Peter Kropotkin
Anarchistische Moral
I.
Die Geschichte menschlichen Denkens gleicht seit Jahrhunderten einer abgelaufenen und wieder frisch aufgezogenen Uhr. Nach einer langen Periode geistigen Schlafes kommt ein Augenblick des Erwachens. Der erwachende Gedanke sprengt alsdann die Ketten, in die ihn alle interessierten Elemente – Regierungen, Gesetzmacher, Pfaffen – so sorgfältig geschmiedet hatten. Er unterwirft einer strengen Kritik alles, was man ihm unterwiesen, entblößt alle religiösen, politischen, gesetzlichen und sozialen Vorurteile, unter denen er vegetierte; er forscht auf neuen, unbekannten Wegen, bereichert unser Wissen und legt den Grund zu einer neuen Wissenschaft.
Aber die eingewurzelten Feinde jedweden Denkens – die Regierungen, Gesetzmacher, Pfaffen – erheben sich bald von ihrer Niederlage. Sie vereinigen nach und nach ihre zerstreuten Kräfte, sie verjüngen ihren Glauben, ihre Gesetze, indem sie sie einigermaßen dem Zeitgeist entsprechend ummodeln und das Sklavische des Charakters und Denkens, welches sie selbst so vorzüglich gezüchtet, die momentane Desorganisation der Gesellschaft, das Bedürfnis nach Ruhe der Einen, den Bereicherungsdurst der Anderen, die getäuschten Hoffnungen der Dritten – besonders die getäuschten Hoffnungen – beschützend, gehen sie von neuem behutsam an ihr Werk, indem sie sich vor allem der Jugenderziehung bemächtigen.
Der kindliche Geist ist schwach, es ist so leicht, ihn durch Schrecken zu bezwingen; und darauf ist ihr ganzes Tun gerichtet. Sie machen ihn furchtsam, malen ihm dann die Qualen der Hölle aus, schildern ihm die Rache eines unerbittlichen Gottes und spiegeln ihm die Leiden der verdammten Seelen vor. Etwas spater werden sie ihm die Greuel der Revolution vorstellen und irgendeinen Mißbrauch der Revolutionäre ausnützen, um aus dem Kinde einen „Freund der Ordnung“ zu machen. Der Priester gewöhnt ihn an die Idee der Gesetzlichkeit, um ihn desto fügsamer für das zu machen, was er göttliche Gesetze nennt, und der Advokat erzählt ihm dann von den göttlichen Gesetzen, damit er den bürgerlichen Gesetzen desto besser gehorche. Und infolge jener Gewohnheit, sich zu unterwerfen, nimmt der Gedankengang der heranwachsenden Generation jene religiöse, autoritäre und zugleich sklavische Biegung an — Autorität und Sklavensinn gehen immer Hand in Hand — , die wir leider nur zu gut bei unsern Zeitgenossen beobachten können.
Während dieser Periode geistigen Schlafes wird die Moral äußerst selten diskutiert; die religiösen Praktiken und die gerichtliche Heuchelei ersetzen dies. Man kritisiert nicht, man läßt sich aus Gewohnheit und Gleichgültigkeit leiten. Man erwärmt sich weder für noch gegen die etablierte Moral, man tut was man kann, um seine Handlungen äußerlich dem anzupassen, zu was man sich bekennt. Und das moralische Niveau sinkt immer tiefer und tiefer, bis man zu jener Moral gelangt, welche die Zeit des römischen Verfalls, die Zeit vor der französischen Revolution und nun das Ende der heutigen Bourgeoisieherrschaft kennzeichnet.
Alles Gute, Erhabene, Großmütige, Unabhängige im Menschen stumpft ab, verrostet wie ein Messer außer Gebrauch. Die Lüge wird zur Tugend, die Kriecherei zur Pflicht. Sich bereichern, den Augenblick genießen, seine Intelligenz, sein Feuer, seine Energie auf die nächstbeste Art zu vergeuden, ist das Losungswort nicht nur der besitzenden Klassen, sondern auch einer großen Zahl Proletarier, deren Ideal es ist, sich als Bourgeois aufzuspielen. Die Verderbtheit der Regierung, Richter und Priesterschaft, sowie der mehr oder minder bereicherten Klassen wird nun so empörend, daß die Uhr von neuem in Gang gesetzt wird.
Die Jugend befreit sich nach und nach, wirft die Vorurteile über den Haufen und fängt an zu kritisieren; der Gedanke erwacht zuerst bei einigen, um fast unmerklich die große Masse zu gewinnen. Der Anstoß ist gemacht, die Revolution rückt heran.
Und jedesmal kommt die Frage der Moral von neuem auf‚s Tapet. — .„Warum sollte ich eigentlich diese heuchlerischen Moralprinzipien befolgen“, fragt sich das Gehirn, sobald es von den religiösen Schlacken befreit ist. — „Warum sollte man überhaupt zu einer Moral verpflichtet sein?“
Man sucht alsdann jenes moralische Gefühl zu ergründen, dem wir auf jedem Schritt begegnen, ohne es uns erklären zu können, und das man so lange nicht wird erklären können, so lange man es als ein Privilegium menschlicher Natur betrachtet, so lange wir nicht zu den Tieren, den Pflanzen, den Felsen hinuntersteigen, um es verstehen zu lernen; dennoch sucht man es sich nach dem besten zu Gebote stehenden Wissen zu erklären.
Und — ist es nötig zu sagen? — je mehr man die Grundlage der etablierten Moral oder besser der sie ersetzenden Heuchelei untergräbt, desto mehr hebt sich der moralische Standpunkt der Gesellschaft. Gerade in solchen Epochen, gerade, wenn man das moralische Gefühl kritisiert und verneint, macht es die größten Fortschritte, gerade da wächst, erhebt und verfeinert es sich.
Man hat es im 18. Jahrhundert gesehen. Schon im Jahre 1723 hatte der anonyme Autor Mandeville mit seinem „Bienen-Märchen“ und den beigefügten Schlußfolgerungen, worin er die unter dem Namen Moral sich bergende Heuchelei entlarvte, ganz England in Aufregung versetzt. Er wies nach, wie alle die Leidenschaften, die man mit dem der landläufigen Moral entsprechenden Gesetzbuch bemeistern will, gerade infolge dieser gesetzlichen Einschränkung eine um so schlimmere Richtung annehmen.
Wie Fourier verlangt er die vollständige Freiheit aller Leidenschaften, da sie sonst nur in ebenso viele Laster ausarten. Unter den geringen zoologischen Kenntnissen seiner Zeit jedoch leidend, d.h. die Moral der Tiere vergessend, glaubte er den Ursprung moralischer Ideen unter den Menschen in der Schmeichelei der interessierten Eltern und regierenden Klassen zu finden.
Man kennt die nachdrückliche Kritik moralischer Ideen, die einige Zeit später von den schottländischen Philosophen und den Encyclopädisten ausging. Man kennt die Anarchisten von 1793 und man weiß auch, wo die höchste Entwicklung moralischen Gefühls zu finden ist: bei den Legisten, Patrioten und Jakobinern, welche die Auferlegung und Heilighaltung der Moral im Namen eines höchsten Wesens besangen, oder aber bei den Atheisten, Hebertisten, welche, gleich Guyau, die Verpflichtung und Heilighaltung der Moral verneinten.
„Warum werde ich moralisch sein?“ Das ist die Frage, welche sich die Rationalisten [1] des 12., die Philosophen des 16, und die Philosophen und Revolutionäre des 18. Jahrhundert stellten. Später erhob sich die Frage von neuem bei den englischen Utilitärianern [2] (Bentham und Mill), bei den deutschen Materialisten, wie Büchner, bei den russischen Nihilisten der Jahre 1860—70, bei dem jungen Gründer anarchistischer Ethik (La sience de la moral des sociales) — Guyau — , leider zu früh gestorben, und endlich gegenwärtig bei den jungen französischen Anarchisten.
Warum in der Tat? Vor 30 Jahren hatte dieselbe Frage die russische Jugend erwärmt. — „Ich werde unmoralisch sein“ sagte ein junger Nihilist; seinem Freunde, indem er in irgend einer Handlung seine ihn quälenden Gedanken verbildlichte. —
„Weil es die Bibel will? Aber die Bibel ist nichts weiter als eine Sammlung babylonischer und judaischer Überlieferungen; Überlieferungen, gerade so gesammelt wie die begeisternden Gesänge Homers, wie noch heute die baskischen und mongolischen Gesänge gesammelt werden. Soll ich denn in den Geisteszustand jener halbwilden orientalischen Völker zurückfallen?“
„Oder sollte ich es sein, weil mich Kant über einen „kategorischen Imperativ“ belehrt, einer mir innewohnenden, geheimnisvollen Autorität, welche mir befiehlt, moralisch zu sein? Aber warum sollte also dieser „kategorische Imperativ“ größere Anrechte über meine Handlungen haben als jener andere Imperativ, der mir von Zeit zu Zeit befiehlt, mich zu berauschen? Worte, nichts als Worte, gerade so wie Vorsehung oder Schicksal, mit denen wir unsere Unwissenschaft bedecken.“
„Oder sollte ich moralisch sein, weil mich Bentham glauben machen will, daß ich glücklicher sein werde, wenn ich bei der Rettung eines im Wasser Untergehenden ertrinke, als wenn ich ihn ruhig ertrinken lasse?“
„Oder sollte ich es sein, weil meine Erziehung eine dement sprechende ist, weil meine Mutter mich die Moral gelehrt? Soll ich also vor einem Christus- oder Madonnenbilde niederknieen, Kaiser und König respektieren, mich vor dem Richter, der mir als Schurke bekannt ist, beugen, bloß weil meine Mutter — unser aller Mütter — sehr gut, aber sehr unwissend, uns eine Menge Dummheiten gelehrt haben? Vorurteile, nichts als Vorurteile wie alle anderen, von denen ich mich befreien will. Und wenn es mich anwidert, unmoralisch zu sein, so werde ich mich dazu zwingen, wie ich mich als Jüngling dazu zwang, mich nicht vor dem Dunkel der Friedhöfe, vor Gespenstern und Toten zu fürchten, vor denen man mir Angst zu machen pflegte. Ich werde es tun, um eine von der Religion ausgenützte Waffe zu brechen, ich werde es tun, und wäre es endlich nur, um gegen die Heuchelei zu protestieren, die man uns im Namen eines Wortes, das man Moral nennt, aufdrängen will.“
Dieses Urteil bildete sich die russische Jugend in dem Augenblick, wo sie mit den Vorurteilen der alten Welt gebrochen und die Fahne des Nihilismus oder besser der anarchistischen Philosophie entfaltete: „Sich vor keiner noch so geheiligten Autorität zu beugen, kein Prinzip anzunehmen, so lange es nicht durch die Vernunft etabliert ist.“
Ist es notwendig beizufügen, daß, nachdem die russische Jugend alle moralischen Lehren und Systeme verworfen, sich in ihrer Mitte ein Kern neuer moralischer Sitten gebildet, unendlich mehr erhaben als alles, was ihre Väter unter der Vormundschaft des Evangeliums, des Gewissens des kategorischen Imperativ oder des gutverstandenen Vorurteils der Utilitärianer praktizierten.
Aber ehe wir auf die Frage antworten: „Warum werde ich moralisch sein?“ sehen wir zuerst, ob so die Frage überhaupt gut gestellt ist, analysieren wir die menschlichen Handlungen.
II.
Als unsere Ahnen herausfinden wollten, was den Menschen veranlaßt, auf die eine oder andere Art zu handeln, machten sie sich die Erklärung sehr leicht, man kann sie noch heute auf katholischen Bildern veranschaulicht sehen. Ein Mann schreitet den Feldweg entlang, und ohne es zu ahnen, trägt er einen Teufel auf der linken, einen Engel auf der rechten Schulter. Der Teufel will ihn zum Bösen verleiten, der Engel davon zurückhalten. Hat nun der Engel gesiegt und ist der Mann tugendhaft geblieben, dann kommen drei andere Engel dazu und tragen ihn zum Himmel hinauf und das Rätsel ist gelöst.
Unsere alten Kinderfrauen, gut unterrichtet in dieser Beziehung, werden euch sagen, daß man ein Kind nie ins Bett legen soll, ohne den Hals frei zu lassen, um dem Schutzengel ein warmes Plätzchen zu bereiten, weil sonst der Teufel das Kind im Schlaf quälen, würde.
Diese naiven Auffassungen verschwinden bereits, aber wenn auch die alten Worte verschwinden, das Wesen ist dasselbe geblieben. Die gebildeteren Klassen glauben nicht mehr an den Teufel. Da aber ihre Ideen nicht rationeller sind als die unserer Ammen, so verbergen sie den Engel und den Teufel unter einem schulweisheitlichen Wortkram, mit dem Namen Philosophie beehrt. Anstatt „der Teufel“ sagt man heute „die Fleischeslüste, die Leidenschaften“. „Der Engel“ ersetzt man mit „Gewissen“ oder „Seele“ — „Gedankenreflex eines göttlichen Schöpfers“ oder „des großen Architekten“ — wie die Freimaurer sagen. Die Handlungen werden aber immer als das Resultat eines Kampfes mit feindlichen Elementen dargestellt; und der Mensch wird immer für desto tugendhafter erachtet, je mehr Siege das eine Element — die Seele oder das Gewissen — über das andere Element — die Fleischeslüste oder Leidenschaften — davongetragen hat.
Man kann sich deshalb leicht das Staunen unserer Großväter vorstellen, als die englischen Philosophen und später die Encyclopädisten, im Gegensatz zu den primitiven Auffassungen, mit der Behauptung kamen, daß der Engel und der Teufel nichts mit den menschlichen Handlungen zu tun haben, sondern daß alle guten und schlechten, nützlichen und schädlichen Handlungen nur der einzigen Triebfeder: eine Befriedigung, ein Vergnügen zu finden, — entspringen.
Die ganze religiöse Sippe und besonders die Zunft der zahlreichen Heuchler heulten über solche Sittenlosigkeit, begeiferten und exkommunizierten die Denker. Und als später, im Laufe unseres Jahrhunderts, dieselben Ideen von Bentham, John Stuart Mill, Tschernyschewsky und noch vielen anderen erneuert wurden und diese Denker behaupteten und bewiesen, daß der Egoismus oder das Streben nach Selbstbefriedigung die wahre Triebfeder aller unserer Handlungen ist, da verdoppelten sich die Lästerungen; man verschwieg vorsätzlich die Existenz ihrer Bücher und behandelte sie wie Dummköpfe.
