Peggy Kornegger
Der Anarchismus und seine Verbindung zum Feminismus
Vor elf Jahren, als ich Schülerin einer Oberschule in einer kleinen Stadt in Illinois war, hatte ich überhaupt noch nie das Wort „Anarchismus” gehört. Das einzige, was ich wußte, war, daß Anarchie „Chaos” bedeutete. Der Geschichtsunterricht brachte mir irgendwie nahe, daß Sozialismus und Kommunismus nichts anderes bedeuteten als Faschismus, ein Wort, das an Hitler, Konzentrationslager und eine Menge schrecklicher Dinge erinnerte, die sich in einem freien Land wie dem unseren niemals ereignen könnten. Auf subtile Art und Weise lehrte man mich den geschmacklosen Kinderbrei der traditionell amerikanischen Politik schlucken: Mäßigkeit, Kompromißbereitschaft und Opportunismus. Ich lernte die Lektion gut: Ich brauchte Jahre, um die Vorurteile und Verzerrungen zu erkennen, die meine ganze Erziehung ausgemacht hatten. Die Geschichte („his-story”) des weißen Mannes bedeutete, daß ich als Frau in ein Stellvertreter-Dasein verwiesen war. Als Anarchistin besaß ich überhaupt keinen historischen Orientierungspunkt. Ein großes Stück Vergangenheit (und somit Möglichkeiten für die Zukunft) war mir vorenthalten worden. Erst kürzlich entdeckte ich, daß viele meiner zusammenhanglosen politischen Impulse und Neigungen einen gemeinsamen Rahmen hatten; den des anarchistischen oder libertären Gedankengutes. Es war, als ob ich nach jahrelanger Farbblindheit plötzlich rot sähe.
Emma Goldman stattete mich mit meiner ersten Definition des Anarchismus aus:
Anarchismus bedeutet also die Befreiung des Geistes von der Herrschaft der Religion, die Befreiung des Menschen von der Herrschaft des Eigentums, die Befreiung von den Fesseln und dem Zwang des Staates. Anarchismus steht für eine Gesellschaftsordnung, basierend auf dem freiwilligen Zusammenschluß von Individuen zum Zweck, wirklichen sozialen Wohlstand zu schaffen; eine Ordnung, die jedem Menschen freien Zutritt zur Welt und volles Ausleben der Lebensbedürfnisse entsprechend den individuellen Wünschen, Neigungen und Vorlieben gewährleistet ”.[1]
Bald begann ich, geistige Verbindungen zwischen dem Anarchismus und dem radikalem Feminismus zu ziehen. Es gewann eine große Bedeutung für mich, einige dieser Wahrnehmungen auf diesem Gebiet zu notieren, um anderen Frauen die Erregung mitzuteilen, die ich über den Anarcha-Feminismus empfand. Es ist notwendig, daß wir unsere Visionen untereinander austauschen und die Barrieren einreißen, die Mißverständnisse und Spaltungen unter uns entstehen lassen. Obwohl ich mich selbst Anarcha-Feministin nenne, kann diese Definition mit Leichtigkeit Sozialismus, Kommunismus, kulturellen Feminismus, lesbischen Separatismus oder irgendeins von dutzend anderen politischen Umhängeschildern einschließen. Es ist so, wie Su Negrin schreibt: „Kein politischer Regenschirm kann alle meine Bedürfnisse bedecken“.[2]
Wir mögen miteinander mehr gemeinsam haben, als wir denken. Während ich hier über meine eigenen Reaktionen und Wahrnehmungen schreibe, sehe ich weder mein Leben noch meine Gedanken losgelöst von denen anderer Frauen. Tatsächlich bin ich fest überzeugt, daß wir bezüglich der Frauenbewegung eine unglaublich starke Gemeinsamkeit von Erkenntnissen teilen. Mein eigener Anteil an diesen Erkenntnissen besteht nicht darin, definitive Behauptungen oder rigide Antworten von mir zu geben, sondern Möglichkeiten und eventuelle Verbindungen anzubieten, die hoffentlich von uns aufgegriffen werden. Darüber hinaus besteht mein Anteil darin, Beiträge zu einem fortwährenden Prozeß des individuellen und kolltektiven Wachstums als auch zur Evolution/Revolution zu leisten.
Was bedeutet Anarchismus wirklich?
Der Anarchismus wurde so lange verleumdet und mißinterpretiert, daß es vielleicht notwendig ist, eine Erklärung zu geben über das, was er bedeutet und das, was er nicht bedeutet.
Wahrscheinlich ist der weitverbreitetste Stereotyp eines Anarchisten dieser gefährlich aussehende Mann, der eine gezündete Bombe unter einem schwarzen Mantelumhang versteckt hält und bereit ist, alles auf seinem Weg zu zerstören und jeden zu ermorden. Dieses Büd ruft Angst und Abscheu bei den meisten Leuten hervor, gleich welcher politischen Anschauung sie auch sind; und folglich wird der Anarchismus abgelehnt als: häßlich, gewalttätig und extrem. Ein anderes Mißverständnis ist das Klischee, das den Anarchisten als unpraktischen Idealisten darstellt, der sich mit nutzlosen, utopischen Abstraktionen beschäftigt und keinen Bezug zur konkreten Realität hat. Das Ergebnis: Der Anarchismus wird wieder abgelehnt, diesmal nur als ein „unrealistischer Traum”.
Keines dieser Bilder entspricht der Wirklichkeit (obwohl es beides, sowohl anarchistische Attentäter als auch Idealisten gegeben hat — genau so wie in vielen anderen politischen Bewegungen der Linken und Rechten).
Was richtig ist, hängt natürlich von der eigenen Einstellung ab. Es gibt genau so viele verschiedene Anarchisten wie Sozialisten. Hier möchte ich über den kommunistischen Anarchismus sprechen, den
ich als förmlich identisch mit dem freiheitlichen (nicht-autoritären) Sozialismus ansehe. Bezeichnungen können schrecklich verwirrend sein, deshalb hoffe ich, den Begriff zu klären, indem ich zur Definition des Anarchismus drei Hauptprinzipien benutze. Jedes von ihnen hat meiner Meinung nach einen direkten Bezug zur radikalen feministischen Gesellschaftsanalyse — (doch später mehr darüber).
1. Die Forderung nach der Aufhebung von Autorität, Hierarchie und Regierung: Anarchisten rufen nach Auflösung (anstatt nach Ergreifung) der Macht des Menschen über den Menschen, des Staates über die Gesellschaft. Hingegen rufen viele Sozialisten nach einer Regierung der Arbeiterklasse mit dem Hinweis auf ein zwangsläufiges „langsames Absterben des Staates*. Anarchisten glauben, daß die Mittel die Ziele bestimmen, und daß ein starker Staat auf Selbsterhaltung ausgerichtet ist. Der einzige Weg, die Anarchie zu erlangen (in Bezugnahme auf die anarchistische Theorie), geschieht durch die Schaffung kooperativer, antiautoritärer Formen. Diesen Prozeß von den Zielen der Revolution zu trennen, bedeutet, die Durchsetzung einer Struktur der Unterdrückung zu sichern.
2. Der Dualismus von Individualität und Kollektivität: Die Individualität ist nicht unvereinbar mit den kommunistischen Ideen. Eine Unterscheidung muß jedoch gemacht werden zwischen dem „zügellosen Individualismus”, der zu Konkurrenz und der Mißachtung der Bedürfnisse anderer fuhrt, und der wahren Individualität, die Freiheit ohne die Verletzung der Freiheit anderer beinhaltet.
Besonders in bezug auf soziale und politische Organisation ist es von Bedeutung, die individuelle Initiative mit der kollektiven Aktion auszugleichen, und zwar durch Errichtung von Strukturen, die die Entscheidungen in den Händen aller Angehörigen einer Gruppe, Gemeinschaft oder Fabrik belassen und nicht in den Händen von „Repräsentanten” oder „Führern”. Das bedeutet: Koordination und Aktion auf dem Weg eines nicht-hierarchischen Netzes von Gruppen oder Gemeinschaften (also überlappende Kreise anstelle einer Pyramide, siehe auch die Beschreibung der spanischen, anarchistischen Kollektive im nächsten Kapitel). Und letztendlich bedeutet es, daß eine erfolgreiche Revolution unmanipulierte, autonome Individuen hervorbringt, die Zusammenarbeiten, um die direkte, unmittelbare Kontrolle der Gesellschaft und des eigenen Lebens zu übemehmen.[3]
3. Die Einheit von Spontaneität und Organisation: Den Anarchisten hat man lange Zeit nachgesagt, daß sie das Chaos befürworten. Viele Leute glauben tatsächlich, daß Anarchismus ein Synonym für Unordnung, Konfusion und Gewalttätigkeit ist. Dies ist eine vollkommen faslche Darstellung des Anarchismus.
