Paul Henderson
Anarchismus und Syndikalismus in Südamerika 1880 -1930
[1]Im August 1916 wurde Antero Aspíllaga, Eigentümer der Zuckerrohrplantagen von Cayaltí an Perus Nordküste, zunehmend durch die Streikwelle in der Region beunruhigt. Angesichts der Gefahr, daß sich die Unruhe nach Cayaltí selbst ausdehnen könnte, beklagte er die Tatsache, daß „… die heutige Arbeiterklasse nicht mehr wie früher ist, was die Streiks und Forderungen zeigen, die täglich ernster und häufiger werden“.[2] Vier Jahre später bemerkte die chilenische „South Pacific Mail“, die sich mit den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges befaßte: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Weltkrieg die Verhältnisse in Chile wie in jedem anderen Land der Welt grundlegend verändert hat. Wir mögen dies zu verbergen suchen, aber auf Wohlstand und Armut basierende Klassenunterschiede haben sich deutlich ausgeprägt… Die Unruhe in der Industrie hat das Land durchdrungen und die Arbeiterschaft wurde sich in Chile zum ersten Mal ihrer organisierten Macht bewußt.“[3]
Arbeiterunruhen und die Angst auf Seiten der Eliten waren keineswegs auf Peru und Chile beschränkt. In ganz Südamerika brach während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit der Klassenkonflikt offen aus. Die Grundlagen der oligarchischen Herrschaft wurden erschüttert wie nie zuvor, und obwohl die Eliten der Region – allerdings gezwungen, ihre Herrschaftsformen zu modifizieren – die zwanziger Jahre relativ unbeschädigt erreichen sollten, war es klar, daß ihre politische Macht nicht weiter ausgeübt werden konnte, ohne Rücksicht auf die Interessen und Forderungen der Arbeiterklasse zu nehmen.[4]
Hervorstechend bei den Arbeiterunruhen während der Kriegszeit, wie schon vor dem Krieg, waren die Anarchosyndikalisten. Tatsächlich war der Einfluß anarchistisch inspirierter Lehren und Organisationen zu einem Hauptcharakteristikum der Arbeiterbewegung dieser Region geworden. Wo sie nicht dominierend waren, repräsentierten sie zumindest eine bedeutende Strömung. Die Eliten zogen es vor, den Anarchismus und seine Erscheinungen als das Werk subversiver, fremder Agitatoren zu betrachten, als einen unwillkommenen Export aus Europa.[5] Es wurden Einbürgerungsgesetze verabschiedet – 1902 in Argentinien, 1907 in Brasilien und, nach sechs Jahren Verzögerung, 1918 in Chile –, um die Ausweisung unerwünschter Ausländer zu erleichtern. Obwohl es stimmt, daß Immigranten eine bedeutende Rolle bei der Organisation und Agitation von Arbeitern spielten, sollte der Anarchosyndikalismus nicht bloß als Teil des kulturellen Gepäcks europäischer Immigranten gesehen werden. Wie James Morris angemerkt hat, „(sind) die Bedingungen für eine Arbeiterrevolte oder für die Anpassung an die industrielle Ordnung hausgemacht, und wenn fremde Modelle erfolgreich übernommen werden, dann weil sie zu diesen Bedingungen mehr oder weniger passen und nicht, weil sie diese geschaffen haben.“[6] Zuerst der Anarchismus, dann der Anarchosyndikalismus (oder revolutionäre Syndikalismus, wie er oft genannt wird) und in einigen Fällen eine eher praktische, rein syndikalistische Variante von letzterem schienen vielen Arbeitern im Südamerika des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine offensichtlich lebensfähige Lösung der sie bedrängenden Probleme zu bieten. Klassenbewußtsein ist, wie E.P. Thompson feststellte, die Weise, in der Arbeiter sich in kulturellen Begriffen mit ihren Erfahrungen als Proletarier auseinandersetzen.[7] Während dieser Periode, als sich das Tempo der kapitalistischen Umwandlung der Region merklich beschleunigte, wurden die Arbeiter mit rapide wechselnden Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. In der Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen fanden einige von ihnen in anarchistisch inspirierten Lehren einen logischen Ausdruck für ihr aufkommendes Klassenbewußtsein. Noch mehr, mit vielleicht wenig Bezug zur Theorie, wandten sich der anarchosyndikalistischen Praxis zu.[8] In den zwanziger Jahren jedoch nahm die Anziehungskraft des Anarchosyndikalismus ab und neue Wege, Klasseninteressen auszudrücken und voranzubringen, erschienen tragfähiger.
Obwohl Historiker viele Studien über diese wichtige Phase in der Entwicklung der südamerikanischen Arbeiterbewegungen vorgelegt haben, hat es nur wenige Versuche gegeben, einen Rahmen für das Verständnis des Aufstiegs und Falls des Anarchosyndikalismus für die gesamte Region zu liefern.[9] Natürlich unterschieden sich Wachstum und genaue Natur der Arbeiterbewegungen von Land zu Land; sie waren ein Reflex der unterschiedlichen Art, in der sich die ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen Ausdruck verschafften. Diese selbst waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert den unterschiedlichen Charakteristiken der Exportsektoren der jeweiligen Länder geschuldet, durch die Lateinamerika in die Weltwirtschaft integriert wurde. Es war jedoch so, wie Hobart Spalding beobachtet hat: „Der Einfluß externer Vorkommnisse und heimisch fremder Interaktionen bestimmte diese breiten Trends, die in etwa zur gleichen Zeit in ganz Lateinamerika aufkamen.“[10] Der Anarchosyndikalismus war einer dieser Trends und dieser Text zielt deshalb darauf ab, einen Überblick über seine Ursprünge, die Gründe für seine Anziehungskraft und für seinen Niedergang zu geben.[11]
Im wesentlichen kann die Entwicklung des Anarchosyndikalismus in drei Perioden eingeteilt werden. Die erste, von etwa 1880 bis 1900, sah das Aufkommen und die Verbreitung der anarchistischen Lehre in ihrer reinen oder individualistischen Form. Die meisten Anarchisten würden wahrscheinlich mit dem Peruaner Manuel Gonzales Prada übereingestimmt haben, daß „… wir das Ideal der Anarchisten genau definieren können als unbegrenzte Freiheit und höchst mögliches Wohlergehen des Individuums durch die Abschaffung des Staates… Der Anarchist lehnt Gesetze, Religionen und Nationalitäten ab und erkennt nur eine Macht an: die des Individuums.“[12] In erster Linie durch die Ideen von Michael Bakunin beeinflußt, traten Intellektuelle und einige Gruppen von Arbeitern, vor allem Drucker und Bäcker, für den Anarchismus ein und begannen, ihn in einer Reihe von Publikationen zu propagieren. Deren Verbreitung war zweifellos gering und ihre Lebensdauer oftmals kurz, aber trotzdem boten sie eine Alternative sowohl zu den Gesellschaften für gegenseitige Hilfe, die innerhalb des existierenden Systems zu arbeiten versuchten, als auch zu den vorherrschenden Wertvorstellungen der südamerikanischen Eliten.[13] Dies war eine Periode, in der so etwas wie eine Arbeiterklasse gerade erst begann, sich zu formieren und sich mit den neuen Erfordernissen der für die Region spezifischen kapitalistischen Entwicklung auseinanderzusetzen. In einigen Ländern, vor allem in Argentinien, war dieser Prozeß weiter vorangeschritten als in anderen. Das soll jedoch nicht etwa bedeuten, daß der Anarchismus nur die Vorgeschichte der Arbeiterbewegungen darstellte. Wie wir sehen werden, war der Einfluß der Anarchismus noch lange nach seiner Hochzeit weiterhin spürbar.