Und doch gibt es nichts reelleres, als diese Behauptung. — Hier ist z. B. ein Mann, der einem Kinde das letzte Stückchen Brot wegnimmt: die ganze Welt stimmt überein, daß er ein abscheulicher Egoist ist, ein Mensch, der nur von der Eigenliebe geleitet wird.
Dort ein anderer Mann, welchen man allerseits als tugendhaft erklärt. Er teilt sein letztes Stückchen Brot mit dem Hungrigen, er zieht seinen Rock aus, um den Frierenden zu bedecken. Und unsere Moralisten mit ihrem religiösen Rotwälsch beeilen sich zu sagen, daß dieser Mann, durch die Nächstenliebe bis zur Selbstverleugnung getrieben, einer ganz anderen Leidenschaft folgt als der Egoist.
Denken wir jedoch ein wenig darüber nach, so werden wir gleich herausfinden daß, so verschieden auch die zwei Handlungen als Resultat für die Menschheit sind, die Triebfeder dennoch ein und dieselbe war, d.h. das Streben nach Selbstbefriedigung. Wenn der Mann, der sein letztes Hemd hergibt, keine Befriedigung darin fände, er täte es nicht. Wenn es ihm ein Vergnügen gewähren würde, dem Kinde das Brot zu entreißen, er täte es, aber dieses ist ihm zuwider; er findet dagegen ein Vergnügen zu geben und in der Tat, er gibt.
Wenn nicht zu befürchten wäre, daß eine Verwirrung daraus entsteht, wenn man Worten, die bereits eine festgesetzte Bedeutung haben, einen neuen Sinn gibt, so könnte man sagen, daß beide unter dem Einfluß ihres Egoismus gehandelt haben. Manche haben dies auch gesagt, um den Gedanken besser hervortreten zu lassen, um die Idee in einer bildlichen Form zu präzisieren und zu gleicher Zeit alle die Sagen, welche den zwei Handlungen zwei verschiedene Triebfedern unterschieben, zu zerstören; denn beide haben denselben Ursprung, ein Vergnügen, eine Selbstbefriedigung zu finden oder ein Leid zu vermeiden, was auf das gleiche herauskommt.
Nehmt den neuesten der großen Schurken, einen Thiers, der fünfunddreißigtausend Pariser massakrieren läßt. Nehmt den Raubmörder, der eine ganze Familie erdrosselt, um seiner Wollust Genüge zu tun. Beide handeln so, weil in diesem Augenblick die Ruhm- oder Geldsucht alle anderen Wünsche in ihnen erstickt. Das Mitleid, selbst das Erbarmen sind durch diesen einen Wunsch erloschen. Sie handeln beinahe wie Automaten, um einem Bedürfnis ihrer Natur nachzukommen.
Nehmen wir jedoch, alle die stärkeren Leidenschaften beiseite lassend, den niedrigen Menschen, der seine Freunde betrügt, bei jedem Schritt lügt, sei es, um sich ein Glas Bier bezahlen zu lassen, sei es aus Prahlerei, sei es aus List. Nehmt den Ausbeuter, der seine Arbeiter pfennigweise bestiehlt, um seiner Frau oder Maitresse einen Schmuck zu kaufen. Nehmt den nächstbesten kleinlichen Spitzbuben. Auch diese folgen nur einer Neigung, sie suchen die Befriedigung eines Bedürfnisses, sie suchen das zu vermeiden, was für sie ein Leid wäre.
Man schämt sich beinahe, diese kleinlichen Spitzbuben mit jemanden zu vergleichen, der sein Leben der Befreiung der Unterdrückten opfert, der aufs Schaffot steigt, wie z. B. ein russischer Revolutionär. So verschieden sind die Resultate dieser beiden Handlungen für die Menschheit, so angezogen fühlen wir uns von der einen, so abgestoßen von der anderen.
Würdet ihr jedoch mit jenen Märtyrern sprechen, mit der Frau, die man hängen wird, selbst im Augenblick, wo sie das Hochgerüst besteigt, sie würde euch sagen, daß sie weder ihr Leben — das Leben eines von den Hunden des Zaren gehetzten Wildes — noch ihren Tod für das Leben des Diebes, der von den gestohlenen Pfennigen seiner Arbeiter lebt, austauschen würde. In diesem ihrem Leben, in diesem Kampf gegen die mächtigen Ungeheuer findet sie ihre größte Befriedigung. Alles andere außer dem Bereich des Kampfes, alle diese kleinlichen Freuden und Verdrießlichkeiten der Bourgeoisie erscheinen ihr so armselig, so langweilig, so traurig! — „Ihr lebt ja nicht. Ihr vegetiert nur!“ ruft sie aus. — „Ich, ich habe gelebt!“
Wir sprechen, wie der Leser sieht, von überlegten, bewußten Handlungen des Menschen, uns für später vorbehaltend, über die unendlich lange Serie unbewußter, fast mechanischer Handlungen zu sprechen, die den größten Teil unseres Lebens ausfüllen. Wohlan, in seinen bewußten, überlegten Handlungen sucht der Mensch immer nur das, was ihm Befriedigung gewährt.
Der eine berauscht sich alle Tage, bis er zum Vieh herabsinkt, weil er in dem Wein die Erregung sucht, die er in seinem Nervensystem nicht findet. Ein anderer berauscht sich nicht, um seine Geistesfrische zu behalten, um in der Fülle seiner Kräfte zu bleiben, wodurch er andere Vergnügen, die er dem Wein vorzieht, genießen kann. Aber handelt er etwa anders als der Feinschmecker, der beim Durchlesen eines ausgewählten Speisezettels auf eine Speise verzichtet, obwohl er sie sehr gerne ißt, nur um sich mit einer anderen vollzustopfen, die ihm noch lieber ist?
Was immer der Mensch tut, die Triebfeder ist stets: entweder ein Bedürfnis zu befriedigen oder einem Leid vorzubeugen.
Wenn eine Frau auf ihr letztes Stück Brot verzichtet, um es dem Nächstbesten zu geben, wenn sie ihren letzten Fetzen auszieht, um ein frierendes Weib zu bedecken und selbst friert, so handelt sie so, weil sie unendlich mehr darunter leiden würde, andere hungrig und frierend zu sehen, als selbst Hunger und Kälte zu leiden. Sie erspart sich dadurch ein Leid, das nur diejenigen ermessen können, die es je selbst empfunden haben.
Wenn der von Guyau zitierte Australier sich bei dem Gedanken verzehrt, den Tod seines Verwandten noch nicht gerächt zu haben, wenn er dahinschwindet, zernagt von dem Bewußtsein seiner Feigheit und sich nicht eher zufrieden gibt, als bis er den Racheakt ausgeführt, so vollbringt er eine heroische Tat, nur um sich eines lästigen Gefühls zu entledigen, das ihn quälte und den inneren Frieden zu erlangen, was die höchste Befriedigung gewährt.
Wenn eine Herde Affen einen der ihrigen unter der Kugel des Jägers fallen sieht und dessen Zelt trotz des ihnen entgegengehaltenen Gewehrs belagert, um den Leichnam zu fordern, wenn sodann der Älteste der Herde unerschrocken eintritt, den Jäger zuerst bedroht und ihn endlich durch sein Jammern zwingt, den Leichnam herauszugeben, wenn die Herde dann denselben mit Klagegeschrei in den Wald trägt, dann folgen die Affen einem Gefühl des Beileids, das alle anderen Gefühle verdrängt, das stärker ist als der Selbsterhaltungstrieb. Das Leben selbst verliert allen Reiz für sie, so lange sie sich nicht versichert haben, daß sie ihren Kameraden nicht mehr ins Leben zurückrufen können. Dieses Gefühl ist so quälend für die Tiere, daß sie alles wagen, um ihn zu befreien.
Wenn sich die Ameisen zu Tausenden in die Flammen ihres Nestes werfen, das die boshafte Kreatur, der Mensch, angezündet, um ihre Larven zu retten und zu Hunderten darin umkommen, folgen sie auch wieder einem Bedürfnis, dem, ihre Nachkommenschaft zu retten. Sie riskieren alles, um das Vergnügen zu haben, ihre Larven davonzutragen, welche sie mit mehr Sorgfalt erzogen haben, als manche Dame der Erziehung ihrer Kinder widmet.
Wenn endlich ein Infusionstierchen einem zu heißen Strahl ausweicht und sich einen milderen sucht, wenn eine Pflanze ihre Blüten der Sonne zuneigt und ihre Blätter beim Nahen der Nacht schließt, folgen auch diese Wesen dem Bedürfnis, eine Befriedigung zu suchen, ein Leid zu vermeiden, gerade so wie die Ameise, der Affe, der Australier, der christliche und der anarchistische Märtyrer.
Ein Vergnügen, eine Befriedigung zu suchen, ein Leid zu vermeiden, ist eine allgemeine Tatsache (ein Gesetz würden andere sagen) in der organischen Welt. Es ist die Essenz des Lebens selbst. Ohne dieses Streben nach Selbstbefriedigung wäre das Leben selbst unmöglich. Der Organismus würde zerfallen, alles Leben aufhören.
Daraus folgt, daß der Mensch in allen seinen Handlungen, welcher Art auch seine Richtschnur sein mag, immer nur einem Bedürfnis seiner Natur folgt. So abstoßend, gleichgültig oder heroisch gewisse Handlungen sein mögen, sie alle sind durch ein Bedürfnis des Individuums vorgezeichnet. Auf welche Weise immer ein Individuum handelt, es handelt so, weil es ein Vergnügen, eine Befriedigung darin findet, weil es dadurch ein Leid vermeidet oder wenigstens glaubt, ein solches zu vermeiden.
Dieses ist nun eine vollkommen festgestellte Tatsache; es ist der Kernpunkt der sogenannten Theorie des Egoismus.
Sind wir nun weiter vorgeschritten, nachdem wir diese allgemeine Schlußfolgerung gezogen? — Ja, gewiß sind wir es. Wir haben eine Wahrheit ergründet und ein Vorurteil zerstört, auf dem alle anderen Vorurteile wurzeln. Die ganze materialistische Philosophie mit ihren Beziehungen zum Menschen ist in dieser Schlußfolgerung. Aber folgt nun daraus, daß alle menschlichen Handlungen vom gleichen Wert sind, wie man sich beeilte, zu behaupten? — Dieses wollen wir nun untersuchen.
III.
Wir haben gesehen, daß die menschlichen Handlungen (die überlegten oder bewußten, später werden wir über die Gewohnheiten sprechen, welche unbewußt geschehen) alle ein und denselben Ursprung haben. Diejenigen, welche man schlecht nennt und die, welche man als gut bezeichnet, die großen Aufopferungen, wie die kleinen Spitzbübereien, die anziehenden Handlungen ebenso wie die abstoßenden, entspringen alle ein und derselben Quelle. Alle werden ausgeführt, um ein natürliches Bedürfnis des Individuums zu befriedigen; alle haben zum Ziel, ein Vergnügen, eine Freude zu bereiten, ein Leid zu verhüten.
Wir haben es im vorigen Abschnitt gesehen, in welchem wir nur einen kurzen Ueberblick über wenige der großen Masse von Handlungen warfen, welche als Belege angeführt werden können.
Es ist leicht begreiflich, daß diese Erklärung ein großes Geschrei unter denjenigen hervorruft, welche noch für religiöse Prinzipien eingenommen sind. Sie läßt dem Übernatürlichen keinen Platz; sie verwirft die Idee von der Unsterblichkeit der Seele. Wenn der Mensch nicht fortwährend unter der Oberherrschaft seiner natürlichen Bedürfnisse handelt, wenn er nicht sozusagen ein „bewußter Automat“ ist, was weißt dann die Unsterblichkeit der Seele? Was heißt Unsterblichkeit — diese letzte Zufluchtsstätte derjenigen, welche nichts als Leiden gekostet haben und wähnen, in einer anderen Welt dafür entschädigt zu werden?
Bedenkt man, daß sie in Vorurteilen aufgewachsen, wenig Vertrauen in die Wissenschaft setzen, welche sie so oft betrogen, mehr vom Gefühl wie vom Denken geleitet werden, so ist es leicht begreiflich, daß sie eine Erklärung zurückweisen, welche sie ihrer letzten Hoffnung beraubt.
Aber was soll man von den Revolutionären vom vorigen Jahrhundert an bis auf unsere Tage sagen, welche immer, wenn sie zum ersten Male eine natürliche Erklärung der menschlichen Handlungen hören (der Theorie des Egoismus, wenn man so sagen will), sich beeilen, denselben Schluß daraus zu ziehen, wie der junge Revolutionär, von welchem wir am Anfang sprachen, und welche stets ausrufen: „Hinweg mit der Moral!“
Was soll man von denjenigen sagen, welche, nachdem sie sich eingeredet, daß der Mensch, indem er auf die eine oder andere Weise handelt, nur dem Trieb folgt, ein natürliches Bedürfnis zu befriedigen, den Schluß ziehen, daß alle diese Handlungen von gleichem Wert sind, daß sie weder gut noch schlecht, daß, mit dem Risiko seines eigenen Lebens, einen Ertrinkenden zu retten oder ihn ersäufen, um sich dann seiner Taschenuhr zu bemächtigen, zwei sich gleich stehende Handlungen sind; daß der Märtyrer, welcher auf dem Schaffot stirbt, weil er für die Befreiung der Menschheit tätig war, nicht besser ist wie der kleinliche Schurke, welcher seine Kameraden bestiehlt, weil beide suchen, sich ein Vergnügen zu verschaffen?
Wenn sie weiter hinzufügen, daß es weder guten noch schlechten Geruch geben kann, weder Wohlgeruch der Rose, noch Gestank des Teufelsdrecks, weil der eine wie der andere nichts ist, als die Schwingungen der Moleküle, daß es weder guten noch schlechten Geschmack gibt, weil die Bitterkeit des Chinin und, die Süße des Honigs wieder nichts sind, als die Schwingungen der Molekülen, daß es weder physische Schönheit noch Häßlichkeit gibt, weder Verstandeskraft noch Blödsinnigkeit, weil Schönheit und Häßlichkeit, Verstandeskraft und Blödsinnigkeit wieder nichts sind als die Resultate chemischer und physicher Schwingungen, welche in den Zellen des Organismus vor sich gehen? Wenn sie dieses hinzufügten, könnte man noch sagen, daß sie faselten, oder, daß sie zum wenigsten die Logik des Verrückten besitzen.
