Paul Goodman
Reich und seine Feinde
Freuds Theorie der Denkvorgänge
Die politische Bedeutung einiger neuerer Revisionen an Freud
»Freie Persönlichkeit« als die soziale Basis
»Rationale Autorität« und »Demokratische Ideale«
Eine Erwiderung von C. Wright Mills und Patricia J. Salter:
Die Barrikade und das Schlafzimmer
Das Schicksal der Bücher von Dr. Reich
When the strings are loosed can the clear song sound?
when the tendons taut from the reins to the neck
against scrutiny and a blow in the back,
and the belly hard against the inward wound
of anxious love? and the thighs tightly bound
to jump with fear, and the forehead black
with counter-thinking?
The leashes all are slack
an which from the third year I used to pound
the iron voices with a scratching nail.
I Couch them: the box is almost still.
»Breathe / and fill with even breathing
the Body of tubes that tremble and blow:
and sometimes suddenly they sound, unheeding,
organ-tones — that one must hear to know.«
Freuds Theorie der Denkvorgänge
In Ernest Jones ausgezeichneter Freudbiografie, deren erster Band soeben erschienen ist, findet man wichtiges neues Material für die Entwicklung der freudschen »Theorie des Denkvermögens«. Ein erstaunliches Merkmal dieser Entwicklung ist dabei, daß Freud während seiner theoretischen Ausarbeitung des mentalen Prozesses immer mehr auf die Verbindung zwischen »Denken« und »Außenwelt« verzichtete; stattdessen stellte er sich ein geschlossenes System vor, ein Individuum, das auf isolierter Bühne ein inneres Drama aufführt.
An anderer Stelle habe ich (in: »Gestalt Therapy«, Teil II, Kap. 3) zu zeigen versucht, daß »Denken« eine Abstraktion von der erfahrenen Verbindung des Organismusbereiches mit seiner physischen und sozialen Umwelt ist. Diese Abstraktion ist notwendig und wird unter bestimmten Umständen als etwas Reales empfunden: vor allem ein unterschwelliger Gefahrenzustand, bei dem die Wahrnehmung innerer Reize (das Körpergefühl) verringert und selektiv ausgeschaltet wird; es kommt zu einer Überspannung der Muskulatur; aufgrund von Frustration, Gefahr und Resignation wird die gewünschte von der wahrgenommenen Einheit abgespaltet; gewohnheitsmäßige Selbstüberwachung und unentspannte Selbstbeschränkung färben den Vordergrund des Gewahrseins und erzeugen ein übertriebenes Gefühl, »Willen« auszuüben; das sichere Spiel von Traum und Spekulation wird ausgedehnt und anderes mehr. Ich brauche die Leser dieser Zeitschrift wohl nicht darauf hinzuweisen, wie vorherrschend diese Zustände in unseren Gesellschaften sind. Es ist aber interessant, anhand freudscher Theorien aufzuzeigen, wie er nach und nach zum Begriff »Denkvorgänge« gelangt.
Kurz vor der »Traumdeutung« beschrieb und verwarf Freud eine physiologisch begründete Psychologie auf der Basis der Neurologie, ein Modell, in welchem das Denken wie eine Maschine funktioniert. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesem Modell der Denkvorgänge und dem Modell in der »Traumdeutung«: In der früheren Arbeit [»Entwurf einer Psychologie für Neurologen«] vertrat er die Ansicht, daß Sinneseindrücke eine »Quantität« von Energie an das Nervensystem abgäben (»etwa wie eine elektrische Ladung«); später sagte er, daß diese Eindrücke nur irgendwie die Inhalte des im übrigen statischen psychischen Erlebens bestimmten. Die frühere Meinung läßt also eine Psychologie des Wachsens zu — die Umwelt ist neu und fördernd und der Organismus überlebt, indem er sich schöpferisch der Umwelt anpaßt und sie verändert. Bei der späteren Theorie findet das Drama ganz innerlich statt. Therapeutisch gesehen bedeutet das, eine Heilung sei nicht wesentlich davon abhängig, daß eine unerledigte, emotional gestaute Situation im gegenwärtigen Erfahrungskontinuum entladen wird, sondern einfach von einer Neuanordnung widersprüchlich besetzter Ideen; es gäbe dann gar keine »realen«, sondern nur »innere« Konflikte. Tatsache ist meiner Meinung nach dagegen, daß grundsätzlich jeder innere Konflikt ein realer Konflikt ist, und daß eine Heilung nicht möglich ist, ohne die Veränderung der augenblicklichen Umweltbedingungen, die neue Aufbaukräfte schaffen würde. Die Entladung eines aufgestauten Affekts kann nur stattfinden, wenn er sein Ziel in der Realität zu verwirklichen in der Lage ist. Bei der klinischen Behandlung war sich Freud dessen natürlich bewußt, als er die Übertragung auf den Analytiker so besonders betonte; andererseits interpretiert er den Ausdruck dieser Übertragung als das Wiederaufleben einer früheren Illusion, während ich glaube, daß die Übertragungsreaktionen genau den Ausdruck annimmt, der dem Experiment der neuen Beziehung zu einer realen Person — nämlich den Therapeuten — angemessen ist. Freud versucht mit allen Mitteln, den Analytiker vollkommen unauffällig und unbestimmt zu machen, als ob die Bedeutung dieser wirklichen Person ihn in Verlegenheit brächte. Aber das ist Augenwischerei.
Andererseits vertrat Freud zur gleichen Zeit zuerst eine Theorie, daß Hysterie hauptsächlich auf der Verführung eines Kleinkindes durch einen Erwachsenen beruhe — die erstaunliche einmütige Erinnerung seiner Patienten an Verführungsszenen belegte diese gescheite Theorie. Und doch mußte er sie bald aufgeben, da es sich bei genauerer Betrachtung herausstellte, daß jene »Erinnerungen« nur Phantasien und Wünsche, eine Art infantile Auto-Erotik waren. Natürlich waren sie das — wie erstaunlich aber, daß Freud nicht sofort die nächste Frage anschließt: Warum sollten Kinder einen so phantastischen Wunsch haben? Die Erklärung dafür muß lauten, daß sie in ihrer sozialen Umwelt Versagungen erlitten haben; ihnen ist der nötige enge Kontakt mit anderen Menschen verwehrt worden; aufgrund ihrer Frustration phantasieren sie sich einen Ersatz, der einer späteren, ähnlich gearteten Versagung entspricht. Man braucht sich nicht besonders anzustrengen, um die Voraussetzungen dieser kollektiven Versagung im Wien von 1895 auszumachen. Aber Freud verwechselte jene soziale »Realität« mit der eigentlichen Natur.
Ein weiteres Beispiel für Freuds Trennung der Seele von der Umwelt erkennen wir daran, daß Freud später recht kühl seiner früheren Theorie gegenüber stand, daß die »Aktualneurose«, die »auf einen Koitus mit mangelnder Befriedigung zurückgeht«, Kern der Psychoneurose sei. Freud gab diese Theorie eigentlich nie völlig preis, aber er verlagerte das ganze Gewicht auf die »seelischen Bedingungen« der Neurose. Angenommen, er hätte die frühere Position beibehalten, wäre es ihm wohl zunehmend klar geworden, daß eine Therapie nicht allein auf Gespräch, Wiederholung des Affekts und Durcharbeiten beruhen kann, sondern in praktisches Verhalten überführt werden muß, und daß sie eine Veränderung der Sozialstruktur mit einschließt, damit heilendes Handeln möglich ist. Freud war offensichtlich nicht willens, diesen frontalen Angriff auf die Moral und die ökonomischen Institutionen zu machen.
Einige Jahre später finden wir in »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Jones erster Band behandelt diesen Zeitraum noch nicht) eine interessante Unstimmigkeit in Freuds Theorie der frühkindlichen Sexualität: Auf der einen Seite sieht er sie hauptsächlich von den erogenen Zonen kontrolliert, also Schleimhaut, Lippenzone, Afterzone, Genitalzone, und er besteht als ausgezeichneter Biologe darauf, daß diese Zonen wie auch die ganze Sexualität, anaklitisch seien, d.h., daß sie mit wesentlichen Lebensfunktionen, wie z.B. Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, in »wechselseitiger Beeinflussung« stehen. Andererseits behauptet er zunehmend, die frühkindliche Sexualität sei im wesentlichen »autoerotisch« und selbstgenügsam und beziehe nur im Lauf der Zeit die Welt und die anderen Menschen mit ein. Diese spätere Position macht jedoch wenig Sinn; denn das eigentliche physiologische Merkmal der erogenen Zonen — die sensitiven Schleimhäute — beweist, daß sie Kontaktorgane sind, wie sowohl die Beobachtung als auch die chemische Analyse zeigen: ihre autoerotische Funktion muß zweitrangig sein. Sobald er diese zweitrangige Funktion an die erste Stelle setzte, mußte Freud die frühkindliche Sexualität notwendigerweise mit dem seltsamen Wortungetüm »polymorph-perverse« Anlage belegen.
Um die Tendenz der erwähnten Beispiele zusammenzufassen, d.h. dass Seele und Welt getrennt gesehen werden, anstatt eine einheitliche Interaktion als den Kontext der Psychologie anzunehmen : Freud gewann die Ansicht, der ursprüngliche »primäre« Denkprozeß sei vollkommen »unrealistisch«. Dies widerspricht aber jeglicher Erfahrung aus dem Tierreich — wie ist es denn den Tieren, die wohl nur über den primären Prozeß verfügen, möglich, so gut klarzukommen? Auf diese Weise gelangte Freud schließlich zum Widerspruch zwischen »Lustprinzip« und »Realitätsprinzip« und die aus ihm resultierende graue und stoische Sicht von Kultur und Gesellschaft.
Zwei Dinge fallen hier besonders auf: Erstens, daß Freud, je konkreter, kühner und weitreichender sein Verständnis wurde, das selbst Anthropologie und Religion mit einbezog, einerseits sich immer mehr in sich selbst zurückzog und die »mögliche« Sphäre des direkten Umweltbezuges begrenzte; andererseits schmiedete er von diesem sicheren Standpunkt aus die außergewöhnlich praktische Waffe der psychoanalytischen Bewegung. Aber zweitens haben es die späteren wichtigen theoretischen und therapeutischen Errungenschaften anderer ermöglicht, an die Ideen (und Hoffnungen) zu knüpfen, die Freud auf seinem Weg aufgab.
Diese Besprechung von Ernest Jones Freudbiografie trug keinen Titel, als sie zuerst in »Resistance« (Februar 1954) erschien.
Die politische Bedeutung einiger neuerer Revisionen an Freud
Ich vertraue bei den folgenden Bemerkungen darauf daß ich diejenigen Ansichten, die von einem allgemeinen sozialen und kulturellen Bewußtsein abhängig sind, von denen unterscheiden kann, die eine spezielle klinische Erfahrung erfordern, die ich nicht habe. Ich bin kein Psychoanalytiker. Aber die soziale Rolle der Analyse ist in der letzten Zeit so sehr in den Vordergrund getreten und die neuen Revisionen an der Freudschen Lehre sind politisch so tendenziös — meistens zur Rechten hin, aber in einem hervorragenden Fall (Reich) zur Linken —, daß ich denke, die Leser dieser Zeitschrift sollten darüber informiert werden, was auf dem Spiel steht. — P.G.
Es gibt mindestens vier Gründe für das augenblickliche Interesse an der sozialen Rolle der Psychotherapie. (1) Die überwältigende Anzahl psychologisch begründeter Entlassungen von Wehrpflichtigen, sowohl vor als auch nach der Einberufung in die Armee und die sogar noch größere Zahl jener, die an dem leiden oder leiden werden, was man beschönigend »Kriegsneurose« nennt. (2) Die psychischen Konsequenzen aus den Bedingungen der Nachkriegsexistenz, die die »neurotische Persönlichkeit unserer Zeit« hervorbringen. (3) Die Produktion von Propaganda für die psychologische Kriegsführung im In- und Ausland, z. B. Studien über die »Charakterstruktur der Japaner« usw. (4) Und spezieller die Ansätze der Analyse der psychischen Strukturen des Nazistaates, vor allen von mitteleuropäischen Flüchtlingen. All diese Gründe haben zu neuen Therapien und Theorien geführt. Bedenklich ist nicht ihre Abweichung von der orthodoxen freudianischen Soziologie und der ihr immanenten politischen Tendenzen, woran einiges falsch ist, sondern die Tatsache, daß die meisten dieser Abweichungen Schritt für Schritt zu einer Psychologie der nichtrevolutionären sozialen Anpassung führen, die genau das politische Ideal (wenn auch nicht die politische Praxis) des New Deals, des Beveridge-Plans, des Stalinismus etc. sind.
I.