Die zweite Periode, etwa von der Jahrhundertwende bis 1920, sah das Aufkommen einer offensichtlich moderneren Arbeiterklasse; mit dieser änderte sich die Betonung weg von den utopischen Zielen des Anarchismus und den propagandistischen Aktivitäten kleiner Zirkel von Anhängern, und hin zu einem eher syndikalistischen Erscheinungsbild, das bei einem viel größeren Publikum auf Interesse stieß. Obwohl die langfristigen Ziele des Anarchismus in der anwachsenden Zahl anarchosyndikalistischer Publikationen noch stolz verkündet wurden, legte man weniger Aufmerksamkeit auf die Natur der zukünftigen Gesellschaft als auf die Frage, wie der Kampf gegen die unterdrückerische Natur der gegenwärtigen, sich rapide verändernden Gesellschaft zu führen sei. Als die Arbeiterschaft zunehmend an größeren Arbeitsplätzen organisiert wurde und die Arbeiter selbst anfingen, ein Bewußtsein ihrer kollektiven Interessen zu zeigen, begannen einige Anarchisten, in den Gewerkschaften ein Mittel des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus zu sehen.[14] Es sollte betont werden, daß diese Wende keinesfalls eine Art logische, vorherbestimmte Stufe eines teleologischen Prozesses darstellt. Arbeiter fällen, wie Jeremy Adelman betont hat, ihre eigenen Entscheidungen und machen ihre eigene Geschichte, aber, so muß mit der oft gebrauchten Wendung von Marx hinzugefügt werden, nicht unter Umständen, die sie selbst auswählen können.[15] Viele der gegründeten Gewerkschaften waren lokale Einrichtungen und oft von kurzer Lebensdauer; häufig hielten sie nur so lange, wie ein Streik dauerte. Die Unternehmer behielten im allgemeinen die Oberhand, da sowohl der Arbeitsmarkt als auch die staatliche Politik Gewerkschaftsorganisationen erschwerten. Die Art der gewerkschaftlichen Organisierung variierte von Land zu Land. So waren beispielsweise viel mehr argentinische Arbeiter organisiert als Arbeiter in Peru, wo die Gewerkschaften schwächer waren und es vielleicht angemessener wäre, von einem syndikalistischen Impuls in der Arbeiterklasse zu sprechen. Dies ist als eine Konsequenz aus der langsameren Entwicklung eines Proletariats in Peru zu sehen, als Ausdruck der dort vonstatten gehenden begrenzteren kapitalistischen Umwandlung.
Wie dem auch sei: In der ganzen Region war eine Bindung seitens einer wachsenden Zahl von Arbeitern an die grundlegenden Merkmale des Anarchosyndikalismus offensichtlich. Van der Linden und Thorpe haben diese definiert als: 1. positive Einstellung zum Klassenkrieg und ausgesprochen revolutionäre Zielsetzungen, die im Sturz des Staates gipfeln; 2. diese Ziele sollen erreicht werden durch die kollektive, direkte Aktion der Arbeiter, beispielhaft durch den Generalstreik; 3. Arbeiter organisieren sich am Ort der Produktion mit Gewerkschaften als Mittel des Kampfes.[16] Dies zusammen genommen ergibt eine Zurückweisung der Politik, die als Ablenkung vom wirklichen Kampf der Arbeiter verstanden wurde. Es ist beinahe eine Ironie, daß die Anarchosyndikalisten Marx' eigenes Diktum, die Emanzipation der Arbeiter könne nur das Werk der Arbeiter selbst sein, an dessen Anhänger zurückgeben konnten.
Die dritte Periode, die zwanziger Jahre, sah eine rapide Abnahme des Einflusses des Anarchosyndikalismus. Ein allen Bewegungen gemeinsames Element war die staatliche Unterdrückung, aber das Schicksal des Anarchosyndikalismus unterschied sich von Land zu Land. Die schlimmste Unterdrückung fand in Brasilien statt. Trotzdem gelang es, so Wolfe, Textilarbeitern in São Paulo, zumeist Frauen, eine syndikalistische Organisation auf Fabrikebene zu behaupten.[17] In Argentinien gab es Schritte zu einer moderateren Form des Gewerkschaftertums, das durch das Regime von Yrigoyen nicht ungünstig aufgenommen wurden. Obwohl die „Industrial Workers of the World“ (IWW) („Wobblies“) bis Ende der zwanziger Jahre einigen Einfluß unter den chilenischen Hafenarbeitern behielten, wandten sich die Arbeiter verstärkt der Politik zu, und die Kommunistische Partei und später die Sozialistische Partei (in der viele Syndikalisten wichtige Positionen innehatten) verliehen der chilenischen Arbeiterklasse eine mächtige und dauerhafte Stimme. Die Arbeiter in Peru wandten sich ebenfalls der Politik zu, aber dort fand unter den wachsenden städtischen Massen Haya de la Torres' „Alianza Popular Revolucionario Americana“ (APRA) und der Populismus eine größere Anhängerschaft als der Marxismus Mariáteguis.
Nach diesem kurzen Überblick über die Entwicklungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert folgt eine detailliertere Betrachtung über die Faktoren, die die südamerikanischen Arbeiter zum Anarchosyndikalismus hinzogen und schließlich ein Blick auf die Ursachen des Niedergangs dieser spezifischen Strömung in der Arbeiterbewegung der Region.
Anarchismus
Während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts übten bakunistische Ideen einigen Einfluß in Südamerika aus. Obwohl seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einige Spielarten des europäischen utopischen Sozialismus dort Anhänger hatten, begann der Anarchismus in genau dem Moment Auswirkungen zu zeigen, als die Region zunehmend durch Handel, Investitionen und Finanzen in die Weltwirtschaft integriert wurde. Genauso wie die Eliten auf der Suche nach Ideen und kulturellen Werten im allgemeinen ihren Blick nach Europa richteten, taten es die kleinen, abweichenden Minderheiten – Intellektuelle und Arbeiter –, und sie fanden eine Reihe europäischer Werte, von denen die Eliten nicht so begeistert waren, sie nach Südamerika zu bringen. Die Immigration spielte eine führende Rolle in der Übermittlung anarchistischer Ideen. Obwohl, wie schon anfangs betont, der Anarchismus nicht ausschließlich ein weiterer europäischer Export war, waren Italiener und Spanier führend in dessen Propagierung. Der Italiener Errico Malatesta etwa, der von 1885 bis 1889 im argentinischen Exil lebte, engagierte sich in propagandistischer Arbeit und war, vielleicht den eher pragmatischen Flügel des Anarchismus repräsentierend, am Entwurf der Statuten einer Gewerkschaft der Bäckereiarbeiter und verschiedener anderer Gewerkschaften in Buenos Aires beteiligt.[18] Europäer, Anhänger von Fourier und anderen, versuchten auch, utopische Gemeinschaften in Südamerika zu errichten, obwohl sie wahrscheinlich nicht viel unternahmen, um Unterstützung für die anarchistische Sache zu gewinnen. Prominent unter diesen war Giovanni Rossi, der 1890 aus Italien nach Brasilien kam und die Versuchskolonie „Cecilia“ gründete, die vier Jahre lang existierte.[19] Umgekehrt reisten einige südamerikanische Intellektuelle, so der Peruaner Manuel Gonzales Prada, nach Europa, wo sie anarchistischen Ideen begegneten und zurückkehrten, um Agitation und Propaganda zu betreiben.