Aber da sie es nicht sagen — was können wir daraus folgern? Unsere Antwort ist einfach. Mandeville, welcher im Jahre 1824 in seinem „Bienenmärchen“ sich auf diese Weise ausließ, der russische Nihilist von 1860—70, mancher Anarchist unserer Tage, sie urteilen so, weil sie, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, immer noch bis über die Ohren im Schlamm der Vorurteile stecken, die ihnen ihre christliche Erziehung beigebracht. Ob Atheisten, Materialisten oder ob Anarchisten, für die sie sich halten, sie teilen ganz ebenso, wie die Kirchenväter oder die Gründer Buddhismus urteilten.
Diese guten Alten sagten uns in der Tat: „Eine Handlung wird gut sein, wenn sie einen Sieg der Seele über das Fleischliche darstellt; sie wird schlecht sein, wenn das Fleisch dabei die Oberhand über die Seele gewonnen hat; sie wird gleichgültig sein, wenn weder das eine noch das andere der Fall ist. Es gibt sonst nichts, um danach zu beurteilen, ob eine Handlung gut oder sch1echt ist.“ Und unsere jungen Freunde plappern den christlichen Väter und Buddhisten nach: „Es gibt sonst nichts, um danach zu beurteilen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist.“
Die Kirchenväter sagen: „Sehet die Tiere an, sie haben keine unsterbliche Seele, ihre Handlungen dienen einfach zur Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse; darum gibt es bei den Tieren weder gute“ noch schlechte Handlungen, alle sind von gleichem Wert; und darum gibt es auch für die Tiere weder Himmel noch Hölle, weder Belohnung noch Strafe.“ Und unsere jungen Freunde, in den Refrain des heiligen Augustin und des heiligen Zakyamouni einfallend, sagen: „Der Mensch ist nur ein Tier, er führt seine Handlungen nur aus, um seine natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen, darum gibt es bei den Menschen weder gute noch schlechte Handlungen, alle sind von gleichem Wert.“
Es ist immer diese verfluchte Idee von der Bestrafung und Züchtigung, welche der Vernunft in die Quere kommt, immer diese alberne Erbschaft der religiösen Erziehung, welche vorgibt, daß eine Handlung gut ist, wenn sie die Folge einer übernatürlichen Eingebung und daß sie gleichgültig ist, wenn sie keinen übernatürlichen Ursprung hat. Es ist noch immer, selbst bei denjenigen, welche am meisten spotten, die Idee vom Engel auf der rechten und vom Teufel auf der linken Schulter vorhanden, „Vertreibt den Teufel und den Engel, dann kann ich euch nicht mehr sagen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, denn ich kenne keine andere Maßgabe, um sie danach zu beurteilen.“
Der Pfaffe mit seinem Teufel und seinem Engel schaut immer dabei heraus, und der ganze materialistische Anstrich kann ihn nicht verdecken. Und, was noch schlimmer ist, der Richter mit seiner Zuchtrute für die einen und seiner Belohnung für die anderen ist ebenfalls dabei, und selbst die ganzen Prinzipien der Anarchie genügen nicht, die Idee von der Belohnung und Bestrafung auszurotten.
Wohlan! Wir wollen weder einen Pfaffen noch einen Richter, wir sagen einfach: „Der Teufelsdreck stinkt, die Schlange beißt mich, der Lügner führt mich hinters Licht? Die Pflanze, das Tier und der Mensch, alle drei gehorchen einem natürlichen Bedürfnis? Sei es so! Wohlan! Auch ich folge einem natürlichen Trieb, indem ich die stinkende Pflanze, das giftige Tier und den noch giftigeren Menschen hasse. Und ich werde demgemäß handeln, ohne mich deshalb weder an den Teufel zu wenden, den ich übrigens nicht kenne, noch an den Richter, den ich noch vielmehr verachte, wie die Schlange. Ich und alle diejenigen, welche meine Antipathien teilen, wir gehorchen ebenfalls einem natürlichen Bedürfnis, und wir werden sehen, welche von beiden die vernünftigsten und stärksten Ansprüche auf Recht haben.“
Das ist es, was wir untersuchen wollen, und gerade dadurch werden wir herausfinden, daß, wenn der heilige Augustin keine andere Grundlage hatte, auf welcher er zwischen gut und schlecht urteilen konnte, das Tierreich eine andere, viel stärkere hat. Das Tierreich im allgemeinen, vom Insekt bis zum Menschen, weiß ganz genau, was gut und was schlecht ist, ohne darüber weder die Bibel noch die Philosophie zu Rate zu ziehen. Und wenn dem so ist, so liegt die Ursache davon wieder in den natürlichen Bedürfnissen: in der Erhaltung der Rasse und folglich in der möglichst großen Wohlfahrt jedes einzelnen Individuums.
IV.
Um zwischen dem Guten und Schlechten zu unterscheiden, nehmen die mosaischen, buddhistischen, christlichen und mohamedanischen Theologen zur göttlichen Eingebung ihre Zuflucht. Sie sahen, daß der Mensch, ob wild oder zivilisiert, unwissend oder gelehrt, lasterhaft oder gut und redlich, immer weiß, ob er gut oder schlecht handelt — besonders wenn er schlecht handelt. Aber keine Erklärung für die allgemeine Tatsache findend, sahen sie darin eine göttliche Eingebung. Die Philosophen der Metaphysik haben uns ihrerseits vom Gewissen, dem mystischen Imperativ, erzählt, was schließlich dasselbe ist, nur in anderen Worten.
Aber weder die einen noch die anderen haben es verstanden, die so einfache Tatsache zu konstatieren, daß in Gesellschaft lebende Tiere ebensowohl zwischen gut und schlecht zu unterscheiden verstehen wie der Mensch; und was noch mehr, daß ihre Begriffe über gut und schlecht derselben Art sind wie die der Menschen. Bei den höchstentwickelten Vertretern jeder separierten Klasse — Fische, Insekten, Vögel und Säugetiere — sind sie sogar identisch.
Die Denker des 18. Jahrhunderts haben es wohl bemerkt, aber man hat es seitdem vergessen und so ist es an uns, die ganze Wichtigkeit dieser Tatsache wieder hervorzuheben.
Forel, dieser unübertreffliche Beobachter der Ameisen, wies durch ein Menge Beobachtungen und Tatsachen nach, daß, wenn eine Ameise, welche den Kropf mit Honig angefüllt hat, anderen hungrigen Ameisen begegnet, diese alsogleich von ihr zu essen verlangen; und zwischen diesen kleinen Insekten ist es eine Pflicht, daß die gesättigte Ameise von ihrem Honig ausbricht, damit die hungrigen Freunde sich auch sättigen können. Fragt die Ameisen, ob es gut ist, den anderen Ameisen desselben Haufens Nahrung zu verweigern, wenn man seinen Teil hat. Sie werden euch durch Handlungen antworten, die nicht mißverstanden werden können, daß dies sehr schlecht ist. Eine selbstsüchtige Ameise wird härter behandelt als Feinde fremder Gattung. Während des Kampfes mit einer anderen Gattung würde man den Kampf aufgeben, um sich auf eine solche Egoistin zu werfen. Diese Tatsache ist durch Beobachtungen nachgewiesen, welche nicht angezweifelt werden können.
Oder fragt die Sperlinge eines Gartens, ob es nicht gut sei, sobald einige Brosamen hingestreut würden, die ganze kleine Gesellschaft zu benachteiligen, damit alle an dem Fressen teilnehmen können. Fragt sie, ob jener Sperling gut gehandelt, der aus dem Neste seines Nachbars einen Strohhalm gestohlen, welchen dieser sich aufklaubte, wozu der kleine Dieb zu faul war; die Spatzen werden euch antworten, indem sie alle den Dieb verfolgen und mit ihren Schnäbeln bearbeiten.
Fragt noch die Murmeltiere, ob es gut ist, anderen Murmeltieren der Kolonie den Zutritt zu den unterirdischen Vorräten zu verweigern, und sie werden euch sagen, daß dies sehr schlecht ist, indem sie den Geizhals auf alle mögliche Weise schikanieren.
Fragt endlich den primitiven Menschen, den Tschuktsche z.B., ob es gut ist, aus dem Zelte eines Mitgliedes während dessen Abwesenheit Eßwaren zu nehmen, und er wird euch antworten, daß es schlecht war, wenn er sich das Essen selbst erwerben konnte; war er aber müde oder in Not, so hatte er das Recht, da zu nehmen, wo er etwas fand, aber in diesem Falle hätte er gut getan, seine Mütze, sein Messer oder einen Strick mit einem Knoten dort zu lassen, damit der abwesende Jäger bei seiner Rückkehr wisse, daß er den Besuch eines Freundes und nicht den eines Plünderers hatte. Diese Vorsicht hätte ihn der Sorge über die möglichen Gegenwart eines Plünderers in der Nähe seines Zeltes enthoben.
Tausende ähnlicher Tatsachen könnten zitiert werden; ganze Bücher könnte man vollschreiben, um nachzuweisen, bis zu welchem Grade die Begriffe des Guten und Schlechten bei den Menschen und Tieren identisch sind.
Die Ameise, der Vogel, das Murmeltier, der wilde Tschuktsche haben weder Kant noch die Kirchenväter, nicht einmal Moses gelesen und dennoch haben alle dieselben Begriffe über gut und schlecht. Und wenn ihr ein wenig nach der Grundlage dieser Idee forscht, so werdet ihr schnell herausfinden, daß das, was bei den Ameisen, Murmeltieren und Moralisten, ob Christen oder Atheisten, als gut befunden wird, dasjenige enthält, was für die Fortpflanzung der Rasse nützlich ist — und das als schlecht anerkannt wird, was derselben schädlich ist. Nicht für das Individuum, wie Bentham und Mill behaupteten, sondern kurz und deutlich für die ganze Rasse.
Der Begriff des Guten oder Schlechten hat also nichts mit der Religion oder dem geheimnisvollen Gewissen zu schaffen. Es ist ein natürliches Bedürfnis der tierischen Rassen. Und wenn die Gründer der Religionen, die Philosophen oder Moralisten, von göttlichen oder metaphysischen Wesen sprechen, so entgeht ihnen einfach, was jede Ameise, jeder Sperling in ihrem kleinen Gesellschaftsleben ausüben.
Ist es der Gesellschaft nützlich? Wohlan, so ist es gut. Ist es ihr, schädlich, so ist es schlecht.
Dieser Begriff kann sehr beschränkt sein bei untergeordneten Tieren oder besser, er erweitert sich bei den auf höchster Stufe stehenden Tieren. Der Kern aber bleibt immer derselbe.
Bei den Ameisen beschränkt er sich auf den Ameisenhaufen. Alle gesellschaftlichen Sitten, alle Anstandsregeln sind nur für die Mitglieder desselben geltend. Man muß seinen Honig den Ameisen seiner Kolonie abtreten, aber nie denen einer anderen. Ein Ameisenhaufen wird, gewisse Umstände ausgenommen, wie z.B. gemeinsame Gefahr, nie mit einem anderen Ameisenhaufen eine Familie bilden. Geradeso wie die Sperlinge des Luxemburg-Gartens, so gut sie sich auch untereinander vertragen, einen unerbittlichen Kampf gegen jeden Sperling eines anderen Gartens führen würden, der sich unter sie verirrte. Und der Tschuktsche wird den Tschuktsche eines anderen Stammes als eine Person ansehen, für welche die Sitten seines Stammes nicht anwendbar sind. Es ist sogar erlaubt, an ihn zu verkaufen (verkaufen heißt immer mehr oder weniger betrügen; einer oder der andere ist immer der Betrogene), während etwas an die Mitglieder des Stammes verkaufen als ein Verbrechen betrachtet wird. Diesen gibt man ohne zu rechnen. Und der aufgeklärte Mensch, die intimen, wenn auch für den ersten Augenblick unmerkbaren Beziehungen zwischen ihm und dem letzten Papua verstehend, wird seine Solidaritätsprinzipien über die ganze menschliche Rasse, selbst über die Tiere ausbreiten. Die Idee erweitert sich, aber der Grund bleibt immer derselbe.
Andererseits wechselt der Begriff des Guten und Schlechten je nach der Stufe der Intelligenz und des gesammelten Wissens; er hat nichts Unveränderliches.
Der primitive Mensch mochte es als sehr gut, d.h. seine Rasse als sehr nützlich betrachten, seine alten Eltern, wenn sie der Gemeinde zur Last würden, zu verspeisen. Er konnte es als sehr gut, d.h. immer als nützlich für die Gemeinschaft betrachten, seine neugeborenen Kinder zu töten und nur zwei oder drei auf die Familie zu behalten, damit die Mütter sie bis zum dritten Jahre nähren und ihnen ihre Sorgfalt und Zärtlichkeit angedeihen lassen könnten. Die Ideen haben seither gewechselt, aber die Ernährungsmittel sind auch heute nicht mehr so karg, wie sie es im Steinalter waren. Der zivilisierte Mensch braucht nicht mehr zwischen den zwei Übeln zu wählen, entweder seine alten Eltern zu verspeisen oder zu hungern und über kurz oder lang weder für die Eltern noch für die Nachkommen Nahrung zu finden.
Man muß es versuchen, sich in diese Zeiten, die wir uns kaum vorstellen können, hineinzudenken, um zu begreifen, daß der halbwilde Mensch nach den damaligen Umständen ziemlich richtig geurteilt haben mag. Sehen wir nicht in der Tat noch heute die australischen Völker dem Skorbut anheimfallen, seitdem die Missionare sie dahin brachten, ihre alten Verwandten und ihre Feinde nicht zu essen?
Die Vemunftschlüsse können wechseln, die Abschätzung dessen, was für die Rasse nützlich oder schädlich ist, wechselt, aber der Grund bleibt unbeweglich. Und wollte man die ganze Philosophie des Tierreichs in einen Satz kleiden, man würde sehen, daß die Ameisen, Vögel, Murmeltiere in einem Punkt übereinstimmen.