Anarchisten leugnen nicht die Notwendigkeit von Organisation, sie fordern nur, daß sie von unten und nicht von oben, von innen und nicht von außen kommen sollte.
Von außen aufgesetzte Strukturen oder strenge Regeln, die Manipulation und Passivität begünstigen, sind die gefährlichsten Formen, die eine sogenannte „Revolution” annehmen kann. Keiner kann das genaue Bild der Zukunft diktieren. Die spontane Aktion im Zusammenhang mit einer besonderen Situation ist notwendig, wenn wir eine Gesellschaft aufbauen wollen, die den wechselnden Bedürfnissen der Individuen und Gruppen entspricht. Anarchisten glauben an fließende Formen: das anarchistische Organisationsmodell, könnte als eine direkte demokratische Mitbeteiligung aller Gesellschaftsmitglieder an den Gesellschaftsvorgängen beschrieben werden, die einhergeht, mit einer weitgefaßten, überregionalen Vereinigung und Zusammenarbeit in Kollektiven (ohne, daß die individuelle Initiative dadurch gehemmt werden würde).
So hört sich Anarchismus natürlich großartig an aber könnte er möglicherweise auch funktionieren? Dieser utopische Romantizismus kann doch wohl keinen Bezug zur wirklichen Welt haben . . . nicht wahr? Doch: er hat! Anarchisten sind (wenn auch zeitlich begrenzt) in einer Anzahl von Fällen (von denen keiner sehr bekannt ist) erfolgreich gewesen. Besonders Spanien und Frankreich haben eine lange Geschichte anarchistischer Aktivitäten, und in diesen beiden Ländern habe ich die aufregendsten Verwirklichungen des theoretischen Anarchismus gefunden.
Über die Theorie hinaus — Spanien 1936-39, Frankreich 1968
Die Revolution ist eine Sache des Volkes, eine Schöpfung des Volkes; die Gegenrevolution ist eine Sache des Staates. Es ist immer so gewesen und wird immer so sein, ob in Rußland, Spanien oder China.[4]
Anarchistische Vereinigung von Spanien (FAI) Tierra y Libertad, 3. Juli 1936.
Der sogenannte Spanische Bürgerkrieg wird bekannterweise als bloßer Kampf zwischen Franco’s faschistischen Streitkräften und denen dargestellt, die der liberalen Demokratie verbunden waren. Übersehen oder ignoriert wurde, daß bedeutend mehr als ein Bürgerkrieg in Spanien ablief. Eine auf breiter Basis beruhende soziale Revolution verbunden mit anarchistischen Prinzipien nahm eine entschlossene und konkrete Form in vielen Teilen des Landes an. Die allmähliche Beschränkung und endliche Zerstörung dieser freiheitlichen Bewegung ist weniger wichtig hier zu diskutieren, als die wirklichen Errungenschaften der Frauen und Männer, die an ihr teilnahmen. Gegen eine ungeheure Übermacht verwirklichten sie den Anarchismus.
Die Verwirklichung der anarchistischen Kollektivierung und Arbeiterselbstverwaltung während der Spanischen Revolution liefert ein klassisches Beispiel von Organisation und Spontaneität. Im ländlichen und industriellen Spanien ist der Anarchismus viele Jahre lang Teil des Volksbewußtseins gewesen. Auf dem Lande hatten die Menschen eine lange Tradition des Kommunalismus; viele Dörfer hatten gemeinschaftlichen Besitz oder gaben denen Land, die keines hatten. Jahrzehntelanger ländlicher Kollektivismus und Kooperation legten die Grundsteine für den theoretischen Anarchismus, der über den italienischen Revolutionär Fanelli, einem Freund Ba- kunins, in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts nach Spanien gelangte und dort schließlich den Anarcho-Syndikalismus ins Leben rief;(d.h. die Anwendung anarchistischer Prinzipien auf das industrielle Gewerkschaftswesen). Die Confederación Nacional del Trabajo (CNT), die 1910 gegründete anarcho-syndikalistische Gewerkschaft arbeitete eng mit der militanten Federación Anarquista Ibérica (FAI) zusammen. Beide sorgten sie für die Instruktion und Vorbereitung der Arbeiterselbstverwaltung und Kollektivierung unter der Arbeiterschaft. Zehntausende von Büchern, Zeitungen und Broschüren, die fast jeden Teil von Spanien erreichten, trugen zu einem größeren Wissen über das anarchistische Gedankengut bei.[5] Die anarchistischen Prinzipien — nämlich nicht-hierarchische Kooperation und individuelle Initiative, zusammen mit anarcho-syndikali- stischen Taktiken wie Sabotage, Boykott und Generalstreik, sowie Unterrichtung über Produktion und wirtschaftliche Angelegenheiten, gaben den Arbeitern den notwendigen Hintergrund für Theorie und Praxis. Dies führte in der Folgezeit des Juli 1936 zu einer erfolgreichen spontanen Besitzergreifung von Fabriken und Land.
Als die Spanische Rechte am 19. Juli 1936 auf den Wahlsieg der Volksfront mit dem Versuch einer militärischen Machtübernahme reagierte, kämpfte das Volk mit solch einer Heftigkeit, daß der Staatsstreich innerhalb von 24 Stunden zurückgeschlagen war. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Wahlurnen nebensächlich; die totale soziale Revolution hatte begonnen. Während die Industriearbeiter entweder streikten oder wirklich begannen, die Fabriken selbst zu verwalten, übergingen die Landarbeiter einfach die Großgrundbesitzer und fingen an, das Land selbst zu bearbeiten. Innerhalb kurzer Zeit wurde 60 % des Bodens in Spanien kollektiv bearbeitet — ohne Großgrundbesitzer, Vorgesetzte oder Ansporn durch Konkurrenz. Die Industrielle Kollektivierung fand hauptsächlich in Katalonien statt, wo der anarcho-syndi- kalistische Einfluß am stärksten war. Da 75 % von Spaniens Industrie dort ansässig war, war dies keine geringe Leistung.[6] So wurde nach 75 Jahren Kampf und Vorbereitungszeit durch die Spontane gemeinsame Aktion von Individuen, die den freiheitlichen Prinzipien zugetan waren, die Kollektivierung erreicht.
Was jedoch bedeutete Kollektivierung wirklich und wie funktionierte sie? Im allgemeinen auf zwei Ebenen: 1. Im kleinen durch direkte Demokratie und 2. durch weitgefaßte Koordination mit Kontrolle von der Basis. Auf jeder Ebene war Dezentralisation und Einzelinitiative das Hauptanliegen. In Fabriken und Dörfern wurden Beauftragte in eine Räteversammlung gewählt, die als Verwaltungs- oder Koordinationskörperschaften arbeiteten. Entscheidungen wurden zumeist von allgemeinen Mitgliederversammlungen getroffen, an denen alle Arbeiter teünahmen. Um sich gegen die Gefahr des Repräsentationswesens zu schützen, waren die Beauftragten selbst Arbeiter und jederzeit, wie auch periodisch abwählbar. Diese Versammlungen oder Komitees waren die Grundeinheiten der Selbstverwaltung. Von dort konnten sie durch weitere Koordination in lose Föderationen ausgeweitet werden, die die Arbeiter und Tätigkeiten einer ganzen Industrie oder eines geographischen Bezirks zusammenfaßten. Auf diesem Weg konnte die Verteilung und Aufteilung von Waren durchgeführt werden, sowie die Ausführung von Anliegen allgemeiner Bedeutung wie Bewässerung, Transport und Kommunikation. Wieder lag die Betonung auf dem Prozeß von der „Basis zur Spitze”. Der nicht einfache Ausgleich zwischen Individualität und Kollektivierung wurde am erfolgreichsten von der Landarbeiter-Föderation der Levante, die aus 900 Kollektiven zusammengesetzt war, und der aragonischen Kollektiv-Föderation mit ungefähr 500 Kollektiven erreicht.
Der wichtigste Aspekt der Selbstbewirtschaftung war wahrscheinlich die Gleichstellung der Löhne. Dies wurde auf verschiedene Weise durchgeführt, aber am häufigsten wurde das Familienlohnsystem benutzt, das heißt, Lohn wurde jedem Arbeiter/jeder Arbeiterin in Geld oder Coupons ausgezahlt, entsprechend ihren Bedürfnissen und denen ihrer Angehörigen. Waren, die reichlich vorhanden waren, wurden frei verteilt, während andere mit „Geld” erstanden werden mußten.