Im Rahmen der massiven europäischen Immigration nach Südamerika, insbesondere nach Argentinien und Brasilien, kamen eindeutig auch Personen, die anarchistische Propaganda betreiben konnten. Um 1914 bestand fast die Hälfte der Einwohner von Buenos Aires aus Immigranten, und obwohl prozentual die Immigration in Brasilien weniger bedeutend war, stellten um 1920 Immigranten 51% der Industriearbeiterschaft und 58% der Transportarbeiter im Staate São Paulo.[20] Natürlich waren nicht alle Immigranten überzeugte Anarchisten. Wahrscheinlich war die überwältigende Mehrheit im Grunde auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Familien. Trotzdem müssen sie, nachdem sie sich einmal niedergelassen hatten, einen Gradmesser für die Aufnahme anarchistischer Ideen geliefert haben. Den Beweis hierfür kann man in der Arbeiterpresse finden. Von den 144 brasilianischen Titeln, die sich im IISG in Amsterdam befinden, sind 33 in italienischer Sprache. Die italienischsprachige Zeitung „L'Avvenire“ war eine der führenden argentinischen anarchistischen Publikationen. Artikel in russischer Sprache wurden ebenfalls von Zeit zu Zeit veröffentlicht. Die große Ausdehnung der anarchistischen Presse verweist auf eine entsprechende Anhängerschaft der anarchistischen Lehre seitens einer zumindest kleinen Minderheit der Arbeiter. Ohne diese wäre die Bewegung bestenfalls irrelevant gewesen, ein Tummelplatz einiger Intellektueller, schlimmstenfalls wäre sie verschwunden.
Es scheint deshalb so gewesen zu sein, daß der Anarchismus für eine Weile mit dem Bewußtsein einiger Arbeitergruppen in Südamerika verbunden war. Peter Blanchard behauptet mit einem Verweis auf die Arbeit von Victor Alba, daß er im Falle Perus auf „Handwerker, die Autodidakten waren und kleine Unternehmen schätzten und deshalb im Wachstum der Industrie eine Bedrohung ihrer Lebensweise sahen, und auf das Proletariat, das das Ergebnis dieser Industrialisierung war und seine Arbeits- und Lebensbedingungen unerträglich fand“, eine Anziehung ausübte.[21] Obwohl man weder das Ausmaß der Industrialisierung überschätzen, noch annehmen sollte, daß die Handwerker durch die Industrie völlig ausgepreßt worden sind, waren beide genannten Gruppen im späten 19. Jahrhundert in der Region zu finden. Im allgemeinen bekam der Anarchismus auch Unterstützung von Arbeitern aus kleinen Betrieben. So brachte die anarchistische Presse der Periode regelmäßig Berichte über den Einfluß anarchistischer Ideen unter den Bäckern, Schustern, Schneidern, Zigarettenmachern, Druckern, Arbeitern in Reparaturwerkstätten und im Hotel- und Gaststättengewerbe.[22]
Die Anziehungskraft des Anarchismus muß in vielerlei Hinsicht eher kulturell als strikt ideologisch gewesen sein. Die Parteinahme für den Anarchismus kann als eine Reaktion auf die kapitalistische Umwandlung gesehen werden, die in der ganzen Region an Tempo wiegte. Sie war auch eine Reaktion gegen diese Umwandlung seitens der Arbeiter, die darum kämpften, ihre Rolle in ihr einzunehmen. Die Gesellschaft, in der sie lebten, war hart und oftmals grausam. Viele von ihnen wollten nichts von ihr wissen und der Anarchismus bot eine verführerische Vorstellung einer Alternative. Eric Hobsbawm hat in Bezug auf den millenaristischen Charakter des Anarchismus in Südspanien festgestellt, daß „… der gewissenhafte Anarchist (nicht) wünschte, die schlechte Welt zu zerstören… sondern sie hier und jetzt ab(lehnte).“[23] Der Anarchismus versprach eine neue moralische Ordnung und seine Publikationen forderten ihre Leser regelmäßig dazu auf, nicht auf die Revolution zu warten, sondern eine neue anarchistische Moralität sofort zu entwickeln.[24]
Als Teil dieser neuen Moralität rief die anarchistische Presse dazu auf, eine aufgeklärtere Haltung gegenüber den Frauen seitens der Männer einzunehmen und drängte auch die Frauen, ihre Fesseln abzuwerfen und sich mit den Männern im Kampf um die Befreiung zusammenzuschließen.[25] Die argentinische Zeitung „La Voz de la Mujer“, von Frauen für Frauen geschrieben, kann in ihrem Erscheinungsbild als anarchofeministisch beschrieben werden.[26] Offensichtlich gegen einige Opposition von männlichen Anarchisten rief die Zeitung zur freien Liebe und zur Abschaffung der Familie auf. Angesichts der herrschenden Moral und der religiösen Werte der Zeit, sowie der Tatsache, daß die Familie (obwohl für einige ein Instrument der Unterdrückung) einen gewissen Grad von Sicherheit für viele Frauen der Arbeiterklasse schuf, bedeutete dies, daß die Zeitung wahrscheinlich keine weit verbreitete Unterstützung erreichen konnte.[27] Tatsächlich glänzten die Probleme von Arbeiterinnen auf den Seiten der „La Voz de la Mujer" durch Abwesenheit. Die Anarchisten und Anarchosyndikalisten fuhren jedoch fort, die Stellung der Frauen zu diskutieren, insbesondere die Frage der Frauenarbeit, und ihre Haltungen zu dieser waren oft ambivalent und wirklich paternalistisch. Viele sahen in der Frauenarbeit eine Gefahr für Gesundheit und Moral der Frauen sowie für die Beschäftigung von Männern.[28]
Die millenaristische Sicht des Anarchismus sprach auch die Immigranten an, insbesondere deren Wurzellosigkeit und enttäuschte Erwartungen, erwiesen sich doch die Bedingungen, die sie vorfanden, als weit entfernt von denen, die sie erwartet hatten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der immigrierten Arbeiter in den Großstädten Argentiniens und Brasiliens waren elendig und, wie Gordon in Bezug auf die Anziehung des Anarchismus auf Immigranten in Brasilien gesagt hat, „... (es) war die Erfahrung, in Brasilien zu arbeiten, die sie zu dieser Philosophie brachte.“[29] Aber der Anarchismus war nicht begrenzt auf Länder mit einer großen Immigrantenpopulation, wie sein Einfluß in Peru und Chile zeigt. In diesen Ländern lebten die Arbeiter unter ähnlichen Bedingungen, und für viele bot der Anarchismus die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Anarchosyndikalismus
Um die Jahrhundertwende entwickelte sich der Anarchismus – obgleich er, wie z.B. die Verwicklung des Anarchismus in die „semana trágica“ in Buenos Aires im Januar 1919 zeigte, nicht ganz verschwand – zum Anarchosyndikalismus. In anarchistischen Kreisen gab es Debatten über die Gewerkschaftsfrage. Auf der einen Seite betrachteten die „reinen“ Anarchisten Gewerkschaften als reformistisch und begrenzt, weil sie nicht dem Sturz des Kapitalismus und seiner Ersetzung durch eine neue Gesellschaft verpflichtet waren; sie sahen eine Mitarbeit in ihnen als Verrat an. Auf der anderen Seite hatte sich eine breitere und pragmatischere Strömung gebildet, die anfing, für den Syndikalismus Partei zu ergreifen.[30] Ideologen, Gewerkschaftsführer und ohne Zweifel viele der einfachen Arbeiter hielten noch an den utopischen Idealen des Anarchismus fest und entschieden revolutionäre Gewerkschaften wie die IWW in Chile erfreuten sich beträchtlicher Unterstützung. Für die meisten Arbeiter jedoch wurde die Utopie zu einer zunehmend entrückteren Perspektive. Sie wandten sich dem Anarchosyndikalismus zu, weil er unmittelbare und leicht verständliche Ziele anstrebte.