Die Christen sagen: „Tue anderen nicht, was du nicht willst, daß dir geschieht“, und fügen bei: „sonst wirst du in der Hölle braten!“
Die Moral, die sich aus den Beobachtungen des gesamten Tierreichs entwickelt und welche um vieles die der Christen übertrifft, kann man so resümieren: „Tue den anderen, was du willst, das dir in ähnlichen Umständen zu teil wird“, und sie fügt bei: „Es ist bloß ein Rat, den ich dir gebe, aber ein Rat, der die Frucht langer Lebenserfahrungen der in Gesellschaft lebenden Tiere ist; und bei der unendlichen Masse gesellschaftlicher Tiere, den Menschen mit einbegriffen, ist das Handeln nach diesem Prinzip zur Gewohnheit geworden. Ohne diesen Faktor könnte übrigens keine Gesellschaft fortbestehen, keine Rasse könnte all die natürlichen Hindernisse überwinden, gegen welche sie zu kämpfen hat.“
Ist es aber auch Tatsache, daß sich dieses so einfache Prinzip aus den Beobachtungen gesellschaftlicher Tiere und menschlicher Gesellschaften entwickelt hat, ist es anwendbar und auf welche Art wird dieses Prinzip zur Gewohnheit und entwickelt sich mehr und mehr? Dieses wollen wir untersuchen.
V.
Die Idee des Guten und Schlechten existiert in der Menschheit. Auf welcher geistigen Stufe der Mensch auch stehen mag, so verfinstert auch seine Ideen infolge von Vorurteilen und persönlichen Interessen sein mögen, er betrachtet immer das als gut, was der Gesellschaft, der er angehört, nützlich ist, und als schlecht, was ihr schädlich ist.
Woher kommt jedoch dieser Begriff, der oft so unbestimmt ist, daß man ihn kaum von einem Gefühl unterscheiden kann? Betrachten wir doch die Millionen und Millionen menschlicher Wesen, welche nie über die Menschheit nachgedacht haben. In den meisten Fällen ist ihnen nur ihr Gau oder ihre Familie bekannt, selten die Nation — noch viel seltener die Menschheit. Wie ist es ihnen möglich, das als gut zu betrachten, was der menschlichen Gattung nützlich ist, sich überhaupt bei ihren so entschieden egoistischen Instinkten zu einem Solidaritätsgefühl mit ihrem Gau emporheben zu können?
Diese Tatsache hat die größten Denker aller Zeiten beschäftigt. Sie fährt fort, sie zu beschäftigen, und es vergeht kein Jahr, wo nicht ganze Bibliotheken über diesen Gegenstand geschrieben werden. So wollen wir denn auch unsere Ansicht zum besten geben. Zuerst jedoch sei vorübergehend hervorgehoben, daß, wenn auch die Erklärung der Tatsache, verschiedenartig sein kann, diese jedoch unbestreitbar feststeht. Und wenn auch unsere Erklärung nicht die richtige oder eine unvollkommene wäre, die Tatsache mit ihren Schlußfolgerungen bleibt dennoch dieselbe. Wir können uns vielleicht den Ursprung der Planeten, die sich um die Sonne drehen, nicht vollständig erklären, sie drehen sich deshalb nicht weniger um die Sonne und einer davon trägt uns durch das Weltall mit sich.
Wir haben bereits von der religiösen Erklärung gesprochen. Wenn der Mensch Gut und Schlecht zu unterscheiden weiß, sagen die Priester, so ist es, weil Gott ihm die Idee einflößte. Da gibt es kein Diskutieren. Nützlich oder Schädlich bleibt ihm gleich, da heißt es einfach blindlings dem Gutdünken seines Schöpfers zu folgen. Traurige Früchte der Unwissenheit und der Furcht des Wilden, Halten wir uns nicht länger dabei auf, gehen wir weiter.
Andere (wie Hobbes) haben es durch das Gesetz zu erklären gesucht. Das Gesetz sollte es sein, welches bei den Menschen das Gefühl von Recht und Unrecht, von Gut und Schlecht entwickelt hat. Unsere Leser werden diese Erklärung wohl selbst abzuschätzen verstehen. Sie wissen, daß das Gesetz die gesellschaftlichen Gefühle des Menschen bloß ausnutzte, um ihm „Moralvorschriften“, die er nicht gerne annahm, einzuflößen und die den Ausbeutern, der Minorität, nützlichen Befehle, gegen welche er sich sträubte, befolgen zu lassen. Das Gesetz hat das Rechtsgefühl nicht entwickelt, sondern im Gegenteil verdorben.
Halten wir uns auch bei der Erklärung der Utilitärianer nicht länger auf, welche angeben, der Mensch handle moralisch aus persönlichem Interesse, wobei sie jedoch die Sölidaritätsgefühle der ganzen Rasse gegenüber vergessen, die doch vorhanden sind, welchen Ursprungs sie auch immer sein mögen. Etwas Wahres liegt schon in ihrer Erklärung, aber es ist noch nicht die ganze Wahrheit. Suchen wir also noch weiter.
Immer und immer wieder haben wir es den Denkern des 18. Jahrhunderts zu verdanken, den Ursprung der moralischen Gefühle, teilweise wenigstens, erraten zu haben.
In einem herrlichen Buch, über das die Pfaffen wohlweislich schwiegen, und welches in der Tat sehr wenigen, selbst antireligiösen Denkern bekannt ist, hat Adam Smith den wahren Ursprung moralischer Gefühle gezeigt. Er sucht ihn nicht in den religiösen oder mystischen Gefühlen — er findet ihn in dem einfachen Gefühl der Sympathie.
Ihr seht, daß ein Kind geschlagen wird, Ihr wißt, daß das so geschlagene Kind leidet. Eure Einbildungskraft läßt euch den ihm zugefügten Schmerz selbst empfinden, oder seine Tränen, seine schmerzerfüllten Züge lassen euch darauf schließen, und wenn ihr keine Feiglinge seid, werft ihr euch auf den brutalen Menschen, der das Kind schlägt, und entreißt es ihm.
Dieses Beispiel allein erklärt beinahe alle moralischen Gefühle. Je mächtiger eure Einbildungskraft ist, desto deutlicher werdet ihr euch vorstellen können, was ein Wesen leidet, dem man etwas zu Leide tut; und desto intensiver und empfindsamer wird euer moralisches Gefühl sein; desto fähiger seid ihr, euch an die Stelle des betreffenden Wesens zu versetzen und den Schmerz, den angetanen Schimpf oder das zugefügte Unrecht mitzuempfinden und desto unwiderstehlicher werdet ihr euch zu Handlungen bestimmen lassen, um den Schmerz, den Schimpf oder das Unrecht zu verhüten. Und je mehr ihr durch die Umstände, durch eure Umgebung oder durch die Kraft eures Denkens und eure Einbildungskraft euch gewöhnt, in dem Sinne eures Denkens und eurer Einbildungskraft zu handeln, desto mächtiger wird euer moralisches Gefühl, desto mehr wird es zur Gewohnheit.
Dieses ist es, was Adam Smith mit einem großen Aufwand von Beispielen erläuterte. Er war noch jung, als er das Buch schrieb, welches seinem späteren, von Altersschwäche zeugenden Werke „Die politische Ökonomie“ unendlich überlegen ist. Frei von allen religiösen Vorurteilen, suchte er die Erklärung der Moral in einem physischen Akt, der menschlichen Natur, weshalb auch das ganze Pfaffengeschmeiß, mit oder ohne Kutte, das Buch wahrend eines ganzen Jahrhunderts in den Index verbotener Bücher eingereiht hatte.
Der einzige Fehler Adam Smiths ist, nicht begriffen zu haben, daß dieses zur Gewohnheit gewordene Gefühl der Sympathie gerade so bei den Tieren wie bei den Menschen existiert.
So unangenehm es auch denjenigen sein mag, welche Darwins Lehre verallgemeinern und bei ihm alles, was er nicht von Malthus entlehnt hat, absichtlich übersehen, ist es doch Tatsache, daß das Solidaritätsgefühl der überwiegendste Zug in dem Leben gesellschaftlicher Tiere ist.
Die Adler verzehren die Sperlinge, die Wölfe verzehren die Murmeltiere, aber die Adler und die Wölfe helfen sich untereinander beim Jagdmachen und die Sperlinge und Murmeltiere halten so fest gegen die Raubtiere zusammen, daß nur die Ungeschickten sich fangen lassen können. In allen tierischen Gesellschaften ist das Solidaritätsgefühl ein viel wichtigeres Naturgesetz als der Kampf ums Dasein, dessen Tugenden uns von den Bourgeois in allen Refrains besungen werden, um uns desto leichter abstumpfen und aussaugen zu können.
Studieren wir die Tierwelt und suchen wir uns über den Existenzkampf jedes lebenden Wesens gegen die widrigen Umstände und gegen seine Feinde klar zu werden, so können wir konstatieren, daß, je mehr das Prinzip der auf Gleichheit ruhenden Solidarität in einer tierischen Gesellschaft entwickelt ist und sich zur Gewohnheit gestaltet, desto eher zu erwarten ist, daß sie aus dem Kampfe mit den widrigen Verhältnissen und ihren Feinden siegreich hervorgehen wird. Je stärker von jedem einzelnen Mitglied einer Gesellschaft die Solidarität mit jedem anderen Mitglied empfunden wird, desto mehr entwickeln sich in jedem einzelnen von ihnen jene zwei Eigenschaften — der Mut und die freie Initiative des Individuums — , welche die Hauptfaktoren des Sieges und jeden Fortschritts sind. Und je mehr im Gegenteil eine tierische Gesellschaft oder kleine Gruppe dieses Solidaritätsgefühl verliert (was entweder infolge von außergewöhnlicher Not oder außergewöhnlichem Überfluß an Nahrung geschieht), desto mehr sinken die zwei Hauptfaktoren des Fortschritts, bis sie zuletzt ganz verschwinden. Die so in Verfall geratene Gesellschaft ist ihren Feinden und somit ihrem Untergang preisgegeben. Ohne gegenseitiges Vertrauen ist kein Kampf möglich, kein Mut, keine Initiative, keine Solidarität — folglich kein Sieg! Der Verfall ist sicher.
Wir werden eines Tages auf diesen Punkt zurückkommen, um mit einem großen Aufwand von Beweisen klarzulegen, wieso im Tierreich wie unter den Menschen das Gesetz der gegenseitigen Hilfe ein Gesetz des Fortschritts ist und wieso die Gegenseitigkeit sowie der daraus zu folgernde Mut und die individuelle Initiative den Sieg jener Gattungen sichern, die sie am weitgehendsten ausüben. Für den Augenblick genügt es, diese Tatsache zu konstatieren. Der Leser wird selbst ihre ganze Wichtigkeit für die uns beschäftigende Frage begreifen.
Stelle man sich nun vor, dieses Solidaritätsgefühl, durch die Millionen von Zeitalter wirkend, welche seit dem ersten Auftauchen einer Tierform auf dem. Erdball aufeinanderfolgten; stellt man sich vor, wie dieses Gefühl nach und nach zur Gewohnheit wurde und sich seit dem Beginn des einfachsten mikroskopischen Organismus bis zu seinen Nachkommen — den Insekten, Vögeln, Reptilien, Säugetieren und Menschen — vererbte, so wird man den Ursprung des moralischen Gefühls begreifen, der für das Tier geradeso eine Notwendigkeit ist, wie die Nahrung oder die Verdauungsorgane.
Dies ist, ohne weiter zu gehen (denn hier müßten wir von jenen komplizierten Tieren sprechen, welche aus Kolonien kleiner und höchst einfacher Wesen entstanden sind), der Ursprung des moralischen Gefühls. Wir haben uns äußerst kurz fassen müssen, um diese so große Fragen in einigen Seiten erklären zu können. Das genügt jedoch schon, um zu sehen, daß hier weder etwas Mystisches noch Sentimentales zugrunde liegt. Ohne die Solidarität des Individuums mit seiner Gattung hätte sich die Tierwelt nie entwickeln noch vervollkommnen können. Das höchstentwickelte Wesen der Erde wäre noch immer eines jener kleinen, in den Wassern schwimmenden Krümchen, die man kaum mit Hilfe des Mikroskops wahrnehmen kann. Würden auch diese übrigens existieren, wenn nicht schon die allerersten Zellenverbindungen tatsächlich ein Schutz- und Trutzbündnis im Kampfe wären?
VI.
Wir sehen also, daß, sobald wir die Tiergesellschaften beobach-ten — nicht mit den Augen eines interessierten Bourgeois, sondern als unparteiischer intelligenter Forscher — , wir zu dem Resultat gelangen, daß das Prinzip: „Behandle die anderen so, wie du von ihnen unter ähnlichen Umständen behandelt sein möchtest!“ sich in jedem Gesellschaftsleben vorfindet.
Und wenn man die Entwicklung oder Evolution der Tierwelt etwas näher prüft, entdeckt man (mit dem Zoologen Keßler und dem Ökonomisten Tschernyschewsky), daß dieses Prinzip, mit dem Wort Solidarität zusammengefaßt, einen unendlich größeren Anteil an der Entwicklung der Tierwelt gehabt hat, als alle möglichen Anpassungen haben könnten, die aus dem „Kampf ums Dasein“, dem Kampf der Individuen um persönlicher Vorteile willen resultieren.
Es ist klar, daß man der Ausübung der Solidarität mehr noch in den menschlichen Gesellschaften begegnet. Schon die auf der höchsten Tierstufe stehenden Affengesellschaften überraschen uns durch ihr stark ausgeprägtes Solidaritätsgefühl. Der Mensch geht noch weiter auf dieser Bahn, und das allein erlaubt ihm, seine schwächliche Gattung inmitten all der ihn bedrohenden Naturelemente zu schützen und fortzupflanzen, und seine Intelligenz zu entwickeln.
Und prüfen wir das Gesellschaftsleben der primitiven Völker, welche bis heute auf der Stufe der Steinperiode geblieben sind, so finden wir, daß bei ihnen die Solidarität auf der höchsten Stufe ausgeübt wird.
