhunderte, das Ergebnis einer ganzen Nation, das Resultat der Arbeit von 20 bis 30 Generationen. Wie könnte man vor einem Einwohner dieser Stadt, der täglich an ihrer Verschönerung, an ihrer Gesundung, ihrer Versorgung arbeitet, der sie mit Meisterwerken des menschlichen Genies schmückt und daraus einen Mittelpunkt des Gedankens und der Kunst macht, — wie könnte man vor dem Einwohner dieser Stadt, der dies alles schafft, behaupten, daß die Paläste, die die Straßen von Paris zieren, mit vollster Gerechtigkeit jenen gehören, die deren heutige gesetzliche Besitzer sind, während wir alle doch ihren Wert verkörpern, da dieser ohne uns nicht vorhanden wäre.
Eine solche Fabel kann sich einige Zeit hindurch mit Hilfe der Geschicklichkeit der Volkserzieher aufrecht erhalten. Es ist sogar möglich, daß die großen Arbeiterbataillone nicht darüber nachdenken. Aber von dem Augenblicke an, in dem eine Minorität denkender Menschen diese Frage in Angriff nimmt und sie allen vorlegt, kann es keinem Zweifel mehr über die Antwort geben. Der Volksgeist erwidert: „Durch Raub haben sie die Reichtümer erhalten!“
Und weiter! Wie kann man den Bauern den Glauben beibringen, daß diese Erde, die dem Grundherrn oder dem Bürger gehört, diesem von Rechtswegen zukommt, wenn der Bauer uns die Geschichte eines jeden Fetzchens Boden im Umkreis von 10 Meilen erzählen kann? Wie kann man ihm vor allem glaublich machen, daß es für das Volk von Nutzen sei, wenn Herr Souundso jenen Boden für seinen Park behält, während so viele Bauern ringsherum nichts anderes wünschen, als ihn zu bestellen?
Wie kann man schließlich dem Arbeiter jener Fabrik, oder dem Bergarbeiter jenes Bergwerkes glaubhaft machen, daß die Fabrik und das Bergwerk ihren jetzigen Herren auf rechtliche Weise zu eigen sind, während doch der Fabrik- und sogar der Bergarbeiter anfangen klar zu sehen, was die Panamas, die Weine, die französischen oder türkischen Eisenbahnen, die Räubereien des Staates und der gesetzliche Diebstahl bedeuten, auf denen sich der kaufmännische und industrielle Besitz gründen?
Haben die Massen wirklich jemals den Sophismen geglaubt, die die Nationalökonomen gelehrt haben — eher, um die Ausbeuter in ihren Rechten zu bestärken, als um die Ausgebeuteten zu bekehren! Vom Elend zermalmt, ohne Unterstützung der wohlhabenden Klassen ließen der Bauer und der Arbeiter einfach alles geschehen und haben das Behaupten ihrer Rechte von Zeit zu Zeit den Jacquerien überlassen. Und wenn irgend ein städtischer Arbeiter einen Augenblick glauben konnte, daß der Tag nahe sei, an dem die persönliche Aneignung des Kapitals allen zugute käme, indem eine Sammelstelle aller Reichtümer gebildet würde, zu deren Verteilung jedermann gerufen würde, so verweht dieses Trugbild wie so viele andere. Der Arbeiter wird gewahr, daß er enterbt war und bleibt. Um seinen Herrn den geringsten Teil der durch seine Mühen erworbenen Reichtümer zu entreißen, muß er seine Zuflucht bei der Revolte oder beim Streik suchen, d. h., er muß die Schrecken des Hungers auf sich nehmen und dem Gefängnis trotzen, wenn nicht gar sich den kaiserlichen, königlichen oder republikanischen Waffen ausliefern.
Aber ein anders gearteter tiefer Uebelstand des jetzigen Systems zeigt sich immer mehr. Ist nämlich erst einmal auf dem Wege privater Aneignung alles, was zum Leben und zur Produktion dient — Boden, Wohnung, Nahrung und Werkzeug — in die Hände einiger Weniger übergegangen, so verhindern diese dauernd, das zum Wohlbefinden eines jeden Notwendige zu produzieren. Der Arbeiter fühlt undeutlich, daß unsere heutige technische Macht allen einen umfassenden Wohlstand verschaffen könnte, aber er bemerkt auch, wie sehr das kapitalistische System und der Staat nach allen Richtungen verhindern, diesen Wohlstand zu erreichen.
Weit davon entfernt, mehr zu produzieren, als erforderlich ist, um den materiellen Reichtum zu sichern, produzieren wir nicht genug. Der Bauer, der die Parks und Gärten der Industriepiraten und der Panamisten begehrt, die der Richter und der Polizist bewachen, versteht das, da er ja davon träumt, sie mit Ernten zu bestellen, die — er weiß es — den Ueberfluß in die Dörfer tragen würden, in denen man sich von Brot und höchstens schlechtem Wein nährt.
Wenn der Bergarbeiter drei Tage wöchentlich gezwungen ist, mit schaukelnden Armen spazieren zu gehen, denkt er an die Tonnen Kohle, die er fördern könnte und die überall in den Haushaltungen der Armen fehlen.
Wenn die Fabrik feiert und der Arbeiter die Straßen auf der Suche nach Arbeit abläuft, sieht er die Maurer gleich ihm feiern, während doch ein Fünftel der Pariser Bevölkerung in elenden, ungesunden Löchern haust, Er hört die Schuster über Mangel an Arbeit klagen, während eine große Menge von Leuten kein ordentliches Schuhwerk besitzt, usw.
In der Tat: wenn gewisse Nationalökonomen sich darin gefallen, Abhandlungen über die Ueberproduktion zu schreiben und jede Industrielle Krise durch diese Ursache zu erklären, so würden sie doch in arge Verlegenheit geraten, wenn man sie aufforderte, einen einzigen Artikel zu nennen, den Frankreich in größerer Menge produzierte als zur Befriedigung der Bedürfnisse der gesammten Bevölkerung nötig wäre. Sicherlich ist dies nicht das Getreide: das Land muß welches einführen. Auch der Wein ist es nicht: die Bauern trinken nur sehr wenig davon und ersetzen ihn durch ein Mischgebräu und die städtische Bevölkerung muß sich mit gefälschten Getränken zufrieden gehen. Offenbar sind es auch die Häuser nicht: Millionen leben noch in Hütten mit ein oder zwei Oeffnungen. Nicht einmal die Bücher sind es, weder die guten, noch die schlechten, die noch immer ein Luxusgegenstand für das Dorf sind. Ein einziger Artikel wird in größeren Mengen als nötig hergestellt — das ist der Budgetivore, der sogenannte »Steuerfresser“, die Klasse derjenigen, die von den Einkünften des Staates ein parasitisches Dasein fristen. Aber diese Ware figuriert nicht in den Kursen der Nationalökonomie, obzwar sie sehr wohl dahin gehört, da sie sich dem Meistbietenden verkauft.
Was der Nationalökonome „Ueberproduktion“ nennt, ist also eine Produktion, die die Kaufkraft der Arbeiter übersteigt, die vom Kapital und und vom Staat zur Armut gezwungen werden. Diese Art der Ueberproduktion aber bleibt unseligerweise das Charakteristische der jetzigen kapitalistischen Produktion, da wie Proudhon bereits sehr richtig bemerkte — die Arbeiter mit ihren Löhnen das, was sie erzeugt haben, nicht kaufen und noch zugleich noch die Schwärme der Müßiggänger, die auf ihren Schultern leben, mästen können.
Das eigentliche Wesen des heutigen wirtschaftlichen Systems ist, daß der Arbeiter niemals zum Genuß des Wohlstandes gelangt, den er hervorruft, und daß die Anzahl jener, die auf seine Kosten leben, sich ständig vermehrt. Je fortgeschrittener ein Land in der Industrie ist, je größer ist diese Zahl. Zwangsweise richtet sich die Industrie jetzt und weiterhin nicht danach, die Bedürfnisse aller zu befriedigen, sondern nach dem, was in einem gegebenen Augenblicke einigen Wenigen die größten momentanen Ueberschüsse bringt. Mit aller Notwendigkeit muß der Ueberfluß der einen auf der Armut der anderen gegründet sein, und das schlechte Leben der der großen Menge muß um jeden Preis aufrecht erhalten werden, damit Arme genug vorhanden sind, die sich für einen Teil dessen verkaufen, was sie fähig sind, zu produzieren. Ohne diese gäbe es keine private Kapitalsanhäufung mehr!
Diese charakteristischen Züge unseres Wirtschaftssystems bilden sein eigentliches Wesen. Ohne sie kann es nicht bestehen. Denn, wer würde wohl seine Arbeitskraft für weniger verkaufen, als sie imstande wäre einzubringen, wenn er nicht durch die Androhung des Hungers dazu gezwungen wäre? Und diese wesentlichen Züge des Systems sind auch seine vernichtendste Verdammung.
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Solange England und Frankreich die Industriepioniere bei den in ihrer technischen Entwicklung zurückgebliebenen Völkern waren, und solange sie ihren Nachbarn ihre Wolle, ihre Baumwolle und ihre Seide, ihr Eisen und ihre Maschinen, sowie eine ganze Reihe von Luxusgegenständen zu Preisen verkaufen konnten, die es ihnen ermöglichten, sich auf Kosten ihrer Kundschaft zu bereichern, konnte der Arbeiter in der Hoffnung erhalten werden, daß auch er sich einen immer größer werdenden Teil der Beute würde aneignen dürfen. Aber diese Bedingungen verschwinden. Die vor 30 Jahren znrückgewesenen Völker sind nun ihrerseits große Produzenten von Wolle, Baumwolle, Seide, Maschinen und Luxusgegenständeu geworden. In gewissen Industriezweigen haben sie sogar die Vorhut genommen und ohne vom Außenhandel zu sprechen, wo sie ihre älteren Schwestern schlagen, beginnen sie bereits, diesen auf ihren eigenen Märkten Konkurrenz zu machen. In wenigen Jahren sind Deutschland, die Schweiz, Italien, die Vereinigten Staaten, Rußland und Japan Länder der Großindustrie geworden. Mexiko, Indien, sogar Serbien folgen dicht nach, und — was wird geschehen, wenn der Chinese anfangen wird, dem Japaner nachzuahmen und ebenfalls für den Weltmarkt zu produzieren?