Was neue Therapien betrifft, möchte ich kurz etwas zu einem gerade erschienen Papier von Franz Alexander sagen, dem Direktor des orthodoxen Instituts für Psychoanalyse in Chicago.[1] Dr. Alexander findet, daß »besonders in akuten Fällen im Anfangsstadium kürzere psychotherapeutische Methoden erfolgreich angewandt werden können« — d.h. weniger Sitzungen und wiederholte Unterbrechungen anstelle der sonst üblichen täglichen Analyse über einen Zeitraum von zwei Jahren. Dies bedeutet natürlich den Verzicht auf die Kindheitserinnerung. An deren Stelle möchte der Arzt »das emotionale Training des Ego« setzen, das »in jener experimentellen persönlichen Wechselbeziehung zwischen Patient und Arzt stattfindet, die man Übertragung nennt«. »Das Ziel der Psychotherapie ist die Leistungssteigerung des Egos bei der Erfüllung seiner Aufgabe, Gratifikationen solcher Art für die individuellen Bedürfnisse zu finden, die mit den Maßstäben und Idealen der betreffenden Person und den herrschenden Bedingungen harmonisieren.« (Der gleiche Verzicht auf die frühkindliche Erinnerung und ein noch stärkerer Eingriff des Analytikers wird a fortiori von denen befürwortet, die sowohl die Theorie als auch die Praxis revidieren.)
Diese Position ist ganz sicher nicht freudianisch. Es sei »unsinnig«, sagt Freud in seinem letzten großen Werk, »zu behaupten, man spräche über Psychoanalyse, wenn man gerade diese Urzeiten [gemeint sind : die sehr frühen Kindheitseindrücke] von der Erforschung und Berücksichtigung ausschließt.«[2] Die Analytiker, die die Funktion des Analytikers betonen und deren Behandlung darauf basiert, die Widerstände gegen die Behandlung zu verfolgen, aber die auf dem Primat der Triebbefriedigung bestehen, bestehen ebenso auf dem Primat der frühkindlichen Szene. Ich zweifle sehr daran, daß Freud »Gratifikationen individueller Bedürfnisse« Triebbefriedigung genannt hätte. Wie ich es verstehe, ist der Sinn der frühkindlichen Erinnerung nicht nur, den emotionalen Konflikt auszuleben, der mit den ersten Beziehungen verbunden ist, sondern auch dem Ego durch Verstehen Kontrolle über diese Beziehung zu geben, um sich mit der gegebenen Situation unverstellt auseinanderzusetzen. (Ob die Gewinnung gerade solcher Kontrolle eine Heilung darstellt oder nicht, ist fraglich.) Es geht hier nicht um »Harmonie«, sondern um eine aufgeklärte Wahl und notfalls um Kampf. Genau diese Vorstellung von der Harmonie zwischen der subjektiven Persönlichkeit und den objektiven Bedingungen werden wir bald anhand ihrer vollen politischen Blüte erörtern.
Das eigentliche Problematische an Dr. Alexanders Argument sind die außersachlichen Gründe, die er für die kürzere Behandlung anführt. Erstens, sagt er, laufen diese Fälle emotionaler Störungen im Anfangsstadium als Angestellte, Arbeiter, Staatsmänner, Rechtsanwälte etc. etc. frei durchs Leben und haben einen »unabschätzbaren gesellschaftlichen Einfluß«. Zweitens »wird das Leben in unserem Maschinenzeitalter immer komplexer« und schaffe somit einen unerträglichen Konflikt zwischen wechselseitiger Abhängigkeit einerseits und konkurrierender Rivalität andererseits; deshalb »besteht die große zukünftige Aufgabe der Psychiatrie darin, dem modernen Menschen bei der Suche nach seinem Platz innerhalb dieser Struktur zu helfen, ohne daß er zum Opfer wird.« Drittens würde es ein »Fiasko ersten Grades« geben, wenn der Therapeut, im Angesicht der zu erwartenden Zahl von Fällen, »keine Methoden entwickelt, die in größerem Maßstab angewendet werden können.«
Ist es möglich, aus diesen Überlegungen eine andere Schlußfolgerung zu ziehen als die, daß das problemlose Funktionieren der Sozialmaschinerie, wie sie im Augenblick existiert, das Ziel der Therapie ist? Was für ein grotesker Vorschlag, die Menschen neu zu orientieren und nicht die Gesellschaft, die die emotionalen Spannungen erzeugt! Als ob es tatsächlich möglich wäre, die Menschen zu verändern, ohne die Alltagsstruktur und damit sowohl die ökonomischen Verhältnisse als auch die Natur der Arbeit zu ändern. Und welchen allzu bekannten Namen sollen wir einer »Therapie« geben, die vorgibt, Harmonie auf einer Massenbasis zu schaffen? Ich nehme an, Dr. Alexander weiß eigentlich nicht, was er vertritt.
Therapiebedürftig sind Millionen — aber es gibt zum Beispiel nur 250 freudianische Analytiker in den USA! Trotz aller psychiatrischen Schulen und einschließlich aller neuen Methoden (sogar der Narkosynthese der Armee) wird es zu einem Fiasko kommen; aber eine Gesellschaft, die sich in zwei Weltkriege manövriert hat, ist ans Fiasko gewöhnt. Wer würde leugnen, daß die einzige praktische Massenmethode der Kampf gegen Institutionen und repressive Sitten ist, um unserer kranken Generation, wenn schon nicht eine Ära des Friedens, so doch wenigstens einen Befreiungskrieg zu geben?
II.
Wenden wir uns nun einem neuen populären Revisionismus zu, wie er von Karen Horney und — am einflußreichsten — von Erich Fromm vertreten wird. Viele Vorschläge dieser Schule sehen wie ein früher Ableger von Adler aus, aber das Prinzip ist verschieden und die Schlußfolgerungen zielen, wie ich aufzeigen möchte, nicht so sehr auf Anpassung an die bestehende Gesellschaft als vielmehr auf die Errichtung einer rationalisierten Soziolatrie, auf die hin sich die imperialistischen Nationen innerpolitisch bewegen. (Lassen Sie mich den Ausdruck »Soziolatrie« von Comte einführen, der »Gesellschaftsvergötterung« bedeutet, um auf die Art und Weise aufmerksam zu machen, in welcher in den Industrienationen natürliche Energien absorbiert, sublimiert und verbal zufriedengestellt werden.)
Um ihre Position ganz allgemein darzustellen: Horney und Fromm vermindern die Rolle der »triebhaften Bedürfnisse« bis zum Nullpunkt; sie meinen, daß der Charakter direktes »Resultat des gesellschaftlichen Prozesses«, und daß die Quelle der Neurose »irrationale (oder hemmende) Autorität« sei. Sie erklären die Angst, die sie mit den Freudianern für den zentralen Punkt bei der Neurose halten, bloß aus der Furcht vor eben dieser Autorität. Außerdem sehen sie die geistige Gesundheit im »spontanen Tätigsein der gesamten, integrierten Persönlichkeit«, was sie »positive Freiheit« nennen. Ich werde von einem revolutionären Standpunkt aus zu zeigen versuchen, daß diese Position — obgleich die politischen Schlagwörter, die sich aus ihr ergeben, ziemlich harmlos klingen, so daß sogar überzeugte Anarchisten wie Herbert Read auf sie hereingefallen sind — rein formaler Natur ist; ihr ist die psychologische Dynamik geraubt worden. Und wenn wir die konkreten sozialen Anwendungen untersuchen, um einen Inhalt für die Form zu finden, finden wir in Krieg und Frieden nichts anderes als rosaroten New Deal.
Sowohl Fromm als auch Horney sind noch in dem Stadium, wo sie es für nötig halten, unablässig die Fehler Freuds aufzudecken. Um es zusammenzufassen[3]: (1) Freud sei zu biologisch ausgerichtet, um zu verstehen, daß unterschiedliche Daseinsformen der Gesellschaft zu unterschiedlichen Charakterstrukturen führen. (2) Freud dächte physiologisch und hedonistisch und führe alles auf »Befriedigung und Frustrierung der Triebe« zurück. (3) Freud dächte individualistisch und meine, der Mensch sei »primär selbstgenügsam« und brauche »nur sekundär die anderen, um seine triebhaften Bedürfnisse zu befriedigen.« Demgegenüber sei Individualpsychologie »im Grunde Sozialpsychologie, — oder — um mit Sullivan zu reden, Psychologie der zwischenmenschlichen Beziehungen.« (4) Freud lege die Kausal-Beziehung zwischen Charakterzügen und frühkindlichem Leben, den erogenen Zonen etc. falsch aus, wenn er annähme, daß das Letztere das Erstere verursache. (Auf der Grundlage dieser Kritik lehnen Fromm und Horney die Bedeutung der frühkindlichen Sexualität ab, den sexuellen Ödipuskomplex, die Rolle der Erinnerung in der Therapie, die freudsche Charakterisierung und Analyse der Perversionen, den psychischen Ich-Es-Apparat, die Libidotheorie, die Bedeutung des Unbewußten bei Gesunden etc. etc. Trotzdem pochen sie darauf, daß Freud ihre große Inspiration sei etc.)
Ohne Freud im einzelnen zu folgen, halte ich es für möglich zu zeigen, daß jeder Aspekt dieser generellen Anklage entweder falsch oder absurd ist. Die Konsequenz aus dem Rundumschlag ist, daß Horney und Fromm nach allen Einschränkungen und Ablehnungen ihr eigenes Psychologisieren mit dem folgenden Restbestand beginnen : (1) Einerseits werden die ererbten Triebe stark abgeschwächt; in einem bemerkenswerten Absatz setzt Karen Horney »Freuds instinktive Triebe« mit etwas gleich, was sie »neurotische Tendenzen« nennt.[4] (2) Andererseits sprechen sie von »Persönlichkeit«, die scheinbar aus dem Nichts erschienen ist — ich denke nicht, daß jemand behaupten würde, ein Kind, das nicht sprechen kann, verfüge über eine Persönlichkeit; und doch lehnen sie Freuds präzises Modell ab, die Entwicklung der Persönlichkeit anhand von Eindrücken aus der Vorgeschichte und aus der »Zeit der beginnenden Sprachfähigkeit« (Freud) zu rekonstruieren.
Also wenden sich Horney und Fromm (der vor allem von seinen Erinnerungen an den Nazismus motiviert wird) der »neurotischen Persönlichkeit unserer Zeit« zu und finden den Schlüssel dazu in der »irrationalen« Autorität. Die Bedrohung durch »irrationale« Autorität flößt der »Persönlichkeit« Furcht ein, sich auszudrücken; dies erweckt Angst, und das spätere Verhalten ist der Versuch, auf verschiedenen Wegen Sicherheit wiederzuerlangen, zum Beispiel Unterwürfigkeit, Machtwillen, Konkurrenzdenken, Verzicht etc.[5] Lassen sie mich zitieren :
»Freud stellt fest, der Ödipuskomplex werde zurecht als der Kern der Neurose angesehen. Ich glaube, daß diese Aussage die wesentlichste ist, die man zum Ursprung der Neurose machen kann, aber ich denke, daß sie in einem Umfeld qualifiziert und neuinterpretiert werden muß, das anders ist, als von Freud gedacht. Was Freud meinte, war folgendes: wegen des sexuellen Verlangens, das z. B. der kleine Junge für seine Mutter empfindet, wird er zum Rivalen seines Vaters und die neurotische Entwicklung besteht in dem Versagen, die Angst, die aus dieser Rivalität entsteht, befriedigend zu verarbeiten. Ich glaube, daß Freud auf die wesentliche Wurzel der Neurose stieß, als er auf den Konflikt zwischen Kind und elterlicher Autorität und auf das Scheitern des Kindes hinwies, diesen Konflikt befriedigend zu lösen. Aber ich glaube nicht, daß dieser Konflikt durch die sexuelle Rivalität ausgelöst wird, sondern daß er aus der kindlichen Reaktion auf den Druck elterlicher Autorität, aus der Furcht davor und aus der Unterwerfung unter sie herrührt. Bevor ich genauer darauf eingehe, möchte ich zwischen zwei Arten von Autorität unterscheiden. Die eine ist objektiv und basiert auf der Fähigkeit der autoritären Person, sich entsprechend der gestellten leitenden Funktion zu verhalten. Diese Art der Autorität könnte man rationale Autorität nennen. Im Gegensatz dazu müßten wir von irrationaler Autorität sprechen, wenn sie auf der Macht basiert, die Autorität über diejenigen auszuüben, die ihr gefügig sind, und auf der Furcht und dem Schrecken, die sich daraus ergeben.«[6]
Aber warum fürchtet das Kind die elterliche Autorität, wenn nicht aus dem Grunde, daß ihm etwas vorenthalten wird? Was ihm verwehrt wird, ist die beständige Zuwendung, das Gestillt-Werden, das laute Schreien, die spontane Ausscheidung, die Möglichkeit ständiger Anwesenheit und Neugierde und (später) Masturbation etc. Dies alles ist der Motor des Ödipuskomplexes, aber die beiden Autoren wenden sich vom Triebleben entschieden ab. Für Freud liegt die »Wurzel« nicht in der Rivalität, sondern in der Unterdrückung, wie seine wiederholte Aussage belegt, daß jede Psychoneurose einen aktualneurotischen Kern besitze; diese Wendung benutzt Freud für die direkte »Verwandlung« unterdrückter Libido in Angst.[7] Denken wir an ein schlechtgelauntes Kind : würde man sagen, daß es sich um Furcht oder Wut über die Frustration handelt? Es ist einfach die Energie der Frustration, die die Energie der Furcht erklärt. Es ist nicht einzusehen, warum ein kleines Kind einen großen Mann mit einer groben Stimme mehr fürchten sollte als einen Baum, solange es das Bild nicht mit einem Verlust assoziiert. Der Neurotiker, sagt Horney in einem bezeichnenden Abschnitt, versuche »sich Liebe in irgendeiner Form zu verschaffen« nach dem Motto : »Wenn du mich liebst, kannst du mir nicht wehtun.«[8] Ja, ist mit Freud zu antworten, aber das ist so, weil die ursprüngliche Tatsache, daß man ihn nicht liebte, ihn verletzte, und er sucht jetzt nicht nur nach Sicherheit, sondern auch nach Entschädigung für die vorangegangene Versagung. Wenn die Kindheitseindrücke, wie ich meine, ganz und gar sozial gefärbt sind — und dies folgt aus der Tatsache, dass das Kind so lange hilflos war und doch überlebt hat —, dann muß jeder Liebesentzug und jede Verweigerung ständiger Zuwendung nicht etwa der Persönlichkeit (die sich später bildet), sondern vielmehr der ganzen Triebstruktur schweren Schaden zufügen. Genau dies bringt Freud zum Ausdruck, indem er sagt, eine Vielzahl der Triebe sei erotisch; der Eros stellt den Impuls für die Objektbesetzung noch vor der Bildung des Egos dar.