Die Vorteile der Lohngleichstellung waren ungeheuer. Nachdem die hohen Profite in den Händen weniger wegfielen, wurde das überschüssige Geld benutzt, um erstens die Industrie zu modernisieren (Einkauf neuer Anlagen, Schaffung besserer Arbeitsbedingungen) und zweitens, um den Boden zu verbessern (Bewässerung, Dämme, Kauf von Traktoren usw.). Es wurden nicht nur bessere Produkte effektiver hergestellt, auch die Verbraucherpreise wurden herabgesetzt. Dies traf für die verschiedensten Industrien zu: Textilien, Metall und Munition, Gas, Wasser, Elektrizität, Bäckerei, Fischerei, kommunale Verkehrsmittel, Eisenbahnen, Telephon, optische Erzeugnisse, Gesundheitswesen usw. Den Arbeitern kamen kürzere Arbeitswochen, bessere Arbeitsbedingungen, kostenloses Gesundheitswesen, Arbeitslosengeld und ein neuer Stolz auf ihre Arbeit zugute. Kreativität wurde durch Selbstbestimmung und gegenseitige Hilfe gefördert; die Arbeiter waren daran interessiert, Produkte herzustellen, die besser waren als diejenigen, die auf Ausbeutung beruhten. Sie wollten zeigen, daß Sozialismus machbar ist, daß Konkurrenz und selbstsüchtige Motive unnötig waren. Innerhalb von Monaten wurde der Lebensstandard zwischen 50 - 100 % in vielen Gebieten Spaniens angehoben.
Die Errungenschaften der spanischen Anarchisten jedoch gehen über einen höheren Lebensstandard und die ökonomische Gleichheit hinaus: sie enthalten die Verwirklichung grundsätzlicher menschlicher Ideale: Freiheit, individuelle Kreativität und kollektive Zusammenarbeit. Die Kollektive der spanischen Anarchisten versagten nicht, sie wurden von außen zerstört. Alle, sowohl Rechte als auch Linke, die an einen starken Staat glaubten, arbeiteten daran, sie auszulöschen — aus Spanien und aus der Geschichte. Der erfolgreiche Anarchismus von ungefähr acht Millionen Spaniern wird erst jetzt langsam aufgedeckt.
Du machst die Revolution für Dich![7] - Daniel und Gabriel Cohn-Bendit.
Der Anarchismus hat in der französischen Geschichte eine wichtige Rolle gespielt, aber anstatt in der Vergangenheit zu graben, möchte ich mich auf ein zeitgenössisches Ereignis konzentrieren: Mai-Juni 1968. Die Mai-Juni Ereignisse haben eine besondere Bedeutung, weil sie bewiesen haben, daß ein Generalstreik, Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter und Übernahme der Universitäten durch die Studenten in einem modernen, kapitalistischen, konsumorientierten Land passieren konnten. Darüber hinaus überschreiten die Probleme, die von den Studenten und Arbeitern in Frankreich angeschnitten wurden (Selbstbestimmung, Lebensqualität), die Klassengrenzen und zeigen ungeheure Ansätze für die Möglichkeit eines revolutionären Wandels in einer Gesellschaft, die nicht mehr von Mangel bestimmt ist.[8]
Am 22. März 1968 besetzten die Studenten der Universität von Nanterre, unter ihnen der Anarchist Daniel Cohn-Bendit, die Verwaltungsgebäude, sie forderten die Beendigung des Vietnamkrieges und ihrer eigenen Unterdrückung als Studenten (ihre Forderungen beinhalteten ähnliches wie die der Studenten von Columbia bis Berlin). Die Universität wurde geschlossen und die Demonstrationen breiteten sich zur Sarbonne aus. Die SNESUP (GewerkSchaft der Oberschul- und Universitätslehrer) rief den Streik aus, und die Studentengewerkschaft, die UNEF, organisierte für den 6. Mai eine Demonstration. An diesem Tag kam es zwischen Studenten und Polizei zu einem Zusammenstoß im Quartier Latin in Paris; die Demonstranten bauten Barrikaden in den Straßen, und viele wurden brutal von der sich austobenden Polizei zusammengeschlagen. Bis zum 7. Mai war die Anzahl der Protestierenden auf 20000 - 50000 Menschen angewachsen, die, während sie die Internationale sangen, auf dem Place de L’Etoile zumarschierten. Während der nächsten Tage wurden die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei im Quartier Latin immer gewalttätiger, und die Öffentlichkeit war allgemein weithin über die polizeüichen Repressionsmaßnahmen entsetzt. Zwischen den Gewerkschaften der Arbeiter und denen der Lehrer und Studenten wurden Gespräche aufgenommen; die UNEF und die FEN (eine Lehrergewerkschaft) riefen zu einem unbegrenzten Streik und zu einer Demonstration auf. Am 13. Mai marschierten ca. 600 000 Menschen (Studenten, Lehrer und Arbeiter) protestierend durch Paris.
Am selben Tag traten die Arbeiter des Sud- Aviation-Werkes in Nantes (eine Stadt mit den stärksten anarcho-syndikalistischen Tendenzen in Frankreich[9]) in den Streik. Diese Aktion war der Anstoß zum Generalstreik, dem größten in der Geschichte, an dem zehn Millionen Arbeiter teilnahmen — „Akademiker und einfache Arbeiter, Intellektuelle und Fußballspieler”.[10] Banken, Postbüros, Tankstellen und Kaufhäuser schlossen; U-Bahn und Busse fuhren nicht mehr; Abfälle türmten sich auf, als die Müllabfuhr sich am Streik beteüigten. Die Sarbonne war besetzt von Studenten, Lehrern und denen, die sich dort an Diskussionen beteüigen wollten. Gespräche über Politik, die die sich verändernde Grundlage der französischen kapitalistischen Gesellschaft hinterfragten, dauerten tagelang. Überall in Paris tauchten Plakate und Wandbeschriftungen auf:
Es ist verboten zu verbieten!
Die Phantasie an die Macht!
Je mehr du konsumierst,
desto kürzer lebst du!
Die Zeit zwischen Mai und Juni wurde zu einem Angriff auf die festgesetzte Ordnung und zu einem Straßenfestival.[11] Alte Grenzen zwischen Mittelund Arbeiterklasse wurden oft bedeutungslos, wenn die jüngeren Arbeiter und Studenten sahen, daß ihre Forderungen ähnlich waren: Befreiung von einem unterdrückenden, autoritären System (Universität oder Fabrik) und das Recht, über ihr eigenes Leben zu entscheiden.
Die Franzosen standen am Rand der totalen Revolution. Ein Generalstreik hatte das Land lahmgelegt. Studenten besetzten die Universitäten und Arbeiter die Fabriken. Was noch zu tun übrigblieb, war für die Arbeiter, die Fabriken zu organisieren, die direkte und unmittelbare Aktion durchzuführen und sich auf nichts weniger als die völlige Selbstverwaltung einzulassen. Leider geschah dies nicht. Autoritäre Politik und bürokratische Methoden sterben schwer und die meisten der großen französischen Gewerkschaften waren mit beidem durchsetzt. Genau wie in Spanien arbeitete die Kommunistische Partei gegen die direkten spontanen Aktionen der Leute auf den Straßen: die Revolution sollte von oben diktiert sein. Führer der CGT (Kommunistische Arbeitergewerkschaft) versuchten, Kontakte zwischen Studenten und Arbeitern zu verhindern, und eine geeinte Linke wurde bald unmöglich. Als de Gaulle und die Polizei ihre Kräfte mobilisierten und noch größere Gewalttätigkeit ausbrach, akzeptierten viele der Streikenden begrenzte Forderungen (bessere Bezahlung, kürzere Arbeitszeit, usw.) und kehrten an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Studenten führten ihre zunehmend blutigen Konfrontationen mit der Polizei fort, aber der „Augenblick” war verpaßt. Ende Juni war Frankreich zur „Normalität” unter das alte Regime der Gaullisten zurückgekehrt.
Was sich 1968 in Frankreich ereignete, weist im Wesentlichen ähnliche Züge mit der Spanischen Revolution von 1936 auf; in beiden Fällen wurden anarchistische Prinzipien nicht nur diskutiert, sondern auch ausgeführt. Die Tatsache, daß die französischen Arbeiter nicht die Selbstverwaltung erreichten, mag darauf beruhen, daß der Anarcho-Syndikalismus in den Jahren vor 1968 in Frankreich nicht so verbreitet war wie in Spanien vor 1936. Natürlich ist dies eine grobe Vereinfachung; aber Erklärungen über eine mißlungene Revolution neigen dazu, endlos zu werden. Was hier nur einmal wieder entscheidend ist, ist die Tatsache, daß es überhaupt geschah. Die Mai-Juni-Ereignisse 1968 widerlegten den allgemeinen Glauben, daß eine Revolution in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land unmöglich sei. Die Kinder der französischen Mittel- und Arbeiterklasse, erzogen zu Passivität, gedankenlosem Konsum und/oder entfremdeter Arbeit wiesen weit mehr als nur den Kapitalismus zurück. Sie hinterfragten die Autorität und forderten das Recht auf ein freies und sinnvolles Dasein. Die Gründe für eine Revolution in einer modernen Industriegesellschaft sind nicht länger auf Hunger und materiellen Mangel beschränkt, sie beinhalten den Wunsch nach menschlicher Befreiung von allen Formen der Herrschaft, d.h. im wesentlichen also den Wunsch nach einem radikalen Wandel der tagtäglichen Lebensqualität.[12] Sie setzen die Notwendigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft voraus. Der Anarchismus kann nicht länger als ein Anachronismus angesehen werden.