Warum aber dieses Gefühl, diese Ausübung der Solidarität nie, auch in den schlechtesten Geschichtsepochen nicht, aufhört? Selbst in Zeiten rücksichtsloser Beherrschung, Sklaverei und Ausbeutung, wo dieses Prinzip mit Füßen getreten wird, bleibt es in den Gedanken der Masse so gut geborgen, daß es einen Druck gegen die schlechten Einrichtungen, eine Revolution herbeiführt. Dies ist sehr leicht verständlich; denn wäre es nicht so, müßte die Gesellschaft zugrunde
gehen.
Für die überwiegende Mehrzahl der Tiere und Menschen bleibt und muß dieses Gefühl im Zustande erworbener Gewohnheit bleiben, als ein dem Geiste stets vorschwebendes Prinzip, selbst wenn es oft in Handlungen verkannt wird.
Die ganze Evolution des Tierreichs spricht hier in uns und sie ist lang, sehr lang, sie zählt Hunderte Millionen von Jahren.
Selbst wenn wir wollten, könnten wir uns dieses Gefühls nicht entledigen; es wäre leichter für den Menschen, sich wieder das Laufen auf allen Vieren anzugewöhnen, als sich dieses Gefühls zu entledigen; es ist älter in der tierischen Entwicklung wie die aufrechte Gestalt des Menschen, Der moralische Sinn ist gerade so eine natürliche Eigenschaft in uns wie der Geruchs- oder Tastsinn.
Was das Gesetz und die Religion anbelangt, die ja auch dieses Prinzip predigten, so wissen wir zu gut, daß sie es einfach eskamotierten, um ihre Ware — ihre Vorschriften zugunsten der Eroberer, Ausbeuter und Pfaffen — damit zu decken. Wie hätten sie sonst ohne dieses Prinzip der Solidarität, dessen Richtigkeit im allgemeinen anerkannt wird, so viel Macht über das Seelenleben der Menschen erlangt? Sie bedecken sich damit gerade so, wie die Autorität, welche auch nur deshalb fortbesteht, weil sie sich als die Beschützerin der Schwachen gegen die Starken ausgibt.
Erst wenn die Menschen das Gesetz, die Autorität und Religion nicht mehr anerkennen werden, werden sie wieder in den Besitz ihres moralischen Prinzips gelangen — das sie sich haben entwenden lassen — , um es einer Kritik zu unterwerfen und es von den Verfälschungen, mit denen es die Richter, Regierungen und Pfaffen vergifteten und noch immer vergiften, zu säubern.
Aber — das moralische Prinzip leugnen, weil die Kirche und das Gesetz es ausnützten, wäre gerade so unvernünftig, als wenn man erklären wollte, sich nie zu waschen, mit Trichinen vergiftetes Schweinefleisch zu essen und den gemeinschaftlichen Besitz des Bodens nicht zu wollen, einfach darum, weil der Koran das tägliche Waschen vorschreibt, weil der Gesundheitslehrer Moses den Hebräern das Schweinefleisch verbot, weil der Chariat (Ergänzung des Koran) gebietet, daß jeder drei Jahre hindurch unbenutzte Boden an die Gemeinschaft zurückfällt.
Übrigens, das Prinzip, andere zu behandeln, wie man selbst behandelt sein möchte — was ist es anderes als das Gleichheitsprinzip, das Grundprinzip der Anarchie? Und wie kann man dazu kommen, sich für einen Anarchisten zu halten, ohne es zu praktizieren?
Wir wollen nicht regiert sein. Aber erklären wir nicht gerade dadurch, daß wir selbst niemanden regieren wollen? Wir wollen nicht betrogen sein, wir wollen, daß man uns immer die Wahrheit, die volle Wahrheit sage. Erklären wir nicht wieder gerade dadurch, daß wir selbst niemanden betrügen wollen, daß wir uns verpflichten, immer die Wahrheit, die reine Wahrheit zu sagen? Wir wollen nicht, daß man uns unsern Arbeitsertrag stiehlt; nichts weiter wollen wir damit sagen, als daß wir selbst den Arbeitsertrag anderer respektieren.
In der Tat, mit welchem Recht könnten wir verlangen, daß man uns auf diese oder jene Art und Weise behandle, wenn wir andere behandeln wollen, wie es uns eben paßt? Sind wir denn der „weiße Knochen“ der Kirgisen [3], welcher die anderen behandelt, wie es ihm gefällt? Unser einfaches Gefühl der Gleichheit empört sich dagegen.
Die Gleichheit im gegenseitigen Verkehr und die daraus folgende Solidarität — das ist die mächtigste Waffe der Tierwelt in ihrem Kampf ums Dasein, und der Gleichheit entspricht alles, was recht und billig ist.
Schon dadurch, daß wir uns als Anarchisten bekennen, erklären wir von vornherein darauf zu verzichten, andere auf eine Art behandeln zu wollen, die uns selbst nicht gefallen würde, daß wir keine Ungleichheit mehr dulden werden, welche einigen von uns erlauben würde, ihre Kraft, List oder Geschicklichkeit auf eine Weise an anderen zu erproben, die uns an unserer Person nicht behagen würde. Gleichheit in allem und überall — gleich mit Billigkeit — ist doch die Anarchie selbst. Zum Teufel mit dem „weißen Knochen“, welcher sich das Recht herausnimmt, andere in ihrer Einfalt zu betrügen. Wir dulden ihn nicht unter uns und werden, wenn notwendig, uns seiner zu entledigen wissen. Nicht nur der Dreieinigkeit Gesetz, Religion und Autorität erklären wir den Krieg, wir erklären ihn zugleich der ganzen Flut von Betrügereien, List, Ausbeutung, Verderbtheit, Lastern — in einem Wort: der Ungleichheit — , welche sie in uns alle ergossen haben. Wir erklären den Krieg ihrer Art zu handeln, ihrer Art zu denken. Der Beherrschte, Betrogene, Augebeutete, Prostituierte u. a. verletzen vor allem unser Gefühl der Gleichheit. Und im Namen der Gleichheit wollen wir keine Prostituierten, Ausgebeuteten und Betrogenen oder Beherrschten mehr haben.
Man wird uns vielleicht sagen — man hat es schon öfter gesagt — : „Nachdem ihr aber selbst lehrt, behandelt die anderen wie ihr selbst behandelt sein wollet, — mit welchem Recht wollt ihr die Kanonen gegen die Belagerer eines Landes, ob Barbaren oder Zivilisierte, aufprotzen, mit welchem Recht die Ausbeuter enteignen? Mit welchem Recht töten, nicht bloß einen Tyrannen, sondern auch nur eine Viper?“
Mit welchem Recht? Was versteht ihr unter diesem sonderbaren, dem Gesetz entlehnten Worte? Wollt ihr wissen, ob ich in solchen Fällen das Bewußtsein habe, richtig zu handeln? Ob diejenigen, die ich achte und liebe, meine Handlung als gut anerkennen? Wenn es dies ist, was ihr wissen wollt, dann ist unsere Antwort leicht und einfach.
Ja, wir haben das Recht dazu! Wir haben es, weil wir verlangen, daß man uns erschlage wie ein giftiges Tier, wenn wir in Tonkin oder bei den Zulus eindringen, die uns nie etwas zu Leid getan haben.
Ja, wir haben das Recht, weil wir verlangen, daß man uns enteignet, wenn wir eines Tages, unsere Prinzipien verleugnend, uns irgendeiner Erbschaft bemächtigen — und wäre sie vom Himmel gefallen — , um damit andere auszubeuten.
Ja, wir haben das Recht, weil jeder, der ein Herz im Leibe hat, im vornherein verlangt, daß man ihn töte, wenn er zur Viper werden sollte; daß man ihm den Dolch in die Brust stoße, wenn er je den Platz eines entthronten Tyrannen einnehmen möchte.
Von hundert Familienvätern wird es gewiß neunzig geben, welche das Nahen des Irrsinns (den Verlust der von ihrem Gehirn ausgehenden Kontrolle über ihre Handlungen) fühlend, aus Furcht, denen, die sie lieben weh zu tun, zum Selbstmord greifen werden. So oft ein Mann von Herz fürchtet, den Seinigen gefährlich zu werden, will er sterben, bevor er es geworden ist.
Eines Tages wurden in Irkutsk ein polnischer Arzt und ein Photograph von einem wütenden Hündchen gebissen. Der Photograph brannte seine Wunde mit glühendem Eisen aus, der Arzt begnügte sich damit, die seinige zu verheilen. Er war jung, schon, voller Lebenslust. Kurz vorher aus dem Gefängnis entlassen, wohin ihn seine Aufopferung für die Sache des Volkes gebracht, lebte er inmitten einer Bevölkerung, die ihn um seines Wissens, seiner Intelligenz und seiner vorzüglichen Kuren willen auf den Händen trug. Sechs Wochen nach dem Vorfall bemerkt er das Anschwellen seines Armes. Als Arzt konnte er sich‚s nicht mißdeuten. Es war die Wut im Nahen [4]. Zu einem Freunde fliehend, Arzt und Exilierter wie er selbst, ruft er: „Schnell, ich bitte dich um alles in der Welt, schnell, gib mir Gift! Siehst du den Arm, du weißt, was es bedeutet; in einer Stunde ist die Wut da, du und die Freunde laufen Gefahr, gebissen zu werden; verliere keine Zeit, ich muß sterben!“ — Er fühlte, daß er zur Viper werde und verlangte, daß man ihn töte.
Der Freund zögerte; von einer mutigen Frau unterstützt, suchte er ihn zu retten, und zwei Stunden nachher suchte der Doktor, schäumend vor Wut, beide zu beißen; dann kam er zu sich und schrie: „Gift! Gebt mir Gift!“ Er wütete weiter und starb in schrecklichen Konvulsionen.
Wie viele ähnliche Fälle könnten wir, gestützt auf unsere Erfahrungen, zitieren. Ein beherzter Mann zieht vor, zu sterben, ehe er die Ursache eines dem anderen zugefügten Leids werden sollte.
Eben deshalb wird er das Bewußtsein einer guten Handlung und den Beifall seiner Freunde haben, so oft er eine Viper oder einen Tyrannen tötet.
Perowskaja und ihre Freunde töteten den Zaren, und die ganze Menschheit, trotz ihres Widerwillens gegen vergossenes Blut, trotz ihrer Sympathie für einen, der die Leibeigenen befreien ließ, stimmte ihnen bei, gab ihnen Recht.
Warum? Nicht weil sie die Handlung als notwendig betrachtete (drei Teile davon zweifeln noch heute daran), sondern weil sie fühlte, daß Perowskaja und ihre Freunde um alles Gold der Welt nicht die Stelle eines Tyrannen einnehmen möchten. Selbst die, welche das Drama in seinem Zusammenhang ignorieren, sind wenigstens darin sicher, daß ihm keine jugendliche Übereilung, kein Palastverbrechen, keine Sucht nach Macht zugrunde gelegen; es war der Haß gegen die Tyrannei, der Haß bis zur Selbst Verachtung, bis zum Tode.
„Diese“, hat man sich gesagt, „hatten das Recht zu töten“, gerade wie man von Louise Michel sagt, sie hatte das Recht, zu plündern“, oder: „jene hatten das Recht, zu stehlen“, indem man von den Terroristen sprach, welche aus der Schatzkammer von Kischinew eine oder zwei Millionen stahlen und dabei von trockenem Brot lebten und ihr Leben riskierten, um von der bei der Kasse stehenden Wache die Verantwortung abzuwälzen.
Das Recht, Gewalt anzuwenden, hat die Menschheit noch nie jenen verweigert, die sich dieses Recht erworben haben — ob es auf den Barrikaden oder in dem Schatten einer Straßenecke geschehe. Aber damit eine Handlung einen tiefen Eindruck auf die Geister ausübe, muß man sich das Recht dazu erwerben.
Ohne dieses bleibt die Tat, ob nützlich oder nicht — eine einfache brutale Handlung ohne Wichtigkeit und ohne Fortschritt für die Ideen. Man würde darin eine einfache Ersetzung eines Ausbeuters durch einen anderen erblicken.
VII.
Bis jetzt haben wir immer von den bewußten, überlegten Handlungen des Menschen gesprochen (von denjenigen, über welche wir uns Rechenschaft ablegen). Aber an der Seite des bewußten Lebens haben wir das unbewußte Leben, unendlich vielseitiger und ehemals zu unbekannt. Es genügt jedoch, nur die Art und Weise zu beobachten, wie wir uns des Morgens ankleiden, wie wir den Knopf zuzuknöpfen versuchen, von dem wir wissen, daß wir ihn am Abend vorher verloren hatten, oder wie wir die Hand erheben, um einen Gegenstand zu ergreifen, den wir selbst von seinem Platze weggetan haben, um sich eine Idee von diesem unbewußten Leben zu machen und die ungeheure Rolle zu verstehen, die sie in unserem Leben spielt.
Drei Vierteile unserer Beziehungen zu den anderen sind Handlungen dieses unbewußten Lebens. Unsere Redeweise, unsere Gewohnheit zu lächeln oder die Augenbrauen zusammenzuziehen und die Stirne zu runzeln, uns in einer Diskussion aufzuregen oder ruhig zu bleiben und so fort — alles dies tun wir, ohne uns Rechenschaft davon abzulegen, aus einfacher Gewohnheit, vielleicht von unseren menschlichen oder vormenschlichen Vorfahren ererbt (betrachtet nur die Ähnlichkeit des Ausdruckes des Menschen und des Tieres, wenn der eine oder der andere böse wird), oder auch bewußt oder unbewußt angeeignet.
Unsere Handlungsweise gegenüber den anderen wird so zur Gewohnheit. Und der Mensch, welcher die meisten moralischen Gewohnheiten erworben hat, wird sicherlich dem guten Christen überlegen sein, welcher vorgibt, immer vom Teufel verleitet zu werden, und deshalb schlecht zu handeln, und welcher sich nur davon ablenken kann, indem er sich die Höllenleiden oder Himmelsfreuden vor Augen führt.