Der Zeitpunkt dieser Entwicklung ist nicht zufällig. In weiten Teilen Südamerikas brachten die Jahre 1900-1914 spektakuläre Wachstumsraten der Wirtschaft mit sich. Es war das goldene Zeitalter der durch den Export bestimmten Entwicklung, charakterisiert durch einen Anstieg der Exporte, Importe, Auslandsinvestitionen, der Immigration, Verstädterung und sogar einer begrenzten Industrialisierung. Argentinien stellt den klassischen Fall dar, aber im allgemeinen geschah der gleiche Prozeß überall in der Region. Er brachte das Anwachsen einer ausgeprägteren kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft mit sich, das die Klassenlinien deutlicher hervortreten ließ. Für die Arbeiter in ganz Südamerika schien die Kapitalakkumulation ihre eigenen Errungenschaften bei weitem aufzuwiegen. Marcel van der Linden und Wayne Thorpe haben eine Reihe von Faktoren ausgemacht, deren Kombination zum Anwachsen des Anarchosyndikalismus zu einer Hauptströmung innerhalb der Arbeiterbewegung auf internationaler Ebene führte und die im südamerikanischen Kontext eine große Bedeutung haben.[31]
1. Die wachsende Radikalisierung der Arbeiter
Den Hintergrund des Anwachsens des Anarchosyndikalismus gab die wachsende Radikalisierung der Arbeiter ab.[32] Obwohl die Bildung von Gewerkschaften, die Häufigkeit von Streiks und das Wachstum der Arbeiterpresse nur Teil eines Gesamtbildes sind, liefern sie doch einen Maßstab für Tempo und Ausmaß der Radikalisierung der Arbeiterklasse. In allen in diesem Text erwähnten Ländern sahen die Eliten die in wachsendem Maße häufiger, gewalttätiger und umfangreicher werdenden Streiks mit erheblicher Beunruhigung.[33] Diese wurden oft durch neu gegründete regionale und nationale Vereinigungen wie Argentiniens 1904 gegründete „Federación Obrera Regional Argentina“ (FORA) koordiniert. Städtische Arbeiter standen in den Streikwellen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts an herausragender Stelle, aber bis zum Ersten Weltkrieg hatte die organisierte Militanz ländliche Gebiete in Peru erreicht, wo 1912 die Landarbeiter der Zuckerrohrplantagen streikten.[34] In diese Periode fallen auch die ersten Generalstreiks in südamerikanischen Städten. Diese entwickelten sich oft aus begrenzten Streiks besonderer Gruppen von Arbeitern, die durch ihr Beispiel andere einbezogen. Die meisten Forderungen drehten sich um Lohnerhöhungen, doch manchmal streikten die Arbeiter auch für die Anerkennung der Gewerkschaften, aus Solidarität mit anderen Arbeitern und für eine Verkürzung des Arbeitstages, eine besonders populäre Forderung unter den Syndikalisten, weil alle Arbeiter sich um diese Forderung vereinigen konnten.[35] Der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung war im allgemeinen niedrig, aber viele Streiks, so Munck, riefen unorganisierte Arbeiter auf den Plan und gaben so den Gewerkschaften einen Einfluß, der weit über ihre eigene Mitgliedschaft hinausging.[36] Obwohl achtbare Siege errungen wurden, war die Erfolgsquote von Streiks begrenzt. Staatliche Repression, der Einsatz von Streikbrechern und die allgegenwärtige Drohung der Arbeitslosigkeit zusammengenommen ließen den tatsächlichen Erfolg eines Streiks zu einer schwierigen Aufgabe werden. Doch die Arbeiter Südamerikas, mit einer herausragenden Rolle der Anarchosyndikalisten, gewährleisteten, daß der moderne Klassenkonflikt zu einem hervorstechenden Merkmal der für die Region typischen kapitalistischen Entwicklung geworden war.
Es gibt eine Reihe verschiedener Gründe für die wachsende Radikalisierung der Arbeiter in dieser Periode. Keiner für sich allein genommen stellte eine ausreichende Bedingung der Radikalisierung dar, aber zusammengenommen können sie diese verständlich machen. An erster Stelle war die Lage der Arbeiter, sowohl an ihrem Arbeitsplatz als auch zu Hause, beinahe überall furchtbar. Arbeiter in den Zentren der Großstädte in der gesamten Region lebten in ungesunden, überbevölkerten und oftmals teuren Wohnblocks. Es gab reichlich Probleme mit der Gesundheitsfürsorge, und die Sterblichkeitsrate war hoch. Für Arbeiter mit einem vollen Arbeitstag waren die Stunden lang, der Lohn niedrig, Sicherheitsstandards minimal, und die Drohung mit Entlassung und Arbeitslosigkeit war allgegenwärtig.[37] Teilzeitarbeit war weit verbreitet und brachte zusätzliche Unsicherheiten mit sich.[38] Fabrikeigene Läden, die Kreditvergabe zu sehr hohen Zinsraten und die Niederträchtigkeit des enganche-Systems[39] waren nur einige der zusätzlichen Probleme, denen sich Berg- und Landarbeiter in isolierten Gegenden gegenüber sahen. Unter solchen Umständen überrascht es kaum, daß eine wachsende Zahl von Arbeitern der ganzen Region meinte, sie hätten durch Militanz nur wenig zu verlieren.
Zweitens fanden sich die Arbeiter selbst in einer nicht regulierten Konfrontation mit dem Kapital. Die Verpflichtung der Eliten auf die Prinzipien des laissez-faire sorgten dafür, daß eine Arbeitsgesetzgebung vor dem Ersten Weltkrieg minimal war.[40] Die Unternehmer ließen jedoch keinen Zweifel daran, daß der Staat angerufen werden konnte, um wenn nötig, die Ordnung wieder herzustellen. Die „soziale Frage“ war in Südamerika, wie es in Brasilien umschrieben wurde, „eine der Polizei“.[41] Manchmal wurden Auseinandersetzungen mit schier außergewöhnlichen Repressionsmaßnahmen entschieden. Der Einsatz von Gewalt seitens des Staates war in der Region allgemein verbreitet, aber der vielleicht tragischste Fall ereignete sich auf dem Gelände der Escuela Santa María in Iquique, Chile, wo 1907 Truppen Nitratarbeiter und deren Familien angriffen, die sich versammelt hatten, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Der Blutzoll lag bei über tausend Toten. Obwohl eine solche Repression der Arbeiterbewegung harte Schläge versetzte, bestätigte sie aber auch vielen Arbeitern, daß der Staat alles andere als eine neutrale Institution war, sondern vielmehr – wie die Anarchosyndikalisten behaupteten – das Unterdrückungswerkzeug der Unternehmer.
Als dritter Punkt ist zu beachten, daß die städtischen Arbeiter dazu neigten, in einer weitestgehend homogenen Nachbarschaft zu leben. Zusammengepfercht in miserablen Mietshäusern und Mietskasernen, oftmals mit vielen Familien in nur einem Raum, waren sich die Arbeiter ihrer kollektiven Lage nur allzu bewußt. Diese Umstände dienten ohne Zweifel der Erhöhung des Klassenbewußtsein und förderten den Grad der Solidarität. 1907 umfaßte ein Mieterstreik in Buenos Aires, bei dem Anarchisten führend waren, ungefähr 120.000 Menschen; der Streik breitete sich zudem nach Rosario und Bahía Blanca aus. Das Ergebnis fiel unterschiedlich aus, aber zumindest einige Hausbesitzer stimmten zu, die Mieten niedrig zu halten.[42] Die Haltung der Gewerkschaften aber war lauwarm. Obwohl sie ihre Unterstützung für die Mieter erklärten, waren sie doch eher mit Unternehmern als mit Hausbesitzern beschäftigt. Darüberhinaus erleichterten die Verbesserungen im öffentlichen Verkehr, zumindest in Buenos Aires, einen Umzug in die Vororte, was die Wahrscheinlichkeit einschränkte, Haus- und Arbeitskämpfe zu einem Ganzen zusammenzuführen.[43]
Ein abschließender Faktor, der teilweise verantwortlich war für die Radikalisierung der Arbeiter und der zweifelsohne den Anarchosyndikalisten zugute kam, war der Ausschluß der Arbeiter aus der Politik. In ganz Südamerika war das Wahlrecht extrem eingeschränkt und Wahlpolitik blieb das Vorrecht der Eliten. In Brasilien schloß die Bedingung, des Lesens und Schreibens mächtig zu sein, ganze 75,5% der Bevölkerung von den Wahlen aus, die im Jahre 1920 Analphabeten waren.[44] Ähnliche Restriktionen herrschten in Chile und Peru, trotz der Wahl von Guillermo Billinghurst in Peru 1912, die eher der direkten Aktion der Arbeiter geschuldet war als ihren Stimmen.[45] In Argentinien indes weitete die Landoligarchie mit der Verabschiedung des Sáenz-Peña-Gesetzes 1912 das Wahlrecht auf die Mittelklasse und auf die im Land geborenen und eingebürgerten männlichen Arbeiter aus. Es blieb jedoch weiterhin sehr schwierig, die argentinische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Während die Anarchosyndikalisten immer noch gute Gründe hatten, die Fassade der bürgerlichen Politik bloßzustellen, waren die Stärke des Stimmenanteils der Arbeiterklasse und die Wahlerfolge der Sozialistischen Partei in Buenos Aires zumindest teilweise für die scheinbar versöhnliche Politik seitens der Unión Cívica Radical-Regierung von Hipélito Yrigoyen von 1916 gegenüber der Arbeiterschaft verantwortlich.[46] Diese teilweise Öffnung des politischen Systems, in dieser Phase in Argentinien fortgeschrittener als sonstwo, sollte bedeutende Konsequenzen für die Zukunft sowohl des Anarchosyndikalismus als auch der gesamten Arbeiterbewegung haben. Die Ablehnung und Anklage der Politik durch den Anarchosyndikalismus erschien aber trotzdem logisch, da es den meisten Arbeitern in der Region weiterhin unmöglich gemacht wurde, Zugang zum politischen Geschehen zu erhalten und sie auf ihre eigenen Anstrengungen setzen mußten, um Veränderungen herbeizuführen.