Daraus geht hervor, daß die industriellen Krisen, deren Häufigkeit und Dauer stetig zunehmen, In einigen Industrien chronisch geworden sind. Ebenso ist der Krieg um die orientalischen und afrikanischen Märkte auf der Tagesordnung. Bereits seit 23 Jahren hängt das Schwert des europäischen Krieges über den europäischen Staaten. Und wenn dieser Krieg noch nicht ausgebrochen ist[2]), so hauptsächlich vielleicht darum, weil die Hochfinanz es für vorteilhaft hält, daß die Staaten immer tiefer in Schulden geraten. Aber an dem Tage, an dem die Großbanken bei einem Kriege auf ihre Rechnung kommen werden, wird man die menschlichen Herden gegen andere menschliche Herden werfen und sie werden einander töten, um die Finanzherren der Erde zu arrangieren.
Alles reiht sich aneinander, alles stützt einander in dem heutigen wirtschaftlichen System und alles vereint sich, um den Fall des industriellen und kaufmännischen Systems, unter dem wir leben, unvermeidlich zu machen. Seine Dauer ist nur noch eine Frage der Zeit, die man nach Jahren und nicht mehr nach Jahrhunderten bemessen kann. Eine Frage der Zeit — und der Tatkraft von unserer Seite! Die Tragen machen nicht die Geschichte: sie erleiden sie!
Aus diesem Grunde bilden sich so mächtige Minoritäten innerhalb aller zivilisierten Nationen und fordern mit erhobener Stimme die Rückkehr zur Gemeinsamkeit aller durch die Arbeit der vorangehenden Generationen angehäuften Reichtümer. Die Kommunisierung des Bodens, des Bergbaues, der Fabriken, der Wohnhäuser und der Transportmittel ist bereits das Losungswort dieser imposanten Fraktionen, und die Unterdrückung — diese Lieblingswaffe der Reichen und Mächtigen — vermag nichts mehr, um den Triumphmarsch der empörten Geister aufzuhalten. Und wenn Millionen von Arbeitern sich noch nicht in Bewegung setzen, um aus eigener Kraft den unrechtmäßigen Aufkäufern den Boden und die Fabrik zu entreißen, so seien Sie versichert, sie unterlassen es nicht aus Mangel an Verlangen danach. Sie warten dafür nur günstige Ereignisse ab — einen Augenblick, gleich dem von 1848, in dem sie sich auf die Zertrümmerung der bestehenden Regierung stürzen können — mit der Hoffnung, von einer internationalen Bewegung unterstützt zu werden.
Dieser Augenblick wird erscheinen, denn seitdem die Internationale von den Regierenden im Jahre 1872 vernichtet wurde — besonders seither — hat sie ungeheure Fortschritte gemacht, und ihre glühendsten Anhänger sehen oft nicht einmal ihre Bedeutung ein. Sie ist tatsächlich konstituiert: in den Ideen, in den Gefühlen: in der Errichtung beständiger Beziehungen. Allerdings sind die französische, englische, italienische und deutsche Plutokratie ebenso viele Gegner, in jedem Moment können sie sogar die die Völker dazu bringen, sich aufeinander zu stürzen. Dessen ungeachtet seien Sie versichert, daß an dem Tage, an dem die kommunale und soziale Revolution ausbrechen wird, Frankreich die alten Sympathien bei allen Völkern wiederfinden wird, mitinbegriffen Deutschland, Italien und England. Und wenn Deutschland, das — in Paranthese — einer Revolution viel näher ist, als man denkt, die Revolutionsfahne — leider die jakobinische — entfalten wird[3]), wenn es sich in diese Revolution mit dem ganzen Feuer der Jugend und der ansteigenden Periode, die es augenblicklich durchläuft, stürzen wird, so wird es diesseits des Rheins alle Sympathien und alle Hilfe bei einem Volke finden, das die kühnen Revolutionäre liebt und die Anmaßung der Geldherren haßt.
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Verschiedene Ursachen haben bisher den Ausbruch dieser unvermeidlichen Revolution verzögert; Die Ungewißheit der internationalen Beziehungen trägt sicher auch dazu bei. Aber es gibt, wie mir scheint, eine andere, tiefere Ursache, auf die ich ihre ganze Aufmerksamkeit lenken möchte. Zahlreiche Anzeichen sprechen dafür, daß sich unter den Sozialisten selbst eine einschneidende Umwandlung in den Ideen vollzieht, ähnlich jener, die ich am Beginn der Vorlesung skizzierte, als ich von den Wissenschaften im allgemeinen sprach. Und die Unsicherheit der Sozialisten in betreff der Organisation der Gesellschaft, die sie herbeiwünschen, lähmt bis zu einem gewissen Grade ihre Tatkraft. Anfangs, in den 40 er Jahren, hatte sich der Sozialismus als Kommunismus dargestellt, — als einige und unteilbare Republik, als Diktatur und Regierungsjakobinismus, — aufs Wirtschaftliche angewendet. Das war das Ideal jener Zeit. Religiös oder Freidenker, war der Sozialist jener Epoche bereit, sich jeder starken Regierung zu unterwerfen, sogar dem Kaiserreich, vorausgesetzt, daß diese Regierung die wirtschaftlichen Beziehungen zum Vorteil des Arbeiters neu schuf.
Eine tiefgehende Revolution hat sich selber, besonders bei den lateinischen Völkern und in England vollzogen. Der Regierungskommunismus, sowie der theokratische Kommunismus widerstehen dem Arbeiter. Und dieser Widerwille ließ in der Internationale eine neue Auffassung oder Doktrin entstehen, den „Kollektivismus“. Die Doktrin bedeutete anfangs: Kollektivbesitz der Arbeitswerkzeuge (ohne das für das Leben Notwendige) und das Recht für jede Gruppe, für ihre Mitglieder den Modus der Verteilung, der ihr gefiele, anzunehmen, sei es kommunistisch oder individuell. Indessen wandelte sich nach und nach dieses System in eine Art Kompromiß zwischen dem Kommunismus und der individuellen Verteilung der Entlohnung um. Heute will der Kollektivist, daß alles, was der Produktion dient, Gemeinbesitz wird, aber daß trotzdem jeder einzeln entlohnt werde, und zwar durch „Arbeitsscheine“, je nach der Anzahl von Stunden, die er der Herstellung gewidmet hat. Diese Scheine würden dazu dienen, in den Gesellschafts-Warenhäusern alles zum Herstellungspreis zu kaufen, der ebenfalls nach Arbeitsstunden zu berechnen wäre.
Aber wenn Sie diesen Gedanken genau prüfen, werden Sie zugeben, daß sein Wesen, wie das auch einer unserer Freunde zusammenfaßt, auf folgendes hinausläuft:
Teilkommunlsmus im Besitz der Arbeitswerkzeuge und in der Erziehung; Konkurrenz zwischen den einzelnen und den Gruppen betreffs des Brotes, der Wohnung, der Kleidung. —
Individualismus für die Schöpfungen des Geistes und der Kunst. —
Und sozialer Beistand für die Kinder, die Kranken und die betagten Personen.
Mit einem Wort — der Kampf um die Existenzmittel, durch Nächstenliebe gemildert. Immer der christliche Grundsatz: „Verwundet, um nachher zu heilen!“ Und immer der Inquisition die Tür geöffnet, um zu erfahren, ob Sie der Mensch sind, der zu kämpfen hat, oder wohl der Mensch, dem der Staat allergnädigst helfen soll.
Der Gedanke ist, wie Sie wissen, nicht neu. Er stammt von Robert Owen. Proudhon verkündigte ihn im Jahre 1848. Heute macht man daraus „wissenschaftlichen Sozialismus“.
Man muß indessen sagen, daß dieses System auf den Geist der Massen wenig zu wirken scheint: man möchte meinen, daß sie seine Unzulänglichkeiten vorausahnen, um nicht zu sagen, seine Unmöglichkeit.
Zunächst gibt die Zeitdauer, die irgend eine Arbeit beansprucht, nicht das Maß für die gesellschaftliche Nützlichkeit der vollendeten Arbeit an, und die Theorien des Wertes, die man von Adam Smith bis Marx allein auf den Herstellungspreis, in Arbeit gewertet, hat aufbauen wollen, — haben das Problem des Wertes nicht lösen können. Sobald ein Handel existiert, wird der Wert eines Gegenstandes etwas Komplexes, das vor allem dem Grade der Befriedigung abhängt, den er den Bedürfnissen verschafft — nicht bei dem einzelnen, wie ehemals gewisse Nationalökonomen sagten, sondern bei der ganzen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Der Wert ist eine soziale Tatsache. Als Ergebnis eines Handels hat er zwei Gesichtspunkte: die Arbeitsseite und die Genußseite, beide von ihrem sozialen und nicht von ihrem individuellen Gesichtspunkte aus verstanden.
Auf der anderen Seite bemerkt man beim Prüfen der Schäden des jetzigen wirtschaftlichen Regimes — und das weiß der Arbeiter sehr wohl — daß ihr eigentliches Wesen in der für den Arbeiter erzwungenen Notwendigkeit besteht, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Ohne auch nur für vierzehn Tage genügend zum Leben zu besitzen, vom Staat der Möglichkeit beraubt, seine Kräfte zu nutzen, ohne sie jemanden zu verkaufen, verschreibt sich der Arbeiter dem, der ihm Arbeit verspricht. Er verzichtet auf den Vorteil, den ihm seine Arbeit einbringen könnte und überläßt dem Unternehmer den Löwenanteil der von ihm geschaffenen Produkte. Ja, er verzichtet sogar auf seine Freiheit, auf das Recht, seine Meinung über die Nützlichkeit dessen, was er herstellen wird, geltend zu machen.
