Peter Gelderloos
Die Wende in historischer Perspektive
Über den pazifistischen Mythos eines friedlichen Übergangs
Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer verschwenden die kapitalistischen Medien keine Gelegenheit, ihre Version der Geschichte in den Schlagzeilen der Nachrichtenprogramme und in Publicity Stunts zu verbreiten. Wenn wir das nationalistische Narrativ außen vor lassen, das innerhalb von Deutschland gesponnen werden kann, sind die zwei Hauptelemente der Geschichte international und in Deutschland die folgenden: Die Wiedervereinigung markierte den Triumph des liberalen Kapitalismus und die Kraft, die den Zusammenbruch der DDR ausgelöst hat, war ein Sieg für die Gewaltlosigkeit in einem Ausmaß wie in Indien oder der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Beide dieser ideologischen Bekräftigungen sind absoluter Müll.
Über Kapitalismus und Kommunismus
Anarchist*innen und andere Leute, die an einer ehrlichen Erzählung der Geschichte interessiert sind, sollten weder die Einführung der liberalen Demokratie in den Ländern des Warschauer Pakts romantisieren, noch sollten sie die vielen Fehler des vorangegangenen sozialistischen Regimes verwischen. Das Ende der DDR bedeutete eine große Zunahme politischer Freiheiten für Leute, die nicht allzu radikal waren, genauso wie eine Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Arbeitsprekarität, der Wohnungslosigkeit, einer konsumorientierten Mittelklasse und dem Auseinandergehen der Wohlstandsschere. Das Gleiche gilt für die vormalige Sowjetunion. Was die Verteidiger*innen des liberalen Kapitalismus oder des Staatssozialismus nicht zugeben können, ist, dass die Dinge nicht einfach besser oder schlechter geworden sind.
Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Ereignisse von 1989 und dem nachfolgenden Jahrzehnt - während sie sicherlich die politische Dominanz des NATO-Blocks zementiert haben - tatsächlich die fundamentalsten Mythen des liberalen Kapitalismus widerlegt haben. Um das zu verstehen, müssen wir einfach die Erfahrung des Sowjetblocks mit der Erfahrung von China vergleichen. Wo Gorbatschow die politische mit der ökonomischen Liberalisierung gekoppelt hat, hat Deng Xiaoping hingegen ökonomische Liberalisierung eingeführt, während er die politische Zentralisierung verschärft hat, wobei eine harsche politische Diktatur mit einer liberalen Ökonomie gekoppelt wurde, die dazu in der Lage ist, die Anforderungen der WTO und der Bretton Woods Institutionen zu erfüllen.
Milton Friedman hatte bekanntermaßen darauf beharrt, dass die politische und ökonomische Liberalisierung Hand in Hand gehen und dass China nicht in der Lage sein würde, mit Dengs Reformen fortzufahren, ohne dass die kommunistische Partei ihre Kontrolle über das Land verlieren würde. Dreißig Jahre später ist klar, dass er falsch damit gelegen hat. China ist heute das herausragendste kapitalistische Land der Welt und seine Ökonomie hat die jedes der vormaligen Warschauer Pakt-Länder bei weitem überholt.
Kapitalist*innen haben diesen Widerspruch allgemein ignoriert, da sie niemals wirklich daran interessiert waren, die Wahrheit zu finden, Leute aufzuklären oder eine Welt zu schaffen, in der es mehr Freiheit und eine bessere Lebensqualität gibt. Solange sie die Möglichkeit haben in China zu investieren, sind sie glücklich damit, wie sich die Dinge entwickelt haben. Und Friedmans Scheinheiligkeit ist legendär: Er lamentierte ausführlich über das Wort Freiheit, während er blutige Diktaturen in Chile und andernorts unterstützte.