Die freie Persönlichkeit des Kindes wird also nach Horney und Fromm durch die irrationale Autorität gefährdet; deshalb empfindet es Angst. Im Gegensatz dazu sagt Freud, in diesem Entwicklungsstadium gäbe es noch gar keine festgelegte Persönlichkeit; doch Deprivation gehe mit jeder Autorität einher, sei sie rational oder nicht und gleichgültig, ob sie sich in einer Einzelperson manifestiert oder nicht. Die Versagungen bewirken, dass sich das Ego, das sich panzert, um weiteres Leiden zu vermeiden, jetzt als ein geschlossenes System gegen die Triebe konstituiert, indem es die Triebe unterdrückt. Bis dahin war das Ego Teil des Es, es informierte die Triebe, interpretierte sie, handelte kreativ in ihrem Interesse und brachte sie in Übereinstimmung mit den sozialen Gegebenheiten: das ist »die Stärke des Ichs«. Jetzt, wo es die Triebe unterdrückt und vor allem, wenn die äußere Autorität verinnerlicht ist (das Über-Ich, Erbe des Ödipuskomplexes), fürchtet es die ihm fremden Triebe: das ist die »Schwäche des Ichs«.[9] Die neurotische Angst entsteht aus der Bedrohung des Egos durch die Triebe, die sich von der Unterdrückung befreien.
Nach Fromm ist die in Familie und Kultur herrschende irrationale Autorität das Hindernis für allgemeine seelische Gesundheit. Nach Freud ist es die Triebunterdrückung in der ganzen Zivilisation.
»Freie Persönlichkeit« als die soziale Basis
Was also ist geistige Gesundheit ? Nach Freud ist sie dadurch gekennzeichnet, daß die Forderungen des Über-Ichs nachlassen und das Ich sich weit genug zu öffnen vermag, um den nicht unterdrückbaren Trieb als den eigenen anzuerkennen. Ideal wäre — allerdings geht Freud meines Wissens nicht so weit — ein Sich-Öffnen und eine Flexibilität des Ich, um jede Forderung des Unbewußten zu erkennen und über dessen Ansprüche entscheiden zu können, wobei dem Ich immer bewußt ist, daß es nur als Vermittler fungieren darf.
Nach Fromm und Horney bedingt geistige Gesundheit vor allem die Abwesenheit irrationaler Autorität; dann entwickele sich eine »integrierte Persönlichkeit«, eine »freie Aktivität des Selbst«. Da ich nicht genau weiß, was damit gemeint ist, dies jedoch der Ausgangspunkt ihrer Sozialphilosophie ist, möchte ich noch einige Beschreibungen zitieren. Es handelt sich um »eine Person, die sich von der Unterdrückung der Autorität befreit hat, die sich weder unterwirft noch automatisch an die Erwartungen anderer anpaßt; sie hat genügend Stärke und Integrität, sie selbst zu sein.«[10] Sie hat »ein Bewußtsein ihrer eigenen Integrität und deshalb ihrer eigenen Identität, die auf einem Selbst basiert, das einmalig und unzerstörbar ist, weil es in seinem eigenen authentischen und ‚unverwechselbaren‘ Akt des Seins verwurzelt ist.«[11] (Ist das nicht Narzißmus ?) »Der Mensch ist um so stärker, je mehr er seine Persönlichkeit integrieren kann, das heißt auch, je besser er sich selbst durchschaut.«[12] Man ist spontan: »Spontanes Tätigsein ist die freie Aktivität des Selbst. ( ...) Nur wenn ein Mensch nicht wesentliche Teile seines Selbst verdrängt, nur wenn er sich selbst transparent wird ( ...) ist spontane Aktivität möglich.«[13] (Sollen wir aus diesen Sätzen folgern, daß der freie Mensch kein Unbewußtes hat? Das wäre tatsächlich das Ende der Psychoanalyse!) Als Beispiele für Personen mit freier Charakterstruktur führt Fromm Künstler und kleine Kinder an, aber diese Beispiele sind abwegig: Welcher Künstler würde sagen, daß seine guten Arbeiten »sein« Werk seien, oder daß er als Schöpfer sich selbst transparent sei? Und was ist im Verhalten eines Kindes klarer, als daß es aus dem Unbewußten kommt und nicht »integriert« ist?
Wenn das Es mit seiner dunklen Unendlichkeit im psychischen Apparat der freien Persönlichkeit nicht vorhanden ist, kann die Spontanität vielleicht Form annehmen — aber woher stammt der Inhalt? Mit Freud können wir von Spontaneität — z. B. spontanem Witz — sprechen, wenn ein vorbewußter Inhalt der unbewußten Bearbeitung überlassen wird und dann umgeformt wieder auftaucht;[14] dieser Prozeß ist jedem Künstler vertraut. Doch die »freie Persönlichkeit« ist sich selbst vollständig transparent.
»Eine durch Freiheit gekennzeichnete Charakterstruktur.« Es gilt nun sowohl für Horney als auch Fromm, daß die Charakterstruktur und deren »Tendenzen« (Horney) unabhängig von der Entstehungsgeschichte (z. B. im anal-sadistischen Stadium) und unabhängig von der gegenwärtigen. Ausdrucksform analysiert werden könne; so ist »die Liebe die nachhaltende Qualität einer Persönlichkeit, die sich in ihren Manifestationen zwar auf gewisse ‚Objekte‘ bezieht, aber nicht durch diese Objekte bewirkt wird.«[15] Was ist dann also, abgesehen von der Frage nach Ursache und Wirkung, der freie Charakter? Er ist frei, spontan, liebesfähig und produktiv; er kann versprechen und Verantwortung übernehmen; er ist von rationalem Glauben erfüllt. Freiheit reduziert sich darauf, sich auf sich selbst zu verlassen. Spontaneität ist nichts weiter als, man selbst zu sein. Liebe ist nur »die leidenschaftliche Anerkennung eines Anderen auf der Grundlage der Gleichheit mit gegenseitigem Respekt für die Integrität des Anderen«;[16] klingt dies nicht nach Liebe zu sich selbst? Aber woran sonst kann sich die Liebe entzünden, nachdem wir den Tunnel eingerissen haben, der aus der unbekannten Vergangenheit durch das Selbst in die Gegenwart führt? Zu versprechen heißt dann wohl, mit sich selbst identisch zu bleiben. Ah, aber das eigentliche Objekt des rationalen Glaubens ist der Triumph der demokratischen Ideale![17]
Kann diese unabhängige Persönlichkeit, diese reine Freiheit, vollkommen vergangenheitslos und — so können wir daraus schließen — ohne Gegenwart, weder durch körperliche Merkmale noch durch soziale Erfahrung charakterisiert, ohne Unbewußtes, ganz und gar transparent und mit nur einer kleinen Anzahl von Trieben ausgestattet (da die freudschen Triebe ja angeblich neurotische »Tendenzen« sind) — kann also dieses Phantasieprodukt die Basis einer freien Gesellschaft bilden? Mit welchem Inhalt soll diese Negation gefüllt werden?
»Rationale Autorität« und »Demokratische Ideale«
Wenden wir uns der rationalen Autorität zu, die der freien Charakterstruktur entspricht. Sie ist »objektiv und basiert auf der Kompetenz der Autoritätsperson, die leitende Aufgabe, die sie auszuführen hat, zu erfüllen.« Die Führungsrolle wird von den Mitmenschen anerkannt aufgrund »selbst gewonnener Überzeugungen und kritischer Beurteilung der dargebotenen Ideen.« Außerdem »gibt es keine Gesellschaft ohne Autorität und Führung und kann es wohl eine solche nicht geben.«[18]
Erstens: Wie soll denn ein Kind mit objektiven Kriterien entscheiden, ob eine Autoritätsperson kompetent ist? Kinder sind sicher klug und einfühlsam, wenn es darum geht, Zuneigung und auch Aufrichtigkeit einzuschätzen, aber dies geschieht durch einen emotionalen Bezug (gerade hier versagen Erwachsene, die gehemmter sind); objektive Beurteilung ist jedenfalls nicht ihre Sache. Für sie ist rationale Autorität einfach Autorität. Zweitens: Kann ein Erwachsener über die Kompetenz einer Autorität entscheiden, wenn diese unerreichbar ist und, abgeschirmt durch technisches Spezialwissen, sich in einem System jenseits der menschlichen Erfahrungswelt befindet? Wir haben gerade im 2. Weltkrieg erlebt, daß Autoritäten aus objektiven Gründen militärischer Zweckdienlichkeit oder mit der Begründung, unvorsichtige öffentliche Kritik könne internationale Komplikationen schaffen, sich weigerten, ihre »Ideen« zu erläutern. Erkennt die freie Persönlichkeit trotzdem die Autoritätsperson an? Und wie lange wohl? Aber sollen wir glauben, daß Fromm von einfachen Dingen spricht, die jeder versteht und die der offene, furchtlose Blick durchdringen kann? Gewiß nicht ! »Die Nazis«, sagt er, »werden schnell erkennen, daß die moderne Industriegesellschaft unvereinbar ist mit irrationalem Glauben.«[19] Es ist also die moderne Industriegesellschaft, auf die eine freie Persönlichkeit ihr Vertrauen setzen kann, wenn es um kompetente Autorität geht! Ein System, das selbst, unter welcher Autorität auch immer, nur von so seit langem angepaßten Wahnsinnigen wie uns ertragen wird. Wird der Inhalt der freien Charakterstruktur nicht allmählich klar?
Es gibt nur eine Sache, die der offene, furchtlose Blick eines Kindes oder eines gesunden Menschen unfehlbar durchdringen kann: die starken Wünsche und die täglichen Handlungen. Bin ich hungrig? Sexuell befriedigt? Ist das Werk meiner Hände unmittelbar zufriedenstellend? Die unmittelbare Tat, die aus diesen ursprünglichen Trieben resultiert, hat die Kraft, eine revolutionäre Veränderung herbeizuführen; es besteht kein Anlaß, durch formale Fragen, ob die Autorität rational und ob man technisch gesehen frei sei, zu vermitteln. Der soziale Zusammenhalt besteht vor der Delegation von Autorität. Autorität wird pro tempore auf eine Person oder auf ein System von Institutionen übertragen. Freiheit besteht nicht, wie Fromm sagt, in der Übereinkunft, als ein gleichberechtigtes Mitglied in einem größeren sozialen System zu partizipieren, sogar wenn wir es gründlich kennen würden (was nicht der Fall ist und auch nie sein wird), sondern in der fortlaufenden Entwicklung neuer, aus dem Inneren aufsteigender Forderungen und Ideen, die durch die Realität hervorgebracht werden und die sie, einschließlich der Institutionen, verändern. Eine freie Gesellschaft ist für eine solche Revolution offen.