Die Anhäufung des Kapitals entsteht so nicht aus seiner Fähigkeit, den Höchstwert einzuschlucken, sondern aus der Notwendigkeit, in die der Arbeiter versetzt wird, seine Arbeitskraft zu verkaufen, — während er von vornherein sicher ist, nicht das Ganze zu erhalten, was diese Kraft hervorbringt, und in seinen Interessen geschmälert, sowie der Untergebene des Käufers zu werden. Wäre dies nicht so, so würde der Kapitalist ihn niemals zu kaufen gesucht haben. Daraus folgt, daß, um dieses System zu ändern, man es bei seiner Wurzel ausrotten muß, bei seiner Ursache — dem Verkauf und dem Ankauf. — Nicht bei seinen Wirkungen, dem Kapitalismus.
Die Arbeiter haben davon eine unbestimmte Ahnung, und immer häufiger hört mar sie sagen, daß nichts geschehen sein wird, wenn die soziale Revolution nicht mit der Verteilung der Produkte anfängt, wenn sie nicht allen das fürs Leben Erforderliche verbürgt, d. h. Wohnung, Nahrung und Kleidung. Und bekanntlich ist das durchaus möglich mit den mächtigen Produktionsmitteln, über die wir verfügen. —
Als Lohnarbeiter würde der Arbeiter der Sklave dessen bleiben, dem er seine Kräfte zu verkaufen genötigt wäre, — sei dieser Käufer ein Privatmann oder der Staat.
Im Volksgeist — in dieser Summe von Tausenden von Meinungen, die die menschlichen Gehirne durchkreuzen — fühlt man auch, daß, wenn der Staat sich an Stelle des Arbeitgebers in seiner Rolle als Käufer und Aufseher der Arbeitskraft setzen würde — auch dies eine verhaßte Tyrannei bedeuten würde. Der Mann des Volkes klügelt nicht über Abstraktionen, er denkt an konkrete Wendungen, und darum fühlt er, daß die Abstraktion „Staat“ für ihn die Gestalt zahlreicher Beamter annehmen würde, ausgewählt unter seinen Kameraden aus Fabrik oder Werkstatt, und er weiß, woran er sich hinsichtlich ihrer Tugenden zu halten hätte: heute vortreffliche Kameraden, werden sie morgen unerträgliche Beamte. Und er sucht eine soziale Konstitution, die die jetzigen Schäden ausmerzt, ohne neue zu schaffen.
Darum hat der Kollektivmus niemals die Massen begeistert, die immer zum Kommunismus zurückkehren, zu einem Kommunismus, der frei von der Theokratie und dem jakobinischen Autoritätsgedanken der 40er Jahre ist — zum freien, anarchistischen Kommunismus.
Ich werde noch mehr sagen. Indem ich beständig meinen Gedanken zurückleite auf alles, was wir während dieses Vierteljahrhunderts in der europäischen sozialistischen Bewegung gesehen haben, kann ich mich nicht entschlagen zu glauben, daß der moderne Sozialismus notwendigerweise einen Schritt nach dem freiheitlichen Kommunismus hin machen muß, und daß, so lange dieser Schritt nicht getan sein wird, die Unsicherheit im Volksgeist, die ich soeben festgestellt habe, die Bemühungen der sozialistischen Propaganda zunichte machen wird.
Der Sozialist muß, so scheint mir, durch die Gewalt der Dinge selbst annehmen, daß die materielle Bürgschaft der Existenz für alle Mitglieder der Gemeinschaft der Erste Akt der sozialen Revolution sein muß.
Aber er muß noch einen Schritt weiter gehen. Er muß einsehen, daß diese Bürgschaft nicht vom Staate, sondern vollständig außerhalb des Staates, und ohne sein Dazwischentreten geleistet werden muß.
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Daß eine Gesellschaft, die im Besitze aller in ihrem Bereiche angehäuften Reichtümer ist, ohne weiteres allen ein reichliches Auskommen zu sichern vermag, — als Gegengabe für vier oder fünf Stunden in der Produktion geleisteter wirklicher Handarbeit — darüber haben wir die einheitliche Zustimmung derjenigen, die über diese Frage nachgedacht haben. Wenn jeder von Kindheit an wissen würde, woher das Brot kommt, das er ißt, das Haus, das er bewohnt, das Buch, aus dem er lernt usw., und wenn jeder sich daran gewöhnen würde, die Kopfarbeit in irgend einem Produktionszweige durch die Handarbeit zu vervollständigen, — so könnte sich die Gesellschaft leicht dieser Aufgabe entledigen, sogar ohne die Vereinfachungen der Produktion in Betracht zu ziehen, die uns eine nähere oder ferne Zukunft bescheren wird.
Es genügt tatsächlich, einen Augenblick an die unerhörte, unausdenkbare Verschwendung menschlicher Kräfte zu denken, die heute vor sich geht, um zu begreifen, was eine zivilisierte Gesellschaft bei einer geringen Menge Arbeit eines jeden produzieren kann, und welche großartigen Werke sie unternehmen könnte, die heute nicht in Frage kommen. Unglücklicherweise hat sich die Metaphysik, die man Nationalökonomie nennt, niemals mit dem beschäftigt, was ihr eigentliches Wesen ausmachen sollte — mit der Oekonomie der Kräfte.
Ueber die Möglichkeit des Reichtums in einer kommunisti[s]chen Gesellschaft, die derart mit Werkzeugen ausgerüstet ist, wie wir es sind, besteht kein Zweifel. Es erheben sich nur welche, wenn es gilt, in Erfahrung zu bringen, ob eine solche Gesellschaft existieren kann, ohne daß der Mensch in allen seinen Handlungen der Kontrolle des Staates unterliegt; ob es nicht möglich ist, zum Wohlstand zu gelangen, ohne daß die europäischen Gesellschaften die wenige persönliche Freiheit opfern, die sie während dieses Jahrhunderts zurückerobert haben um den Preis so vieler Opfer?
Ein Teil der Sozialisten behauptet, daß es unmöglich sei, zu einem solchen Resultat zu gelangen, ohne seine Freiheit auf dem Altar des Staates zu opfern. Der andere, zu dem wir gehören, behauptet im Gegenteil, daß wir nur durch die Abschaffung des Staates, durch die Eroberung der völligen Freiheit des Individuums, durch die freie Verständigung, die absolut freie Vereinigung und Verbindung zum Kommunismus kommen können — zum gemeinsamen Besitz unserer sozialen Erbschaft und zur gemeinsamen Produktion aller Reichtümer.
Da steckt die Frage, die in diesem Augenblick aller andern vorangeht, und die der Sozialismus auf die Gefahr hin, alle seine Bemühungen vernichtet und seine ganze spätere Entwicklung gelähmt zu sehen, lösen muß.
Wir wollen sie also mit all der Aufmerksamkeit, die sie verdient untersuchen.
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Wenn jeder Sozialist in seinen Erinnerungen zurückblättern möchte, würde er ohne Zweifel die Menge von Vorurteilen gewahr werden, die in ihm auftauchen, als er zum ersten Male sich klar machte, daß die Abschaffung des kapitalisti[s]chen Systems und der privaten Aneignung des Bodens und des Kapitals eine historische Notwendigkeit wird.
Das Gleiche vollzieht sich heute bei demjenigen, der zum ersten Male hörte, daß die Abschaffung des Staates, seiner Gesetze, seines gesamten Systems der Verwaltung, der Regierung und der Zentralisation ebenfalls eine historische Notwengigkeit wird. — daß die Abschaffung des einen ohne das andere tatsächlich unmöglich ist. Unsere ganze Erziehung — die, vergessen Sie das nicht — von der Kirche und vom Staate in beider Interesse geleitet worden ist, — empört sich gegen diese Anschauung.
Ist diese deswegen weniger richtig? Und soll bei dem großen Opfer von Vorurteilen, das wir bereits für unsere Befreiung dargebracht haben, das des Staates übrig bleiben?
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Ich will hier nicht in eine Kritik des Staates eingehen, die immer wieder und wieder unternommen worden ist und sehe mich genötigt, die Untersuchung der historischen Rolle des Staates in einer anderen Vorlesung vorzunehmen. Einige Betrachtungen allgemeiner Art werden hier genügen.
Zunächst: Wenn der Mensch von Anbeginn an immer in Gesellschaften gelebt hat, so ist der Staat doch nur eine Form des sozialen Lebens, die für unsere europäischen Gesellschaften noch ganz neu ist. Der Mensch lebte schon Tausende von Jahren, ehe die ersten Staaten gebildet waren. Griechenland und Rom existierten bereits Jahrhunderte, ehe sie zum mazedonischen und römischen Kaiserreich wurden, und für uns moderne Europäer reichen die Staaten erst bis ins 16. Jahrhundert zurück. Erst damals wurde die Niederlage der freien Kommunen vollendet, und die Bildung jener Versicherung auf Gegenseitigkeit zwischen der Militär-, Gerichts-, Grundherrn- und Kapitalsautorität gelangt die „Staat“ heißt.
Erst im 16. Jahrhundert wurde ein tötlicher Streich gegen die Ideen der örtlichen Unabhängigkeit, der freien Verbindung und Organisation, der Bündnisse jeglicher Art unter den souveränen Gruppen geführt, die alle Befugnisse besaßen, die sich heute der Staat angemaßt hat. Erst zu jener Zeit setzte das Bündnis zwischen der Kirche und aufstrebenden Macht des Königtums dieser Organisation ein Ende — dieser Organisation, die auf dem Föderativsystem basierte, das vom 9. bis zum 15. Jahrhundert bestanden, und das in Europa die große Periode der freien Städte des Mittelalters hervorgebracht hatte, deren Charakter Sismondi und Augustin Thierry, die heute leider so wenig gelesen werden, so wohl verstanden hatten.