Die anderen zu behandeln, wie man gerne selbst behandelt sein möchte, wird bei den Menschen und bei allen gesellschaftlichen Tieren zur einfachen Gewohnheit so sehr, daß sich der Mensch im allgemeinen nicht einmal selbst fragt, wie er unter gewissen Umständen handeln soll. Er handelt gut oder schlecht, ohne zu überlegen. Und es ist nur bei außergewöhnlichen Umständen, in Gegenwart eines verwickelten Falles oder unter dem Antrieb einer heftigen Leidenschaft, wo er zaudert und wo die verschiedenen Teile seines Gehirns (eines sehr komplizierten Organs, dessen verschiedene Teile mit einer gewissen Unabhängigkeit funktionieren) sich bekämpfen. Er versetzt sich alsdann in seiner Einbildung in die Lage der Person, welche ihm gegenüber ist: er fragt sich, ob es ihm angenehm wäre, auf dieselbe Weise behandelt zu werden, und seine Entscheidung wird um so moralischer sein, je besser er sich mit der Person identifizierte, deren Würde oder Interesse er im Begriff war zu verletzen. Oder auch, ein Freund träte dazwischen und würde zu ihm sagen: „Denke dich an seine Stelle; würdest du geduldet haben, von ihm so behandelt zu werden, wie du ihn behandelt hast?“ Und das genügt.
Der Appell an das Gleichheitsprinzip erfolgt also nur in einem Augenblick des Zauderns, während wir in neunundneunzig von hundert Fällen moralisch aus einfacher Gewohnheit handeln.
Man wird gewiß bemerkt haben, daß wir in allem, was wir bis jetzt gesagt, nichts aufzudrängen suchten. Wir haben einfach auseinandergesetzt, wie die Dinge in der Tierwelt und bei den Menschen vor sich gehen.
Die Kirche drohte den Menschen ehemals mit der Hölle, um sie zu moralisieren, und man weiß mit welchem Erfolg: sie hat sie demoralisiert. Der Richter droht mit dem Pranger, der Peitsche, dem Galgen, immer im Namen dieser gleichen Prinzipien der Geselligkeit, welche er der Gesellschaft listig entwunden hat; und er demoralisiert sie. Und die Autoritäten aller Schattierungen schreien noch von Gesellschaftsgefahr bei dem Gedanken, daß der Richter zugleich mit dem Priester von der Erde verschwinden könnte.
Nun, wir fürchten nicht, auf den Richter und die Verurteilungen verzichten zu müssen. Mit Guyau verzichten wir selbst auf jede Art von Sanktion, auf jede Art von moralischer Verpflichtung. Wir fürchten nicht zu sagen: „Tue was du willst, mache was du willst“, — weil wir überzeugt sind, daß die ungeheure Menschenmasse in dem Maße, in welchem sie mehr aufgeklärt und sich der jetzigen Hindernisse entledigen wird, immer in einer gewissen, der Gesellschaft nützlichen Richtung handeln wird, ganz so wie wir im voraus davon überzeugt sind, daß das Kind eines Tages auf seinen zwei Füßen und nicht auf allen Vieren gehen wird, einfach deshalb, weil es von Eltern gezeugt ist, welche der menschlichen Rasse angehören.
Alles was wir tun können ist nur, jemanden einen Rat erteilen; und indem wir ihn geben, fügen wir noch hinzu: „Dieser Rat wird nur dann Wert haben, wenn du ihn selbst aus Erfahrung und Beobachtung als befolgenswert anerkennst.“
Wenn wir einen jungen Menschen sehen, welcher seinen Rücken beugt und so seine Brust und Lungen zusammendrückt, so werden wir ihm raten, sich aufzurichten, seinen Kopf hoch zu tragen und die Brust herauszuhalten. Wir werden ihm anraten, die Luft in großen Zügen einzuatmen, um seine Lunge zu erweitern; denn darin findet er die beste Garantie gegen die Schwindsucht. Zu gleicher Zeit werden wir ihn Physiologie lehren, damit er die Tätigkeit der Lunge kenne und so selbst die Stellung wählen kann, welche er als die beste finden wird.
Und das ist auch alles, was wir in Bezug auf Moral tun können. Wir haben nur das Recht, einen Rat zu erteilen, dem wir noch hinzufügen sollen: „Befolge ihn, wenn du ihn für gut findest.“ Aber indem wir einem jeden das Recht lassen, zu handeln wie ihm beliebt, indem wir der Gesellschaft absolut das Recht absprechen, zu strafen, wen es auch betreffe und auf welche Weise es sei, welche antigesellschaftliche Handlung er auch begangen haben mag, verzichten wir nicht auf unsere Fähigkeit, zu lieben, was uns gut erscheint, und zu hassen, was wir für schlecht befinden, auf Lieben und Hassen; denn nur diejenigen, welche hassen können, können lieben. Wir behalten uns dies vor, und da dies allein genügt, die moralischen Gefühle in jeder Tiergesellschaft zu erhalten und zu entwickeln, so wird es um so mehr bei der menschlichen Rasse genügen.
Wir verlangen nur eines, und das ist die Entfernung von allem, das in der heutigen Gesellschaft die freie Entwickelung dieser beiden Gefühle verhindert, von allem, was unsere Urteilskraft fälscht: Staat, Kirche, Ausbeutung; Richter, Priester, Regierer und Ausbeuter.
Wenn wir aber aller Infamien gedenken, welche einen Mörder zu seinen Mordtaten führen, wenn wir an die Dunkelheit denken, in welcher er umherschweift, von Bildern umgeben, die er schlechten Büchern entnommen, oder welche ihm durch dumme Bücher eingeflößt wurden, — so teilt sich unser Gefühl. Und am Tage, wo wir diesen Mörder in den Händen eines Richters wissen, welcher sehr kaltblütig hundertmal mehr das Leben von Männern, Frauen und Kindern vernichtet hat, als alle Mörder, wenn wir ihn in den Händen dieser gefühllosen Verrückten oder dieser Leute wissen, welche einen Borras auf die Galeeren schicken, um den Bourgeois zu zeigen, daß sie gute Richter um sich herum haben — so wird alsdann unser ganzer Haß gegen den Mörder verschwinden. Er wird sich anderswohin wenden. Er verwandelt sich in Haß gegen die feige, heuchlerische Gesellschaft, gegen ihre anerkannten Vertreter. Alle Gemeinheiten eines Mörders verschwinden vor dieser hundertjährigen Serie von im Namen des Gesetzes begangenen Gemeinheiten. Und dieses Gesetz ist es, was wir hassen.
Unser Gefühl teilt sich heute beständig. Wir fühlen, daß wir alle mehr oder weniger freiwillig oder unfreiwillig die Stützen dieser Gesellschaft sind. Wir wagen nicht mehr zu hassen. Wagen wir nur zu lieben? In einer auf Ausbeutung und Unterjochung basierten Gesellschaft verdirbt die menschliche Natur.
Aber in dem Maße, wie die Unterdrückung verschwindet, werden wir in unsere Rechte eintreten. Wir werden die Kraft zu hassen und zu lieben fühlen, selbst bei einem so verwickelten Falle, wie wir ihn angeführt haben.
Was unser Alltagsleben anbelangt, so lassen wir schon unseren Gefühlen von Sympathie oder Widerwillen freien Lauf. Wir tun dies beständig. Alle lieben wir die moralische Kraft und alle verachten wir die moralische Schwäche, die Feigheit.
Beständig drücken unsere Worte, unsere Blicke, unser Lächeln bei der Ansicht von der Menschheit nützlichen Handlungen, welche wir für gut befinden, unsere Freude aus. Jeden Augenblick geben wir durch unsere Blicke und unsere Worte unsere Abneigung kund, welche uns die Feigheit, der Trug, die Intrige und der Mangel an moralischem Mut einflößt. Wir verraten unseren Abscheu selbst dann, wenn wir unter dem Einfluß einer „anständigen“ Erziehung (d.h. zur Heuchelei) denselben unter einer lügnerischen Maske zu verbergen suchen, ein Tun, das in dem Maße verschwinden wird, als sich die Gleichheitsbeziehungen unter uns etablieren werden.
Dies allein genügt nun schon, um das Verständnis des Guten und des Bösen auf einem gewissen Niveau zu erhalten und es sich gegenseitig einzuprägen; es wird um so besser genügen, da es weder Richter noch Priester in der anarchistischen Gesellschaft geben wird, — um so besser, je mehr die moralischen Prinzipien jedes Zeichen von Verpflichtung verlieren und nur als einfache natürliche Beziehungen unter Gleichen angesehen werden.
Während sich diese Beziehungen befestigen, taucht indessen ein noch höheres moralisches Verständnis in der Gesellschaft auf, und es ist dieses Verständnis, welches wir untersuchen werden.
VIII.
Bis jetzt haben wir in unserer ganzen Untersuchung nur einfache Gleichheitsprinzipien auseinandergesetzt. Wir haben uns empört und die anderen eingeladen, sich auch gegen diejenigen aufzulehnen, welche sich das Recht anmaßen, andere anders zu behandeln, als sie ihrerseits selbst behandelt sein wollen; gegen diejenigen, welche weder betrogen noch ausgebeutet, weder vergewaltigt noch prostituiert sein wollen, welche es aber ohne Rücksicht auf die anderen tun. Die Lüge, die Brutalität usw., haben wir gesagt, sind uns zuwider, nicht weil sie von den Moralgesetzbüchern gemißbilligt werden, — wir ignorieren diese Gesetzbücher — sondern sie sind uns zuwider, weil sie die Gleichheitsgefühle desjenigen, für welchen die Gleichheit kein leeres Wort ist, empören; sie empören besonders denjenigen, der in seiner Art zu denken und zu handeln wirklich Anarchist ist.
Aber, einzig dieses so einfache, so natürliche und in die Augen springende Prinzip — wenn es im Leben allgemein angewendet wäre — würde schon eine sehr gehobene Moral zur Folge haben, welche alles dasjenige enthielte, was die Moralisten zu lehren behaupten.
Das Gleichheitsprinzip faßt die Lehren der Moralisten in sich zusammen. Aber es enthält auch etwas mehr. Und dieses Etwas ist die Achtung des einzelnen. Indem wir unsere Moral, welche auf Gleichheit und Anarchie fußt, proklamieren, lehnen wir es ab, uns das Recht anzumaßen, das die Moralisten immer auszuüben verlangten — den einzelnen im Namen eines gewissen Ideals, welches sie für gut halten, zu verstümmeln. Wir anerkennen für niemanden dieses Recht; wir beanspruchen es auch nicht für uns. Wir anerkennen die volle und die ganze Freiheit des einzelnen; wir wollen die Vollständigkeit seiner Existenz, die freie Entwicklung aller seiner Eigenschaften. Wir wollen ihm nichts aufzwingen, und kehren so zu dem Prinzip zurück, welches Fourier der Moral der Religionen entgegenstehe, als er sagte: Lasset die Menschen absolut frei, verstümmelt sie nicht — die Religionen haben es genug getan. Fürchtet auch ihre Leidenschaften nicht; denn in einer freien Gesellschaft bieten sie keine Gefahr.
Ist dafür gesorgt, daß ihr selbst auf eure Freiheit nicht verzichtet, daß ihr euch von anderen nicht unterjochen lassen werdet und ihr den heftigen und antisozialen Leidenschaften solcher Individuen eure sozialen Leidenschaften ebenso kräftig entgegensetzen werdet, dann habt ihr nichts von der Freiheit zu befürchten. [5]
Wir verzichten, den einzelnen im Namen irgendeines Ideals zu verstümmeln. Alles was wir uns vorbehalten, ist, unsere Sympathien oder unsere Antipathien für das, was wir als gut oder schlecht fanden, frei auszudrücken. Täuscht irgendeiner seine Freunde? Es ist sein Wille, sein Charakter? — Sei es so! Wohlan, dies ist unser Charakter, es ist unser Wille, den Lügner zu verachten! Und da einmal unser Charakter so ist, seien wir offen. Stürzen wir uns nicht gegen den Lügner, um ihn an unsere Brust zu drücken und seine Hand hastig zu ergreifen, wie dies heute geschieht! Seiner tätigen Leidenschaft setzen wir die unsere ebenso tätig und kräftig gegenüber.
Dies ist alles, wozu wir das Recht und die Pflicht haben, um in der Gesellschaft das Prinzip der Gleichheit aufrechtzuerhalten. Dies ist zugleich das Prinzip der Gleichheit in der Praxis angewandt. [6]
Alles dieses, wohlverstanden, kann sich nicht früher, vollständig entwickeln, ehe nicht die großen Ursachen der Verdorbenheit: Kapitalismus, Religion, Justiz, Regierung zu existieren aufgehört haben werden. Aber es kann sich in hohem Grade von heute an betätigen, und es betätigt sich bereits.
Indes, wenn die Gesellschaften nur das Prinzip der Gleichheit kennen würden, wenn jeder, sich an ein Prinzip käuflicher Billigkeit haltend, sich vorsehen würde, in jedem gegebenen Augenblicke den anderen etwas mehr zu geben, als er von ihnen erhielt — wäre dieses der Tod der Gesellschaft selbst. Das Prinzip der Gleichheit würde in unsern Beziehungen verschwinden, weil es, um es aufrechtzuerhalten, einer größeren, schöneren, kräftigeren Sache bedarf, als die einfache Billigkeit unaufhörlich im Leben erzeugt. Und das vollzieht sich jetzt.
Bis jetzt haben der Menschheit noch nie solche große Herzen gemangelt, welche von Zärtlichkeit, von Geist und von Wollen überflossen, und welche ihr Gefühl, ihre Intelligenz oder ihre Aktionskraft in den Dienst der menschlichen Rasse stellten, ohne von ihr irgend etwas zurückzuverlangen.
Diese Geistesfruchtbarkeit, von der Empfindlichkeit oder von dem Willen, nimmt alle möglichen Formen an. Es ist der leidenschaftliche Forscher nach Wahrheit, welcher, auf alle anderen Vergnügen des Lebens verzichtend, sich mit Leidenschaft der Forschung nach demjenigen widmet, das er für gut und recht hält, entgegen den Aussagen der Unwissenden, welche ihn umgeben. Es ist der Erfinder, welcher von heute auf morgen lebt, fast das Essen vergißt und kaum das Brot berührt, das seine Frau, die sich für ihn aufopfert, ihm wie einem Kinde zu essen gibt; während er eine bestimmte Erfindung verfolgt, gedenkt er die Bildfläche der Welt zu verändern. Es ist der feurige Revolutionär, dem die Freuden der Kunst, der Wissenschaft, selbst der Familie kleinlich erscheinen, und welcher arbeitet, um die Welt zu regenerieren, ungeachtet des Elends und der Verfolgungen. Es ist der junge Mann, welcher auf die Erzählung von Greueltaten feindlichen Einbruchs, die patriotischen Sagen, welche man ihm eintrichterte, beim Wort nehmend, sich in eine Freischar einreihte, durch den Schnee marschierte, hungerte und endlich durch die Kugeln fiel.