Es wird oft gesagt, daß die Anarchisten in einer Welt der Träume von morgen leben und nicht die Dinge sehen, die heute geschehen. Wir sehen sie nur zu gut und in ihren echten Farben und dies läßt uns das Beil in den uns bedrängenden Wald der Vorurteile tragen.[13]
Peter Kropotkin
Es gibt zwei Hauptgründe, warum die Revolution in Frankreich fehlschlug: 1. ungenügende Vorbereitung in Theorie und Praxis des Anarchismus und 2. die ungeheure Macht des Staates, gepaart mit autoritären Praktiken und Bürokratie der mächtigen, sympathisierenden Linksgruppen. In Spanien war die Revolution ausgebreiteter und hartnäckiger aufgrund der ausgedehnten Vorbereitungen. Dennoch wurde sie schließlich zerstört durch einen faschistischen Staat und eine autoritäre Linke. Es ist wichtig, diese beiden Faktoren in Verbindung zu der heutigen Situation in den USA (und Westeuropa, d. Hrg.) zu bedenken. Es scheint, daß wir nicht nur unvorbereitet sind, wir sind buchstäblich verkrüppelt durch einen Staate, der mächtiger ist als die Staaten von Frankreich und Spanien zusammengenommen. Es klingt schon beinahe nach einer Untertreibung, wenn ich sage, daß wir uns gegen eine ungeheure Übermacht auflehnen.
Aber wohin fuhrt uns die Definition des Feindes als unbeugsamer, unüberwindlicher Riese? Wenn wir nicht durch Fatalismus und Wirkungslosigkeit gelähmt werden wollen, könnte es uns stärken, die Revolution neu zu definieren, indem wir uns auf den Anarcha-Feminismus als ein Gerüst konzentrieren, und in ihm den Kampf für die menschliche Befreiung erblicken. Es sind Frauen, die nun den Schlüssel zu neuen Konzeptionen der Revolution in den Händen halten, Frauen, die erkennen, daß Revolution nicht länger Machtergreifung oder Beherrschung einer Gruppe durch eine andere bedeutet. Es ist die Herrschaft selbst, die aufgehoben werden muß. Das Überleben des Planeten hängt davon ab. Es kann den Männern nicht länger erlaubt werden, die Umwelt für ihr eigenes Selbstinteresse zügellos zu manipulieren, genau wie es ihnen nicht länger erlaubt werden kann, systematisch ganze Menschenrassen zu zerstören. Die Anwesenheit von Hierarchie und autoritärem Denken bedrohen die Existenz der Menschen und des Planeten. Eine weltweite Befreiung und freiheitliche Politik sind notwendig geworden und sie sind nicht mehr utopische Träume. Wir müssen „die Lebensbedingungen erreichen, die es uns ermöglichen, zu überleben”.[14]
Die Konzentration auf den Anarcha-Feminismus als notwendiges revolutionäres Gerüst für unseren Kampf bedeutet nicht, das ungeheure Ausmaß der vor uns stehenden Aufgaben zu leugnen. Nur zu gut sehen wir die Wurzeln unserer Unterdrückung und die ungeheure Macht des Feindes. Aber wir sehen auch, daß der Weg aus dem tödlichen historischen Kreislauf der unvollständigen oder fehlgeschlagenen Revolutionen von uns neue Begriffsbestimmungen und neue Taktiken fordert. Einige von ihnen weisen auf eine Art „Aushöhlungsprozeß”[15] hin, der später in dem Kapitel „die Verwirklichung von Utopia” beschrieben wird. Als Frauen sind wir für die Teilnahme an diesem Prozeß besonders gut geeignet. Seit ewigen Zeiten im Untergrund haben wir gelernt, verdeckt, scharfsinnig, schlau, verschwiegen, hartnäckig und feinfühlig zu sein und Experten in der Geschicklichkeit unserer Verständigung.
Für unser eigenes Überleben lernten wir die Spinnennetze der Rebellion zu weben, und so, daß sie dem Auge des „Herrn und Meisters” verborgen blieben.
wie ein Stiefel von unten aussieht,
wir kennen die Philosophie der Stiefel.
Bald aber werden wir ausschwärmen,
wild, wie das Unkraut,
überall und langsam
werden mit uns die Hauspflanzen rebellieren
Zäune werden stürzen,
Mauern erbeben und fallen –
Stiefel, die wird es nicht mehr geben.
In der Zwischenzeit aber fressen wir den
Dreck und schlafen und warten
unter deinem Fuß.
Wenn wir zum Angriff rufen,
wirst du nichts hören -
am Anfang. [16]
Eine anarchistische Vorbereitung existiert in diesem Land nicht. Sie existiert in den Gemütern und Aktionen von Frauen, die sich selbst (oft unbewußt) auf eine Revolution vorbereiten, deren Formen die historische Unvermeidbarkeit und den „normalen” Fortlauf der Geschichte selbst zerschmettern werden.
Anarchismus und die Frauenbewegung
Die Entwicklung der Schwesternschaft ist eine einzigartige Bedrohung, denn sie ist gegen das grundlegende soziale und psychische Modell von Hierarchie und Herrschaft gerichtet.[17]
Mary Daly
Überall im Land begannen unabhängige Gruppen von Frauen, ohne eine Struktur von Führern und anderen Überbleibseln der männlichen Linken, zu funktionieren und brachten, unabhängig voneinander und gleichzeitig, Organisationen hervor, die denen der Anarchisten vieler Jahrzehnte und Länder ähnlich waren. Und das ist alles andere als ein Zufall.[18]
Cathy Levine
Ich habe noch nicht die Rolle der Frau in Spanien und Frankreich angesprochen; sie kann in einem Wort zusammengefaßt werden — unverändert. Anarchistische Männer haben sich kaum anders gegenüber den Frauen verhalten als die Männer überall.[19] So ergibt sich die absolute Notwendigkeit einer feministischen, anarchistischen Revolution. Sonst werden die Prinzipien, auf denen sich der Anarchismus gründet, zur reinen Heuchelei.
Die augenblickliche Frauenbewegung und eine radikale, feministische Analyse der Gesellschaft haben viel zum freiheitlichen Gedankengut beigetragen. Tatsächlich bin ich der Meinung, daß Feministinnen seit Jahren unbewußt Anarchisten gewesen sind, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Wir müssen uns jetzt der Verbindung zwischen Anarchismus und Feminismus bewußt werden und dies Gerüst für unsere Gedanken und Aktionen benutzen. Wir müssen imstande sein, sehr klar zu sehen, wohin wir gehen möchten und wie wir dorthin gelangen. Um wirksamer zu sein, um die Zukunft zu gestalten, von der wir fühlen, daß sie möglich ist, müssen wir erkennen, daß wir nicht einen Wandel wünschen, sondern die totale Umgestaltung.
Die radikale feministische Perspektive ist nahezu identisch mit dem Anarchismus. Die grundlegende Theorie setzt die einzelne Familie als Basis für alle autoritären Systeme voraus. Die Lektion, die das Kind lernt, vom Vater zum Lehrer, zum Boß, zu Gott ist: der großen, anonymen Stimme der Autorität zu gehorchen. Von der Kindheit in das Erwachsenenalter zu kommen bedeutet, ein ausgewachsener Automat zu werden, unfähig zum Nachfragen, unfähig sogar zum klaren Denken. Wir stellen uns auf das gewöhnliche Amerika ein, glauben alles, was wir erzählt bekommen und akzeptieren betäubt die Zerstörung des Lebens um uns herum.
Womit sich die Feministinnen beschäftigen, ist der Prozeß von Gehirnfickerei — die männliche dominierende Haltung gegenüber der äußeren Welt, die nur Subjekt-Objekt-Beziehungen zuläßt. Die traditionelle männliche Politik reduziert den Menschen auf den Status eines Objektes und beherrscht und manipuliert ihn dann für abstrakte „Ziele”. Die Frauen dagegen versuchen ein Bewußtsein für „Anderes* auf allen Gebieten zu entwickeln. Wir betrachten Beziehungen zwischen Subjekt und Subjekt nicht nur als wünschenswert, sondern als notwendig. (Viele von uns haben nur aus diesem Grund beschlossen, nur mit Frauen zu arbeiten und nur Frauen zu lieben.) Wir arbeiten zusammen, um unser Einfühlungsvermögen und Verständnis für andere lebende Dinge auszuweiten und uns mit jenen Wesen außerhalb unserer Selbst zu identifizieren, anstatt sie zu objektivieren und zu manipulieren. An diesem Punkt ist Respekt für alles Leben ein Erfordernis für unser Überleben.