Die Mittel, durch die diese Vereinigung zwischen dem Grundherrn, dem Priester, dem Kaufmann, dem Richter, dem Soldaten und dem König ihre Herrschaft begründete, sind bekannt. Es geschah durch die Vernichtung aller freien Verträge: der Dorfgemeinden, der Zünfte, der Arbeitsgenossenschaften, der Bruderschaften und der mittelalterischen Schwurbündnisse. Es geschah durch die Konfiszierung der Gemeindeländereien und der Reichtümer der Zünfte, durch das absolute und grausame Verbot jeglicher freien Vereinbarung von Mensch zu Mensch. Durch Mord, Rad, Galgen, Schwert und Feuer errichteten Kirchen und Staat ihre Herrschaft — und gelangten dahin, über unzusämmenhängende Mengen von Untertanen zu regieren, unter denen es keine unmittelbare Verbindung mehr gab.
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Erst heute, seit kaum zwanzig Jahren, fangen wir wieder an, durch Kampf und Aufstand einige Fetzen des Bündnisrechtes zurückzuerobern, das während des ganzen Mittelalters von den Handwerkern und den Bauern frei ausgeübt wurde.
Und welches ist die Neigung, die bereits das Leben der zivilisierten Nationen beherrscht? Ist es nicht jene, sich zu vereinen, zu verbünden, sich in Tausenden von freien Gesellschaften zu konstituieren, um alle die vielfältigen Bedürfnisse des Kulturmenschen zu befriedigen?
Europa bedeckt sich tatsächlich mit freiwilligen Verbänden für Studium, Unterricht, Industrie und Handel, Wissenschaft, Kunst und Literatur Ausbeutung und Widerstand gegen Ausbeutung, Unterhaltung und ernste Arbeit, Genuß und Enthaltsamkeit — für alles, was das Leben des tätigen und denkenden Wesens ausgemacht. Wir sehen diese Gesellschaften in allen Winkeln und Winkelchen eines jeden Gebietes entstehen: in Politik, Wirtschaft, Kunst und Geistesleben. Die einen fristen nur ein so kurzes Dasein wie die Rosen, andere halten sich schon jahrzehntelang, und alle suchen, indem sie die Unabhängigkeit aller Gruppen, Zweige, Zirkel oder Sektionen aufrecht halten, sich zu verbünden, zu vereinen, sowohl über die Grenzen hinweg, wie innerhalb jeder Nation, und das ganze Lebert des Kulturmenschen mit einem Netz zu überziehen, dessen Maschen sich kreuzen und sich verstricken. Ihre Zahl beläuft sich bereits auf Zehntausende, sie umschließen Millionen von Anhängern — und ist es nicht erst 50 Jahre her, daß der Staat und die Kirchen anfingen, einige von ihnen zu dulden, — ja, kaum einige?
Ueberall übernehmen diese Gesellschaften schon die Funktionen des Staates und suchen, die freie Betätigung der Freiwilligen an die Stelle jener des zentralisierten Staates zu setzen. In England werden Versicherungsgesellschaften gegen den Diebstahl gegründet, Gesellschaften Freiwilliger zur Landesverteidigung, Gesellschaften zur Küstenverteidigung, die der Staat offenbar seiner Regierung unterstellen, und aus der er ein Werkzeug für seine Herrschaft machen will, aber deren Uridee war, den Staat auszuschließen. Wären nicht die Kirche und der Staat, so hätten die freien Gesellschaften bereits für die freiwillige Arbeit das ungeheure Gebiet der Erziehung erobert, Und allen Schwierigkeiten zum Trotz beginnen sie auch da einzudringen, und ihr Einfluß macht sich bereits fühlbar.
Und wenn man die Fortschritte verzeichnet, die sich in dieser Richtung vollziehen, trotz des Staates und gegen den Staat, der seine Vorherrschaft, die er in diesen drei letzten Jahrhunderten errungen hatte, zu behaupten sucht, — wenn man sieht, wie die freiwillige Gesellschaft alles ergreift und ihrer Entwicklung nur durch die Macht des Staates aufgehalten wird, so muß man darin eine mächtige Tendenz, eine latente Kraft der modernen Gesellschaft anerkennen. Und mit Recht stellt man sich diese Frage: „Wenn in 5, 10 oder. 20 Jahren — das ist gleich — die aufständischen Arbeiter vermöchten, die besagte Gesellschaft für gegenseitige Versicherung zwischen Eigentümern, Bankiers, Priestern, Richtern und Soldaten zu sprengen, — wenn das Volk für einige Monate Herr seines Geschicks wird und Hand auf die von ihm geschaffenen Reichtümer legt, die ihm zu Recht gehören, — wird es dann wirklich von neuem diese Mißgeburt „Staat“ wieder errichten? Oder wird es nicht vielmehr suchen, sich— vom Einfachen zum Zusammengesetzten aufsteigend — zu organisieren, gemäß der gegenseitigen Vereinbarung und den unendlich verschiedenen und stetig wechselnden Bedürfnissen jeden Ortes, um sich den Besitz dieser Reichtümer zu sichern, sich gegenseitig das Leben zu verbürgen und das zu produzieren, was als für das Leben notwendig erachtet werden wird?
Wird es der herrschenden Neigung des Jahrhunderts folgen oder dieser Neigung entgegengesetzt marschieren und die zerstörte Autorität wieder zu bilden suchen?
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Der gebildete Mensch, — der „kultivierte“, wie Fourier voll Verachtung sagte — schaudert bei dem Gedanken, daß die Gesellschaft sich eines Tages ohne Richter, ohne Polizisten und ohne Kerkermeister befinden könnte . . .
Aber, offen gestanden, — haben sie jene wirklich so nötig, wie die alten Schmöker ihnen einreden wollen? Diese Schmöker, die — wohlverstanden — von Gelehrten verfaßt sind, die im allgemeinen wohl das kennen was andre vor ihnen geschrieben haben, aber meistens von völliger Unkenntnis des Volkes und des täglichen Lebens sind?
Wenn wir nicht nur in den Straßen von Paris, die von Polizisten wimmeln, ohne Furcht spazieren gehen können, sondern besonders auf den Landstraßen, auf denen man nur selten Passanten trifft, — verdanken wir der Polizei diese Sicherheit? Oder nicht viel mehr dem Fehlen von Leuten die uns töten oder berauben wollen? Ich spreche natürlich nicht von jenem, der Millionen bei sich trägt. Dieser — ein neuerlicher Vorfall lehrt uns das — wird rasch beraubt, mit Vorliebe an Orten, wo es ebenso viele Polizisten wie Laternen gibt. Nein, ich spreche von dem Menschen, der für sein Leben und nicht für seine Börse fürchtet, die mit zu unrecht erworbenen Talern gefüllt ist. — Sind seine Befürchtungen begründet?
Hat im übrigen die Erfahrung nicht ganz kürzlich gezeigt, daß Jacques, der Bauchaufschlitzer, seine Heldentaten unter den Augen der Londoner Polizei verübte — und dabei ist diese eine der tätigsten, — und daß er seine Mordtaten erst einstellte, als die Bevölkerung von Whitechapel selbst an seine Verfolgung ging?
Und glauben Sie, daß bei unseren täglichen Beziehungen wirklich die Richter, die Kerkermeister und die Polizisten die Vervielfachung der antisozialistischen Handlungen verhindern? Verbreitet der Richter, der stets voll Härte ist, da er aufs Gesetz schwört, der Denunziant, der Spitzel, der Polizist, kurz diese ganze Schmuggelgesellschaft, die um diese Gebäude herumvegetiert, die man mit Hohn „Paläste der Gerechtigkeit“ nennt, nicht in der Gesellschaft die Demoralisierung in vollen Zügen? Lesen Sie die Prozesse, werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen, gehen Sie mit Ihrer Untersuchung über die äußere Fassade hinaus, und Sie werden angeekelt weiterschreiten.
Ist das Gefängnis, das im Menschen allen Willen und alle Charakterstärke ertötet, das hinter seinen Mauern mehr Verbrechen einschließt, als man auf irgend einem anderen Punkt des Erdballs trifft, nicht von jeher die Hochschule des Verbrechens gewesen? Ist der Gerichtshof nicht eine Schule der Grausamkeit? Und sofort.
Man erwidert uns, wenn wir die Abschaffung des Staates und aller seiner Organe verlangen, daß wir eine Gesellschaft erträumen, die aus besseren Menschen besteht, als wir es sind. — Nein, tausendmal nein! Alles was wir fordern, ist, daß man die Menschen durch derartige Einrichtungen nicht schlechter macht, als sie sind! —
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Eines Tages wollte ein deutscher Rechtsgelehrter von großem Rufe, Ihering, das wissenschaftliche. Werk seines Lebens zusammenfassen und eine Abhandlung schreiben, in der er sich vornahm, die Faktoren zu analysieren, die in der Gesellschaft das soziale Leben erhalten. „Der Zweck im Rechte“ ist der Titel dieser Arbeit, die ein wohlverdientes Ansehen genießt.
Er arbeitete einen Plan für diese Abhandlung aus und diskutierte mit großer Gelehrsamkeit über die beiden zwingenden Faktoren: den Lohn und die anderen Formen des Zwanges, die im Gesetze stehen. Am Ende seiner Arbeit reservierte er zwei Paragraphen, um die beiden nicht zwangsweisen Faktoren zu erwähnen, deren er, wie bei einem Juristen selbstverständlich, nur eine mittelmäßige Bedeutung zuerkannte — das Pflichtgefühl und das Sympathiegefühl.