2. Der Arbeitsprozeß und die Streikwaffe
Die kapitalistische Umwandlung Südamerikas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert brachte Änderungen in der Zusammensetzung und Struktur der Arbeiterklasse mit sich. Das Wachstum der Leichtindustrie und die Entwicklung des Transportwesens erhöhten das Tempo der Proletarisierung, und Arbeiter wurden zunehmend in größeren Unternehmen konzentriert. In vom Außenhandel in höchstem Maße abhängigen Ökonomien, von denen die Regierungen viele ihrer Einkünfte erhielten, fanden sich die im Exportsektor oder ihm dienenden Beschäftigungen tätigen Arbeiter in einer machtvollen Verhandlungsposition. Während Streiks der Textilarbeiter einzelne Unternehmer treffen konnten, gingen die der Hafenarbeiter, der Eisenbahner und der Bergleute an die Substanz der Exportindustrie. Es kann kaum Zweifel geben, daß sich die Arbeiter dessen bewußt waren, und es ist wohl kein Zufall, daß diese Gruppen der Arbeiter für die wichtigsten und dramatischsten Streiks dieser Periode verantwortlich waren.[47] Dieses Bewußtsein ihrer kollektiven Stärke und die Macht der Streikwaffe stimmten mit der anarchosyndikalistischen Betonung der direkten Aktion überein.
Im Zentrum des Anarchosyndikalismus stand der Generalstreik. Durch Zusammenführung der Arbeiter, nicht nur der gewerkschaftlich organisierten, auf Industrie- und Stadtebene, wurden Generalstreiks, oft von beträchtlicher Gewalt begleitet, zwischen 1900 und den frühen zwanziger Jahren eine unerwünschte Realität für Unternehmer und Regierungen. Feindliche Kommentatoren waren schnell dabei, in diesen hochkarätigen Entfaltungen des Klassenkonflikts auf den Einfluß der Anarchosyndikalisten hinzuweisen. Für militante Arbeiter in Schlüsselsektoren der Wirtschaft stellte der Generalstreik einen mächtigen Ausdruck der Klassensolidarität dar, für einige eine revolutionäre Herausforderung des Kapitalismus. Selbst ihre weniger radikalen Kollegen dürften in ihm eine mächtige Waffe gesehen haben, über die sie verfügten, wenn alles andere mißlang. Tatsächlich zeigte ihre Teilnahme an diesen Streiks, daß sie, obgleich sie selbst keine ausgesprochenen Anarchosyndikalisten waren, trotzdem bereit waren, in Aktion zu treten, wenn sie meinten, daß die bevorzugte Taktik der Anarchosyndikalisten sich hinsichtlich von Verbesserungen der Arbeitslöhne und -bedingungen auszahlen würde.
3. Die Ablehnung alternativer Strategien der Arbeiterbewegung
Der Einfluß des Anarchosyndikalismus kann auch als eine bewußte Ablehnung alternativer Strategien für die Arbeiterbewegung durch viele Arbeiter gesehen werden. Obwohl der Anarchismus nicht völlig verbraucht war, sah man in ihm in wachsendem Maße eine Sackgasse. Die Stärke der Arbeiter aus Industrien oder Dienstleistungssektoren, die für das Funktionieren der Exportindustrie lebenswichtig waren, lag in ihrer Fähigkeit, das Kapital kollektiv zu konfrontieren. Die anarchistische Betonung des Individualismus korrespondierte kaum mit ihren Arbeits- und Lebensbedingungen. Darüberhinaus schien die mit dem Anarchismus assoziierte Gewalt, ob individuell oder kollektiv, lediglich in Blutbad und Repression zu enden.[48]
Sozialistische Parteien waren in der Region schon um die Jahrhundertwende in Erscheinung getreten, aber ihre Sache erschien unter den damals herrschenden Umständen nicht überzeugend und ihr Erfolg war begrenzt. Der Sozialismus in Peru und Brasilien machte vor dem Ersten Weltkrieg nur kleine Fortschritte, aber einige Wahlerfolge wurden in Chile und vor allem in Argentinien errungen.[49] Abgesehen von der partiellen Ausnahme Argentiniens nach 1912 machte die vom reformistischen Sozialismus betriebene Orientierung auf Wahlen wenig Sinn für die Arbeiter, insbesondere die Immigranten, die vom formalen politischen Geschehen ausgeschlossen waren. Wenn Erfolge errungen werden sollten, dann mußten sie aus der direkten Aktion der Arbeiter selbst resultieren.
Wie wir sehen werden, wurde der Anarchosyndikalismus selbst als lebensfähige Strategie nach dem Ersten Weltkrieg weitestgehend abgelehnt. In Argentinien aber begann dieser Prozeß schon vor 1919. Die revolutionären Ziele der Bewegung wichen hier einer offeneren reformistischen Form des Syndikalismus, die durch die 1909 gegründete „Confederación Obrera Regional Argentina“ (CORA) repräsentiert wurde. Die Arbeiter waren sich sehr wohl bewußt, daß Verbesserungen der Arbeitslöhne und -bedingungen durch Verhandlungen mit den Unternehmern erreicht werden können. Eingewanderte Arbeiter, denen es klar wurde, daß sie wahrscheinlich nicht ihr Glück machen und reich nach Hause zurückkehren würden, suchten stattdessen das Beste aus ihrer Lage zu machen. Streiks, obgleich immer noch militant, wurden deshalb eher als Mittel zur Erreichung unmittelbarer ökonomischer Ziele gesehen denn als Wegbereitung der Revolution. Gewerkschaftsführer dürften immer noch dem Sturz des Kapitalismus verpflichtet gewesen sein, aber in der Praxis reagierten sie auf die alltäglichen, dringlicheren Sorgen ihrer Mitglieder. Diese Tendenz wurde ausgeprägter durch die Wahl des Radikalen Yrigoyen im Jahre 1916; während dessen Präsidentschaft nahm man zunehmend an, daß der Staat für die Forderungen der Arbeiterschaft nicht völlig unzugänglich sei und er gelegentlich tatsächlich in ihrem direkten Interesse handeln könne.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen
Ungeachtet des Aufkommens einer reformistischen Variante des Syndikalismus in Argentinien, kündigte der Ersten Weltkrieg eine Periode an, in der die Intensität des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit in Südamerika einmalig war. Während der frühen Kriegsjahre schwächten die ökonomische Störung und das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit ernsthaft die Arbeiterbewegung der Region und das Ausmaß der Streikaktivitäten ging gegen null. Um 1917 aber hatte eine ökonomische Wende, basierend auf Preiserhöhungen für Rohstoffexporte, die Arbeitslosigkeit spürbar reduziert und die Arbeiterschaft gewann wieder ihr Selbstvertrauen. Die Erfahrungen Brasiliens während des Krieges unterscheiden sich von denen anderer Länder, aber sogar dort schlossen sich die Arbeiter ihren Kollegen anderenorts in einem Ausbruch von Militanz an.[50] In allen Ländern fanden immer häufiger Streiks statt und 1919 gab es Generalstreiks in Argentinien, Peru und Brasilien.