Es ist der Junge von Paris, der begeistert und von einer fruchtbaren Intelligenz begabt, seinen Widerwillen und seine Sympathie besser wählend, mit seinem jüngeren Bruder zu den Schanzen eilte, unter dem Regen der Haubitzengranaten blieb und mit dem Rufe starb: „Vive la commune!“ Es ist der Mann, welcher sich angesichts einer Freveltat empört, ohne sich zu fragen, was daraus resultiert und, nachdem alle anderen sich hineinfügen, entlarvt er die Freveltat, erschlägt den Ausbeuter, den kleinen Tyrannen der Werkstatt, oder den großen Tyrannen eines Reiches. Es sind dies endlich alle die Aufopferungen ohne Zahl, weniger hervorstechend und deshalb ungekannt, fast immer mißverstanden, welche man, besonders bei der Frau beobachten kann, wenn man sich die Mühe nehmen will, die Augen zu öffnen um zu bemerken, worauf eigentlich die Menschheit beruht und was ihr noch heute erlaubt, sich so gut als eben möglich zurechtzufinden, ungeachtet aller Ausbeutung und Unterdrückung.
Solche Menschen bauen die wahren Fortschritte der Menschheit, die einen im Verborgenen, die anderen auf einer größeren Arena. Und die Menschheit weiß es. Darum umgibt sie ihr Leben mit Achtung und Legenden. Sie verherrlicht sie selbst und macht aus ihnen die Helden ihrer Erzählungen, ihrer Lieder, ihrer Romane. Sie liebt an ihnen den Mut, die Güte, die Liebe, die Aufopferung, welche der großen Masse mangeln. Sie überträgt ihr Andenken auf ihre Kinder, Sie erinnert sich selbst an diejenigen, welche nur im engen Kreise der Familie und der Freunde gehandelt haben, indem sie ihr Andenken in den Ueberlieferungen der Familie ehrt.
Sie sind es, die die wahre Moralität gründen — die einzige übrigens, welche dieses Namens würdig ist — das andere besteht nur aus gegenseitigen Umgangsformen. Ohne diese mutigen und aufopfernden Naturen wäre die Menschheit im Schlamme kleinlicher Berechnungen vertiert! Sie endlich bereiten die Moral der Zukunft vor, welche kommen wird, wenn, aufhörend zu berechnen, unsere Kinder in der Idee heranwachsen werden, daß der beste Gebrauch von allem, von aller Energie, von allem Mut, von aller Liebe da ist, wo sich das Bedürfnis von dieser Kraft am meisten fühlbar
macht.
Diese mutigen aufopfernden Naturen haben zu allen Zeiten existiert. Man begegnet ihnen bei allen geselligen Tieren. Man begegnet ihnen beim Menschen selbst während der Epochen der größten Korruption. Und zu allen Zeiten haben die Religionen versucht, sie an sich zu ketten, um sie als Reklame für ihren eigenen Vorteil auszunützen. Und wenn die Religionen noch bestehen, so ist dies deshalb, weil — neben der Unwissenheit — sie zu allen Zeiten gerade an diese Aufopferungen, an diesen Mut appelliert haben. Es sind wieder diese Menschheitshelden, an welche die Revolutionäre, hauptsächlich die sozialistischen Revolutionäre, appellieren.
Wenn die Moralisten aller Schattierungen diese Eigenschaften erklären wollten, so sind sie in die Irrtümer verfallen, welche wir schon gekennzeichnet haben. Aber es ist das Verdienst des Philosophen Guyau — dieses Denkers und Anarchisten ohne es zu wissen — den wahren Ursprung dieses Mutes und dieser Aufopferungen gezeigt zu haben, außerhalb aller mystischen Kraft, außerhalb aller durch die Utilitärianer der englischen Schulen grillenhaft eingebildeten merkantilen Berechnungen. Hier ist es, wo die Kantsche, die positive und die evolutionäre Philosophie gescheitert sind; die anarchistische Philosophie hat den rechten Weg gefunden.
Ihr Ursprung, sagte Guyau, ist das Gefühl der eigenen Kraft. Es ist das überfließende Leben, welches sich auszudehnen sucht. „Innerlich fühlen, was man zu tun fähig ist, dies gibt gleichfalls das Bewußtsein dessen, was man zu tun die Pf1icht hat.“ Das moralische Gefühl der Pflicht, welches jeder Mensch in seinem Leben empfunden und welches man auf alle mystische Art zu erklären versuchte — „die Pflicht ist nichts anderes, als eine Überfülle des Lebens, welche sich auszudehnen verlangt; es ist zu gleicher Zeit das Gefühl einer Kraft, eines Könnens“.
Alle angesammelte Kraft bewirkt einen Druck auf die vor ihr befindlichen Hindernisse. Handeln können heißt handeln sollen. Und diese moralische Verpflichtung, von der man so viel gesprochen und geschrieben hat, läßt sich — enthüllt von jeder Mysterie — in diese wahre Fassung bringen: Das Leben kann nur unter der Bedingung sich ausbreiten, erhalten werden.
„Die Pflanze kann ihr Blühen nicht verhindern. Bisweilen ist ihr Blühen gleichbedeutend mit ihrem Sterben, Und dennoch blüht sie!“ so schließt der junge anarchistische Philosoph.
Dieses gilt auch für das menschliche Wesen, wenn es von Kraft und Energie voll ist. Die Kraft häuft sich in ihm an. Es dehnt sein Leben aus. Es gibt ohne zu zählen — ohne dies würde es nicht leben. Und wenn es untergehen soll, wie die aufblühende Blume — es liegt nichts daran! Die Kraft steigt, wenn sie vorhanden ist.
Sei stark! Überfließe von leidenschaftlicher und intellektueller Energie — und du wirst deine Intelligenz, deine Liebe, deine, Aktionskraft über die anderen ausgießen! Das ist es, in was sich die ganze Morallehre zerlegt, wenn sie von den Heucheleien der orientalischen Asketik entkleidet ist.
IX.
Was die Menschheit an dem wirklich moralischen Menschen bewundert, das ist eben seine Tatkraft. Die überreiche Lebensfülle, die ihn zwingt, seine Intelligenz, seine Gefühle und Taten preiszugeben, ohne etwas zurückzuverlangen.
Der gedankenreiche Mensch mit fruchtbarem, übersprudelndem Geistesleben sucht natürlicherweise auf andere zu wirken. Denken, ohne anderen seine Gedanken mitzuteilen, hätte keinen Reiz für ihn. Nur der geistig arme Mensch, nachdem er mit großer Mühe einmal irgendeine Idee ausgeheckt, versteckt sie sorgsam, um ihr bei Gelegenheit seinen Namensstempel aufdrücken zu können. Bei dem gedankenreichen Mann wuchern die Ideen, er säet sie mit vollen Händen aus, er leidet unter ihrer Wucht, wenn er sie nicht austeilen, in alle vier Winde streuen kann. Es ist die einzige Bedingung seines Lebens, sein Leben selbst.
Gerade so verhält es sich mit dem Gefühl. „Wir genügen uns allein nicht. Wir haben mehr Tränen, als unsere eigenen Leiden bedürfen, mehr Freudenvorrat, als unsere eigene Existenz rechtfertigt“, sagt Guyau, die ganze moralische Frage somit in diesen wenigen so richtig gewählten, aus der Natur selbst gegriffenen Worten zusammenfassend. Der einsame Mensch leidet, eine quälende Unruhe bemächtigt sich seiner, wenn er niemand hat, mit dem er seine Gedanken, seine Empfindungen teilen kann. Empfindet man irgendein großes Vergnügen, möchte man es laut in die Welt hinausrufen, damit alle sehen, daß man auch existiert, daß man auch fühlt, liebt, kämpft, denkt, kurz, daß man lebt.
Zu gleicher Zeit empfinden wir das Bedürfnis, unseren Willen, unsere Tatkraft auszuüben. Wirken, Arbeiten ist so zum Bedürfnis einer erdrückenden Majorität der Menschen geworden, daß, wenn sie durch gewisse Umstände, durch vernunftwidrige, absurde Gesellschaftsregeln wie die heutigen, von nützlicher Arbeit abgehalten werden, oft die unsinnigten, nichtigsten Arbeiten und Verpflichtungen erfinden, um ihrer Tatkraft ein Feld zu öffnen. Sie greifen zu der nächstbesten Arbeit — irgendeiner Theorie, einer Religion, irgendeiner vermeintlichen „sozialen Pflicht“ — nur um sich selbst glauben zu machen, daß sie nützlich wirken. Wenn sie tanzen, so ist es für die Wohltätigkeit; wenn sie sich durch ihren Luxus zugrunde richten, so ist es, um die Aristokratie auf ihrer Höhe zu erhalten; und wenn sie nichts tun — so geschieht es aus Prinzip.
Man hat das Bedürfnis, anderen mitzuhelfen, Hand anzulegen an den Karren, den die Menschheit mühsam vorwärts treibt, oder doch wenigstens dabei herumzusummen, sagt Guyau. Dieses Bedürfnis, Hand anzulegen, ist so groß, daß man es selbst bei den niedrigsten Stufen der Gesellschaftstiere findet, und die unendliche Tatkraft, die täglich auf so unnütze Weise in der Politik vergeudet wird, was ist es anderes, als das Bedürfnis, Hand anzulegen oder doch wenigstens herumzusummen?
Freilich, ein solcher Willensreichtum, ein solcher Tatendurst, von einem ärmlichen Gefühlsvermögen, von einer Intelligenz begleitet, die jeder Schöpferkraft entbehrt, wird höchstens Kreaturen wie Napoleon I. oder Bismarck zutage fördern; Narren, die die Welt den Krebsgang treiben wollen. Andererseits, eine geistige Schöpferkraft ohne Gefühlsvermögen bringt jene trockenen Früchte von Gelehrten, welche dem Fortschritt der Wissenschaft nur im Wege stehen. Und endlich ein reiches, sich selbst überlassenes Getuhlsvermogen ohne eine dementsprechende Intelligenz erzeugt jene Frauen, bereit, für irgendein rohes Individuum alles zu opfern, ihren ganzen Reichtum an Liebe auf ihn zu übertragen.
Ein volles Leben muß an Intelligenz, Gefühl und Willenskraft zugleich fruchtbar sein. Aber diese Fruchtbarkeit nach allen Richtungen hin, das ist ja eben das Leben, d. h. das einzige, was diesen Namen verdient. Wer einmal dieses Leben empfunden und sei es nur einen Moment, gibt gerne Jahre negativer Existenz dafür hin. Ohne dieses übersprudelnde Leben ist man ein frühzeitiger Greis, ein Schwächling, eine Pflanze, die vertrocknet, ohne je geblüht zu haben.
Überlassen wir der Fäulnis des zwanzigsten Jahrhunderts dieses Leben, das doch keines ist – ruft die Jugend, die wahre Jugend voll Kraft und Blüte, welche nicht nur leben will, sondern auch Leben um sich her säet. Und ein Druck dieser Jugend ist es, der, so oft eine Gesellschaft in Fäulnis übergeht, die veralteten ökonomischen, politischen und moralischen Formen sprengt und neues Leben sprießen läßt. Was liegt daran, wenn der eine oder andere im Kampfe fällt! Der Same blüht ja weiter. Und für ihn heißt leben blühen, was immer die Folgen sein mögen. Er bedauert sie nicht.
Aber ohne die heroischen Epochen der Menschheit zu erwähnen, bloß das gewöhnliche alltägliche Leben nehmend – ist es ein Leben, in der steten Entzweiung mit seinem Ideal zu existieren?
Man hört heutzutage sehr oft sagen, man pfeift aufs Ideal. Und das ist leicht verständlich. Man hat so oft das Ideal mit der buddhistischen oder christlichen Verstümmelung verwechselt, man hat das Wort so oft benützt, um die Einfalt zu hintergehen, um ihr vorzureden, daß eine Raktion darin notwendig und heilbringend ist. Wir auch, wir möchten gerne das Wort „Ideal“, das schon mit soviel Kot und Schmach bedeckt ist, mit einem neuen, unseren Ideen entsprechenderen Wort ersetzen. Aber wie immer das Wort lauten mag, die Tatsache ist da, jeder Mensch hat sein Ideal. Bismarck hatte das seinige, so fanatisch es auch war, die Herrschaft durch Blut und Eisen. Jeder Bourgeois hat das seinige und wäre es nur die silberne Badewanne des Gambetta.
Aber an der Seite dieser Wesen gibt es den Menschen, der von einem höhern Ideal erfüllt ist. Das tierische Leben befriedigt ihn nicht mehr, das Hündische, die Lüge, die Treulosigkeit, der Wortbruch, jede Intrige und Ungleichheit im menschlichen Verkehr empören ihn. Wie könnte er also selbst hündisch, hinterlistig oder treulos sein? Er ahnt, wie schön das Leben wäre, wenn bessere Beziehungen unter seinen Nebenmenschen existierten, und er fühlt in sich die Kraft, diese Beziehungen in seinem Umgang mit ihnen nie zu umgehen. Er empfindet sozusagen ein Ideal.
Von wo kommt dieses Ideal? Wie entsteht es? Durch Vererbung teilweise und teilweise durch die äußeren Eindrücke? Wir wissen es nicht. Seine mehr oder weniger wahre Geschichte in unsern Biographien wiederzugeben ist alles, was wir darüber sagen können. Wechselbar, fortschreitend, allen äußeren Eindrücken ausgesetzt, aber immer lebend. Es ist eine größtenteils unbewußte Empfindung dessen, was uns die höchste Lebenskraft und Lebensfreude geben würde.