Aber was geschah? In dem Maße, wie er die Faktoren des Zwanges untersuchte, stellte er ihre Unzulänglichkeit fest. Er widmete ihnen einen ganzen Band zusammengedrängter Analyse, und das Resultat war . . . ihre Wichtigkeit herabzusetzen. Als er die beiden letzten Paragraphen anfing, als er über die nicht zwangsweisen Faktoren der Gesellschaft nachsann, bemerkte er ihre ungeheure, überragende Wichtigkeit. Er sah sich gezwungen, einen zweiten Band — zweimal so dick wie den ersten — über diese beiden Faktoren zu schreiben; die freiwillige Beschränkung und die gegenseitige Hilfe — und wieder untersuchte er nur einen geringen Teil dieser letzteren — jene, die von den persönlichen Sympathien, herkommen, und berührte kaum die freie Verständigung, die ein Ergebnis der sozialen Einrichtungen ist.
Nun also, wiederholen Sie nicht länger die in der Schule eingepaukten Formeln, denken Sie an diese Ideen, und es wird Ihnen ergehen, wie es Ihering ging: Sie werden die verschwindend geringe Bedeutung des Zwanges im Vergleich zu den Faktoren der freiwilligen Zustimmungen in der Gesellschaft erkennen.
Wenn Sie andererseits gemäß einem sehr alten Rat, den Bentham gegeben hat, über die verhängnisvollen Folgen nachdenken — direkte und vor allem indirekte — des gesetzlichen Zwanges, so werden Sie, wie Tolstoi und wie wir, diese Anwendung der Gewalt hassen und dahin gelangen, sich zu sagen, daß die Gesellschaft tausend andere weit wirksamere Mittel besitzt, die anti-sozialen Handlungen zu verhindern. Wenn sie diese heute noch vernachlässigt, so kommt das daher, daß ihre Erziehung durch Kirche und Staat, ihre Feigheit, ihre Denkfaulheit sie verhindern, in diesen Fragen klar zu sehen. Hat ein Kind einen dummen Streich gemacht, so ist es sehr bequem es zu bestrafen: das schneidet jede Diskussion kurz ab! Es ist so leicht, einen Menschen zu enthaupten, nicht wahr? Besonders wenn man einen Deibler aufs Jahr bezahlt hat. Das dispensiert uns davon, an die Ursachen der Verbrechen zu denken.
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Man sagt häutig, daß die Anarchisten in einer Welt der Zukunftsträume leben und die Dinge der Gegenwart nicht sehen. Wir sehen sie vielleicht nur zu sehr in ihrer wahren Färbung, und darum legen wir die Axt an diesen Wald von Autoritätsvorurteilen, die uns belasten.
Weit davon entfernt, in einer Welt der Träume zu leben und die Menschen für besser als sie sind zu halten, sehen wir sie so wie sie sind, und darum behaupten wir, daß noch der beste Mensch im Wesen schlecht wird durch den Einfluß der Autorität, und daß die Theorie von dem „Gleichgewicht der Kräfte“ und der „Kontrolle der gesetzlichen Macht“ eine heuchlerische Formel ist, die die Pächter der Macht fabriziert haben, um dem „souveränen Volke“, das sie verachten, einzureden, es herrsche selbst. Weil wir die Menschen kennen, sagen wir zu jenen, die sich einbilden, daß die Menschen ohne sie sich einander verschlingen würden: Ihr denkt wie jener König, der, als er über die Grenze geschickt wurde, ausrief: „Was wird aus meinen armen Untertanen ohne mich werden!"
Ach, wären die Menschen, diese höheren Wesen, von denen uns die Utopisten der Autorität so gern erzählen, könnten wir die Augen vor der Wirklichkeit verschließen und wie sie in einer Welt der Illusionen über die Ueberlegenheit jener leben, die sich zur Macht berufen glauben, so würden wir es vielleicht wie sie machen. Wir würden an die Tugenden der Regierenden glauben.
Welche Gefahr könnte die Sklaverei unter tugendhaften Herren bieten? Erinnern sie sich des Sklavenbesitzers, von dem man uns so viel vor kaum 30 Jahren gesprochen hat? Glaubte man nicht, daß er für seine Sklaven väterlich sorgte? Nur er konnte verhindern, daß jene Trägen, Nachlässigen, jene urteilslosen Kinder vor Hunger starben. Er sollte seine Sklaven unter der Arbeitslast zusammenbrechen lassen oder sie durch Schläge verstümmeln? Wie hätte er das tun können, da doch sein unmittelbares Interesse war, sie gut zu nähren, gut zu pflegen und sie wie seine Kinder zu behandeln! Und wachte nicht außerdem das „Gesetz“ und bestrafte die kleinsten Abweichungen eines Herrn, der seine Pflichten vergessen würde? O, wie viele Male hat man uns das gesagt! Aber die Wahrheit war die, daß Darwin, als er von seiner Reise nach Brasilien zurückgekommen war, sein ganzes Leben lang von den Angstschreien verstümmmelter Sklaven und den Seufzern klagender Frauen heimgesucht wurde, deren Finger an den Daumenketten zerrten.
Wenn die Herren, die die Macht besitzen, wirklich diese Intelligenten und der öffentlichen Sache ergebenen Geschöpfe wären, von denen die Anbeter der Autorität uns gern unterhalten, was für eine hübsche Regierungs- und Schutzherrnutopie könnte man doch errichten! Der Arbeitgeber würde niemals der Tyrann des Arbeiters, er würde sein Vater sein! Die Fabrik würde ein Ort des Entzückens sein, und niemals würde die arbeitende Bevölkerung der physischen Verelendung preisgegeben werden. Der Staat würde seine Arbeiter nicht durch die Fabrikation von Streichhölzern mit weißem Phosphor vergiften, die man so leicht durch roten Phosphor ersetzen kann. Der Richter würde nicht so grausam sein, die Frau und die Kinder dessen, den er ins Gefängnis schickt, dazu zu verdammen, jahrelang Hunger und Elend zu leiden und eines Tages an Blutarmut zu sterben. Niemals würde ein Staatsanwalt den Kopf eines Angeklagten zu dem einzigen Vergnügen verlangen, seine rednerischen Talente zur Geltung zu bringen, und nirgends würde sich ein Gefängnisaufseher oder ein Deibler finden, um die Urteilssprüche auszuführen, die die Richter selbst zu vollziehen nicht den Mut haben. Was sage ich? Man würde niemals genügend Plutarchs haben, um die Tugenden der Deputierten, die die Cheques hassen, zu verkünden! Biribi würde eine strenge Schule der Tugenden werden, und die stehenden Heere würden die Freude der Bürger sein, da die Soldaten das Gewehr nur ergreifen würden, um vor den guten Kindern zu paradieren und an der Spitze ihrer Bajonette Blumensträuße zu tragen!
O herrliche Utopie, der schöne Weihnachtstraum, dem man sich hingibt, sobald man anerkennt, daß die Regierenden eine höhere Kaste darstellen, die von den Schwächen der einfachen Sterblichen wenig oder gar nicht berührt wird! Es würde dann genügen, wenn sie sich wechselseitig untereinander kontrollierten, und wenn man ihnen erlaubte, wenigstens 50 Papiere unter den verschiedenen Verwaltern auszutauschen, wenn der Wind auf einer Reichsstraße einen Baum umreißt. Oder, im Bedarfsfall, läßt man sie von diesen selben Massen Sterblicher anerkennen, die, in ihren wechselseitigen Beziehungen mit allen Schwächen belastet, die Weisheit in Person werden, wenn es sich darum handelt, ihre Herren zu wählen.
Die ganze Regierungswissenschaft, von den Regierenden selbst erdacht, ist mit diesen Utopien durchtränkt. Aber wir kennen die Menschen zu sehr, um gleiche zu hegen. Wir haben nicht zweierlei Gewichte und zweierlei Maße für die Tugenden des Regierten und die der Regierenden. Wir wissen, daß wir selbst nicht ohne Fehler sind, und daß die besten unter uns schnell durch die Ausübung der Macht verdorben werden würden. Wir nehmen die Menschen für das, was sie sind — und darum hassen wir die Regierung des Menschen durch den Menschen und arbeiten mit allen unseren Kräften — vielleicht nicht ausreichend — daran, ihr ein Ende zu setzen.
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Aber es genügt nicht, zu zerstören. Man muß auch aufbauen, und weil daran nicht genügend gedacht worden ist, wurde das Volk in allen seinen Revolutionen stets getäuscht. Nachdem es zerstört, überließ es die Sorge wieder aufzubauen, den Bürgern, die, ihrerseits, eine mehr oder weniger klare Auffassung von dem besaßen, was sie verwirklichen wollten, und die nun die Autorität zu ihren Gunsten wieder aufrichteten.
Darum arbeitet der Anarchismus, wenn er die Autorität unter allen Gesichtspunkten zu zerstören sucht, wenn er die Abschaffung der Gesetze und die Vernichtung des Mechanismus erstrebt, der sie vorschreibt, wenn er jede Verwaltungsorganisation ablehnt und die freie Verständigung predigt, zu gleicher Zeit daran, das kostbare Netz der gesellschaftlichen Gewohnheiten zu erhalten und zu erweitern, ohne welche keine menschliche oder tierische Gesellschaft bestehen könnte. Nur, anstatt die Erhaltung dieser gesellschaftlichen Gewohnheiten der Autorität einiger zu überlassen, fordert er sie von der ständigen Tätigkeit aller.
Die kommunistischen Einrichtungen und Sitten stellen für die Gesellschaft nicht nur eine Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten dar, sondern erhalten und entwickeln auch die gesellschaftlichen Gewohnheiten die die Menschen untereinander in Kontakt bringen, indem sie unter ihnen Beziehungen begründen, die aus dem Interesse des einzelnen, das Interesse aller machen und sie vereinigen, anstatt sie zu trennen.
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Wenn wir uns tatsächlich fragen, durch welche Mittel ein gewisses moralisches Niveau in einer menschlichen oder tierischen Gesellschaft aufrecht erhalten werden kann, so entdecken wir deren nur drei: der Unterdrückung der antisozialen Handlungen, die moralische Erziehung und die wirkliche Ausübung der gegenseitigen Hilfe. Und da alle drei angewendet worden sind, können wir sie nach ihren Werken beurteilen.