Während Inflation, fallende Reallöhne und das hohe Niveau der von den Unternehmern gemachten Profite die Vehemenz der Arbeiterunruhen schürten, muß die Periode auch als solche gesehen werden, in der die Arbeiter zusammen mit unzufriedenen Elementen der städtischen Mittelklasse die bislang stärkste Herausforderung für die alten Oligarchien bedeuteten.[51] Darüberhinaus stellten die von den Arbeitern Südamerikas geführten Kämpfe einen Teil des weltweiten Aufschwungs der Arbeiter dar, wie er am deutlichsten durch die Oktoberrevolution symbolisiert wurde. Über den Sieg der Bolschewiki wurde in der Arbeiterpresse ausführlich berichtet, und er steigerte sichtlich den Mut, als die Konfrontation mit dem Kapital gegen Ende des Krieges bitterer und blutiger wurde. Die Anarchosyndikalisten mit ihrer Betonung von direkter Aktion und Generalstreik waren zu dieser Zeit auf dem Gipfel ihres Einflusses, und die Eliten der Region waren schnell dabei, sie für die Unruhen zur Verantwortung zu ziehen.
Der Niedergang des Anarchosyndikalismus
Von den Jahren 1920-1921, als der kurze Nachkriegsboom nachgelassen hatte, auf diese Periode zurückblickend, wären die Arbeiter berechtigt gewesen zu fragen, welche unmittelbaren Vorteile ihre Anstrengungen gebracht hatten. Bemerkenswerte Zugeständnisse, wie der Acht-Stunden-Tag in Peru, waren erreicht worden, aber zu einem hohen Preis und viele wurden bald wieder rückgängig gemacht, als sogar vorgeblich reformerische Regierungen die Initiative zurück eroberten. Die Anarchosyndikalisten, die oft führende Positionen in Streikbewegungen einnahmen, hatten viel versprochen und gefordert, aber wenig erreicht. Während der zwanziger Jahre begann ihr Einfluß abzunehmen und in den dreißiger Jahren waren sie als eine unabhängige Strömung in den Arbeiterbewegungen Südamerikas eine verschlissene Kraft. Drei Faktoren waren im großen und ganzen verantwortlich für den Niedergang des Anarchosyndikalismus.
Erstens kehrten in Argentinien und Brasilien Unternehmer und Staat zurück zu den bewährten Methoden der Unterdrückung. Die „semana trágica" in Buenos Aires endete in einem Blutbad.[52] Sie war auch eine weitere Offenbarung der Isolation der Anarchisten, die von den Syndikalisten im Stich gelassen wurden und dann den Angriffen der neu gebildeten arbeiterfeindlichen und gegen Immigranten eingestellten „Liga Patriótica Argentina“ ausgeliefert waren.[53] In Brasilien taten sich ähnliche Organisationen, wie etwa die „Liga da Defesa Nacional" und „Ação Social Nacionalista", mit der Staatsmacht zusammen, um die Arbeiterbewegung zu dezimieren. Verhaftungen und Deportationen ließen letztere angesichts einer anhaltenden Unterdrückung unter dem von 1922-1926 herrschenden Belagerungszustand effektiv ohne Führung zurück.
Zweitens bot die erfolgreiche Eroberung der Staatsmacht durch die Bolschewiki in Rußland eine überzeugende Alternative für Militante. Während die Oktoberrevolution von den Eliten mit großer Sorge registriert wurde, wurde sie in der Presse der Arbeiterbewegung als Triumph beschrieben. Die Anarchosyndikalisten tendierten dazu, dem bolschewistischen Regime „kritische Unterstützung“ zu gewährleisten, doch von 1921 an, mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes, der Verurteilung von Nestor Machno und der Unterdrückung unabhängiger Arbeiterorganisationen, wandelte sich diese zu einer offenen Kritik an dem bolschewistischen Autoritarismus. Den neu gegründeten kommunistischen Parteien der Region gab das Prestige der russischen Revolution jedoch Auftrieb, und obwohl sie klein waren, stellten sie eine bedeutende Herausforderung für die Anarchosyndikalisten dar, die die wachsende Anzahl von „moscovisados" (Moskauanhänger) mit Bestürzung sahen.[54] Tatsächlich begannen viele Anarchosyndikalisten die Notwendigkeit disziplinierter politischer Parteien im Stile der Bolschewiki zu akzeptieren. Wie sie es schon vorher getan hatten, lehnten die Arbeiter bewußt eine Strategie ab, die in ihren Augen versagt hatte; diesmal zugunsten einer Strategie, die auf die russische Revolution als wirklichen Beweis ihrer Lebendigkeit und Wirklichkeitsnähe verweisen konnte.
Drittens, und dies ist am bedeutendsten, zeigte die partielle Öffnung des politischen Systems nach dem Krieg für die Arbeiter – ein Prozeß, der, wie erwähnt, in Argentinien schon stattgefunden hatte – einen Wechsel im Charakter des Staates in Südamerika an. Die Bitternis und die Intensität der von den Arbeitern ausgefochtenen Kämpfe war zumindest teilweise verantwortlich für das Auftauchen reformerischer Teile der Eliten, die die Notwendigkeit sahen, die Arbeiterklasse in das politische System zu integrieren, in der Hoffnung, hierdurch eine harmonischere und konfliktfreiere Weise der kapitalistischen Entwicklung zu fördern. Nach dem Sieg von Yrigoyen im Jahre 1916 kamen Leguía in Peru 1919 und Alessandri 1920 in Chile an die Macht.[55] Obwohl unter diesen Präsidenten die Erwartungen der Arbeiter kaum erfüllt wurden, nahm dieser Prozeß von Reform und Integration dem Anarchosyndikalismus eine seiner hauptsächlichen Anziehungskräfte, nämlich seine Ablehnung der Politik. Die Arbeiter begannen in zunehmendem Maße zu glauben, daß sie ihre Lage verbessern könnten, indem sie Druck auf die Regierung ausüben und sogar eine Stimme in der Regierung erringen können.
Eine solche Strategie bedurfte eines politischen Ausdrucks, und die Arbeiter unterstützten eine Reihe von Strömungen, die in den Zwischenkriegsjahren am geeignetsten erschienen, ihre Interessen zu artikulieren. In der gesamten Region zogen kommunistische Parteien und Gewerkschaften viele an und organisierten sie; aber sie blieben nirgends unangefochten. In Peru gewann Haya de la Torres' APRA beträchtlichen Einfluß, und die städtischen Massen stellten eine Basis dar für die Unterstützung populistischer Politiker. Seit 1930 mit einem feindlichen Militärregime konfrontiert, fanden die argentinischen Arbeiter auf Kosten der Unabhängigkeit ihrer Gewerkschaftsorganisationen schließlich eine politische Stimme im Peronismus. Anderswo behielt der Anarchosyndikalismus noch für einige Zeit etwas von seinem Einfluß. In Brasiliens geschwächter Arbeiterbewegung, vor allem in São Paulo, hielten vorwiegend Textilarbeiterinnen die Tradition auf Fabrikebene lebendig. Die chilenische IWW spielte weiterhin eine führende Rolle in der Arbeiterbewegung in Santiago und Valparaiso, bis sie 1927 der Repression der Ibáñez-Regierung zum Opfer fiel. Sogar dann war der Kampfgeist nicht ganz gebrochen, da Anarchosyndikaiisten später führende Positionen in der Sozialistischen Partei Chiles besetzten.[56] Die Glanzzeit des Anarchosyndikalismus in Südamerika aber war vorbei. Obwohl er einst die Erfahrungen und Wünsche vieler Arbeiter der Region artikuliert hatte, machte er Bewegungen Platz, die von den Arbeitern selbst in zunehmend komplexeren Gesellschaften für angemessener gehalten wurden.