Die tatsächlichen Lehren über das Ende des kalten Krieges haben mehr mit Geopolitik zu tun als mit Ökonomie, da die DDR und UdSSR keine kommunistischen Länder waren; vielmehr praktizierten sie Formen des Staatskapitalismus, mit einem abwechselndem Ab- und Zunehmen über die Jahrzehnte von Dezentralisierung vs. staatlicher Planung. Sogar Lenin gab zu, dass die Neue ökonomische Politik von 1921 bis 1928 kapitalistischer Natur war.[1] Und als Gorbatschow die Perestroika in den letzten fünf Jahren der Sowjetunion institutionalisierte - wodurch die Marktkräfte gestärkt, Privateigentum erlaubt und im Vergleich zu den vorherigen Jahrzenten die zentrale staatliche Planung reduziert wurde - folgte seine Argumentation haargenau kapitalistischen Linien: Das ökonomische Wachstum war schwerfällig gewesen. Tatsächlich führten die UdSSR und China den Kapitalismus in Ländern ein, in denen die Kapitalist*innen selbst damit gescheitert waren. Der liberale Kapitalismus wird beinahe immer effizienter darin sein, ein paar Wenigen zu erlauben unglaublich reich zu werden, während hingegen der Staatskapitalismus notwendig ist, um die Entfremdung aufzuzwingen, die das Privateigentum und die Lohnarbeit verlangen, an Orten, wo mehrheitlich bäuerliche Ökonomien immer noch an gemeinschaftlichen Praktiken festhalten. Der Kapitalismus hat noch nie expandieren können ohne strategische Interventionen des Staates.
Über Gewaltlosigkeit
Merkwürdig genug, wird der zweite Mythos, der den Fall der Berliner Mauer umgibt, nicht nur durch kapitalistische Medien reproduziert, sondern auch von vielen Mitgliedern der antikapitalistischen Bewegung. Ein Befürworter der Gewaltlosigkeit, der in einer deutschen Bewegungszeitung schreibt, beschuldigte mich sogar zu lügen, weil ich ausgeführt hatte, dass die Volksbewegung, die die Mauer zum Einsturz gebracht hat, nicht durchgängig gewaltlos war. Die Tatsache, dass er es nicht für angebracht hielt, Argumente oder Belege zu liefern und dass die Zeitschrift keine Faktenkontrolle durchführte, zeigt ein Millieu, in welchem Dogmatismus und Mobbing über Selbstkritik und solidarischer Kommunikation stehen.
Ich habe bereits ausführlich darüber geschrieben, wie pazifistische Subkulturen systematisch falsche und manipulierte Geschichten reproduzieren, um gewaltlose Siege zu fabrizieren, die niemals stattgefunden haben.[2] Zum Beispiel waren weder die indische Unabhängigkeitsbewegung, noch die Bürgerrechtsbewegung in den USA, noch die Anti-Atomkraftbewegung im Westen, noch die Anti-Apartheidsbewegung ausschließlich gewaltlos und mit der Ausnahme der Anti-Atombewegung waren sie nicht einmal mehrheitlich gewaltlos. (Ein zweites Element dieser Manipulation ist, wenn Pazifist*innen sehr komplexe soziale Veränderungen als einfache Siege verkaufen: Zum Beispiel das Ende der legalen Segregation in den USA, welches durch eine Zunahme der „Stadterneuerung“ sowie eine Politik der Masseneinsperrung begleitet war oder das Ende des Sozialismus in den Warschauer Pakt-Ländern, welches das Leben in manchen Belangen besser und in anderen schlechter gemacht hat.)
Um zusammenzufassen, die Volksbewegung in Ostdeutschland, die mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der DDR endete, war gekennzeichnet durch ansteigende Spannungen und mehr und mehr Leute, die versuchten zu fliehen, dann einer Explosion von kurzen jedoch intensiven Riots, als die Autoritäten begannen die Grenzen zu schließen und dann eine Verschiebung hin zu friedlichem Protest als christliche Geistliche eingesprungen sind, um die spontane Bewegung zu übernehmen und als die Regierungsautoritäten - verängstigt durch die Riots - die Grenzkontrollen entschärft haben. In der politischen Krise, die darauf folgte, war die Führungsriege Ostdeutschlands gespalten. Manche wollten die Protestbewegung durch Polizeirepression beenden und andere in der Partei wollten die Situation entschärfen, sogar wenn dies bedeutete, Wahlen zuzulassen. Die Hardliner verloren den Streit aus Gründen, die unten diskutieren werden.