»Solange wie die Menschheit keine Ordnung erreicht hat, in der die Interessen des Individuums und die der Gesellschaft identisch sind, werden die Ziele der Gesellschaft auf Kosten der Freiheit und Spontaneität des Individuums erreicht. Dieses Ziel wird durch die Kinderaufzucht und die Erziehung erreicht. (...) Die progressiven gesellschaftlichen Kräfte glauben, daß ein solcher Zustand möglich ist, daß die Interessen der Gesellschaft und des Individuums nicht für immer antagonistisch bleiben müssen.«[20] Aber was bedeutet der Wunsch nach der Identität von gesellschaftlichen und individuellen Interessen? Entscheidend ist doch, was mit diesem Antagonismus geschehen soll: Besteht nicht die Möglichkeit, daß die Massen Freiheit und Spontaneität in voller Bedeutung wiedergewinnen, indem sie sich allen Formen der Ausbeutung widersetzen? Ist in einem solchen Fall von Zeit zu Zeit nicht gerade die Desorganisation der Gesellschaft erforderlich anstatt die zunehmende Organisation? Warum sollen die gesellschaftlichen Ziele erreicht werden? Ich werfe keine müßige Frage auf, da die Antwort darauf zum Beispiel die Lehrpläne verschiedener progressiver Schulen bestimmt. Und ist es nicht ein Irrtum, vom Menschen und von der Gesamtgesellschaft an sich als gleich bedeutend zu sprechen (ich beziehe mich hier nicht auf die natürlichen Gemeinschaften wie Familien und Freunde)? — da die Freiheit und Spontaneität des Menschen natürlich gewachsen, die Institutionen aber geschaffen worden sind.
Was ist nach Fromm die soziale Struktur, die eine freie Charakterstruktur ermöglichen würde? Zunächst, sagt er, müssen wir die errungenen Rechte wahrnehmen: »das grundsätzliche Recht auf die repräsentative Regierungsform« — die Bill of Rights — und das neue Recht, daß »die Gesellschaft für alle ihre Mitglieder verantwortlich ist; niemand soll in die Abhängigkeit getrieben werden und seinen Stolz aus Angst vor Arbeitslosigkeit und Hunger verlieren.« Ein Psychologe, der solches Gewicht auf die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft legt, meint also, daß die repräsentative, nicht die direkte Regierungsform, ein fundamentaler politischer Akt sei! Und ein Progressiver, der das Ende des Systems der Ausbeutung anstrebt, findet, daß die Gesellschaft für ihre Mitglieder verantwortlich ist, nicht daß sie lernen sollen, für sich selbst verantwortlich zu sein!
Dann: »Die irrationale und planlose Eigenart unserer Gesellschaft muß durch eine geplante Wirtschaft ersetzt werden, welche die gemeinsamen konzentrierten Anstrengungen der gesamten Gesellschaft repräsentiert. Die Gesellschaft muß das soziale Problem auf ebenso vernünftige Weise meistern, wie sie die Natur gemeistert hat.« Ist das die Sprache eines Anti-Autoritären? »Heute hat die große Mehrheit des Volkes nicht nur keinerlei Kontrolle über die gesamte Wirtschaftsmaschinerie, sie hat auch kaum eine Chance, an ihrem Arbeitsplatz eine echte Initiative und echte Spontaneität zu entwickeln. (...) Nur in einer Planwirtschaft, wo die gesamte Nation auf vernünftige Weise die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte unter Kontrolle hat, kann der einzelne an der Verantwortung teilhaben und seine schöpferische Intelligenz bei der Arbeit einsetzen.«[21] Das ist ganz einfach falsch. Wenn sie einmal eine Chance hatten, beweist dies die Erfahrung anarchistischer Gruppen.[22] Was er ausmalt, ist in Wirklichkeit Stakhanovismus. Wäre er sich über die tatsächlichen Verhältnisse in der Industrie im klaren, würde er erkennen, daß Initiative und Phantasie des einzelnen Arbeiters eben gerade Lockerung und Dezentralisierung der Wirtschaft, die größtenteils viel zu geplant ist, verlangen. »Wenn nicht die Planung von oben«, führt Fromm fort, »mit einer aktiven Mitwirkung von unten Hand in Hand geht (...), wird eine Planwirtschaft nur zu einer neuerlichen Manipulation der Menschen führen.«[23] Warum ist es notwendig, »Hand in Hand« zu gehen? Warum kann die Ökonomie nicht grundsätzlich zunehmend von unten geleitet werden, wie man es in den Vorschlägen der Anarcho-Syndikalisten findet? (Soll man glauben, daß Fromm diese Möglichkeit tatsächlich nicht kennt?)
Das System der Soziolatrie
Die Methode Fromms und Horneys besteht darin, die Seele zu entleeren und danach wieder zu füllen. Gefüllt wird sie mit Konformität und rationalem Glauben : »Die Ziele des Individuums und der Gesellschaft sind identisch.«
Die prinzipielle Entscheidung, daß die Charakterstruktur einseitig aus der Vergesellschaftung und nicht aus dem Konflikt zwischen Trieb (einschließlich des sozialen Triebes) und Vergesellschaftung abgeleitet wird, macht es einfach, sich eine »freie Gesellschaft« vorzustellen, die die »freien Persönlichkeiten« nicht unterdrückt. Jedenfalls, solange die Diskussion rein formal und juristisch bleibt. Aber: (1) Was geschieht, wenn der politische Gehalt der Struktur sich dann als die »bürgerlichen Freiheiten« und als die »moderne Industriegesellschaft« entpuppt? Und (2) was ist zwischenzeitlich aus der revolutionären Kraft des Triebkonflikts geworden, institutionelle Veränderungen herbeizuführen?
Einerseits haben wir die freie Persönlichkeit: per defitionem ist sie nicht neurotisch, da sie weder Konflikt noch Traum kennt. Ihre vorhandenen Wünsche sind transparent, da sie von der gesellschaftlichen Zustimmung im Vordergrund des Bewußtseins gehalten werden; eine andere gesellschaftliche Struktur würde ihre Anzahl und ihre Intensität verändern; wenig an ihnen ist natürlich, unveränderlich oder kulturell gefährlich.
Aber andererseits ist der soziale Zusammenhalt selbst nichts weiter als die wechselseitige Widerspiegelung dieser selbstsicheren Entitäten. Erinnern wir uns an die Definition des Wortes »Liebe«. Ist es nicht das eigentliche Bild eines kleinen Akademikers? Wo gibt es in diesem Spiegelsaal Platz für Individualität oder Brüderlichkeit?
Was ist der rationale Glaube?
»Um überleben zu können, braucht der Mensch Glauben. Um heute und in Zukunft überleben zu können, braucht jedermann rationalen Glauben. Nur in einer sozialen Ordnung, die die demokratischen Ideale verstärkt realisiert, kann der notwendige rationale Glaube sich entwickeln und erhalten.
Im Verlauf der Menschheitsgeschichte sind die Objekte des Glaubens immer rationaler geworden und in eine wachsende enge Beziehung mit praktischen Fragen sozialer und politischer Organisation getreten.
Während auf Solidarität und Verantwortung in Kriegszeiten besondere Betonung gelegt wird, tendiert die Entwicklung im Frieden zur Entwicklung eines unverantwortlichen Egoismus.«[24]
Es ist nicht schwierig zu sehen, was hier mit Rationalität, Solidarität und Verantwortung gemeint ist — wo haben wir diese Wörter bereits gehört? Es ist das, wohin die demokratischen Regime mehr und mehr tendieren; die Kriegsmoral, die man empfindet, wenn man ohne Regenmantel das Haus verläßt, ist dafür ein gutes Beispiel.
Was ist also der Inhalt des rationalen Glaubens? Es ist die Erweiterung einer freiheitlichen Haltung. Und was ist der Akt der freiheitlichen Haltung? Es ist die Haltung von Teilnahme an der gesellschaftlichen Solidarität. Und was ist das Ziel dieser Haltung? Es ist die Haltung von Respekt vor der Integrität des anderen... nirgendwo ist in diesem Geschwätz auch nur eine Spur von Inhalt !
Inzwischen ist der Inhalt aber sonnenklar: Es ist das fortgesetzte und effiziente, von keinen psychischen Problemen beeinträchtige Funktionieren der modernen Industriegesellschaft in Kriegs- und Friedenszeiten. Das wird für selbstverständlich gehalten!
Vor fast einem Jahrhundert, zur Zeit von Louis Napoleon, dem Erben der 48er Revolution (ja, genauso wie das Über-Ich Erbe des Ödipuskomplexes ist) dachte sich Auguste Comte, ein großer Mann mit wesentlich mehr Erfindungsgabe als all diese Fromms und Horneys, sein System der Soziolatrie aus, ein rationaler Glaube für die geistige Organisation des Menschen, damit die moderne Industriegesellschaft in Krieg und Frieden besser funktionieren würde. Verglichen mit der Soziolatrie ist Fromms System lediglich eine blaße Imitation.
III.
Welches Vergnügen ist es, sich von dieser kleinbürgerlichen Ethik einer freudschen Abspaltung auf der Linken zuzuwenden! Ich spreche vom Werk Wilhelm Reichs, der 1933 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgestoßen wurde, weil er darauf bestanden hatte, die offensichtlichen Implikationen der ursprünglichen Triebtheorie in die soziale Aktion einfließen zu lassen (mit weiteren sich daraus ergebenden revolutionären ökonomischen Forderungen). Diese Starrköpfigkeit hat ihn auch bei den Marxisten nicht beliebt gemacht, obwohl er Marxist ist. Ob man nun Reich in all seinen theoretischen Abweichungen folgt oder nicht — und es scheint mir, da er nicht über Freuds wundervoll intuitive Zentralität innerhalb der Wissenschaften vom Menschen verfügt, daß er die Komplexität von Freuds Auseinandersetzung mit dem psychischen Apparat übersieht —, was die unmittelbare soziale Agitation betrifft, wendet er das, was bei Freud so wesentlich und unbestreitbar ist, auf so offensichtliche gesellschaftliche Mißstände an, daß man ihm vorbehaltlos zustimmen muß. Unter Berücksichtigung der nicht zu bestreitenden erschreckenden Verbreitung der Neurosen, die nach Reichs Kriterien der »echten orgiastischen Potenz« und des Orgasmusreflexes die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung betrifft,[25] zeigt er an einigen Fällen die Sinnlosigkeit von medizinischer Behandlung auf; er argumentiert, daß Analytiker, die ihre Autorität nicht zur unmittelbaren sexuellen Befreiung in Erziehung, Moral und Ehe einsetzten, keine richtigen Ärzte seien. In Fallgeschichten weist er nach, daß sexuell gesunde und sinnliche Menschen nach der Behandlung nicht mehr ihre bisherigen mechanischen Routinejobs tolerieren, sondern sich — ganz gleich mit welchen Unannehmlichkeiten — einer Arbeit zuwenden, die spontan und unmittelbar sinnvoll ist.
»War die Arbeit, die sie leisteten, geeignet, seelische Interessen zu absorbieren, so blühten sie auf. War jedoch die Arbeit mechanisch, wie etwa die eines Angestellten, Kaufmanns oder Rechtsanwalts mittlerer Art, dann wurde sie eine fast unerträgliche Last. In solchen Fällen hatte ich es schwer, die nun eintretende Schwierigkeit zu meistern. Denn die Welt war auf Berücksichtigung des menschlichen Arbeitsinteresses nicht eingestellt. Pädagogen, die bis dahin in der Erziehung zwar liberal, doch sonst nicht wesentlich kritisch waren, begannen die übliche Art, mit Kindern umzugehen, als schmerzlich und unerträglich zu empfinden.
Die Veränderung der Kranken im Sinne dieser moralischen Ordnung war weder negativ noch positiv eindeutig. Die neue seelische Struktur schien Gesetzen zu folgen, die mit den gewohnten Forderungen und Anschauungen der Moral nichts gemeinsam hatten. Sie folgte Gesetzen, die mir neu waren, die ich nie vorher geahnt hatte. Das Bild, das sie am Ende geschlossen boten, entsprach einer anderen Art Sozialität.
Die moralische Struktur folgt nach außen den starren Gesetzen der moralischen Welt, paßt sich ihr äußerlich an und rebelliert innerlich. Dadurch ist sie der Dissozialität in höchstem Grade ausgesetzt, einer unbewußten, zwangs- und triebhaften Dissozialität. Die gesunde, durch Selbststeuerung bestimmte Struktur paßt sich dem irrationalen Teil der Welt nicht an und setzt ihr natürliches Recht durch.«[26]
Er folgert, daß die Unterdrückung frühkindlicher und jugendlicher Sexualität durch Familie, Schule und Kirche und durch solche Bedingungen wie unzumutbare Wohnverhältnisse und ökonomisch erzwungene Enthaltsamkeit die direkte Ursache für die Unterordnung unter die gegenwärtigen politischen Systeme sei. Menschen ohne Unterdrückung würden sich eine friedliche und ausreichend geordnete Gesellschaft schaffen. Allgemein gesagt fordert er »die Beteiligung der Fabrikarbeiter am Management von Produktion und Distribution, im Gegensatz zu der Vertretung ihrer Interessen durch Parteien oder Gewerkschaften, bei der die Arbeiter selbst passiv bleiben.«[27]
Wie gelangt er hierzu ?