Wohlan! Das Leben ist nur dann kräftig, fruchtbar und empfindungsreich, wenn es der wahren Auffassung des Ideals entspricht. Handelt gegen diese Auffassung, und ihr werdet bald die Spaltung eures Lebens empfinden; es ist nicht mehr ein Ganzes, es verliert an seinem Wert. Versündige dich öfters gegen dein Ideal, und du wirst deine Willens-, deine Tatkraft bald vollständig gelähmt sehen.Bald wirst du dich selbst nicht mehr erkennen, du findest nicht mehr in dir jene Tapferkeit, jenen Lebensmut und jene kernhafte Frische, welche du früher an dir geliebt. Du bist ein gebrochenes Wesen.
Da steckt nichts Geheimnisvolles dahinter, sobald ihr den Menschen als eine Zusammensetzung unabhängig handelnder Nerven und Gehirnzentren betrachtet. Schwankt zwischen den verschiedenen Gefühlen, die sich in euch bekämpfen, hin und her, und ihr werdet bald die Harmonie eues Organismus vollständig zerstören, ihr seid ein Willenloser, ein Kranker.
Und soviel ihr auch nach einem Kompromiß suchen möget, die Intensität, die Höhe eurer Lebenskraft wird von da an in stetem Sinken begriffen sein, ihr hört auf, jenes vollständige, wackere, lebensfrische Wesen zu sein, wie zur Zeit, als sich eure Handlungen mit der idealen Auffassung eures Gehirns in Übereinstimmung befanden.
X.
Bevor wir nun enden, wollen wir noch mit einigen Worten jene aus der englischen Schule hervorgegangenen Ausdrücke Altruismus und Egoismus erwähnen, mit denen man uns unaufhörlich die Ohren zerreißt.
Wenn wir bis jetzt in unserer Studie kein einziges Wort darüber verloren, so einfach darum, weil wir in diesen Ausdrücken keine Spur eines solchen Unterschiedes finden, wie ihn die englischen Moralisten einzuführen gesucht haben.
Wenn wir sagen; Behandeln wir die anderen, wie wir selbst behandelt sein möchten — ist es Egoismus oder Altruismus, was wir anempfehlen? Wenn wir jedoch erhabener denken und sagen: Das Glück des einzelnen ist mit dem Glück der ihn umgebenden Wesen aufs innigste verbunden. Man kann in einer auf Unheil gegründeten Gesellschaft zufällig einige Jahre relativen Glückes finden, aber dieses Glück ist auf Sand gebaut. Tausende von Klippen ragen ihm entgegen; an einer davon wird es zerschellen.
Und wie unendlich kleinlich und nichtig ist es im Vergleich mit dem Glücke, das in einer Gesellschaft von Gleichberechtigten möglich ist. Deshalb handelst du gut, so oft du das Wohl der Gesamtheit förderst. Wenn wir dieses sagen, ist es Egoismus oder Altruismus, was wir predigen Wir konstatieren nur eine Tatsache.
Und wenn wir Guyau nachahmend hinzufügen: Sei stark, sei edel und großmütig in allen deinen Taten, laß dein Leben sich nach allen Richtungen hin entwickeln, und deshalb sei das tatkräftigste, geselligste, menschenfreundlichste Wesen — wenn du das Leben mit vollen Zügen in seiner ganzen Fülle genießen willst. Sei stets geleitet von einer reichentwickelten Intelligenz, kämpfe, wage — das Wagnis birgt unaussprechliche Genüsse in sich — , gib dich hin mit deinem ganzen Ich, ohne zu berechnen für das, was du schön und edel findest, und du wirst das höchste Glück genossen haben.
Sei stets eins mit den Massen und du wirst, was immer dir im Leben vorkommen mag, alle jene Herzen für dich schlagen haben, die du geliebt und geachtet, und alle jene gegen dich, die du verachtet hast! Wenn wir dieses sagen, — ist es Egoismus oder Altuismus, was wir lehren?
Kämpfen, den Gefahren trotzen, sich ins Wasser stürzen, nicht nur, um einen Menschen, sondern um eine Katze zu retten, von trockenem Brot leben, um gesellschaftliche Einrichtungen, die uns empören, ein Ende zu machen, sich in Einklang finden mit denen, die unserer Liebe wert sind, sich von ihnen geliebt finden — dies alles mag für einen verknöcherten Philosophen Aufopferung heißen; für den Menschen voller Kraft und Leben, voller Jugend, ist es ein Genuß seines Lebens.
Ist es Egoismus oder Altruismus?
Jene Moralisten, welche ihre Systeme auf den vermutlichen Gegensatz zwischen den egoistischen und altruistischen Gefühlen aufbauten, sind im allgemeinen falsch gefahren. Wäre das Wohl des Individuums wirklich dem Wohle der Gesellschaft entgegengesetzt, würde dieser Gegensatz wirklich vorhanden sein, die menschliche Gesellschaft würde nicht existieren; keine Tiergruppe hätte die heutige Entwicklungsstufe erreichen können. Wenn die Ameise es nicht als ein unendliches Vergnügen ansehen würde, für das Wohl des Ameisenhaufens zu arbeiten, der Ameisenhaufen würde nicht existieren und die Ameise wäre nicht das, was sie heute ist: das höchstentwickelte Wesen unter den Insekten; ein Insekt, dessen kaum unter dem Vergrößerungsglas wahrnehmbares Gehirn beinahe so stark entwickelt ist, wie das mittelmäßige Gehirn eines Menschen. Wenn die Vögel nicht ein unwiderstehliches Vergnügen in ihren Wanderungen, in der Pflege ihrer Jungen, in ihrem Zusammenhalt bei der Verteidigung gegen Raubvögel finden möchten, sie hätten nicht ihre heutige Entwicklungsstufe erreicht, ihre Gattung wäre zurückgegangen, anstatt fortzuschreiten.
Und wenn Spencer eine Zeit vorauszusehen glaubt, wo das Wohl des Individuums sich mit dem Wohl der Gattung vermengen wird, so vergißt er nur eines, daß, wären diese zwei nicht immer identisch gewesen, die fortschreitende Entwicklung, selbst nur des Tierreichs, nicht hätte vor sich gehen können.
Es hat jedoch zu allen Zeiten eine große Anzahl Individuen in dem Tierreich wie unter den Menschen gegeben, welche nicht begriffen haben, daß das Wohl des Individuums im Grunde mit dem Wohl der Gesamtheit gleichbedeutend ist. Sie begriffen nicht, daß, nachdem das Leben in seiner ganzen Fülle, seiner ganzen Intensität der Zweck jedes Individuums ist, dasselbe auch nur in der größten Gesellschaftlichkeit, in der innigsten Zusammenschmelzung mit seiner Umgebung zu seiner vollen Blüte, zu seiner vollen Höhe gelangen kann.
Daran war jedoch nur Mangel an Intelligenz, Mangel an Verständnis schuld. Zu allen Zeiten hat es beschränkte Köpfe, zu allen Zeit Einfaltspinsel gegeben; aber in keiner Geschichtsepoche, nicht einmal in der geologischen, war das Wohl des Individuums dem Wohl der Gesamtheit entgegengesetzt. Zu allen Zeiten waren sie sich gleichbedeutend und diejenigen, die dieses am meisten begriffen, haben auch stets am meisten das Leben genossen.
Der Unterschied zwischen dem Egoismus und Altruismus ist also in unseren Augen absurd. Deshalb sagten wir auch nichts von dem Kompromiß, daß der Mensch nach dem was die Utilitärianer sagen, stets zwischen seinen egoistischen und altruistischen Gefühlen wird schließen müssen. Dieser Kompromiß existiert für den überzeugten Menschen nicht.
Das, was aber existiert, ist: Daß tatsächlich unter den heutigen Umständen, selbst wenn wir uns noch sehr bemühen, unseren Gleichheitsprinzipien entsprechend zu leben, wir sie unaufhörlich mit Füßen getreten sehen. So bescheiden auch unser Mahl oder unser Bett ist, wir sind noch Rothschilde im Vergleich mit denen, die unter den Brücken schlafen und unter den Abfällen nach einer Brotrinde suchen. So ungenügend auch unsere geistigen und künstlerischen Bedürfnisse befriedigt werden, wir sind noch immer Rothschilde im Vergleich mit den Millionen armer Wesen, welche das tägliche Joch so erschöpft und abstumpft, daß sie unfähig sind, einen Gedanken, ja oft nur einen Wunsch zu fassen und verdammt sind, zu sterben, ohne je die herrlichen Genüsse der Kunst und Wissenschaft empfunden zu haben.
Wir fühlen also, daß wir unseren Gleichheitsprinzipien nicht vollständig entsprochen haben. Wir wollen jedoch keinen Kompromiß mit diesen Umständen schließen, und wir empören uns gegen sie; sie sind uns zu lästig und qualvoll und machen uns zu Revolutionären, zu Anarchisten; denn wir wollen uns nicht dem anbequemen, was uns empört. Wir verwerfen jeden Kompromiß, jeden Waffenstillstand und erklären diesen Zuständen einen Kampf ohne Rast und Rücksicht, einen Kampf auf Leben und Tod. Und dieses ist gewiß kein Kompromiß; ein überzeugter Mensch kann keinen solchen brauchen, der ihm erlaubt, ruhig zu schlafen, bis andere für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt oder bis sich die Zustände von selbst geändert haben.
Wir sind nun am Ende unserer Studie. Es gibt Epochen, sagten wir, die einen gründlichen Umsturz in den moralischen Begriffen verursachen.
Alles, was man bis dahin für moralisch gehalten hat, erscheint in seiner tiefsten Unsittlichkeit, hier eine Landessitte, eine Tradition, hochgeehrt im allgemeinen, aber höchst unsittlich in ihrem Grundwesen, dort eine schon fertige Moral, bloß zugunsten einer gewissen Klasse eingeführt. Man wirft sie alle über Bord und ruft: Nieder mit der Moral! Und man macht es sich zur Pflicht, unmoralisch zu handeln.
Ehren wir diese Epochen des erwachenden Selbstbewußtseins der rücksichtslosen Kritik. Es ist ein sicheres Zeichen, daß ein Klärungsprozeß der Gesellschaft vor sich geht. Es ist die Heranbildung einer höheren, vollkommeneren Moral.
Was diese Moral sein wird, haben wir, auf das Studium der menschlichen Natur und des Tierreichs uns stützend, abzufassen gesucht und haben wir bereits ihre Grundlinien in den Ideen der Massen und der Denker beobachten können.
Diese Moral wird nichts befehlen. Sie verweigert absolut, die Individuen nach einer abstrakten Idee zu modeln, gerade wie sie verweigert, es durch ein Gesetz, eine Religion, eine Regierung zu tun. Sie läßt dem Individuum seine ganze und volle Freiheit. Sie wird eine einfache Konstatierung der Tatsachen, eine Wissenschaft werden.
Und diese Wissenschaft wird zu dem Menschen also sprechen: Wenn du in dir keine Kraft fühlst, wenn deine Kräfte nur so weit reichen, um ein monotones, farbloses Leben zu führen, ohne starke Eindrücke, ohne herrliche Genüsse, aber auch ohne große Schmerzen, wohlan, halte dich an die Prinzipien der Gegenseitigkeit, du wirst immerhin so viel Glück darin finden, als nur bei deinen geringen, unbedeutenden Kräften möglich ist.
Fühlst du aber Lebens- und Jugendkraft in dir, willst du leben, das ganze volle übersprudelnde Leben genießen — das heißt der herrlichsten Genüsse teilhaftig werden, die nur ein menschlich Wesen wünschen kann — sei edel, sei tapfer und großmütig, sei tatkräftig in allem deinen Tun.
Laß das Leben sprießen um dich her, säe es aus mit vollen Händen. Vergiß nicht, daß Lügen, Heucheln, Ränkeschmieden dich nur demütigt, daß du dich dadurch von vornherein zum Schwächling stempelst. Tue es, wenn es dir gefällt, aber wisse, daß dich die Menschheit als kleinlich, als schwach, nichtssagend betrachten und danach behandeln wird. Nirgends deine Stärke fühlend, wird sie für dich nur Mitleid — nichts weiter als Mitleid empfinden, und es stünde dir wahrlich schlecht an, ihr dafür grollen zu wollen, weil du auf diese . Weise deine Tatkraft lähmst. Sei im Gegenteil stark, und siehst du einmal eine Ungerechtigkeit und hast du sie verstanden — eine Ungerechtigkeit im Leben, eine Lüge in der Wissenschaft, ein den anderen angetanes Leid — , empöre dich gegen die Ungleichheit, die Lüge, das Unrecht. Kämpfe! Das Leben ist um so großartiger, herrlicher, je lebhafter der Kampf. Dann wirst du gelebt haben, und für einige Stunden solchen Lebens gibst du gerne ein jahrelanges Vegetieren in der Fäulnis der Sümpfe. Kämpfe, um auch den anderen dieses reich sprudelnde Leben zu erringen, und sei sicher, daß du in keinem anderen Wirkungskreis derartig edle Freuden und Genüsse finden wirst.
Dies ist alles, was dir die moralische Wissenschaft zu sagen hat. Die Wahl steht dir frei.
[1] Rationalisten: Leute, welche alles erfahrungsgemäß Gegebene der Prüfung durch die Vernunft unterwerfen.
[2] Utilitärianer: Leute, die nur das Nützliche als moralisch erachten.
[3] Kirgisen, ein Volk türkisch-tatarischen Stammes, welches in den weiten Steppenländern nomadisiert, die unter dem geographischen Namen der Kirgisensteppe zusammengefaßt sind. Die Kirgisen teilen sich in Adel und Volk (weiße und schwarze Knochen).
[4] Anm. anarchismus.at: Kropotkin meint hier vermutlich die Tollwut
[5] Von allen modernen Schriftstellern hat der Norweger Ibsen diese Ideen am besten in seinen Dramen zum Ausdruck gebracht. Er war ein Anarchist, ohne es zu wissen.
[6] Wir hören schon sagen: — „Und der Mörder? Und derjenige, welcher die Kinder verführt?“ Auf dieses ist unsere Antwort einfach. Der Mörder, welcher nur aus Blutdurst tötet, ist äußerst selten. Dieser ist ein Kranker, welchen man heilen oder meiden kann. Und nun der Wüstling — wachen wir zuerst darüber, daß die Gesellschaft die Gefühle unserer Kinder nicht verdirbt, dann haben wir von diesen Herren nichts zu fürchten.