Die radikale feministische Theorie kritisiert auch das männliche hierarchische Denkmuster — in dem Rationalität über Sinnesfreudigkeit, in dem der Verstand über das Gefühl herrscht, und ständige Spaltungen und Polarisierungen (aktiv/passiv-Kind/Er wachsener-gesund/krank-Arbeit/Spiel-Spontaneität / Organisation) uns von der Verstand-Körper-Erfahrung als etwas Ganzem und von der For[t]dauer menschlicher Erfahrung trennen. Frauen versuchen, diese Spaltungen loszuwerden, sie versuchen, in Harmonie mit dem Universum als Ganzem zu leben; sie sind integrierte Menschen, die sich der kollektiven Heilung unserer individuellen Wunden und Zersplitterungen widmen.
Durch die ständige Praxis innerhalb der Frauenbewegung hatten die Feministinnen sowohl Erfolg als auch Mißerfolg bei der Verwerfung von Hierarchie und Herrschaft. Ich glaube, daß Frauen häufig intuitiv wie Anarchisten sprechen und handeln, das heißt, wir kommen einer vollkommenen Verneinung des patriarchalischen Gedankenguts und seiner Organisation immer näher. Die Annäherung wird jedoch durch die heimtückischen und mächtigen Formen blockiert, die das Patriarchat in unseren Gedanken und in unseren Beziehungen untereinander einnimmt. Das Leben in einer autoritären Gesellschaft und das Angepaßtsein an diese hindern uns daran, diese überaus wichtige Verbindung zwischen Feminismus und Anarchismus zu ziehen. Wenn wir sagen, daß wir das Patriarchat bekämpfen, ist es uns nicht allen unbedingt klar, daß dies bedeutet, jede Hierarchie, jede Führerschaft, jede Regierung und die Idee der Autorität selbst zu bekämpfen. Unsere Impulse für kollektive Arbeit und kleine führerlose Gruppen sind anarchistisch gewesen, aber in den meisten Fällen haben wir sie nicht bei diesem Namen genannt. Das aber ist wichtig, weil ein Verständnis von Feminismus als Anarchismus die Frauen aus Reformismus und begrenzten Möglichkeiten herauskatapultieren könnte in eine revolutionäre Konfrontation mit der grundlegenden Natur der autoritären Politik.
Wenn wir das Patriarchat zerstören wollen, müssen wir über Anarchismus reden, um genau zu wissen, was er bedeutet, und um das Gerüst zur Umwandlung unserer Selbst und der Struktur unseres täglichen Lebens zu benutzen. Feminismus bedeutet nicht weibliche Macht in den Institutionen oder eine Frau als Präsidentin — es bedeutet keine Macht von Institutionen und keine Präsidenten. Die Verabschiedung des Verfassungszusatzes über die Gleichberechtigung (Equal Rights Amendment) wird die Gesellschaft nicht umwandeln, er gibt Frauen nur das „Recht” zur Teilnahme an einer hierarchischen Wirtschaft. Den Sexismus herauszufordern, bedeutet, jede Hierarchie herauszufordern — wirtschaftliche, politische und persönliche. Dies wiederum bedeutet eine anarcha-feministische Revolution.
Wann sind die Feministinnen eigentlich anarchistisch gewesen und wann sind sie davon abgekommen? Als die zweite Welle des Feminismus in den späten sechziger Jahren das Land überflutete, zeigten die Formen, die die Frauengruppen oft annahmen, ein unausgesprochenes freiheitliches Bewußtsein. Gegen die wetteifernden Machtspiele, gegen unpersönliche Hierarchien und die Taktik der Massenorganisation der männlichen Politik eingestellt, gründeten die Frauen kleine, führerlose Selbsterfahrungs- Gruppen, die sich mit den persönlichen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens befaßten. Im persönlichen Gespräch versuchten wir an die üble Wurzel unserer Unterdrückung zu gelangen, indem wir unsere bisher unreflektierten Wahrnehmungen und Erfahrungen austauschten. Wir lernten voneinander, daß Politik sich nicht dort draußen, sondern in unseren Körpern und Köpfen und unter den Individuen abspielt. Persönliche Beziehungen konnten uns unterdrücken und unterdrückten uns als politische Klasse. Unser Elend und Selbsthaß waren ein direktes Ergebnis der männlichen Herrschaft — zu Hause, auf der Straße, am Arbeitsplatz und in politischen Organisationen.
So entwickelten sich in vielen, nicht miteinander in Verbindung stehenden Gebieten der USA Selbsterfahrungsgruppen (Counsciousness — raisinggroups) als spontane und direkte Reaktion gegen patriarchalische Formen. Die ausdrückliche Betonung der kleinen Gruppen als grundlegende Organisationseinheit des Persönlichen und des Politischen, der antiautoritären und der spontanen Aktion war im wesentlichen anarchistisch. Aber wo waren die langen Jahre der Vorbereitung, welche die spanischen revolutionären Aktivitäten entzündeten? Die Strukturen der Frauengruppen zeigten eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Gruppen gleichgesinnter Anarchisten innerhalb der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften in Spanien, Frankreich und vielen anderen Ländern. Jedoch haben wir uns selbst noch nicht Anarchisten genannt und uns noch nicht bewußt nach anarchistischen Prinzipien organisiert. Zu dieser Zeit hatten wir noch nicht einmal ein Untergrund- Netzwerk für Kommunikation, Ideen- und Aufgabenverteilung. Der Anarchismus existierte schon als Undefiniertes Ideal in unseren Köpfen, noch bevor die Frauenbewegung mehr war als eine Handvoll isolierter Gruppen, die im Dunkeln nach Antworten suchten.
Ich glaube, daß dies die Frauen in die einzigartige Position bringt, die Träger eines unter der Oberfläche liegenden anarchistischen Bewußtseins zu sein, das, wenn es erst artikuliert und konkretisiert ist, uns weiter als jede vorherige Gruppe dem Ziel der totalen Revolution näher bringen kann. Der intuitive Anarchismus der Frauen ist, wenn er erst einmal verschärft und geklärt ist, ein unglaublicher Schritt vorwärts (oder darüber hinaus) im Kampf für die Befreiung des Menschen. Die radikale feministische Theorie begrüßt den Feminismus als die letzte Revolution. Dies ist wahr, aber es ist nur dann wahr, wenn wir unsere anarchistischen Wurzeln erkennen und darauf bestehen. An dem Punkt, an dem wir es verpassen, die feministische Verbindung zum Anarchismus zu sehen, kommen wir zu keiner revolutionären Zielsetzung und werden umgeleitet auf die „alte, männliche Fahrspur der Politik”. Wir müssen endlich aufhören, im Dunkeln herumzutappen und uns darüber klar werden, was wir getan haben, und was wir jetzt im Zusammenhang mit dem tun, wo wir letztendlich sein wollen.
Die Selbsterfahrungs-Gruppen waren ein guter Anfang, aber sie blieben zu oft bei Gesprächen über persönliche Probleme stecken, so daß sie den Übergang zur direkten Aktion und politischen Konfrontation nicht schafften. Gruppen, die sich wegen einer besonderen Angelegenheit oder eines Projektes wegen organisiert hatten, bemerkten, daß die „Tyrannei in strukturlosen Gruppen” genau so vernichtend wirken konnte, wie die „Tyrannei der Tyrannei”.[20] Da es mißlang, Organisation und Spontaneität miteinander zu vereinen, traten häufig Frauen mit mehr Geschicklichkeit oder persönlicher Ausstrahlungskraft als Führer auf. Der Groll und die Frustration jener Frauen, die sich in ihrer Gefolgschaft befanden, schäumte über in Macht- und Positionskämpfen. Zu oft endete dies entweder in völliger Ineffektivität oder es wurde auf die alte Phrase zurückgegriffen, „was wir brauchen ist mehr Struktur” (im alten männlichen Sinn des Wortes, d.h. im Sinne von ,Oben und Unten’).
Wieder einmal fehlte eine ausgesprochen anarchistische Analyse. Organisation muß nicht Spontaneität lahmlegen oder hierarchischen Mustern folgen. Die Frauengruppen oder Projekte, die erfolgreich waren, haben mit verschiedenen, fließenden Strukturen experimentiert: Rotation von Aufgaben und Leitung, Austausch aller Fähigkeiten, gleicher Zugang zu Informationen und Hilfsmitteln, keine monopolisierten Entscheidungen und ausreichend Zeit zur Diskussion gruppendynamischer Prozesse. Das letztere strukturelle Element ist wichtig, weil es eine fortlaufende Anstrengung auf Seiten der Gruppenmitglieder beinhaltet, um eine „schleichende Machtpolitik” zu verhindern. Wenn Frauen sich zu kollektiver Arbeit verpflichten, erfordert das einen wirklichen Kampf, um die Passivität zu überwinden (um Anhänger zu vermeiden), und um Wissen und Fähigkeiten auszutauschen (um „Führer zu vermeiden). Das soll nicht heißen, daß wir uns nicht gegenseitig durch Worte und Leben inspirieren können; starke Aktionen von starken Individuen können anstekkend und somit wichtig sein. Aber wir müssen vorsichtig sein, daß wir nicht in alte Verhaltensmuster verfallen.