Zuerst müssen wir die historische Realität der Riots als Schlüsselmoment in dieser Ereigniskette etablieren. Für alle, die es bezweifeln, es gibt dokumentierte Aufnahmen von den Riots, die in Ostdeutschland im Herbst 1989 stattgefunden haben, um die Zeit herum von Gorbatschows Besuch. Die LA Times vom 5. Oktober 1989 beschreibt „drei Stunden“ von „Unruhen“ in welchen „die Bereitschaftspolizei Wasserwerfer und Gummiknüppel gegen Tausende wütende Ostdeutsche in Dresden eingesetzt hat“ und von „Demonstranten, die Pflastersteine aus dem Boden gerissen haben und sie auf die Polizei geworfen haben, die sich hinter Schildern duckte und gelegentlich Steine zurückwarf.“[3] Ein weiterer Bericht wurde am 6. Oktober 1989 in der New York Times publiziert, wo erwähnt wird, „was Beobachter als den schlimmsten Ausbruch von zivilem Ungehorsam seit den 1950ern bezeichnen“, wobei in diesem Fall „ziviler Ungehorsam“ „Demonstranten [...] die Steine auf die Polizei geworfen haben“ umfasst, sowie, dass „Tausende ihrer Landsleute zum ersten Mal seit Jahrzehnten in Ostdeutschland mit der Polizei gekämpft haben“.[4] Am 10. Oktober erwähnt die Times ein ganzes Wochenende gewaltsamer Riots in Leipzig und Dresden und zunehmende Spannungen in Ostberlin, jedoch wendet sich da bereits der Fokus des Narrativs, mit der Schwerpunktsetzung auf die friedlichen Protestierenden, die nach demokratischen Reformen verlangen, wobei sie von Kirchenführern angeleitet werden.[5] Jene, die Zugang zu deutschsprachigen Archiven haben, können zweifellos Berichte zu diesen Riots in deutschsprachigen Zeitungen dieser Zeit finden.
Heutzutage ist die einzige Geschichte, die erzählt wird, jene von friedlichen Märschen, die von christlichen Geistlichen angeleitet wurden. Die Krawalle und Straßenkämpfe wurden komplett aus der Geschichte getilgt und die gesamte Episode wurde betitelt als „Die friedliche Revolution“. Weltweit geben die kapitalistischen Medien auf Deutsch, auf Englisch oder in anderen Sprachen lediglich die weißgewaschene Erzählung der Bewegung wieder.[6] Der Grund dafür ist, dass die politischen und ökonomischen Führer*innen Angst davor haben, dass die Leute tatsächlich aufbegehren, deshalb wollen sie, dass wir glauben, dass wir unsere Ziele durch gewaltlose Bewegungen erreichen können, also jene Bewegungen, die keinerlei Bedrohung für die Polizei oder das Privateigentum darstellen und die einfach durch Wahlkampagnen und demokratische Reformen manipuliert werden können. Der Grund, wieso Anhänger*innen der Gewaltlosigkeit der herrschenden Klasse helfen diese Lügen zu verbreiten, ist, dass sie in der Praxis wieder und wieder scheitern, wodurch sie komplett unfähig bleiben, irgendwelche grundlegenden Veränderungen zu erreichen, deshalb machen sie Gebrauch von der bequemen Allianz mit Historiker*innen der Herrschaft, um Siege zu erfinden, die es niemals gegeben hat. Anderswo habe ich dokumentiert - mit Bezug auf die historischen Kämpfe in Barcelona - wie soziale Bewegungen schnell durch einen taktischen und strategischen Lernprozess gehen, in dem sie fast immer die Gewaltlosigkeit überwinden und wie ausschließlich in einem Kontext von sozialer Amnesie Gewaltlosigkeit gedeihen kann.[7]
Um eines klarzustellen: ein Wochenende Krawall reicht nicht um ein totalitäres Regime zu stürzen. Jedoch genausowenig ein Monat friedlicher Protest. Das Ende der DDR macht nur Sinn innerhalb ihres spezifischen Kontexts. Und das ist ein Kontext, den die Anhänger*innen der Gewaltlosigkeit sorgfältig ignorieren, während sie die sogenannte Friedliche Revolution in eine ihrer wichtigsten Beispiel von gewaltfreiem Erfolg verwandeln. In Nonviolence: The History of a Dangerous Idea, einem Buch, das von historischer Ungenauigkeit, rassistischen Annahmen und absurden Argumentation geplagt