Zuerst geht er zu Freuds ursprünglicher Beobachtung zurück: Die Energie der Angst ist die Energie unterdrückter Sexualität. Im Zustand der Aktualneurose (z. B. hervorgerufen durch häufig abgebrochenen Geschlechtsverkehr oder durch einen plötzlichen Verzicht auf Masturbation) ist sie der eigentliche Grund der Angst, und in jeder Psychoneurose gibt es einen Kern Aktualneurose. Das ist die Position, die Freud später nicht für falsch, aber für zweitrangig erklärte,[28] als er das Gewicht auf die furchtsame Wahrnehmung der strafenden Autorität und die Systematisierung des Ich gegen die Triebe legte (Horney nimmt diese zweite Position ein und vernachlässigt die Ursache der Angst). Aber Reich argumentiert wie folgt: Es ist der Kern der Aktualneurose, der die Erwartung der Strafe erzeugt, da man keine lebhafte Vorstellung ohne eine innere Energiequelle haben kann; danach führt die angstvolle Erwartung zu einer Wiederholung der Verdrängung und dies verstärkt natürlich die Aktualneurose – und überführt sie schließlich in die Psychoneurose.
Um die aus einer real erfahrenen Bestrafung herrührende Angst in einen ständigen Zustand der Furcht und Unterwürfigkeit zu verwandeln, ist nur etwas Deprivation notwendig; es sei denn, daß der Kreis durch positive Gratifikation durchbrochen wird. Es genügt nicht, die unbewußten Assoziationen zu reduzieren; wenn der Patient keine positive sexuelle Befriedigung erfährt (und sei es durch Masturbation), wird der Kreislauf der Angst wieder beginnen. Um die innere Spannung und die Angst zu vermeiden, spannt das Kind seine Muskeln an, hält den Atem an und errichtet so tatsächlich einen Charakterpanzer gegen seine Sexualität: dies wird, nach der Hinzufügung vieler Schichten, zu dem oben beschriebenen »moralischen Charakter«.[29] Wir sehen also, warum Reich anhand der Analyse von Charakter und Neurose den Großteil der Bevölkerung als krank betrachtet und warum er behauptet, daß es eine moralische und ökonomische Revolution geben muß, vielleicht besonders im Hinblick auf die Adoleszenz, da in ihr die Triebe durch die Panzerung stoßen und die Möglichkeit wirklicher Gratifikation besteht. Reich fügt in der ärztlichen Therapie dem freudschen Ziel der Aufdeckung und des Wiedererlebens des Konflikts die absolute Notwendigkeit aktiv erlebter orgiastischer Potenz und Gratifikation hinzu. Eine kurze Überlegung wird zeigen, wie wesentlich dies die Rolle des Arztes verändern muß.
(Um eine »andere Art Sozialität« auf der Triebbefreiung allein errichten zu können, zeichnet Reich ein Bild des Trieblebens, das meines Erachtens extrem einfach und rousseauistisch ist. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt genügt dieses Bild als eine »Minimalforderung«, mit der sich eine Massenbasis herstellen läßt.)
IV.
Lassen Sie mich die Argumente dieses Essays zusammenfassen: Ich habe versucht aufzuzeigen, daß in der gegenwärtigen Situation unbestrittener Massenneurose drei verschiedene Neurosentheorien direkt drei unterschiedliche politische Philosophien beinhalten:
1. HORNEY-FROMM: Der Kern der Neurose ist die Niederlage der Persönlichkeit im Konflikt mit der irrationalen Autorität; die Therapie besteht darin, diese Autorität abzubauen; in der freien Gesellschaft herrschen die Sachkundigen als Repräsentanten freier Persönlichkeiten. Die Triebe spielen keine wesentliche Rolle. Wir haben gesehen, daß eine solche Gesellschaft nur formal wünschenswert ist; daß sie wie jede juristische Formel eine Art negative Schutzvorkehrung — z. B. gegen Ausbeutung — darstellt; daß der gegebene Inhalt dem industriellen status quo ähnelt; daß jede revolutionäre Dynamik, die etwas verändern könnte, verpufft ist. Es ist die Psychologie der kommenden Soziolatrie. (Im freudschen Sprachgebrauch: erotisiertes Ich.)
2. REICH: Hier liegt der Kern der Neurose im Mangel an Triebbefriedigung und das Ziel der Therapie ist es, Triebbefriedigung zu geben. Orgiastisch potente Menschen tolerieren Autorität oder die modernen Industrieformen nicht, sondern schaffen instinktiv neue Formen. Die Funktion des wertenden und Entscheidungen treffenden Ich wird zum größten Teil nicht berücksichtigt und die Triebe werden deswegen simplifiziert und harmonistisch eingeschätzt. Im Augenblick ist eine solche Theorie in ihren positiven Aussagen zu bejahen (aber nicht in allem, was sie verneint), da sie über einer enorme revolutionäre Dynamik verfügt. Sie ist die Psychologie der Revolution. (Das rationalisierte Es.)
3. FREUD: Der Kern der Neurose liegt in der Abwehr der Triebe durch das Ich und das Ziel der Therapie ist es, das Ich wieder zu einem Teil des Es zu machen. Eine gute Gesellschaft (die wir gleich erörtern werden) bietet die Möglichkeit maximalen Glücks für das nicht-rationale Es, dessen Triebregungen teils sozial und teils anti-sozial, teils schöpferisch und teils archaisch sind; die Kultur ist die Kunst und die Wissenschaft des Ich als dem Interpreten der Realität. Tatsächlich ist diese Kunst, was Freud verschweigt, nur möglich, nachdem eine geglückte Befreiung natürliche Alternativen freigesetzt hat, unter denen man wählen kann. Es ist die Psychologie der Post-Revolution. (Das Ich als Teil des Es.)
Nachtrag: Freuds Politik
Lassen Sie mich etwas über Freuds politische Schriften sagen. Es gibt einen bemerkenswerten, fast unheimlichen, offenen Widerspruch zwischen seinen therapeutischen Zielen und seiner Metatheorie. Seine Theorie besteht darin, den Trieb zu befreien und den übertragenen und transformierten Eros in seine ursprüngliche Form zu überführen. Seine Politik betont die Notwendigkeit der Triebunterdrückung (und zwar noch mehr Unterdrückung als bereits gegeben ist!) und die Sublimierung des Eros in die sozialen Bande brüderlicher Liebe. Aber erinnern wir uns: Das Umfeld seiner Therapie war eine stille Zwiesprache zwischen einem klugen Arzt und einem klüger werdenden Patienten; so konnte man der Vernunft vertrauen, um sich auf die Natur zu berufen. Und das Umfeld seiner Politik? »Das Unbehagen in der Kultur« erschien 1929, als die Nazis stark wurden, als die russische Revolution, auf die Freud große Hoffnungen gesetzt hatte,[30] von innen her scheiterte, als der Krieg sich ankündigte, während man trotzdem noch um eine Möglichkeit kämpfte, den Frieden zu erhalten. Zu dieser Zeit sagte Freud, ein Bewunderer Lenins, tatsächlich, daß der Kapitalismus zumindest den einen Vorteil habe, daß er ein nicht total fatales Ventil für aggressive Energien sei! Er war 74 Jahre alt und, wie wir wissen, krank und müde.[31]
Freud war kein guter Beobachter unserer kulturellen Phänomene; man hat das Gefühl, daß seine soziale Erfahrung aus zweiter Hand stammt, etwa aus Zeitungen. Umso klarer ist sein wunderbares und wichtiges Verständnis für das breite Spektrum der menschlichen, vom Wechsel der Dynastien unabhängigen Kultur, wie sie sich in der Antrophologie und der Geschichte der Religionen zeigt. Streng genommen war er nicht einmal ein Gelehrter und ich sage nicht, daß seine Spekulationen stimmen; aber er kannte, mehr durch Genie als durch Ausbildung, die Fakten, die relevant sind und die notwendigen Wertungen, so daß heute seriöse Gelehrte sich seiner Katgorien bedienen. Diese Art Weisheit ist bei der praktischen Lebensführung nicht brauchbar und deshalb wenden wir uns Reich zu.
Aber sie wird unschätzbar sein, wenn eines Tages Natur und Frieden sein werden; so wie sie heute bereits den Künstlern und Dichtern große Dienste leistet, die mit innerem Frieden und innerer Natur arbeiten. Dann wird es die Aufgabe der Politik sein, den Reichtum zu vergrößern und die Farbe des Glücks zu vertiefen (genau das Glück, an dem Freud verzweifelte); dann wird man die einfachen Formeln eines Reich nicht mehr gebrauchen können, und wir müssen uns Freud zuwenden. Ich möchte ein Beispiel nennen. Reich sagt, daß wir unserer freien Liebe vertrauen sollten, dies würde eine »andere Art Sozialität« schaffen. Gut! Schön! Aber denken wir einmal an Ödipus und Geschwisterinzest. Wäre eine entwickelte Gesellschaft möglich, wenn viele Menschen inzestuös wären und mit vollkommener Befriedigung die bereits so starken familiären Bindungen zementierten? Würden sie je das Nest verlassen? Diesem großen Privileg von Göttern und Pharaonen darf man deshalb vielleicht nicht vertrauen, sondern es muß sublimiert werden: »Das Verbot der inzestuösen Objektwahl«, sagt Freud ist »vielleicht die einschneidenste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Lauf der Zeit erfahren hat.«
»Kultur«, sagt er, folgt »dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht. Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßnahmen.«[32]
Dies ist nicht die Weisheit, die wir heute gebrauchen können; aber wäre sie nicht nützlich für einigermaßen vernünftige und natürliche Menschen, die ihr Leben noch weiter verbessern möchten [sic]?
Es gibt noch einen anderen melancholisch stimmenden Grund für die Mängel in Freuds politischem Denken und Handeln. Er war der Vater der psychoanalytischen Bewegung — liebevoll, aber auch furchteinflößend, wie man an der Heftigkeit und Feindseligkeit ersehen kann, mit der einige Analytiker mit ihm brachen (z. B. Adler); an den beschönigenden Lobreden anderer (wie Horney) gerade zu dem Zeitpunkt, wo sie alles auf den Kopf stellen; an der rührenden Verehrung jener, die beweisen wollen, dass sie mit ihm übereinstimmen, selbst wenn es nicht stimmt (wie Reich). Von Anfang an war die Psychoanalyse das Ziel bitterer Angriffe und persönlicher Verleumdungen von seiten einer ganzen Phalanx sozialer Institutionen, die sie unterminierte. Freud beschützte sein Kind; es war unvermeidlich, daß er es zu sehr in dem Glauben behüten würde, durch Vorsicht könne es eher überleben als durch eine Zeugenaussage für die Wahrheit.
Selbst als er über achtzig Jahre alt war (1938), hatte er Angst davor, den »Moses« in Wien veröffentlichen zu lassen, weil die katholische Kirche ihre »Unterstützung« zurückziehen und die Bewegung zerstören könnte![33]
Und dies vom Autor von »Die Zukunft einer Illusion«! Würde man nicht sagen, daß er senil war? Schande, aber nicht über Freud, sondern über die Welt, die ihren alten Lehrmeister zu solcher Verwirrung treibt!
Eine Erwiderung von C. Wright Mills und Patricia J. Salter:
Die Barrikade und das Schlafzimmer
Die Konservativen haben seit jeher die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur hervorgehoben, während die Progressiven die soziale Formbarkeit der Charakterstruktur des Menschen betont haben. Die Konservativen haben versucht, jeden status quo zu stützen, indem sie sich auf die Triebe der Menschen berufen haben. Nun versucht Paul Goodman einen bestimmten status quo zu stürzen, indem er sich offensichtlich auf die gleiche Triebnatur beruft.[39] Er führt uns eine Metaphysik der Biologie vor, in der er nicht weniger als eine Revolution verankern möchte.
Der Unterschied zwischen Goodmans Metaphysik und zum Beispiel von Max Eastman (»Der Sozialismus paßt nicht zur menschlichen Natur«) ist, daß Eastman die bestehende soziale Ordnung in seinem biologischen Verständnis gründet, während Goodman seine Biologie als Hebel benutzt, um den Kapitalismus zu stürzen und den Anarchismus zu errichten. Wenn die bestehenden Institutionen und besonders das Privateigentum gestürzt werden, »überläßt man die Techniken der modernen Industrie und Erziehung auf Gedeih und Verderb den nackten Instinkten einer wilden Horde.« Dagegen behauptet Goodman, daß bei einer Befreiung der Triebe, besonders der sexuellen, der Mensch vielleicht nicht mehr neurotisch wäre und den Himmel auf Erden errichten würde : »Freie Menschen werden sich eine Gesellschaft aufbauen, die einigermaßen friedlich und geregelt ist.« Es gibt nach Eastman »einen Trieb«, eine »richtige Leidenschaft für Reglementierung und Anhängerschaft, einen Wunsch, geführt zu werden, zu folgen und sich anzupassen...« etc. Und unabhängig davon, wie sehr sie unterdrückt oder durch die Erziehung angeleitet werden, »tauchen diese Triebe in der ursprünglichen Form wieder auf«. Goodman hingegen leitet von Reich ab, daß die direkte Ursache für die »Unterordnung der Menschen unter die gegenwärtigen politischen Systeme die Unterdrückung der frühkindlichen und adolszenten Sexualität« ist. Auf der Basis der ungehemmten Befreiung dieser Sexualität würde der Mensch dann genuin freie und menschliche (nicht wilde) Institutionen errichten. So bestimmt die Wahl der Biologie die daraus resultierende politische Ordnung.