Übersetzung aus dem Englischen: Karl Klöckner
[1] Ich danke der University of Wolverhampton und der „Nueld Foundation“ für die finanzielle Unterstützung zur Durchführung einiger Untersuchungen, auf denen dieser Text basiert, sowie den Mitarbeiter(inne)n des „Internationalen Instituts für Sozialgeschichte“ (IISG), Amsterdam. Eine frühere Fassung dieses Textes erschien in: W. Fowler (ed.), Ideologues and Ideologies in Latin America, Westport, Ct. 1997.
[2] Antero Aspillaga an Ramôn Aspillaga, 18. August 1916, Cartas Reservadas, Cayaltí Archiv, Archivo Agrario, Lima.
[3] The South Pacific Mail, Valparaiso, 1. Juli 1920.
[4] Arturo Alessandri, 1920 zum Präsidenten Chiles gewählt, gab der neuen reformerischen Stimmung eines Teils der Landeselite Ausdruck, als er schrieb: „Ich glaubte, daß der Moment gekommen war, einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit auf der Grundlage menschlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit herzustellen, um so die öffentliche Ordnung und soziale Wohlfahrt zu verteidigen... In einem Wort: Ich fühlte, daß es nötig war, die Entwicklung rasch voranzutreiben, um die Revolution und die Katastrophe zu verhindern, die in Übereinstimmung mit einem sich wiederholenden historischen Gesetz immer stattfinden, wenn Entwicklungen zurückgehalten werden“, R.J. Alexander, Arturo Alessandri: A Biography, 2 vols., Ann Arbor 1977, S. 18.
[5] Während des Ersten Weltkrieges behauptete „The Economist", daß streikende argentinische Eisenbahner nicht nur durch den „spanischen und italienischen revolutionären Sozialismus“ beeinflußt worden sind, sondern gleichfalls durch „deutsche Agitatoren und deutsches Geld“. The Economist, London, 13.- 20. Oktober 1917.
[6] J.O. Morris, Elites, Intellectuals and Consensus. A Study of the Social Question and the Industrial Relations System in Chile, Ithaca 1966, S. 113.
[7] E.P. Thompson, The Making of the English Working Class, Harmondsworth 1968, S. 9/10.
[8] In „The Limitations of Ideology in the Early Argentine Labour Movement: Anarchism in the Trade Unions, 1890-1920“, in: Journal of Latin American Studies, 1/1984 (16. Jg.) spricht sich Ruth Thompson entschieden gegen die Annahme aus, daß die Gewerkschaftsbasis die Ansichten ihrer Führer teilte. Sie behauptet, daß die meisten Arbeiter eher daran interessiert waren, ihre Löhne und ihre Lage zu verbessern als den Staat zu stürzen. Dies wurde von den Gewerkschaftsführern selbst anerkannt, die trotz ihrer Rhetorik mit Unternehmern und Staat im Namen ihrer Mitglieder verhandelten.
[9] Eine Bibliographie der Geschichte der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung würde viele Seiten füllen. Wesentliche englischsprachige Arbeiten über die Region als ganzes sind: H. Spalding Jr., Organized Labor in Latin America. Historical Case Studies of Urban Workers in Dependent Societies, London 1977 und C. Bergquist, Labor in Latin America. Comparative Essays on Chile, Argentina, Venezuela and Colombia, Stanford 1986. Zu Argentinien siehe: J. Adelman (ed.), Essays in Argentine Labour History 1870-1930, Basingstoke 1992; zu Peru: P.
[10] H. Spalding, Organized Labor, a.a.O., S. 50/51.
[11] Der Rahmen der Analyse bezieht sich auf den von Marcel van der Linden und Wayne Thorpe entwickelten: Dies. (Hrsg.), Revolutionary Syndicalism: An International Perspective, Aldershot 1990. Der folgende Text ist auf eine Diskussion der Entwicklungen in Chile, Peru, Argentinien und Brasilien begrenzt. Der Einfluß der anarchistisch inspirierten Theorie und Praxis war natürlich in ganz Lateinamerika spürbar; in Ergänzung zu seiner äußerst substantiellen Sammlung von Periodika aus diesen vier Ländern hat das IISG in Amsterdam bedeutende Publikationsbestände aus Bolivien, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Mexiko, Paraguay, Puerto Rico und Uruguay.
[12] M. Gonzales Prada, Anarchy, Tucson 1972, S. 1.
[13] Die wichtige argentinische Publikation „La Voz de la Mujer" erklärt z.B. in ihrem Impressum: „Erscheint, wenn möglich und mit freiwilligem Abonnement.“ Das IISG besitzt neun Ausgaben, die in den Jahren 1896-1897 erschienen sind.
[14] Viele jedoch sahen die Gewerkschaften als inhärent reformistisch an.
[15] J. Adelman (ed.), Essays, a.a.O.; ders., State and Labour in Argentina: The Portworkers of Buenos Aires, 1910-21, in: Journal of Latin American Studies, 1/1993 (25. Jg.).
[16] M. van der Linden /W. Thorpe, Revolutionary Syndicalism, a.a.O., S. 1/2.
[17] J. Wolfe, Anarchist Ideology, Worker Practice: The 1917 General Strike and the Formation of São Paulo's Working Class, in: Hispanic American Historical Review, 4/1991 (71. Jg.); ders., Working Women, Working Men: São Paulo and the Rise of Brazil's Industrial Working Class, 1900-1955, Durham 1993.
[18] M.H. Hall/H.A. Spalding Jr., The Urban Working Class and Early Latin American Labour Movements, 1880-1930, in: L. Bethell (ed.), The Cambridge History of Latin America, Vol. 4, Cambridge 1986, S. 345/346.
[19] Cecilia scheiterte anscheinend an der Weigerung der weiblichen Koloniemitglieder, Rossis Ideen von „freier Liebe“ zu akzeptieren. Wieder zuhause, erwog Rossi später die Möglichkeit, mit Gewinnen aus einer neuen Destillerie der Kolonie Frauen von „halb wilden Stämmen“ zu kaufen. Er forderte seinen Briefpartner auf, sich das Projekt zu überlegen, „ohne es irgendwie publik zu machen“. Giovanni Rossi Archiv, IISG, Amsterdam, Rossi an A.G. Sanftleben, 29. November 1896.
[20] Albert, South America and the First World War. The Impact of the War on Brazil, Argentina, Peru and Chile, Cambridge 1988, S. 239; S.L. Maram, Anarchists, Immigrants, and the Brazilian Labor Movement, unveröffentlichte Ph.D. Thesis, University of California at Santa Barbara, 1972, S. 7/8.
[21] P. Blanchard, The Origins, a.a.O., S. 49.
[22] Siehe auch J. Godio, Historia del Movimiento Obrero Argentino, Migrantes Asalariados y Lucha de Clases, 1880-1910, Buenos Aires 1973, S.78-80 und 128/129.
[23] E.J. Hobsbawm, Primitive Rebels, Manchester 1959, S.83. Es sollte erwähnt werden, daß Hobsbawms millenaristische Interpretation des spanischen Anarchismus eine revisionistische Kritik hervorrief, die die unmittelbaren und praktischen Ziele der Bewegung in den Vordergrund stellte. So z.B. T. Kaplan, Anarchists of Andalusia: 1868-1903, Princeton 1977.