wird, greift der Journalist Mark Kurlansky zurück bis zur Tschechoslowakei 1968, um zu erklären, wie eine mittelgroße gewaltlose Bewegung in Ostdeutschland ein totalitäres Regime dazu gezwungen hätte, all seine Macht aufzugeben, anstatt die Protestierenden zu zerschlagen. Kurlansky zufolge verloren die Warschauer Pakt-Länder, als sie im August 1968 in der Tschechoslowakei einmarschierten und die gewaltfreie Bewegung zerschlugen, zu viel Prestige und Legitimität, wovon sie sich in Folge nicht mehr erholt hätten. Auch wenn der friedliche Widerstand komplett versagt hatte, die Sowjetinvasion aufzuhalten, hatte er doch irgendwie 20 Jahre in die Zukunft ausgestrahlt, um die Warschauer Pakt-Mächte daran zu hindern, eine ähnliche Repression gegen die ostdeutsche Bewegung umzusetzen. Kurlanskys gesamtes Buch ist voll von derlei stark vereinfachenden Unterstellungen. Tatsächlich hatte die Kommunistische Partei 1968 kein internationales Prestige und keine Legitimität mehr. Sie war relativ dazu in der Lage gewesen, ihren Ruf zu wahren und effektiv ihre blutige Repression gegen die russischen Arbeiter- und Bauernbewegungen von 1918 bis 1921 zu verschleiern, ihre Sabotage der revolutionären Bewegung in Italien von 1920 bis 1921, ihre Kollaboration mit den Nazis vor 1933[8] und ihr Abwürgen der Spanischen Revolution von 1936 bis 1937[9], jedoch als sie Panzer gegen eine Volksrebellion in Ungarn entsandte, die 1956 großteils durch Basisarbeiterräte organisiert worden war, verloren die Sowjetunion und die anderen Warschauer Pakt-Länder jedwede Unterstützung von Revolutionär*innen, die immer noch an sie glaubten. Im Mai 1968 - Monate vor der Invasion in Tschechoslowakei - war die Kommunistische Partei schon eine so überwiegend konterrevolutionäre Organisation, dass sie in Frankreich mit dem Präsidenten Charles De Gaulle kollaborierte, um der Rebellion der Studierenden und der Fabrikarbeiter*innen gegenzuhalten.
Die Kommunistische Partei verlor nichts durch die Invasion der Tschechoslowakei, da 1968 die einzigen Leute, die die Sowjetunion unterstützten, jene waren, die sie unterstützen würden, egal welche Gräueltaten sie begehen würde. Es war wegen Ungarn 1956 und nicht wegen der Tschechoslowakei 1968, dass dissidente Kommunistinnen begannen, Stalinist*innen mit dem Spitznamen „Tankie“ zu bezeichnen. Und tatsächlich, während der gewaltfreie Widerstand von 1968 die Invasion nicht aufhalten konnte, konnte der bewaffnete Widerstand in Ungarn die erste Sowjetinvasion besiegen, wobei Dutzende Panzer durch Molotov-Cocktails und andere Taktiken zerstört wurden, die von spontan organsierten Milizen angewandt wurden, was die Sowjets dazu zwang sich neu zu formieren und eine zweite und größere Armee zu organisieren.
Wieso konnte Honecker also 1989 nicht seinen Kopf durchsetzen? Wieso hat der sozialistische Staat nicht einfach eine verteidigungslose Protestbewegung zerschlagen? Die Antwort ist viel näher bei der Hand als die Ereignisse zwanzig Jahre davor.
Gorbatschow und der Großteil der übrigen Warschauer Pakt-Führungsriege hatten sich bereits für einen Kurs der Liberalisierung entschieden, zuallererst aus ökonomischen, aus kapitalistischen Gründen. Sogar die Sektionen der Kommunistischen Partei, die die Macht nicht aufgeben wollten, hatten realisiert, dass sie an der Macht bleiben und trotzdem durch die Liberalisierung viel reicher werden konnten, was sich in den nächsten zwei Jahrzehnten bestätigen sollte für die Führungsriegen in Russland, Kasachstan, Usbekistan, Rumänien, Bulgarien, Weißrussland und in anderen Ländern. Hätte Gorbatschow Honeckers Ersuchen, das Militär zu entsenden, zugestimmt, wäre die friedliche Bewegung zerschlagen worden. Keine gewaltlose Bewegung in der modernen Zeit konnte je voller militärischer Repression gegenhalten.