Die Schlüsseltaktik dieser politischen Berufung auf die Biologie ist die Verschleierung ethischer Wahlmöglichkeiten durch eine Metaphysik der Biologie. Die Verwechslung moralischer Wahlmöglichkeiten mit Theorien von der Biologie der Persönlichkeitsentwicklung ist eine strukturelle Unzulänglichkeit in Goodmans Essay.
Die spekulative Erkenntnis, daß die soziale Existenz des Menschen sein Bewußtsein bestimmt, wird seit langem von der modernen Sozialpsychologie bestätigt. Goodman gibt zu, daß es ihm an Verständnis für die soziologische Theorie der Persönlichkeitsbildung mangelt. Er stellt fest, daß die Persönlichkeit, wenn sie sich nicht nach dem freudschen Modell entwickelt, »offensichtlich aus dem Nichts kommt«. Deshalb sieht er unterschiedliche Kindheitsverläufe, die Biographie und die soziale Struktur nicht in ihren verschlungenen und hochentwickelten Wechselbeziehungen. Er versteht nicht, daß die soziale Eingliederung von Trieb und Gefühl in einer bestimmten Phase der psychischen Struktur eventuell nicht ausreichend sein kann, um den sozialen Anforderungen späterer Rollen zu genügen. Aber natürlich können solche sozial erzeugten Spannungen sowohl Neurosen als auch viele psychische Dispositionen zur gesellschaftlichen Veränderung schaffen.
Es gibt eine generelle Kontinuität zwischen der soziologischen Freud-Version von Fromm und Horney und dem Antipsychologismus von Marx. Ein Aspekt dieser Kontinuität ist der Gedanke, daß die Probleme einer bestimmten Sozialstruktur, einschließlich der Neurosen ihrer Angehörigen, nicht auf die der biologischen Natur des Menschen zurückgeführt werden können. Anzunehmen, daß der biologische Organismus als Basis für ein Urteil über eine bestehende oder erträumte soziale Ordnung benutzt werden kann, heißt einfach die Theorie des Sozialvertrags von Staat und Institutionen zu biologisieren.
Der kapitalistische Markt kann nicht von einer Untersuchung des industriellen Menschen abgeleitet werden; ebensowenig können die durch ihn erzeugten Frustrationen verstanden werden, wenn man die formale biologische Ausstattung des Menschen untersucht. Tatsächlich werden die besonderen Impulse, die den industriellen Menschen erhalten, durch deren Operationen auf verschiedenen Märkten geformt. Diesen Impulsen wird nur durch die menschliche Teilnahme an bestehenden Institutionen Inhalt gegeben.
Goodman sorgt sich, daß eine soziologisch ausgerichtete Psychologie »die revolutionären Kräfte des Triebkonflikts verlieren könnte, die zur gesellschaftlichen Veränderung notwendig sind«. Er glaubt, daß »es die direkte Aktion dieser ursprünglichen Triebe (Sex, Hunger etc.) ist, die die Kraft hat, eine revolutionäre Veränderung herbeizuführen«. So lokalisiert er die Triebkräfte der Revolution in einer massenhaften biologischen Freisetzung.
Diese geschlechtliche Revolutionstheorie wäre amüsanter, wenn Goodman versuchen würde, eine historische Revolution damit zu interpretieren. Dann müßte er das historische Kräftespiel von Klassenstrukturen, das Auseinanderklaffen von unwiderstehlichen Aspirationen und sozial erlittenen Entbehrungen, die plötzliche Niederlage von Massenarmeen, die Gewalt der Ideologien, das langsame Anwachsen von Gegenkräften, die ganzen Veränderungen in der institutionellen Struktur sowie die Umverteilung von Macht, Eigentum und Prestige irgendwie wie historische Kaninchen aus seinem biologischen Hut zaubern. Offensichtlich sind die von Klassenzugehörigen vertretenen Positionen und übernommenen Interessen ohne Bedeutung für das revolutionäre Kräftespiel. Würden also die kapitalistischen Manager von General Motors »orgiastisch potent«, dann würden sie wahrscheinlich wie »befreite« und organisierte Arbeiter die Institution des Privateigentums stürzen.
Das revolutionäre Kräftespiel ereignet sich innerhalb institutioneller Strukturen. Die Motivation des Individuums, sich in Bewegungen für oder gegen den Status Quo zu engagieren, muß aus den unterschiedlichen Positionen heraus verstanden werden, in dem es sich innerhalb dieser Strukturen befindet und aus der gelebten Biographie innerhalb und jenseits der Kreise seiner Gesellschaft. Der »locus« der Freiheit und der historischen Triebkraft sind nicht die Geschlechtsdrüsen, sondern die politische und ökonomische Ordnung.
Die erotische Sphäre ist mit der ökonomischen und politischen Ordnung nicht direkt verbunden und gewiß nicht so, wie Goodman glaubt. Obwohl sich keine allgemeine Regel über dieses Verhältnis aufstellen läßt, scheint es, daß sich politische Energien häufiger mit sexueller Askese und sexuelle Hemmung mit einem Mangel an politischer Initiative paaren. Es ist einfach, sexuell freie und unkomplizierte Charaktere mit sexuell asketischen Revolutionshelden zu vergleichen. Das seiner Arbeit entfremdete Individuum kann sich in der modernen Gesellschaft dem Sex zuwenden. Reich hat vielleicht bei mehreren Fällen diesen Prozeß durchgeführt und ihm seine Zustimmung als Analytiker gegeben. Aber »sexuell freie« Menschen wenden sich nicht gegen die Institutionen, die eine ihrer größten Möglichkeiten zur Selbstdarstellung zerstören — die kreative Arbeit. Im Gegenteil bemächtigen sich die gegenwärtigen Institutionen, die Durant »die Maschinerie des Amüsements« genannt hat, geschickt des »Sex« und beuten ihn als den zentralen Wert von »Spaß« und »glamor« aus. Der Kreislauf »orgiastischer Potenz« führt eher von Schlafzimmer zu Schlafzimmer als vom Schlafzimmer zur Barrikade.
»Orgiastische Potenz« ist nicht der Schlüssel zur »Freiheit«; sowenig wie sie der Hebel zur Revolution ist. Innerhalb des breiten Spektrums sexueller Ausdrucksmöglichkeiten, das der Gattung zur Verfügung steht, wird der freie, rationale Mensch die Sexualität innerhalb seiner Lebensordnung als einen Wert unter vielen behandeln. Da viele Menschen von den heutigen Institutionen geprägt sind, sind sie weder frei noch rational und letztlich nicht fähig, die Sexualität so zu behandeln. Victor Mature und Betty Grable sind deshalb die augenblickliche Vorstellung von »orgiastischer Potenz«. Wir sehen nicht ein, was ihre Eigenheiten oder die ihrer Nachahmer mit Freiheit oder Revolution zu tun haben sollen. Als Werte eines Lebenstils für freie Männer und Frauen lenken sie eher von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit politischer Ungerechtigkeit ab.
Wie Max Weber festgestellt hat, war Sex historisch gesehen oft sozial und psychisch mit der Religion und magischen Orgiastizismus verknüpft. Sex ist eine der großen irrationalen Kräfte und wenn er von gewissen psychoanalytischen Therapien oder von anderen ideologischen Manipulationen kultiviert wird, kann er zum Erotizismus werden, zum Selbstwert und Selbstzweck.
Die Erhöhung vom Sex zum Erotizismus als einem zentralen Wert der modernen Kultur muß in Verbindung mit der Sozialstruktur feudaler Ehre und Vasallenschaft gesehen werden. Spätere Formen dieser Entwicklung, einschließlich der rationalistischen Entwicklung des modernen Arbeiters, müßten untersucht werden, um die Gesamtheit dieses Phänomens zu erfassen. Kurz gesagt, welche Rolle »Sex« in der Entwicklung und im Leben verschiedener menschlicher Typen spielt, ist zum großen Teil ein Problem der soziologischen Geschichte der Werte, die mit Sex verknüpft sind.
»Das Reich der Freiheit«, von dem Marx und die Linke im allgemeinen geträumt haben, beinhaltet die Herrschaft über das eigene Schicksal. Eine freie Gesellschaft beinhaltet die soziale Möglichkeit und die psychologische Fähigkeit, rationale politische Entscheidungen zu treffen. Die soziologische Theorie der Charakterentwicklung sagt, daß der Mensch solche Entscheidungen nur unter günstigen institutionellen Bedingungen treffen kann. Sie führt so zu einer Betonung der Notwendigkeit, Institutionen zu verändern, um die Fähigkeit des Menschen, frei zu leben, zu vergrößern. Aber die Freiheit in die Befreiung der biologischen Triebe zu verwurzeln, leugnet die menschliche Fähigkeit zu rationaler Freiheit und verwandelt Freiheit in Protoplasmagratifikation. Wenn wir Goodmans Vorstellung von der Freiheit, die Kultivierung biologischer »Befreiung«, akzeptieren, wird die Freiheit mit den Irrationalitäten der Freizeit und des Privatlebens identifiziert.
Rationalität und Freiheit sind Werte, die gesellschaftlich errungen werden müssen. Aber in der rousseauschen Konzeption, die Goodman offensichtlich vertritt, wird Freiheit »natürlich« an einzelne Menschen verschenkt. Um zu erblühen, braucht sie nur die Befreiung von institutioneller Knechtschaft. In Wirklichkeit würde diese Freiheit den Menschen zu einem Sklaven seines Triebes machen und das rationale Element der Freiheit als sozialer Errungenschaft verleugnen.
Die Bedingung der Freiheit sind spezifizierbare institutionelle Übereinkommen. Aber ihr »locus« liegt nicht zwischen den menschlichen Trieben und den Institutionen. In allen uns bekannten Gesellschaften werden diese Triebe inhaltlich durch die herrschenden Werte strukturiert und definiert. Der gesellschaftliche Mensch lernt zu wollen, was objektiv zur Ausübung institutionalisierter Rollen gebraucht wird. Werte und Losungen legitimieren diese Rollen und die abgerichteten Triebe, die ihre Ausübung unterstützen. Freiheit liegt im Angebot der Rollen, die Individuen und Gruppen zur Verfügung stehen. Ihr »locus« ist das institutionelle Arrangement dieser Rollen, nicht die Abwesenheit des Konflikts zwischen Naturtrieben und der Struktur der Institutionen.
Das psychologische Problem einer sozialistischen Bewegung ist nicht, wie die ‚orgiastischen Potenzen‘ der Menschen zu befreien sind, sondern den Menschen rational und kritisch bewußt zu machen, wo ihre Interessen liegen und wie sie diese kollektiv realisieren können.
Eine sozialistische Sicht der menschlichen Natur wird gewiß erkennen, daß der Mensch ein historisches Geschöpf ist. Sie wird das menschliche Werteschema nicht mit biologischer Metaphysik verschleiern. Sie wird die kollektiven, im Kapitalismus existierenden Arbeitsbedingungen erkennen, die in jeder anderen modernen Industriegesellschaft fortdauern werden. Sie wird ganz genau sehen, daß die Institutionen dieser kollektiven Arbeit, auf das bürokratisierte Privateigentum aufgesetzt, der Grund sind für die Entfremdung des Menschen von einer seiner größten Möglichkeiten, sich mit der Realität schöpferisch auseinanderzusetzen. Sie
wird sehen, daß die Chance einzelner Menschen, ihre Lebensvorstellungen rational zu gestalten, in zunehmendem Maße durch die Ausbreitung und den Zugriff korporativer Institutionen unmöglich gemacht wird. Das Ziel einer sozialistischen Bewegung und der Ideologie, die sie entwickeln
wird, wird diesen Tatsachen gerecht werden müssen.
Gerade wegen der Abhängigkeit des »innersten Wesenskernes« des Menschen von den Institutionen sollte ihm die Chance gegeben werden, an der Gestaltung dieser Institutionen teilzuhaben, denn nur indem er seine soziale Struktur verändert, kann er kollektiv sein individuelles Selbst ändern. Das Problem der Freiheit wird im Sinne des ungehinderten Ausdrucks der menschlichen Triebe nicht adäquat erfaßt. Freiheit, wie auch andere Werte, nach denen wir streben sollten, muß in Begriffen institutioneller Strukturen und der Möglichkeit rationaler, sozialer Planung gesehen werden. Überlassen wir Goodman seine Schlafzimmerrevolution.