[24] Noch 1924, lange Zeit nach dem Niedergang des Anarchismus, warnte die chilenische anarchistische Zeitung „El Surco" immer noch vor den Gefahren des Alkohols: „Der Alkohol ist eine der Ursachen der mächtigen Waffen, um das Gehirn des Arbeiters zu verkümmern und behindert deswegen den Weg zu seiner Befreiung.“ Sie forderte ihre Leser auf, bei Durst oder auf Suche nach Gesellschaft ein Glas Wasser zu trinken und ein Buch zu lesen. El Surco, Iquique, 15. November 1924.
[25] Siehe z.B. „La Organización Obrera", Buenos Aires, 24/1903.
[26] Molyneux, No God, No Boss, No Husband. Anarchist Feminism in Nineteenth Century Argentina, in: Latin American Perspectives, 1/1986 (13. Jg.).
[27] Siehe den Artikel „El Amor Libre: Por qué lo queremos?", unterschrieben von Carmen Lareva in der ersten Ausgabe der Zeitung vom B. Januar 1896.
[28] A. Lavrin, Women, Labor and the Left: Argentina and Chile 1890-1925, in: Journal of Women's History, 2/1989 (1. Jg.), S. 95.
[29] E.A. Gordon, Anarchism in Brazil: Theory, and Practice, 1890-1920, unveröffentlichte Ph.D. Thesis, Tulane University, 1978, S. 18/19. über die Bedingungen siehe M.H. Hall/H.A. Spalding, The Urban Working Class, a.a.O., S. 332-337
[30] Die argentinische Zeitung „La Acciôn Socialista", die sich selbst als „revolutionär-syndikalistisch“ einschätzte (ein oft als Alternative zu anarchosyndikalistisch benutzter Begriff), beschrieb die Ideen des Anarchismus in Begriffen, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen, als „eine pseudoliterarische Monomanie und eine permanente Selbstbefriedigung“; La Acción Socialista, Buenos Aires, 16. Februar 1908.
[31] M. van der Linden /W. Thorpe, Revolutionary Syndicalism, a.a.O., Kapitel 1.
[32] Arbeiter fanden auch andere Ausdrucksformen für ihren Radikalismus. Die „Partido Socialista“ war 1896 in Argentinien gegründet worden, die chilenische „Partido Obrero Socialista“ wurde 1912 gegründet und im gleichen Jahr unterstützten die peruanischen Arbeiter die Präsidentschaftswahl des Populisten Guillermo Billinghurst. Zu Billinghurst siehe P. Blanchard, A Populist Precursor: Guillermo Billinghurst, in: Journal of Latin American Studies, 2/1977 (9. Jg.).
[33] Es ist hier nicht möglich, die Streikwelle im Detail zu diskutieren. Eine nützliche Zusammenfassung gibt B. Albert, South America, a.a.O., Kapitel 6.
[34] Über Details der Streiks siehe „El Jornalero", Trujillo, 1912 (verschiedene Ausgaben).
[35] „La Acción Socialista" behauptet auch, daß „der Acht-Stunden-Tag nicht nur eine Reform und noch weniger ein Ziel darstellt; er ist vor allem ein Propagandamittel. Ein wunderbares Mittel“; La Acción Socialista, Buenos Aires, 21. September 1906.
[36] Munck, The Formation and Development of the Working Class in Argentina, 1857-1919, in: B. Munslow/H. Finch (eds.), Proletarianisation in the Third World. Studies in the Creation of a Labour Force under Dependent Capitalism, London 1984, S. 263.
[37] Einige Arbeiter waren in der Lage, Zugeständnisse über Sicherheitsfragen zu erreichen, am deutlichsten in Peru, das 1911 das erste lateinamerikanische Land wurde, das mittels des Gesetzes über eine Berufsversicherung für Arbeiter, die durch Arbeit verletzt oder krank wurden, Entschädigungen zahlte. S. P. Blanchard, The Origins, a.a.O., S. 36-40.
[38] R.E. Shipley hat errechnet, daß die meisten Arbeiter mit Familien in Buenos Aires nirgends annähernd genug verdienten, um ihre notwendigen Ausgaben zu decken. R.E. Shipley, On the Outside Looking In: A Social History of the Porteno Workers During the „Golden Age“ of Argentine Development 1914-1930, unveröffentlichte Ph.D.Thesis, Rutgers University, 1977, S. 414-441.
[39] Methode betrügerischer Arbeitsvermittlung und Erzwingung von Verpflichtungen, die meist Schuldknechtschaft zur Folge hatten (AdÜ).
[40] Eine wichtige Ausnahme stellte hier Uruguay unter dem reformerischen Präsidenten José Batlle y Ordóñez in den Jahren 1903-1907 und 1911-1915 dar.
[41] M.H. Hall/H.A. Spalding, The Urban Working Class, a.a.O., S. 332.
[42] J. Godio, Historia, a.a.O., S. 264.
[43] J. Adelman (ed.), Essays, a.a.O., S. 15/16. In Chile war diese Tendenz aber weniger ausgeprägt und große Mietstreiks fanden 1925 in Valparaiso und Santiago (wo ein IWW-Mitglied Vorsitzender des Mieterverbandes war) statt. S. P. DeShazo, Urban Workers, a.a.O., S. 223-226.
[44] B. Fausto, Brazil: The Social and Political Structure of the First Republic, 1889-1930, in: L. Bethell (ed.), The Cambridge History, a.a.O., Vol. 6, S. 801.
[45] P. Blanchard, The Origins, a.a.O., S. 86-88.
[46] Die beste Analyse dieser Entwicklungen ist zu finden in: D. Rock, Politics in Argentina 1890-1930. The Rise and Fall of Radicalism, Cambridge 1975.
[47] Im Unterschied zu C. Bergquist, Labor in Latin America, a.a.O., behauptet P. DeShazo, Urban Workers, a.a.O., daß eher die Arbeiter in Santiago und Valparaiso als die Nitrat-Bergleute die treibende Kraft der organisierten Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahrhunderts in Chile waren. Auf jeden Fall spielten die Hafenarbeiter, unter denen der Anarchosyndikalismus großen Einfluß hatte, eine große Rolle.
[48] Dies war der Fall infolge der Ermordung des Polizeichefs von Buenos Aires, Ramón Falcón, durch den jungen russischen Immigranten Simón Radowitzky im November 1909. La Protesta, Buenos Aires, 16. Januar 1910.
[49] H. Spalding, Organized Labor, a.a.O., S. 20/21.
[50] Über Brasilien siehe B. Albert, South America, a.a.O., S. 77-94.
[51] In Folge der Gründung der Universitäts-Reformbewegung in Córdoba, Argentinien, im Jahre 1918 machten Studenten anderenorts Druck für einen Wechsel und unterstützten häufig, wie der junge Haya de la Torre in Peru, die Arbeiterorganisationen. Santiagos „La Nación“ verzeichnete am 13. August 1918 „den ersten Lehrerstreik in Lateinamerika“.
[52] „La Protesta“ behauptete, daß es 700 Tote und 4.000 Verletzte gegeben hatte; La Protesta, Buenos Aires, 23. Januar 1919.
[53] Unterschiedliche Interpretationen der „semana trágica“ sind zu finden bei J. Godio, La Semana Trágica de Enero de 1919, Buenos Aires 1972, und D. Rock, Politics in Argentina, a.a.O.
[54] Marques da Costa an Diego Abad de Santillân, 8. Mai 1924. Santillân Archiv, Korrespondenz, 1924, IISG, Amsterdam.
[55] In Brasilien verlief die Präsidentschaftskampagne des Reformers Rui Barbosa 1919 erfolglos. B. Albert meint, daß das Fehlen nationaler politischer Parteien und der extreme Föderalismus des Landes den brasilianischen Staat weniger anfällig für den Druck von unten machten. S. B. Albert, South America, a.a.O., S. 270.
[56] P. DeShazo, Urban Workers, a.a.O., S. 285/286.