Gorbatschow verweigerte die Entsendung des Militärs nicht wegen einer bedeutungslosen gewaltlosen Bewegung in der Tschechoslowakei, die es zwanzig Jahre zuvor gegeben hatte, er verweigerte das Militär zu entsenden, weil es seiner gesamten politischen Ausrichtung entsprach, weg von der zentralen Planung und militärischer Intervention, hin zur Liberalisierung. Und sein Abwägen war nicht ethisch motiviert: Seine politischen Maßnahmen stellten eine bestmögliche Strategie für die Zunahme von Macht und Reichtum des Sowjetblocks dar.
Gorbatschow hatte die fehlgeschlagenen politischen Maßnahmen der früheren Administrationen geerbt, als er die Parteiführung 1985 übernahm. Die wichtigste dieser Maßnahmen - und für die DDR am relevantesten - war der Afghanistan-Krieg, der Versuch der UdSSR ihren Einfluss auszudehnen und ihren Willen militärisch aufzuzwingen. Zehntausende Sowjettruppen waren in Afghanistan getötet worden und sie waren vollends daran gescheitert die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Die UdSSR erkannte schließlich ihre Niederlage an und zog die Truppen im Februar 1989 ab. Die Begleiterscheinungen waren für die UdSSR so grundlegend, wie die Vietnamniederlage für die USA. Als Honecker Gorbatschow gerade einmal acht Monate später ersuchte, Truppen zu entsenden, gab es absolut keinen Weg, dass er eine weiter großangelegte Militärkampagne umsetzten konnte oder wollte.
Ostdeutschland würde keine Unterstützung vom Warschauer Pakt erhalten und Honecker wurde schnell vom Rest der Parteiführung isoliert, sobald er einmal von Gorbatschow zurückgewiesen war. Nichts davon war ein Ergebnis der friedlichen Taktiken, die christliche Geistliche befürworteten. Alles hatte mit der geopolitischen Situation des Warschauer Pakts zu tun.
Die Riots in Dresden und Leipzig zeigten der ostdeutschen Führung, dass die Leute nicht friedlich bleiben würden angesichts der Repression: Sie wären absolut im Stande einen größeren Aufstand anzuzetteln. In diesem Fall hätte nur eine militärische Invasion Hoffnung auf Erfolg, um die Bewegung zu stoppen. Als die Parteiführung erfuhr, dass es keine militärische Unterstützung geben würde, zwangen sie Honecker dazu zurückzutreten, da er der Hauptvertreter der nicht umsetzbaren Hardliner-strategie war, und da der Rest der Regierung einen schnellen Imagewechsel nötig hatte. Genauso wie Pazifist*innen in den USA verschweigen, dass es tatsächlich der bewaffnete vietnamesische Wiederstand war, der dem Vietnamkrieg ein Ende bereitete, sind deutsche Pazifist*innen damit zufrieden, zu vergessen, dass es der blutige Kampf der Menschen in Afghanistan war, der die Menschen in Ostdeutschland vor heftiger Repression bewahrte.
Um zu erfahren, ob es für die ostdeutschen Autoritäten in einem anderen Kontext möglich gewesen wäre, die Reformbewegung zu zerschlagen, müssen wir einfach wieder Richtung China blicken.
Im Juni 1989 in Peking zerschlugen die Autoritäten gnadenlos die von Studierenden angeführten Demonstrationen, die den Tiananmen-Platz besetzt hatten. Der Hauptunterschied zwischen dem Warschauer Pakt und China 1989 war, dass Chinas Militärinterventionen der vorangegangenen Jahrzehnte relativ erfolgreich gewesen waren und noch wichtiger, dass die chinesische Kommunistische Partei sich für den Kurs der ökonomischen Liberalisierung gepaart mit einer Stärkung der Parteidiktatur entschieden hatte. Anstatt Gorbatschows Strategie zu adaptieren, hatte die Führung einen Kurs gewählt, der absolut kompatibel mit blutiger Repression war. Und die Geschichte hat gezeigt, dass sie Recht damit hatten: Der Kapitalismus ist sowohl mit einer liberalen Demokratie als auch mit einer Parteidiktatur vereinbar. China war mit einer großen Anzahl von gewaltlosen Bewegungen konfrontiert und da die Regierung an ihrem politischen Willen und an ihrer Strategie festhielt, die ungezügelte Polizeirepression bevorzugt, hatte sie nie irgendwelche Probleme diese Bewegungen zu zerschlagen.