Was die Machtlosigkeit der Unterdrückung anbelangt, so ist sie genügend durch Mißstände der heutigen Gesellschaft und durch die Notwendigkeit selbst der Revolution erwiesen, die wir alle für unvermeidlich halten. Auf wirtschaftlichem Gebiete hat uns die Zwangswirtschaft zum Industriellen Bagno geführt. Auf politischem Gebiete — zum Staate, d. h. zur Zerstörung aller Bande, die ehemals unter Bürgern bestanden (die Jakobiner von 1793 brachen selbst jene, die dem monarchischen Staate wiederstanden hatten), damit die Nation eine unzusammenhängende Masse von Untertanen werde, die unter allen Bedingungen einer zentralen Autorität unterworfen sind.
Das Zwangsregime hat nicht nur die Schäden des heutigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems gezeitigt, sondern es hat seine völlige Unfähigkeit erwiesen, das moralische Niveau der Gesellschaften zu heben. Es hat nicht einmal das Niveau erhalten können, das sie erreicht hatten. Denn, wenn eine gütige Fee vor den Augen aller die Verbrechen enthüllen könnte, die täglich, stündlich in einer zivilisierten Gesellschaft unter dem Deckmantel des Unbekannten, der hohen Protektionen und des Gesetzes selbst begangen werden, würde die Gesellschaft erschauern. Die größten politischen Verbrechen, wie der 2. Dezember oder die Blutwoche[4]), sind niemals gesühnt worden, und, wie der Dichter sagte, „man hängt die kleinen Ketzer, um die großen zu befriedigen“. Mehr noch! Sogar dann, wenn die Autorität es auf sich nimmt, die Gesellschaft zu moralisieren durch die Züchtigung der Verbrecher“, so tut sie nichts, als Verbrechen anhäufen!
Seit Jahrhunderten in Anwendung, hat die Unterdrückung so wenig geholfen, daß wir uns in einer Sackgasse befinden, aus der wir nur heraus können, wenn wir die Fackel und die Axt an die Einrichtungen unserer Obrigkeitsvergangenheit legen.
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Fern liege uns, die Bedeutung des zweiten Faktors, der moralischen Belehrung zu verkennen — jener besonders, die unwissentlich in die Gesellschaft dringt und aus der Gesamtheit der Ideen und Schätzungen sich ergibt, die jeder von uns über die Taten und Ereignisse des täglichen Lebens in Umlauf bringt. Aber diese Macht kann auf die Gesellschaft nur unter einer Bedingung wirken: nämlich unter jener, daß sie nicht durch ein anderes Belehrungszentrum durchkreuzt wird, das sich aus der Anwendung der Institutionen ergibt.
In diesem Fall wird ihr Einfluß nichtig oder gar verhängnisvoll. Nehmen Sie die christliche Moral: welche andere Lehre hätte mehr Einfluß auf die Gemüter haben können, als jene, die im Namen eines gekreuzigten Gottes sprach und mit ihren ganzen mystischen Kraft wirken konnte, mit der ganzen Poesie des Martyriums, der ganzen Größe der Verzeihung für die Henker? Und doch war die Institution stärker als diese Religion: bald wurde das Christentum — dieser Empörer gegen das kaiserliche Rom — von diesem glücklichen Rom besiegt: es nahm dessen Grundsätze, Gewohnheiten und Sprache an. Die christliche Kirche wird zum römischen Recht und wurde als solches, verbündet mit dem Staate, in der Geschichte der erbittertste Feind der halbkommunistichen Einrichtungen, auf die sich das Christentum zur Zeit seines Beginns berufen hatte.
Können wir einen Augenblick glauben, daß die moralische Belehrung, die von den Zirkularen der Minister des öffentlichen Unterrichts begutachtet werden, die schöpferische Kraft ausströmen sollte, die das Christentum nicht gehabt hat? Und was kann die Lehre der wahrhaft sozialen Menschen gegen den Komplex der Belehrungen ausrichten, die von anti-sozialen Gewohnheiten hergeleitet werden?
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Bleibt das dritte Element — der Unterricht selbst, der dergestalt wirken soll, daß die sozialen Handlungen zur Gewohnheit, zum Instinkt werden. Dieser hat — wie uns die Geschichte beweist — niemals sein Ziel verfehlt, niemals hat er als Waffe mit doppelter Schneide gehandelt. Und wenn er verblaßt ist, so nur darum, weil die Gewohnheit zu erstarren und sich zu kristallisieren sucht und selbst zur unangreifbaren Religion werden will. Sie verschlang das Individium, raubte alle Freiheit des Handelns und zwang es, gegen das, was seinen Fortschritt aufhielt, zu revoltieren.
Tatsächlich ist alles, was in der Vergangenheit ein Element des Fortschritts oder ein Werkzeug der moralischen und geistigen Vervollkommnung der menschlichen Rasse war, den Sitten zu danken, welche die Gleichheit der Menschen anerkannten und sie dahin fühlten, sich zu verbünden, sich vereinen, um zu produzieren und zu konsummieren, Verbände zu bilden und keine anderen Richter anzuerkennen, um ihre Streitigkeiten zu schlichten, als jene, die sie aus ihrer eigenen Mitte wählten.
Jedesmal, wenn diese Einrichtungen, hervorgegangen aus dem Genie des Volkes, sobald es für einen Augenblick seine Freiheit zurückerobert hatte, jedesmal, wenn diese Einrichtungen in der Geschichte eine neue Entwicklung nahmen, traten das moralische Niveau der Gesellschaft, sein materieller Wohlstand, seine Freiheit, seine Fortschritte und die Behauptung der persönlichen Ursprünglichkeit in eine aufsteigende Phase. Und jedesmal, wenn — im Gegenteil — im Laufe der Geschichte die Menschen, sei es infolge einer fremden Eroberung, sei es infolge der Entwicklung der Autoritäts-Vorurteile, immer mehr in Regierende und Regierte eingeteilt wurden, in Ausbeuter und Ausgebeutete, senkte sich das moralische Niveau, der Wohlstand der großen Menge verschwand, um einigen Wenigen Reichtum zu sichern und der Geist des Jahrhunderts nahm bald ab.
Das ist es, was uns die Geschichte lehrt, und aus ihr schöpfen wir unser Vertrauen zu den Einrichtungen des freien Kommunismus, um das moralische Niveau der Gesellschaften wieder zu heben, das durch die Anwendung der Autorität herabgedrückt ist.
Heute leben wir Seite an Seite, ohne uns auch nur zu kennen. An einem Wahltage treffen wir uns bei den Meetings. Wir hören dort die lügnerischen oder phantastischen Glaubensbekenntnisse eines Kandidaten an und gehen wieder nach Hause. Der Staat hat die Befugnis für alle Fragen von öffentlichem Interesse. Nur er hat darüber zu wachen, daß wir nicht gegen das Interesse unseres Nächsten verstoßen, und, falls es geschieht, dem Uebel beizukommen, indem er uns züchtigt.
Ihr Nachbar kann Hungers sterben oder seine Kinder ermorden — das geht Sie nichts an, das ist die Angelegenheit des Staates. Sie kennen einander kaum, nichts verbindet Sie, alles strebt danach, Sie voneinander zu scheiden und, da Sie nichts Besseres finden, bitten Sie den Allmächtigen (ehemals war es Gott, beute ist es der Staat), sein Möglichstes zu tun, um die anti-sozialen Leidenschaften zu hindern, ihre äußersten Grenzen zu erreichen.
In einer kommunistischen Gesellschaft ändert sich das gewaltig. Die Organisation des Kommunismus kann nicht gesetzgebenden Körperschaften anvertraut werden, ob sie Parlamente, Stadträte oder Gemeinderäte heißen. Sie muß das Werk aller sein, ein Ergebnis des Genies der aufbauenden Masse. Der Kommunismus kann nicht aufgezwungen werden, er würde nicht leben, wenn der beständige, tägliche Wettkampf aller ihn nicht aufrecht erhielte. Er würde in einer Atmosphäre der Autorität ersticken.
Folglich kann er nicht bestehen, ohne einen fortwährenden Kontakt zwischen allen für die tausend und abertausend gemeinsamen Angelegenheiten zu schaffen. Er kann nicht leben, ohne das lokale unabhängige Leben in den kleinsten Einheiten zu schaffen in Straße, Haus, Viertel, Gemeinde. Er würde seinen Zweck nicht erfüllen, wenn er nicht die Gesellschaft mit einem Netz von Tausenden von Gesellschaften überziehen würde, um die tausend Bedürfnisse des Luxus, des Studiums, des Genusses, der Unterhaltung zu befriedigen, die nicht länger lokal bleiben würden, sondern mit Notwendigkeit (wie es bereits heute die Gelehrtengesellschaften, die Vereinigungen der Cyclisten, die Rettungsgesellschaften usw. tun), danach streben würden, international zu werden.
Und die geselligen Sitten, die der Kommunismus — wäre es auch anfangs nur zum Teil — gezwungenermaßen im Leben zur Blüte bringen muß, würden bereits eine unvergleichlich mächtigere Kraft sein, um den Kern der geselligen Gewohnheiten zur Entfaltung zu bringen, als jeder Unterdrückungsapparat.
Das ist die Form — die gesellige Institution —, von der wir die Entwicklung des Gemeinsinns erwarten, den Kirche und Staat sich zur Aufgabe gemacht hatten, uns beizubringen — mit den traurigen Resultaten, die wir nur zu gut kennen. Und diese Betrachtungen, vergessen wir das nicht, enthalten unsere Antwort an jene, die behaupten, daß Kommunismus und Anarchismus nicht zusammen können. Sie sind, wie Sie sehen, die notwendige Ergänzung zu einander.
Die mächtigste Entfaltung der Individualität, der persönlichen Originalität — wie einer unserer Kameraden so richtig bemerkt hat —, kann sich nur vollziehen, wenn die ersten Bedürfnisse an Nahrung und Schutz befriedigt worden sind, wenn der Kampf ums Dasein gegen die Naturkräfte vereinfacht worden ist, und wenn — da die Zeit nicht mehr von den kleinen, widerlichen Seiten des täglichen Lebens beansprucht ist —, die Intelligenz, der künstlerische Geschmack, der erfinderische Geist, das umfassende Genie sich nach Belieben entfalten können.