Wir haben immer noch nach den Barrikaden unserer Freiheit zu suchen.
C. Wright Mills/Patricia J. Salter
Die Antwort Paul Goodmans:
Die beiden Autoren verwechseln zwei Fragen: (a) das »Biologische« im Gegensatz zum »Sozialen«; (b) die »menschliche Natur« im Gegensatz zum »historischen Charakter«! Zum ersten läßt sich sagen, daß nach Freud unsere ererbte Natur durch und durch sozial ist; dies ist auch die Meinung von Proudhon, Kropotkin, Marx und Engels, weshalb sie eher Sozio-Psychologen als Individualpsychologen sind und sie entwickeln verschiedene, aber miteinander vereinbare Vorstellungen von der ursprünglichen sozialen Natur. Zum Beispiel sehen Marx und Engels die gemeinschaftliche Arbeit als die biologische Determinante für die Entwicklung unserer Gattung an, und deshalb verbinden sie den aufrechten Gang mit der Befreiung und Vervollkommnung der Hand; Freud, der mehr die Reproduktion betont, verbindet den aufrechten Gang mit dem Verlust des Geruchsinns, des Vorrangs von Auge und Gehör und der Bedeckung der Genitalien. Also, Kommunikation wird vererbt; die Abhängigkeit und Erziehbarkeit des Kleinkindes wird vererbt; die Bildung des Ich durch die Vorbilder, die befriedigen und frustrieren, und umgekehrt das Verschmelzen des Ich der Mutter mit dem des Kleinkindes; ebenso die außerordentliche parallele Entwicklung von erogenen Zonen und Objektwahlen, die in der Verbindung von Sehen, Umarmen und Kopulieren resultiert — diese ganze hochentwickelte Struktur sozialer Funktion muß vererbt werden.
Dazu kommt, daß es für Freud Lust nur als Funktion gibt — sie ist, wie er sagt, »anaklitisch« — deshalb macht es Sinn, ungehemmtes Verlangen als soziale Kraft anzusehen. Diese Behauptungen sind allgemein bekannt, aber ich kann nicht sehen, wie sie durch Zitate von Max Eastman trivialisiert werden können. Man wählt seine »Biologie« nicht. Ich lasse sicher einige biologische Fakten aus oder schätze sie falsch ein, aber dies muß biologisch nachgewiesen werden und nicht, indem man die Biologie aus der Argumentation streicht.
Die Autoren haben eine seltsam falsche Auffassung von meiner politischen Position und, finde ich, von der libertären Einstellung allgemein. Wir behaupten nicht, daß die Triebbefreiung an sich den Himmel auf Erden schaffen wird; gute Institutionen sind kooperative Erfindungen, die als Transformation und Anpassung geschichtlicher Bedingungen entstehen, ganz sicher werden sie nicht vererbt. Aber wir behaupten, daß die Triebunterdrückung gute Institutionen verhindert. Da die Triebe hochentwickelt organisiert sind, wird im allgemeinen deren teilweise Unterdrückung eine Unterdrückung oder heftige Gegenreaktion anderer Triebe zur Folge haben. Besonders die Bedeutung der Sexualität kann falsch eingeschätzt werden: Wenn sie frei ist, ist sie nur eine unter mehreren produktiven Kräften, aber wenn sie unterdrückt wird, ist sie die zerstörerischste Kraft überhaupt. Ich stimme jedenfalls damit überein, daß »politische Energien mit sexueller Askese Hand in Hand gehen«: Dies sind genau die Energien, die wir im Sadismus und Masochismus der monolithischen Parteien und in den Übergangsphasen sich entetablierender Diktaturen erkennen. Ich möchte die beiden Autoren, die so zungenfertig über »das Ziehen von historischen Kaninchen aus biologischen Hüten« plaudern, auf Reichs brillante Geschichte der Sex-Reformbewegung in Rußland von 1919 bis 1935 (»Die sexuelle Revolution«) hinweisen.
Um auf den zweiten Punkt, die menschliche Natur und Geschichte, einzugehen: Im allgemeinen bezeichnet »menschliche Natur« etwas Potentielles und kann als solches nur in deren Aktivitäten betrachtet werden, die historisch sind. Positiv wird die menschliche Natur durch große Errungenschaften und z. B. durch vielversprechende Jugendliche vermittelt; negativ durch die gräßlichen Auswirkungen offener Schandtaten. »Die
Konservativen«, sagen die beiden Autoren, »haben die biologische Unveränderbarkeit der menschlichen Natur hervorgehoben, während die Progressiven die soziale Formbarkeit der Charakterstruktur betonen.« Ich hatte gehofft, klarzumachen, daß die ursprüngliche Natur etwas anderes ist als die Charakterstruktur, die immer eine positive oder negative Organisation der eigenen Erfahrungen, Konflikte und Möglichkeiten ist; positiv, wenn die Organisation die eigenen Kräfte aktualisiert und vollendet, negativ, wenn sie diese unterdrückt. Ist es also die Tatsache, daß Radikale und nicht »Progressive« die Formbarkeit der ursprünglichen Natur betont haben, anstatt gegen die an ihr begangenen Beschädigungen zu protestieren? Ich brauche nicht die Anarchisten und utopischen Sozialisten zu erwähnen, die sich besonders auf das aus der französischen Revolution stammende Wort »Brüderlichkeit« berufen haben, dem Eros, der Institutionen schafft. Aber ist es so sicher, daß Marx und Engels glaubten, dass es keine ursprüngliche Natur gäbe, oder daß sie unwichtig sei? Ist es nicht ihre Meinung, daß wir die Klasseneinrichtungen vernichten müssen, damit wahre Menschlichkeit, mit all ihren Tragödien, zur Geltung kommen kann? Lassen sie mich einige Zitate anführen (sie stammen aus Venables‘ »Human Nature: the Marxian View«, das ich gerade zur Hand habe):
»Diese Londoner«, sagt Engels [MEW, Bl. 2, S. 256 f], mußten »das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern. (...) Hunderte Kräfte, die in ihnen [schlummerten,] blieben untätig und [wurden] unterdrückt. (...) Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. (...) Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben.« Die Arbeitsteilung, sagt Marx [Das Kapital, Bd. 1, MEW, S. 381/384], »er- greift die individuelle Arbeitskraft an ihrer Wurzel. Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen«; aus der Arbeitsteilung entspringe eine »völlige Verkümmerung der Volksmassen« und mit ihr sei »eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung« unzertrennbar verbunden. Bedeutet also nicht der marxsche Begriff »Entfremdung« die unter dem Druck der Warengesellschaft stattfindende Trennung von Bewußtsein und menschlicher Natur? Und schließlich der herrliche Abschnitt in der »Kritik des Gothaer Programms« : »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen, und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen« — kehrt Marx hier auf einer höheren Ebene nicht gleichsam zur »Charakterstruktur« des Frühkommunismus zurück und tatsächlich zum ursprünglichen biologischen Auftauchen der Gattung als kollektivem Produzenten?
Haben andererseits nicht gerade die Faschisten (nicht die »Konservativen«) am meisten auf die Idee gebaut, daß sich ein Mensch durch Furcht, Unterdrückung und Gleichschaltung an beliebige Symbole anpassen läßt? Ich will damit nicht sagen, daß die Autoren Faschisten, sondern dass sie richtige Progressive sind — keine Radikalen. Ich frage mich dennoch: Wenn wir nicht von ererbten Kräften, ihrer Realisierung und kulturellen Vervollkommnung sprechen dürfen, worauf gründen dann diese Progressiven eigentlich ihr »menschliches Werteschema«? Woher nehmen sie die Motivation für ihre Soziolatrie?
Ich muß gestehen, daß ich die Argumente der beiden Autoren für Unsinn halte. »Die Maschinerie des Amüsements bemächtigt sich des Sex und beutet ihn als den zentralen Wert von ‚Spaß‘ und ‚glamor‘ aus« — was im Himmel hat dies mit der sexuellen Befreiung von Kindern und Dreizehnjährigen zu tun? Im Gegenteil, wäre Ausbeutung des Sex möglich ohne seine vorherige Verdrängung? Populäre Kultur kann nur auf der Basis des Verlangens geschaffen werden und »glamor« ist nichts als das Vorzeigen des Geheimnisvollen und des gewohnheitsmäßig Verbotenen. Ich bin sicher, daß wir alle für Max Webers Neuigkeit dankbar sind, besonders für den verschämten Sachverhalt, daß Sex sozial oft mit religiösem Orgastizismus verbunden ist. Wer weiß? Lassen wir also auf jeden Fall das Wort Sex in Anführungszeichen, da wir die Gattung vermittels der soziologischen Geschichte von »Werten« erzeugen. Ohne Zweifel liegt es auch an der »gesellschaftlichen Einrichtung der sozialen Rollen«, dass sich mein Daumen unabhängig von den vier Fingern bewegen kann. Und sicher haben die beiden Autoren erst nach einer genauen Untersuchung unsinnig zentralisierter Technologie, der Aufteilung der Arbeit aus Profitgründen, der Sabotage von Erfindung und Erfindungsgabe, der Disziplin der Stechuhr und der Prämien für Kostenplanung uns versichern können, daß es »die kollektiven Arbeitsbedingungen, die es im Kapitalismus gibt, in jeder anderen Industriegesellschaft auch geben wird« — gibt es sie denn nicht auch in der Sowjetunion und haben sie nicht Japan besiegt ?
Paul Goodman
Als dieser bilderstürmerische Essay in »Politics« (Juli 1945) veröffentlicht wurde, irritierte er viele Linke und auch orthodoxe Psychoanalytiker. C. Wright und Patricia Salter schrieben für die Oktobernummer einen langen Angriff auf den Goodman antwortete. Sogar Reich beklagte sich, in Verbindung mit den Anarchisten gebracht worden zu sein.
Sex und Revolution
Unter den Psychoanalytikern der ersten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ist Wilhelm Reich wahrscheinlich der brillanteste. Er war Leiter des »Technischen Seminars«, das sich Problemen der konkreten analytischen Praxis widmete und sich weniger mit neurotischen Symptomen, sondern eher mit der Entwicklung des heute überall gängigen Begriffs des neurotischen Charakters auseinandersetzte. Durch die Arbeit mit deutschen Jugendgruppen erkannte der Marxist die politische Bedeutung der Psychotherapie. Wegen der reaktionären Wendung der UdSSR gegen die sexuelle Revolution brach er mit den Kommunisten. Und weil er darauf beharrte, daß die Analyse eine aktive soziale Rolle spielen müsse, wurde er 1933 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Während der Dreißiger Jahre spielte er in der skandinavischen Sexualreform-Bewegung (Information über Verhütungsmittel, etc.) eine führende Rolle und gewann für sein Programm der Sexualökonomie eine gewisse Massenbasis. Seit er in Amerika ist, scheint er seine Aufmerksamkeit überwiegend bio-energetischen Experimenten gewidmet zu haben, über die meines Wissens bislang noch keine kompetenten Beurteilungen abgegeben wurden.
Die zwei nun von Dr. Wolfe ins Englische übersetzten Werke stammen aus den Zwanziger und Dreißiger Jahren; sie entsprechen herkömmlichen psychoanalytischen Untersuchungen und beziehen sich nicht auf die neuen bio-physischen Prinzipien. Die »Sexuelle Revolution« ist eine Zusammenfassung von »Die Sexualität im Kulturkampf« und wesentlichen Teilen der Werke »Der Einbruch der Sexualmoral«, »Der Sexuelle Kampf der Jugend« und »Die Massenpsychologie des Faschismus«. Was immer man in einer kritischen Prüfung an Vorbehalten gegen sein Werk vorbringen könnte — seine Grundthese ist so einfach und direkt, so unmittelbar auf das Familienleben und die Pädagogik anwendbar, dabei so revolutionär, daß man sie weder ignorieren noch sich ihr entziehen kann. Da die meisten amerikanischen Leser mit Reichs Werk jedoch nicht vertraut sind, werde ich die Gelegenheit wahrnehmen, einen Überblick über seine Positionen zu geben.
Es genüge nicht, sagt Reich, daß Eltern und Erzieher in punkto kindlicher Sexualität eine liberale Einstellung haben, daß die Lehrer die nackten Fakten präsentieren und predigen, Sex sei etwas Natürliches und Wunderschönes. Kinder und Jugendliche müßten entsprechend ihrem Alter und ihren Bedürfnissen echte sexuelle Lust erleben. Man solle ihnen alles erlauben; angesichts der gegenwärtigen sozialen Verbote bedürfe es einer aktiven Ermutigung, etwa indem man den Jugendlichen eigenen Wohnraum verschafft. Es geht nicht um die »Haltung«, sondern um den physiologischen sexuellen Stau oder Fluß. Für die Jugend ist Enthaltsamkeit an sich etwas Schädliches.