Wenn Leute über das Ende des Kalten Krieges reflektieren, ist es wichtig den durchdringenden Charakter des Kapitalismus im Kopf zu behalten, seine Anpassungsfähigkeit an die Regierungen, sowohl an jene, die die Werte der Aufklärung hochhalten und an Regierungen, die sich selbst in rote Fahnen hüllen, und sogar seine Vereinbarkeit mit sozialen Bewegungen, die Gewaltlosigkeit verteidigen. Es ist absolut wahr, dass „gewalttätige“ Bewegungen genauso vereinbar mit dem Kapitalismus sein können, was der Grund ist, wieso wir keine Anhänger*innen der Gewalt sind. Wir müssen den vereinfachenden Gegensatz gewaltlos vs. gewalttätig komplett zurückweisen und unterscheiden zwischen Bewegungen, die antiautoritär sind und Bewegungen, die autoritär sind. Das beinhaltet eine Kritik der Pazifist*innen, die zunehmend zufrieden sind mit Polizeirepression und der offiziellen Staatsgeschichte.
Die kapitalistischen Medien erzählen uns Geschichten der Vergangenheit voller gewaltloser Siege, weil sie nicht wollen, dass wir andere Widerstandsmethoden entwickeln. Wenn wir es nicht übernehmen, die Vergangenheit zu erzählen, wobei wir das passive Konsumieren einer objektiven Geschichte in eine historische Erinnerung verwandeln müssen, die in unseren eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Kämpfen begründet liegt, werden wir nie etwas lernen.
[1] Lenin, V.I. "The Role and Functions of the Trade Unions under the New Economic Policy", LCW, 33, p. 184., Decision Of The C.C., R.C.P.(B.), January 12, 1922. Veröffentlicht in Pravda No. 12, January 17, 1922.
[2] How Nonviolence Protects the State (2005) und The Failure of Nonviolence (2010).
[3] “East German Riot Police Clash with Thousands of Irate Demonstrators,” LA Times, October 5,1989. http://articles.latimes.com/1989-10-05/news/mn- 1136_l_east-germans
[4] Ferdinand Protzman, “Jubilant East Germans Cross to West in Sealed Trains,” New York Times, October 6, 1989. https://www.nytimes.com/1989/10/06/world/jubilant-east-germans-cross-to-west-in-sealed-trains.html
[5] Serge Schmemann“East Germans Let Largest Protest Proceed in Peace,” New York Times, October 10, 1989. https://www.nytimes.com/1989/10/10/world/east-germans-let-largest-protest-proceed-in-peace.html
[6] Leser*innen können sich die folgenden Beispiele ansehen von BBC, The Independent, Der Spiegel, und Wikipedia (vor meiner Bearbeitung). Hier die Links: https://www.independent.co.uk/news/world/world- history/fall-of-the-berlin-wall-a-people-s-uprising-that-grew-until-it-remade-europe-9824273.html http://www.bbc.co.Uk/religion/0/24661333 http://www.spiegel.de/international/germany/we-are-the-people-a-peaceful-revolution-in-leipzig-a-654137.html https://en.wikipedia.org/wiki/Peaceful_Revolution
[7] “The Rose of Fire Has Returned! The Struggle for the Streets of Barcelona”, Crimethlnc.com April 19, 2012. https://crimethinc.com/2012/04/19/the-rose-of-fire-has-returned-the-struggle-for-the-streets-of-barcelona “Riots and Remembrance on the Streets of Barcelona: The Collective Learning of Subversive Techniques” in Alissa Starodub and Andrew Robinson (eds.), Riots and Militant Occupations, 2019.
[8] siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Social_fascism und https://de.crimethinc.com/2017/ll/07/one-hundred-years-after-the-bolshevik-counterrevolution-a-timeline-charting-the-destruction-of-popular-movements
[9] “One Hundred Years after the Bolshevik Counterrevolution.” Crimethinc.com November 7, 2017. https://crimethinc.com/2017/ll/07/one-hundred-years-after-the-bolshevik-counterrevolution-a- timeline-charting-the-destruction-of-popular-movements