Der Kommunismus ist die beste Grundlage für den Individualismus — nicht für jenen, der den Menschen in den Krieg eines gegen alle treibt, und der bis heute der einzige ist, den man kennen gelernt hat, sondern für jenen, der die volle Erschließung aller menschlichen Fähigkeiten, die höhere Entwicklung alles dessen darstellt, was Ursprüngliches in ihm ist, die größte Fruchtbarkeit der Intelligenz, des Gefühls, des Willens.
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Da dies unser Ideal ist, was macht es uns, daß es sich erst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft gänzlich erfüllen kann!
Unsere Aufgabe ist, zunächst durch die Analyse der Gesellschaft die Tendenzen bloßzulegen, die ihr in einem gegebenen Augenblick ihrer Entwicklung zu eigen sind und sie zur Geltung zu bringen. Sodann diese Tendenzen in unseren Beziehungen zu allen denen, die wie wir denken, in Anwendung zu bringen. Und schließlich schon heute, aber besonders während der revolutionären Periode, die Institutionen, sowie die Vorurteile zu zerstören, die die Entwicklung dieser Tendenzen behindern.
Das ist alles, was wir vom friedlichen, wie vom revolutionären Standpunkt tun können. Und wir wissen, daß, wenn wir diesen Tendenzen zur zur Entwicklung verhelfen, wir für den Fortschritt arbeiten, und daß alles, was gegen diese Tendenzen unternommen wird, nur den Lauf des Fortschritts hemmen wird.
Man spricht uns indessen häufig von Etappen, die zu durchmessen wären und macht uns den Vorschlag, daran zu arbeiten, das, was man die erste Etappe nennt, zu erreichen — mit der Erlaubnis, auf den großen Hauptweg zurückzukehren, wenn man dort angelangt sein wird.
Aber solche Gedankenreihen scheinen mir den wahren Charakter des menschlichen Fortschritts zu verkennen, und einen militärischen, sehr schlecht gewählten Vergleich anzuwenden. Die Menschheit ist keine rollende Kugel und auch keine in Marsch befindliche Kolonne. Sie ist eher ein Ganzes, das sich in der Vielfältigkeit der Millionen, aus denen es sich zusammensetzt, bewegt, und, wenn man einen Vergleich will, muß man ihn eher aus den Evolutionsgesetzen nehmen, als aus denen eines anorganischen Körpers in Bewegung.
Tatsache ist, daß jede Entwicklungsphase einer Gesellschaft eine Resultante aller Zusammenwirkungen jeder der Intelligenzen ist, aus denen die Gesellschaft besteht: sie trägt den Stempel aller dieser Millionen von Willenskräften. Welches daher auch die Entwicklungsphase sei, die das 20 Jahrhundert vorbereitet, sie wild den Stempel des Erwachens der freiheitlichen Ideen tragen, das sich in diesem Augenblick vollzieht. Und die Tiefe dieser Bewegung wird von der Anzahl der Geister abhängen, die mit den Autoritätsvorurteilen gebrochen haben, von der Energie, die sie beim Kampf gegen die alten Einrichtungen zeigen, von dem Einfluß, den sie auf die Massen hinterlassen, von der Klarheit, mit der eine befreite Gesellschaft sich in den Köpfen der Massen abzeichnen wird. Aber schon heute kann man sagen, daß in Frankreich das Erwachen der freiheitlichen Ideen der Gesellschaft bereits seinen Hauch eingelöst hat, und daß die nächste Revolution keine jakobinische mehr sein wird, wie sie es gewesen wäre, wenn sie vor zwanzig Jahren ausgebrochen wäre.
Und da diese Ideen nicht die Erfindung eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe sind, sondern aus der Gesamtheit der Ideenbewegung dieser Zeit entspringen, so können wir sicher sein, daß, was auch das Ergebnis der nächsten Revolution sein mag, es nicht mehr der zentralisierende und diktatorische Kommunismus der 40 er Jahre sein wird, auch nicht des Regierungskollektivismus, mit dem zu vereinigen man uns noch ganz kürzlich einlud, und den man jetzt nur noch ganz schwach zu verteidigen wagt
Die „erste Etappe“ wird also nicht mehr — das ist gewiß — das sein, was man vor kaum zwanzig Jahren damit bezeichnete.
Ich habe schon bemerkt, daß, soweit wir durch Beobachtung beurteilen können, in diesem Augenblick die große Frage für die Gesamtheit der sozialistischen Partei die ist, ihr Gesellschaftsideal mit der freiheitlichen Bewegung in Einklang zu bringen, die im Geiste der Massen keimt. Und auch — vor allem — in ihnen den Geist der volkstümlichen Initiative zu wecken, der in den früheren Revolutionen gefehlt hat.
In der Tat war die Klippe, an welcher alle vergangenen Revolutionen gescheitert sind, das Fehlen der organisatorischen Initiative in den Volksmassen. Von bewunderungswürdiger Intelligenz beim Angriff, mangelt es dem Volke an Initiative bei der Konstruktion des neuen Gebäudes. Gezwungenermaßen überließ es diese den gebildeten Klassen, der Bourgeoisie, die ihr Gesellschaftsideal besaß und mehr oder weniger wußte, was es zu seinem Vorteil aus dem Sturm retten wollte. Die Zerstörung ist bei einer Revolution nur ein Teil der Aufgabe des Revolutionärs. Man muß wieder aufbauen und der Wiederaufbau wird nach den in den Büchern gelernten Formeln der Vergangenheit erfolgen, die man dem Volke aufzuzwingen sucht, oder aber gemäß dem Volksgenie, das, spontan, in jedem kleinen Dorf und in jedem Stadtzentrum sich ans Werk begeben wird, um die sozialistische Gesellschaft zu errichten. Aber dazu muß das Volk ein Ideal besitzen. Dazu muß es vor allem in seiner Mitte Männer der Initiative haben.
Aber gerade die Initiative des Arbeiters und des Bauers haben alle Parteien — die autoritäts-sozialistische mit inbegriffen — wissentlich oder unwissentlich durch die Disziplin der Partei erstickt. Da die Comités, das Centrum, alles anordnete, hatten die örtlichen Organe nur zu gehorchen, um nicht die Einheit der Organisation zu gefährden. Eine ganze Lehre, eine ganz falsche Geschichte, eine ganze unverständliche Wissenschaft wurden zu diesem Zwecke ausgearbeitet.
Nun wohl! Alle jene, die daran arbeiten werden, mit dieser überlebten Taktik zu brechen, jene, die es verstehen werden, den Geist der Initiative in den Einzelnen und in den Gruppen zu wecken, jene, denen es gelingen wird, in ihren gegenseitigen Beziehungen eine Betätigung und ein Leben zu gründen, das auf diesen Grundsätzen fußte, jene, die begreifen werden, daß die Vielfältigkeit, ja sogar der Konflikt, das Leben sind, und das die Gleichförmigkeit der Tod ist, werden nicht für die zukünftigen Jahrhunderte arbeiten, sondern kurz und gut für die nächste Revolution.
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Wir brauchen die „Gefahren und Irrtümer der Freiheit“ nicht zu fürchten. Nur jene, die nichts tun, begehen keine Fehler. Was jene anbelangt, die nur zu gehorchen verstehen, so begehen sie ebenso viele Fehler und mehr, als jene, die ihren Weg selbst suchen, indem sie sich bemühen, in der Richtung zu handeln, die ihr Geist und ihre soziale Erziehung ihnen eingeben. Schlecht verstanden, und vor allem schlecht angewendet, können die Ideen von der Freiheit des Individuums — in einem Milieu, wo das Solidaritätsgefühl durch die Institutionen nur ungenügend betont wird — sicherlich zu Handlungen führen, die die sozialen Empfindungen der Menschheit abstoßen. Zugegeben, daß das vorkommt, ist es deshalb ein Grund, das Prinzip der Freiheit über Bord zu werfen? Ist ein Grund, die Schlußfolgerungen jener Herren anzunehmen, die die Zensur wieder einrichten, um die „Irrtümer“ einer freien Presse zu verhindern, und die die vorgeschrittenen Parteien guilliotinieren, um die Einförmigkeit und die Disziplin aufrecht zu erhalten — was, am Schluß der Rechnung, wie man es im Jahre 1793 gesehen hat, das beste Mittel ist, um den Triumph der Reaktion zu sichern?
Das Einzige was man tun kann, wenn man anti-soziale Handlungen im Namen der Freiheit vollbringen sieht, ist, das Prinzip „Jeder für sich und der Staat für alle“ zurückzuweisen, und den Mut zu haben, laut und öffentlich zu sagen, was man von diesen Handlungen denkt. Das kann zweifellos den Konflikt herbeifuhren, aber der Konflikt ist das Leben selbst. Und aus dem Konflikt wird eine Schätzung dieser Handlungen hervorgehen, die weit richtiger sein wird, als alle jene Schätzungen, die nur unter dem Einfluß der erworbenen Ideen hätten entstehen können.
Wenn das moralische Niveau einer Gesellschaft so tief sinkt, wie es heute der Fall ist, so müssen wir uns im voraus darauf gefaßt machen, daß der Aufstand gegen diese Gesellschaft bisweilen Formen annimmt, die uns erschauern lassen. Aber verurteilen wir deswegen den Aufstand nicht im voraus! Ohne Zweifel sind uns die aufgespießten Köpfe furchtbar. Aber sind die hohen und niedrigen Galgen des „anicen régime“[5]) und die eisernen Käfige, von denen uns Victor Hugo erzählt hat, nicht die Ursache des blutigen Spaziergangs gewesen? Wir wollen hoffen, daß das Massaker von 35000 Parisern im Jahre 1871 und das Bombardement von Paris durch Thiers über die französische Nation hinweggegangen ist, ohne eine zu große Menge von Grausamkeit zu hinterlassen. Wir wollen hoffen, daß die vergonde[6]) der Erzgauner, die in so vielen Prozessen neuerdings so offen gezeigt worden ist, nicht das Herz des Volkes angefressen hat. Ja, hoffen wir es, helfen wir dazu! Aber, sollten unsere Hoffnungen enttäuscht werden, — werden Sie, meine jungen Freunde dem aufständischen Volke den Rücken zuwenden, weil die Grausamkeit der Mächtigen unserer Zelt ihre Spuren im Geiste des Volkes gelassen hat? Weil der Schmutz von oben weithin seine Spritzer geworfen hat?