Erfreulicherweise ist die entstandene Struktur der Frauenbewegung in den letzten Jahren im allgemeinen dem anarchistischen Muster kleiner, projektorientierter Gruppen gefolgt und webt fortwährend an einem Untergrundnetz für Verständigung und kollektive Aktion. Teilweiser Erfolg bei der Vermeidüng von „Führern” und Stars und bei der landweiten Verbreitung kleiner Aktionsprojekte (Krisenzentren gegen Vergewaltigung, Frauengesundheitskollektive usw.) haben die Frauenbewegung davor bewahrt, auf eine Person oder Gruppe festgelegt zu werden. Der Feminismus ist ein vielköpfiges Monster, das nicht durch vereinzelte Enthauptungen vernichtet werden kann. Wir breiten uns aus und wachsen auf Wegen, die einer hierarchischen Mentalität unverständlich sind.
Dies heißt jedoch nicht, daß ich die gewaltige Macht des Feindes unterbewerten würde. Die tük- kischste Form, die diese Macht annehmen kann, besteht darin, die integrierte Rolle als Oppositionelle im System einzunehmen, was die kurzsichtige nichtanarchistische Sicht vom Feminismus als einem rein „sozialen Wandel” bekräftigt. Den Sexismus als ein Übel anzusehen, das durch eine weibliche Mitarbeit an den bestehenden Problemen ausgerottet werden kann, bedeutet, die Weiterführung von Herrschaft und Unterdrückung sicherzustellen. „Feministischer” Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Wenn wir Genossenschaften, Restaurants, Buchläden usw. für Frauen einrichten, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir es für unser eigenes Überleben tun, zu
dem Zweck, ein Gegensystem zu schaffen, das Konkurrenz, Profitmacherei und alle Formen des wirtschaftlichen Druckes ausschließt.
Wir müssen uns darauf einlassen, mit anti-kapitalistischen, nicht vom Konsum bestimmten Werten an den Grenzen der Gesellschaft zu leben.[21] Wir wollen weder die Integration noch einen Staatsstreich, der die „Macht von einer Gruppe Jungs auf eine andere übertragen würde”.[22] Wir fordern die vollständige Revolution, eine Revolution, deren Formen uns eine Zukunft ahnen läßt, die unverdorben ist von Ungerechtigkeit, Herrschaft oder Mißachtung individueller Unterschiede — kurz, eine feministisch-anarchistische Revolution. Ich bin überzeugt, daß Frauen die ganze Zeit gewußt haben, wie sie dem Ziel der Befreiung der Menschheit näher kommen würden; wir müssen nur die in uns nachwirkenden, männlichen politischen Formen und Aussprüche abschütteln und uns auf unsere eigene anarchistische, weibliche Analyse konzentrieren.
Wohin gehen wir von hier aus? Die Verwirklichung von Utopia
„Ach, eure Vision ist ein romantischer Blödsinn, rührselige Religiosität und oberflächlicher Idealismus, weil ihr keine konkreten Einzelheiten äußern könnt"; so spricht die kleine Stimme in meinem (Eurem) Hinterkopf Aber mit der Stirn weiß ich, daß wir darüber reden könnten, wenn du hier neben mir wärst. Und unser Gespräch würde (konkrete, detaillierte) Einzelheiten ergeben, wie dies und jenes geschehen könnte und wie dies und jenes gelöst werden würde. Was meiner Vision wirklich fehlt, sind konkrete, detaillierte menschliche Individuen. Dann würde es kein oberflächlicher Idealismus mehr sein, sondern menschliche Realität.[23]
Su Negrin
Anstatt uns nun entmutig und isoliert zu fühlen, sollten wir in unseren kleinen Gruppen diskutieren, planen, schaffen und Unruhe machen - wir sollten immer aktiv an feministischen Aktionen beteiligt sein und neue schaffen, weil wir nur durch sie vorwärts kommen; da diese aber fehlen, nehmen Frauen Beruhigungsmittel, werden verrückt und verüben Selbstmord.[24]
Cathy Levine
Diejenigen von uns, die die Erregung von sit-ins, Märschen, Studentenstreiks, Demonstrationen und die Rebellion der 60iger Jahre erlebten, fühlen sich heute desillusioniert und verachten alles, was in den 70iger Jahren geschah. Resignation oder Zugeständnisse („offene" Ehe, Hippie-Kapitalismus, der Guru Maharaji?) scheinen einfacher zu sein, als jahrzehntelange Kämpfe, die vielleicht sogar letztendlich doch keine Erfolge bringen. An diesem Punkt fehlt uns ein übergreifender Rahmen, in dem wir den revolutionären Prozeß betrachten können. Ohne ihn sind wir zu einem tödlichen, isolierten Kampf oder zu einer individuellen Lösung verurteilt. Der Orientierungsrahmen, den der Anarcha-Feminismus bereithält, ist eine der erforderlichen Voraussetzungen für jede unserer Anstrengungen, die utopischen Ziele zu erreichen. Wenn wir Spanien und Frankreich betrachten, können wir sehen, „daß die wahre Revolution weder ein zufälliges Ereignis noch ein Staatsstreich ist, der künstlich von oben gesteuert wird”.25 Eine jahrelange Vorbereitung ist notwendig: Austausch von Ideen und Informationen, Änderung des Bewußtseins und des Verhaltens und die Schaffung politischer und ökonomischer Alternativen zu den kapitalistischen und hierarchischen Strukturen. Wir benötigen die spontane und direkte Aktion autonomer Individuen in Form einer kollektiven, politischen Konfrontation. Es ist wichtig, „Deinen Verstand” und Dein persönliches Leben zu befreien, aber das ist noch nicht genug. Befreiung ist keine beschränkte Einzelerfahrung, sie kommt in Verbindung mit anderen Menschen auf. Es gibt keine individuell „befreiten Frauen“.
Ich spreche also über einen Langzeitprozeß, der eine Reihe von Aktionen beinhaltet, bei der wir unsere Passivität verlernen und lernen, die Kontrolle über unser eigenes Leben zu übernehmen. Ich spreche über ein „Aushöhlen“ des gegenwärtigen Systems durch die Schaffung gegensätzlicher geistiger und konkreter Alternativen. Die romantische Vorstellung von einer kleinen Bande bewaffneter Guerillas, die die Regierung der USA stürzt, ist hoffnungslos (wie die ganze männliche Politik) und grundlegend irrelevant für dieses Konzept der Revolution. Wir würden zermalmt werden, wenn wir es versuchten. Wir wollen nicht die Regierung stürzen, sondern wir wollen eine Situation schaffen, in der sie sich verliert. Dies geschah zeitweise in Spanien und es geschah in Frankreich. Ob bewaffneter Widerstand an irgendeinem Punkt notwendig sein wird, steht zur Debatte. Das anarchistische Prinzip „die Mittel begründen die Ziele” scheint auf Pazifismus hinzudeuten, aber die Macht des Staates ist so groß, daß es schwierig ist, sich auf die Gewaltlosigkeit ausschließlich zu beschränken. (Der bewaffnete Widerstand war während der spanischen Revolution unvermeidlich und schien auch 1968 in Frankreich wichtig zu sein.) Die Frage des Pazifismus würde jedoch eine andere Diskussion zur Folge haben und mein Anliegen ist hier, die notwendige Vorbereitung zur Veränderung der Gesellschaft zu betonen, eine Vorbereitung, die ein anarcha-feministisches Gerüst, große revolutionäre Geduld und fortwährende, aktive Konfrontation mit eingebürgerten patriarchalischen Verhaltensweisen einschließt.