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Es ist klar, daß eine Revolution von so tiefgehender Bedeutung sich nicht auf das Gebiet der Ideen beschränken kann und sich in Taten umsetzen muß. Wie es der junge, leider zu früh verstorbene Philosoph, Marc Guyau, in einem der schönsten Bücher, die seit etwa 30 Jahren veröffentlicht worden sind[7]) gesagt hat, gibt es keinen Abgrund zwischen dem Gedanken und der Handlung, wenigstens für jene, die nicht der modernen Sophistik anhängen. Die Erfassung einer Idee ist bereits der Anfang der Handlung.
Daher haben die neuen Ideen in allen Ländern und unter allen möglichen Gesichtspunkten eine Reihe von Aufständen hervorgerufen: zunächst die persönliche Revolte gegen Kapital und Staat, dann die allgemeine Revolte — den Streik und die Arbeitererhebung, beide in den Geistern und in den Tatsachen die Massenrevolte, die Revolution, vorbereitend. Darin sind der Sozialismus und der Anarchismus nur der Entwicklung gefolgt, die immer beim Herannahen der großen Volkserhebungen von den Gedanken-Kräften begleitet wird.
Aus diesem Grunde wäre es falsch, dem Anarchismus das Monopol der aufständischen Handlungen zuzuschreiben. Und tatsächlich sehen wir, wenn wir die aufrührerischen Handlungen aus dem letzten Viertel des Jahrhunderts verfolgen, diese von allen Parteien ausgehen.
In ganz Europa sehen wir eine Menge von Aufständen der Arbeitermassen und der Bauern. Der Streik, der früher „ein Krieg mit gekreutzten Armen“ war wird heute sehr leicht zur Revolte und nimmt manchmal — in den Vereinigten Staaten, in Belgien, in Andalusien — den Umfang eines ungeheuren Aufstandes an. Die Erhebungen der Streikenden, die zu Revolten wurden, zählen in der alten und in der neuen Welt nach Dutzenden.
Andererseits nimmt der Akt der individuellen Revolte alle möglichen Formen an, und alle vorgeschrittenen Parteien tragen dazu bei. Wir gedenken der jungen Rebellin, kurz Sozialistin, Vera Zassulitsch, die auf einen Satrapen Alexanders II. schoß; des Sozialdemokraten Hödel und des Republikaners Nobiling, die auf den Kaiser von Deutschland feuerten; des Böttchers Otero, der auf den König von Spanien zielte und des religiösen Mazzinisten Passanante, der den König von Italien treffen wollte. Wir sehen die Agrarmorde in Irland und die Ausbrüche in London, die von irländischen Nationalisten organisiert werden, die einen Schauder vor dem Sozialismus und dem Anarchismus haben. Wir sehen eine ganze Generation der russischen Jugend — Sozialisten, Konstitutlonalisten und Jakobiner — Alexander II. den Krieg bis zum äußersten erklären und diese Empörung gegen die absolute Regierung auf 35 Galgen und in Scharen von Verbannten büßen. Zahlreiche Attentate werden von den belgischen, englischen und amerikanischen Grubenarbeitern verübt. Und erst gegen das Ende dieser langen Kette sehen wir die Anarchisten erscheinen mit ihren aufrührerischen Handlungen in Spanien und in Frankreich.
Und während dieser gleichen Periode nehmen die großen und kleinen Metzeleien, die die Regierungen organisieren, ihren regelmäßigen Verlauf. Unter dem Beifall der europäischen Bourgeoisie läßt die Versailler Versammlung 35000 Pariser Arbeiter ermorden — die meisten davon Gefangene der besiegten Komune. „Plnkertons Briganten“ — diese Privatarmee der reichen amerikanischen Kapitalisten — metzeln nach allen Regeln der Kunst die streikenden Arbeiter nieder. Die Priester stacheln einen geistesschwachen Mann an, auf Louise Michel zu schießen, die — als wahre Anarchistin — ihn den Richtern entrissen hat, indem sie für ihn eintrat. Außerhalb Europas mordet man die Indianer Canadas, erstickt man Riet,[8]) enthauptet die Matabelen, bombardiert Alexandrien, ohne von den Schlächtereien zu reden, denen man den Namen Krieg gibt — in Madagaskar und anderwärts. Und endlich teilt man jedes Jahr Hunderte und manchmal Tausende von Jahren Gefängnis den revoltierenden Arbeitern der beiden Welten zu und weiht ihre Frauen und Kinder, die man so dazu verurteilt, die sogenannten Verbrechen ihrer Väter zu sühnen, dem schwärzesten Elend. — Man transportiert diese Aufrührer nach Sibirien, nach den Inseln von Trinitas, Liparia, Pantellarla, nach Biribi, Numea und Guyana, und in diesen Verbannungsorten füsiliert man die Verurteilten noch für die geringste Handlung der Widersetzlichkeit . . .
Welches furchtbare Buch wäre das, welches die Bilanz der Leiden ziehen würde, die dir Arbeiterklasse und ihre Freunde in dem letzten Viertel des Jahrhunderts erdulden mußten! Welche Menge furchtbarer Einzelheiten, die das große Publikum nicht kennt, und die Sie wie ein Alb heimsuchen würden, wenn ich Sie Ihnen heute abend erzählen wollte! Welchen Zornesausbruch würde jede Seite eines solchen Märtyrerverzeichnisses der modernen Vorläufer der großen sozialen Revolution hervorrufen! — Nun, wir haben dieses Buch erlebt, jeder von uns ist wenigstens von ganzen Seiten von Blut und schwarzem Elend Zeuge gewesen.
Und diesem Elend, diesen Enthauptungen, diesem Guyana, Sibirien, Numea und Biribi gegenüber hat man den Mut, dem aufständischen Arbeiter seinen Mangel an Achtung vor dem menschlichen Leben vorzuwerfen?
Aber alles in unserm heutigen Leben löscht die Achtung vor dem Menschenleben aus! Der Richter, der zu töten befiehlt, und sein Leutnant, der Henker, der bei vollem Sonnenlicht in Madrid stranguliert oder im Nebel von Paris gouillotiniert — unter dem Hohngelächter der Entmenschten der Gesellschaft, der General, der in Bacleh massakriert und der Korrespondent der Zeitung, der sich bemüht, die Mörder mit einer Gloriole zu umgeben; der Arbeitgeber, der seine Arbeiter mit Bleistaub (céruse) vergiftet, weil — antwortet er — „es mehr kosten würde, wenn man diesen durch Zink ersetzen würde“; der sogenannte englische Geograph, der eine alte Frau tötet, damit sie nicht ein feindliches Dorf mit ihren Seufzern erweckt, und der deutsche Geograph, der das junge Negermädchen, das er zur Konkubine hatte, wegen Untreue hängen läßt; der Kriegsrat, der sich mit 14 Tagen Arrest für den Galeeren-Aufseher von Biribi, der des Totschlags überführt ist, begnügt . . . alles, alles, alles in der heutigen Gesellschaft lehrt die absolute Mißachtung des Menschenlebens — dieses Fleisches, das so wenig auf dem Markte kostet! Und jene, die die entwertete menschliche Ware strangulieren, totschlagen, morden, jene, die eine Religion aus diesem Grundsatz gemacht haben, daß man für das öffentliche Heil henken, erschießen und töten muß, beklagen sich, daß das menschliche Leben nicht genug geachtet wird!
Nein, Genossi[n]nen und Genossen, solange die Gesellschaft dem Widervergeltungsrecht Beifall zollt, solange die Religion und das Gesetz, die Kaserne und der Gerichtshof, das Gefängnis und das industrielle Bagno, die Presse und die Schule fortfahren, die höchste Verachtung des Lebens des Individuums zu lehren, verlangen Sie nicht von den gegen diese Gesellschaft Aufständischen, es zu achten! Das hieße, von ihnen an Milde und Größe einen unendlich höheren Grad fordern als von der ganzen Gesellschaft.
Wenn Sie, wie wir, wünschen, daß die völlige Freiheit des Individuums und folglich sein Leben geachtet wird, — so werden Sie mit Notwendigkeit dahin gelangen, die Regierung des Menschen durch den Menschen zurückzuweisen, welche Form sie auch annehme. Sie werden gezwungen, die Grundsätze des Anarchismus anzunehmen, die Sie solange verachtet haben. Sie müssen dann mit uns die Gesellschaftsformen suchen, die dieses Ideal am besten verwirklichen können und den Vergewaltigungen, die Sie empören, ein Ende machen.
[1] Le Temp Nouveaux. Veröffentlichung der „Revolte“, Paris 1894.
[2] Er ist inzwischen ausgebrochen, und er wird trötz des Friedensschlusses wirtschaftlich weitergeführt.
[3] Ist 1918 auch ausgebrochen Leider hatte Kropotkln in seinen Ahnungen recht, sie war nur eine jakobinische [Ende nicht mehr lesbar].
[4] Die blutige Maiwoche der Pariser Commune 1871.
[5] „alten Regims“
[6] Amerkung der Digitalisierenden: in etwa „Schamlosigkeit“
[7] Die Moral ohne Zwang und Billigung (Pa morale sans oblication et Senctien) von M. Guyau.
[8] Canadischer Indianer Häuptling organisierte Ende der 80 Jahre einen Aufstand.