Mit den gegenwärtigen Vorbereitungstaktiken haben wir uns schon seit langem beschäftigt. Wir müssen aber damit fortfahren und sie weiter entwickeln. Sie sind auf drei Ebenen wirksam, nämlich: 1. erziehungsmäßig (Austausch von Ideen und Erfahrungen), 2. ökonomisch/politisch und 3. persönlich/politisch. Der Begriff „Erziehung” hat einen ziemlich herablassenden Ton an sich, aber mir geht es nicht darum, „den Massen das Wort zu bringen” oder schuldbeladene Individuen in vorgeschriebene Bahnen des Daseins zu führen. Ich spreche über die vielen Methoden, die wir beim Zusammenleben entwickelt haben — angefangen vom Schreiben (unser Netz feministischer Publikationen), den Studiengruppen und den Frauenradio- und Fernsehshows bis hin zu Demonstrationen, Märschen und Straßentheater. Die Massenmedien wären besonders wichtig für die revolutionäre Kommunikation und unseren Einfluß — denk nur daran, wie unser Leben durch Radio und Fernsehen verunstaltet wird.[26] Isoliert betrachtet, Schemen diese Dinge nicht sehr wirksam zu sein, aber die Menschen ändern sich sowohl durch Schreiben, Reden und einander zuhören wie durch aktive Teünahme an politischen Bewegungen. Zusammen auf die Straße zu gehen, rüttelt die Passivität auf und schafft einen Geist gemeinsamer Anstrengung und Lebensenergie, der uns helfen kann, standhaft zu bleiben und uns zu verändern. Meine eigene Veränderung vom typisch amerikanischen Mädchen zur Anarcha-Feministin wurde herbeigeführt durch ein Jahrzehnt von Lektüren, Diskussionen und Kontakten mit vielen Menschen und vielen politischen Anschauungen innerhalb der USA. Meine Erfahrungen mögen in mancher Weise einzigartig sein, aber ich glaube nicht, daß sie außergewöhnlich sind. An vielen Orten in diesem Land beginnen die Leute langsam, die Art und Weise zu hinterfragen, durch die sie zu Gehorsam und Passivität gebracht wurden. Gott und Regierung sind nicht mehr die höchsten Autoritäten, die sie einst waren. Dies soll nicht das Ausmaß der Macht von Kirche und Staat verharmlosen, sondern eher die anscheinend inkonsequenten Veränderungen von Gedanken und Verhalten betonen, die, wenn sie durch gemeinsame Aktion verdichtet werden, eine wirkliche Bedrohung für das Patriarchat bedeuten.
ökonomische/politische Taktiken fallen in den Bereich der direkten Aktion und in die „zweckvolle Illegalität” (Ausdruck von Daniel Guerin). Der Anarcho-Syndikalismus unterscheidet zwischen drei Hauptarten der direkten Aktion: Sabotage, Streik und Boykott. Sabotage heißt „durch jedmögliche Methode den regulären Verlauf der Produktion zu behindern”.[27] Immer häufiger wird Sabotage von Leuten verübt, die unbewußt voA veränderten sozialen Werten beeinflußt sind. Systematisches „Kranksein” zum Beispiel findet man sowohl bei Arbeitern und Angestellten. Das Herausfordern von Arbeitgebern kann spitzfindig wie durch „Verlangsamen” der Arbeit oder offen wie durch „Ruinieren” gemacht werden. So wenig Arbeit so langsam wie möglich zu machen, ist eine verbreitete Praxis von Arbeitnehmern, wie auch das Durcheinanderbringen des wirklichen Arbeitsganges (oft als Gewerkschaftstaktik während eines Streiks) — zum Beispiel das gewohnheitsmäßige falsche Einsortieren oder Verlieren „wichtiger Papiere” durch Sekretärinnen oder das fortwährende Verwechseln von Zugbeschilderungen während des Bahnarbeiterstreiks in Italien 1967.
Sabotagetaktiken können benützt werden, um Streiks effektiver zu machen. Der Streik selbst ist die wichtigste Waffe der Arbeiter. Jeder individuelle Streik kann das System lahmlegen, wenn er sich auf andere Industrien ausweitet und so zum Generalstreik wird; die vollständige soziale Revolution ist dann nur noch einen Schritt weit entfernt. Natürlich muß der Generalstreik die Arbeiterselbstverwaltung zum Ziel haben (genau so wie klare Vorstellungen darüber, wie sie zu erreichen und zu verteidigen ist), denn sonst wird die Revolution ein tot geborenes Kind sein (wie 1968 in Frankreich).
Auch der Boykott kann ein machtvoller Streik oder eine Gewerkschaftsstrategie sein (z.B. der Boykott von Weintrauben, Salat und Wein, die von nicht-organisierten Arbeitern geerntet wurden und der Boykott von Hosen der Marke „Farah“ die auch von nicht-organisierten Arbeitern hergestellt wurden). Zusätzlich kann er dazu benutzt werden, um ökonomische und soziale Veränderungen vorwärtszutreiben. Die Weigerung zu wählen, Kriegssteuern zu zahlen oder am kapitalistischen Wettbewerb und hochgeschraubtem Konsum teüzuneh- men sind wichtige Aktionen, wenn sie mit Unterstützung alternativer, nicht profitorientierter Strukturen (zum Beispiel Lebensmittelkooperativen, Gesundheits- und Rechtsberatungsstellen, Geschäfte, die gebrauchte Kleidung und Bücher verkaufen, freie Schulen usw.) verbunden sind. Der Konsum ist eine der Hauptfestungen des Kapitalismus. Den Kauf selbst zu boykottieren (besonders Produkte, die dazu bestimmt sind, schnell zu veralten und die auf ekelhafte Art und Weise angepriesen werden), ist eine Taktik, die die Macht hat, „die Qualität des Täglichen Lebens” zu verändern. Wahlverweigerung wird oft mehr aus Hoffnungslosigkeit oder Passivität ausgeübt, anstatt aus einer bewußten politischen Haltung gegen eine Pseudo-Demokratie, in der Macht und Geld sich eine politische Elite wählen. Wahlboykott kann etwas anderes als stillschweigende Zustimmung bedeuten, wenn wir gleichzeitig wahre demokratische Formen in einem alternativen Netz anarchistisch-gleichgesinnter Gruppen schaffen.
Dies bringt uns zum 3. Gebiet — dem persönlichen/politischen, welches natürlich mit den anderen beiden notwendigerweise verbunden ist. Die anarchistisch gleichgesinnte Gruppe ist lange eine revolutionäre Organisationsform gewesen. In anarchosyndi- kalistischen Gewerkschaften waren sie die Übungsstätten der Arbeiterseibstverwaltung. Sie können zeitlich begrenzte Gruppierungen von Individuen sein zur Erreichung eines bestimmten, kurzfristigen Zieles, aber auch dauerhafte Arbeits- oder Wohnkollektive, in denen die Individuen lernen, sich von der Beherrschung und Besitzergreifung in ihren Zweierbeziehungen zu befreien. Möglicherweise sind die anarchistisch-gleichgesinnten Gruppen die Basis, auf der wir eine neue freiheitliche, nicht-hierarchische Gesellschaft aufbauen können. Die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, verändert unser Denken und Wahrnehmungsvermögen (und umgekehrt), und wenn Veränderungen des Bewußtseins zu Änderungen im Handeln und Verhalten fuhren, hat die Revolution begonnen.
Die Verwirklichung von Utopia beinhaltet viele Ebenen des Kampfes. Zusätzlich zu besonderen Taktiken, die andauernd entwickelt und verändert werden können, brauchen wir politische Hartnäckigkeit: Kraft und Fähigkeit über die Gegenwart hinauszusehen in eine erfreuliche, revolutionäre Zukunft. Von hier nach dort zu gelangen, erfordert mehr als einen vertrauensvollen Sprung. Es erfordert tagtäglich von jedem von uns die langzeitige Verpflichtung zur Flexibilität und direkten Aktion.
Die Umwandlung der Zukunft
Wie wir uns vorstellen können, ist die Schaffung einer weiblichen Kultur ein vielschichtiger Prozeß, denn er bedeutet die Teilnahme an einer VISION, die fortwährend sich aufs Neue entfaltet, in unseren Gesprächen mit Freunden, in den Konsum-Boykotten, in der Übernahme eines Kinderladens, in der körperlichen Liebe zu einer Schwester. Es ist eine Offenbarung, die sich nur als Prozeß einer Veränderung definieren läßt. Die Kultur der Frauen bedeutet, daß sich alle von uns befreien, sich erkennen und zur Vision der Harmonie mit sich selbst, miteinander und unserer Schwester Erde gelangen. In den letzten zehn Jahren sind wir schneller und näher denn je in der Geschichte des Patriarchats an den Umsturz seiner Macht gelangt - ein Grund außergewöhnlicher Hoffnung - wilder, ansteckender, unüberwindbarer, verrückter Hoffnung! Die Hoffnung, daß das Leben über den Tod, über Hoffnungslosigkeit und Bedeutungslosigkeit siegt, ist überall, wo ich jetzt hinschaue - wie eine Talisfrau des Vertrauens in die Frauenvision.[28]
Laurel
Ich dachte, daß wir alle zu einem katastrophalen (oder wenigstens erstarrten) Schicksal verdammt sind, wenn die Revolution nicht morgen stattfindet. Heute glaube ich nicht mehr an das Schema von vor und nach der Revolution und ich glaube, wir setzen uns selbst dem Scheitern und der Hoffnungslosigkeit aus, wenn wir in solchen Maßstäben denken. Ich glaube, daß alles, was wir wirklich brauchen, um den Kampf Weiterzufuhren (trotz der Unterdrükkung in unserem täglichen Leben), die Hoffnung ist, das heißt die Vision einer Zukunft, die so wundervoll und stark ist, daß sie uns ständig vorwärtstreibt beim Aufbau einer inneren und äußeren Welt, die für alle bewohnbar ist und allen ein selbsterfülltes Leben garantiert. Mit Selbsterfüllung meine ich nicht nur die Mittel, die für das bloße Überleben notwendig sind (genügend Nahrung, Kleidung und Unterkunft usw.), sondern auch psychologische Bedürfnisse (zum Beispiel eine Umwelt ohne Unterdrückung, welche die völlige Freiheit unserer Wahl von spezifischen und konkret möglichen Alternativen begünstigt). Ich glaube, daß Hoffnung existiert — wir finden sie in Laure’s „Frauenvision”, in Mary Daly’s „Lebensnotwendige Courage”[29] und im Anarcha-Feminismus. Unsere unterschiedlichen Stimmen beschreiben den gleichen Traum, und „nur der Traum kann den Stein zerschmettern, der unsere Münder blockiert“.[30] So, wie wir sprechen, so verändern wir uns, und so, wie wir uns verändern, so wandeln wir uns und mit uns die Zukunft.
Es ist wahr, daß es in unserer Gesellschaft weder eine individuelle noch irgendeine andere sofort machbare Lösung gibt.[31] Aber wenn wir dieses ziemlich depremierende Wissen mit der Erkenntnis der radikalen Veränderungen, die wir erfahren haben — in unserem Bewußtsein und unserem Leben — ausgleichen können, dann haben wir vielleicht den Mut, die Dinge, von denen wir träumen, weiter zu entwickeln. Offensichtlich ist es nicht leicht, der täglichen Unterdrückung ins Auge zu sehen und doch weiter zu hoffen. Aber es ist unsere einzige Chance. Wenn wir die Hoffnung aufgeben (die Fähigkeit, Verbindungen zu sehen und von einer Zukunft zu träumen), dann haben wir schon verloren. Hoffnung ist das mächtigste Werkzeug der Frauen, es ist das, was wir uns jedesmal geben, wenn wir unser Leben, unsere Arbeit und unsere Liebe miteinander teilen. Sie läßt uns den Selbsthaß, die Selbstvorwürfe und den Fatalismus vergessen, die uns wie Gefangene in Einzelzellen festhalten. Wenn wir uns jetzt der Depression und Hoffnungslosigkeit ergeben, akzeptieren wir die Unvermeidbarkeit der autoritären Politik und der patriarchalischen Herrschaft („Hoffnungslosigkeit ist der schlimmste Betrug, und es ist die kälteste Art der Verführung anzunehmen, daß der Feind die Oberhand gewinnen wird”[32] — Marge Piercy). Wir dürfen unseren Schmerz und Ärger nicht in Hoffnungslosigkeit oder in kurzsichtigen Halblösungen verblassen lassen. Was wir tun ist nicht ausreichend, aber andererseits sind die „kleinen Veränderungen in unseren Köpfen, in unserem eigenen Leben und in unseren Gemeinschaftsaktivitäten nicht vollkommen wertlos oder unwirksam. Eine lange Zeit ist notwendig, um eine Revolution zu machen: es ist etwas, auf das man sich vorbereitet und für das man jetzt lebt. Die Umwandlung der Zukunft wird nicht unverzüglich stattfinden, denn sie ist die andauernde Fortsetzung von Gedanken und Aktionen, von Individualität und Kollektivität, Spontaneität und Organisation, sie ist die Ausweitung der Gegenwart in die Zukunft.
Der Anarchismus hält ein theoretisches Gerüst für diese Umwandlung bereit. Er ist eine Vision, ein
Traum, eine Möglichkeit, die wahr wird, wenn wir sie leben. Feminismus ist die Verbindung, die den Anarchismus mit der Zukunft verknüpft. Wenn wir endlich diese Verbindung klar sehen, wenn wir zu dieser Vision stehen, wenn wir uns weigern, der Hoffnung beraubt zu werden, werden wir vom nichtssagenden Dasein in ein Dasein treten, das uns jetzt kaum vorstellbar ist. Die Frauenvision des An- archa-Feminismus haben wir seit Jahrhunderten in unseren weiblichen Körpern getragen. Für jede von uns werden es die Wehen einer ununterbrochenen Anstrengung sein, um diese Vision zu gebären.[33] Aber es gibt kein Zurück. Wir müssen „unseren Zorn wie wutentbrandte Elefanten in den Kampf treiben”.
[1] Emma Goldman, Anarchism: What it really stands for, o.J. (1910). Dt: Anarchismus - seine wirkliche Bedeutung, „anarchistische texte“ Nr. 11, Libertad Verlag, Berlin 1978, S. 20.
[2] Su Negrin, Begin at Start, Times Change Press, 1972, p. 128.
[3] Murray Bookchin, On Spontaneity and Organisation, 1972. Dt.: Spontaneität und Organisation, Karin Kramer Verlag, Berlin 1974, S. 13.
[4] Paul Berman, Quotations from the Anarchists, Praeger Publishers, 1972, p. 68.
[5] Sam Dolgoff, The Anarchist Collectives, Free Life Editions, 1974, p. 27.
[6] Ebenda, pp. 6-7, 85.
[7] Daniel und Gabriel Cohn-Bendit, Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, RoRoRo Aktuell Nr. 1156-1157, Rowolth Verlag, Reinbeck 1968, S. 273.
[8] Vgl. dazu Murray Bookchin, Post Scarcity Anarchism, 1974. Dt.: Die Formen der Freiheit, Verlag Büchse der Pandora, 1977, S. 82-99. Hier findet sich sowohl eine einsichtsvolle Analyse der Pariser Mai-Juni-Ereignisse, als auch eine Diskussion über das revolutionäre Potential in einer technologischen Gesellschaft.
[9] Ebenda, S. 92.
[10] Ebenda, S. 84.
[11] Ebenda, S. 83.
[12] Ebenda, S. 83.
[13] Paul Berman, a.a.0., p. 146.
[14] Murray Bookchin, Post Scarcity Anarchism, p. 40.
[15] Murray Bookchin, On Spontaneity and Organisation, p.
[16] Margaret Atwood, „Song of the Worms”, You Are Happy, Harper & Row, 1974, p. 35.
[17] Mary Daly, Beyond God the Father, Beacon Press, 1973, p. 133.
[18] Cathy Levine, The Tyranny of Tyranny, 1974. Dt.: Tyrannei der Tyrannei - Zur Strukturlosigkeit in Frauengruppen, Schwarze Protokolle Nr. 12, Berlin 1975.
[19] Temma Kaplan von der historischen Abteilung der UCLA hat beträchtliche Nachforschungen über anarchistische Frauengruppen (insbesondere über die ,Mujeres Libres’) in der Spanischen Revolution angestellt. Vgl. dazu auch Mary Nash, Mujeres Libres - Proletarischer Feminismus und die Rolle der Frau in der Spanischen Revolution, Karin Kramer Verlag, Berlin 1979, u. Liz Willis, Women in the Spanish Revolution, Solidarity Pamphlet No. 48, o.J.
[20] Vgl. Joreen, The Tyranny of Structurelessness, dt.: Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen, Schwarze Protokolle Nr. 8, Berlin 1974, u. Cathy Levine, The Tyranny of the Tyranny, dt.: a.a.O., eine anarcha-feministische Entgegnung auf Joreens The Tyranny of the Structurelessness.
[21] Mary Daly, a.a.O., p. 55.
[22] Robin Morgan, Speech at Boston College, Boston, Mass., Nov. 1973.
[23] Su Negrin, a.a.O., p. 171.
[24] Cathy Levine, a.a.O., S. 30.
[26] Die Brüder Cohn-Bendit behaupten, daß einer der Hauptfehler in Paris 1968 das Unterlassen der Übernahme und Kontrolle der Medien, insbesondere des Rundfunks und des Fernsehens war.
[27] Emma Goldman, Syndicalism: Its Theory and Practice, Red Emma Speaks, Vintage Books, 1972, p. 71.
[28] Laurel, Towards a Woman Vision, Amazon Quarterly, VoL 1, No. 2, p. 40.
[29] Mary Daly, a.a.0., p. 23.
[30] Marge Piercy, Provocation of the Dream, o.J. u. Vlg.
[31] Fran Taylor, A Depressing Discourse on Romance, the Individual Solution, and Related Misfortunes, Second Wave, Vol. 3, No. 4.
[32] Marge Piercy, Laying Down the Tower, To be of Use, Doubleday, 1973, p. 88.
[33] Laurel, a.a.0., p. 40.