Reich nimmt das alte Freudsche Konzept von der libidinösen Energie wieder auf. Danach ist der Kern der Psychoneurose eine Aktualneurose: Angst, hervorgerufen durch einen Libidostau. Diese Angst besteht in einer verstärkten Furcht vor Repressionen und führt zu weiteren Repressionen, verstärktem Libidostau sowie mehr akuter und seelischer Angst. Das Resultat: ein Charakter, dem es an Initiative und Unabhängigkeit mangelt, der leichtgläubig der Autorität gegenüber und — je nach Einfluß — masochistisch oder sadistisch ist. Für Reich ist dieser Charaktertyp eine notwendige Voraussetzung, ja sogar eine Ursache für die Entstehung des faschistischen Systems. Durch die monogame Zwangsgemeinschaft der Familie entsteht dieser Charakter in jeder Generation immer wieder von Neuem und macht die fortschrittlichen, revolutionären Veränderungen im Bereich der Politik und Wirtschaft zunichte: »Die Umwälzung im kulturellen Überbau bleibt aus, weil der Träger und Pfleger dieser Umwälzung, die psychische Struktur des Menschen nicht qualitativ mit verändert wurde.«
Andererseits entwickeln diejenigen, die eine sexuelle Befreiung erfahren haben und eine »orgiastische Potenz« genießen, auf einmal in interessanten Arbeitsbereichen ganz neue Energien und lehnen es ab, sich auf langweilige, routinemäßige oder bedeutungslose Jobs einzulassen. (Vergleiche Wilhelm Reich »Die Funktion des Orgasmus«, 1942). In politischer Hinsicht ist Reich ein Syndikalist.
Legt man Reichs Maßstäbe der »orgastischen Potenz« — er grenzt dies zum Beispiel klar von der erektiven Potenz ab — zugrunde, hieße das: die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist neurotisch. Psychoanalytische Therapien bringen deshalb nicht viel; es kommt also eher darauf an, die Institutionen Familie und Schule revolutionär zu verändern. Weil Reich darauf insistierte, die Analyse heraus aus dem Behandlungszimmer und hinein in den Straßen zu tragen, wurde er 1933 von der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« ausgeschlossen: im gleichen Jahr als Hitler die Macht ergriff, der sich nicht gerade als Freund der Psychoanalyse erwies.
Bei der Erörterung seiner zentralen These von der Notwendigkeit sexueller Befriedigung schildert Reich eindringlich das Dilemma, in dem liberale Eltern stecken, die einerseits versuchen, hinsichtlich der Sexualität locker, ehrlich und informativ zu sein, aber trotzdem wollen, daß das Kind den richtigen Zeitpunkt abwartet — aus Gründen des »Anstands« und der sozialen Konformität. Daraus resultiert ein Zustand von Konfusion und Angst, der in mancher Hinsicht sogar noch den Effekt traditioneller verbotsorientierter Erziehung übertrifft; die unvollständige Unterdrückung führt zu Problemfällen, die jedem fortschrittlichen Erzieher bekannt sind. Reich präsentiert eine brilliante Kritik der im Deutschland der 20er Jahre gängigen Sexualkunde-Literatur, die große Ähnlichkeit mit dem hat, was wir selbst an »fortschrittlichen« Texten zu diesem Thema zu bieten haben. Der wahrscheinlich beste Teil des Textes ist indes die Geschichte der Sexualreform-Bewegung in der Sowjetunion: die Beschreibung des sexuellen Lebens in den Kindergärten und Kommunen, die Analyse von Delinquenz und sogenannter »Arbeitstherapie«, die Schilderung des Widerstands der Bauern und des Proletariats, bis hin zur unseligen Wende: Wiedereinführung der Gesetze gegen Abtreibung, Abschaffung des gemeinsamen Unterrichts von Jungen und Mädchen, Verfolgung Homosexueller, Zwang zur Monogamie etc.
Reich geht generell davon aus, daß Selbstregulierung im Geschlechtsleben nicht zu unsozialen Handlungen führen kann; daß Sadismus und andere unsoziale Handlungen Ergebnisse der Unterdrückung sind; daß beim freien Geschlechtsverkehr die prä-genitale Sexualität entweder dem Genitalen in Form der Vorlust einverleibt oder leicht sublimimiert wird; daß freie genitale Charaktere flüchtige Beziehungen verschmähen, sich aber auch weigern, eine unbefriedigende Ehe aufrechtzuerhalten. Anders als Freud geht er nicht davon aus, daß Kultur Sublimation voraussetzt, sondern eher davon, daß Befriedigung Produktivität freisetzt. Reich möchte die patriarchalische Familie durch eine kollektive Lebensform ersetzen, um den Ödipus-Komplex zu vergesellschaften. Gegen Erzieher wie Anna Freud führt er ins Feld, daß das Über-Ich, also die internalisierte elterliche oder gesellschaftliche Autorität, für freie Menschen nutzlos (und zugleich ein Unding) sei.
Man muß zwischen dem selbstbestimmten »genitalen Charakter« bei Reich und der »freien Persönlichkeitsstruktur« bei Fromm und Horney unterscheiden. Primär analysieren all diese Autoren eher den neurotischen Charakter als die neurotischen Symptome; später definierte Fromm den Faschisten wie Reich als einen sado-masochistischen Charakter (beide übrigens auf der Basis von Freuds großartiger Studie »Massenpsychologie und Ich-Analyse«). Nachdem Reich den neurotischen Charakter aufgebrochen hatte, indem er die Widerstände abklopfte, machte er sich daran, den infantilen Inzest, die erste Ursache der Hemmungen, zu überwinden und versuchte schließlich, sexuelle Verklemmungen durch die Herstellung genitaler Potenz aufzulösen. Er bleibt Freuds biographischer Methode treu und darum hat der »genitale Charakter« einen konkreten, definierbaren Inhalt. Anders verhält es sich, so weit ich es verstehe, mit der »freien Persönlichkeit« bei Fromm und Horney: Es handelt sich um eine rein formale Größe, die, vorausgesetzt die juristischen Formen werden beachtet, an jeglichen sozialen Inhalten angepaßt werden kann.
Reichs Gedanken besitzen diese enorme libertäre Dynamik, weil er jene, den Individuen innewohnenden Kräfte freisetzen will, die — zumindest bei den Erwachsenen — nicht durch Werbeslogans oder politische Propaganda beeinflußt werden können.
Aus der Perspektive der kurlturellen Bestrebungen zukünftiger freier sozialer Gruppen geben seine Gedanken indes nicht viel her; verglichen mit Freud oder Rank offenbart sein geistiger Horizont seltsamerweise Beschränktheiten und sogar unmenschliche Züge. Man erhält keine Klarheit darüber, inwiefern sich seine Vorschläge in Sachen Kinderbetreuung überhaupt von der institutionalisierten Öde der Kinderheime und Tagesstätten unterscheiden. Wenn er vom »biologischen Energiehaushalt« spricht, verlieren wir die mythologische Unterwelt von Freuds Es, welche zwar archaisch ist, aber eine unendliche Kraft der sozialen Variabilität besitzt. Wie die meisten analytisch denkenden Autoren — besonders die Frauen! — pflegt er ein männliches Vorurteil: Wenn der »Wille zum Kind« nicht mehr als ein »sekundärer Trieb« ist, wie er meint, fragt man sich, wie es kommen konnte, daß der Homo sapiens überlebt hat.
Gleichwohl muß dieses Buch ernst genommen werden: Es fordert Eltern und Lehrer auf, die Verantwortung für ihre tägliche Praxis zu übernehmen.
Diese Rezension einer Reihe von Reichs wiederaufgelegten Büchern ist ursprünglich »im Auftrag« der Zeitschrift »New Republic« geschrieben worden, aber die Redakteure lehnten den Text ab, da er der Leserschaft nicht zugemutet werden könne. Die Zeitschrift »View« publizierte ihn dann im November 1945.
Das Schicksal der Bücher von Dr. Reich
I.
Uns geht es an dieser Stelle um das Schicksal von Dr. Reichs Büchern, die von der »Food and Drug Administration« [etwa : Ernährungs- und Arzneimittel-Ministerium] verboten wurden. Das Verhältnis von Theorie und Praxis, von einer wissenschaftlichen Aussage zu ihrer praktischen Anwendung, ist eine schwierige Sache; jedoch muß die absolute Freiheit der Meinung und Presse in jedem Falle vorrangig berücksichtigt werden. Sonst kann man nicht leben und atmen. Im einzelnen zu überwachen, wie Therapeuten die Theorie praktisch umsetzen, gehört nicht in den Verantwortungsbereich eines Autors. Die Begründung, welche das Ministerium in Punkt fünf der Verfügung liefert, ist untragbar; wenn die Verfügung nicht ausgesetzt werden kann, ist Mißachtung angebracht — wir müssen Beifall klatschen, daß ein Teil der verbotenen Passagen nun wieder veröffentlicht wird (im Verlag Farrar, Straus) und daß die Publikation von Reichs Buch »Die Funktion des Orgasmus« bevorsteht.
Es ist schlichtweg lächerlich, daß »Aussagen bezüglich der Existenz von Orgon-Energie« verboten wurden. Das Arzneimittel-Ministerium ist nicht der Schöpfer persönlich; ja es ist noch nicht einmal der Papst. Haben die Leute, die solches verfügen, eigentlich noch ihre fünf Sinne beisammen?
Die Bemerkung, die Bücher begründeten ein »Markenzeichen«, ist besonders merkwürdig; denn niemand, der unvoreingenommen irgendeine Ausgabe von »Die Funktion des Orgasmus«, »Der Krebs«, »Die Sexuelle Revolution«, »Massenpsychologie des Faschismus«, »Rede an den Kleinen Mann« oder »Charakteranalyse« liest, wird diese als Werbung für eine »Marke« verstehen. Zunächst lächelt man über diese unglaublich vulgäre Vorstellung — dann zuckt man zusammen. Das Ministerium hat sich zu oft in jenen filzigen Kreisen der Pharmaindustrie, der medizinischen Fachpresse und der A.M.A. [American Medical Association] bewegt, die kürzlich von einem Ausschuß des amerikanischen Kongresses wegen unlauteren Wettbewerbs und Preisabsprachen untersucht wurden. Aber ich vermute, daß sich hinter der mangelnden Aufrichtigkeit des Ministeriums etwas anderes steckt. Es geht in Wirklichkeit nicht um die Orgon-Energie, sondern um den Einfluß, den Reichs Werk hat: in punkto Pädagogik, Sozialwissenschaft und — vielleicht auch — Medizin. Aus diesem Grund werden seine Bücher verboten. Um ihren Vertrieb zu verhindern, läßt man sich irgendeinen Vorwand einfallen. Dr. Reichs Theorien, die sich mit übergreifenden Zeitströmungen und realen, erschreckenden Situationen befassen, können nicht einfach ignoriert oder wegerklärt werden. Sie produzieren ihre eigene Anziehungskraft. Es schien daher vorteilhaft zu sein, sie allesamt aus dem Verkehr zu ziehen, indem man ihnen den Stempel verpaßte, Werbung für eine Ware zu sein, die unter Einfuhrverbot steht. Typisch Amerika!
II.
Lassen Sie uns mal eine Analogie zu dem anmaßenden Verhalten des Ministeriums konstruieren, die Bücher und den Orgon-Behälter zu verbieten. Lassen Sie uns Reich mit Volta vergleichen. Ende des 18. Jahrhunderts war Volta soweit, Elektrizität jeden Potentials herzustellen, indem er einige Metallstäbe mit nassen Lappen umwickelte — eine Sache, die genauso primitiv ist wie Reichs Orgon-Box. Angenommen, Volta oder ein anderer hätte — angeregt durch die hüpfenden Frösche seines Kollegen Galvani, vielleicht auch durch Mesmers »animalischen Magnetismus« (den wir hier zu Freuds »Libido« analog setzen) — eine Elektro-Schock-Therapie zur Behandlung von »Geisteskranken« entwickelt. (Noch vor zehn Jahren hat man viel von dieser Therapie gehalten. Sie wird immer noch angewandt und hat sicherlich mehr Schaden angerichtet als alle Orgon-Akkumulatoren, obwohl bisher noch niemand wegen ihrer Anwendung ins Gefängnis kam.) Und nehmen Sie auch an, die Elektro-Schock-Therapie wäre — wie der Mesmerismus in Frankreich — verboten worden:
Der Logik des Arzneimittel-Ministerium zufolge hätte alles, was mit Voltas Arbeit zu tun hatte — die Batterie, seine Geräte, Aufzeichnungen, die Theorie der Austauschpotentiale — von der Erdoberfläche verschwinden müssen. Sie sind Markenzeichen einer illegalen Therapie. Und über die Existenz von Elektrizität darf nicht mehr gesprochen werden.
War Reich ein Volta ? Ich weiß es nicht. Aber warum sollten ausgerechnet Bürokraten in der Lage sein, das zu entscheiden? Es handelt sich um eine jener Fragen, die sich nur durch zukünftige Generationen von Gelehrten und ihren Experimenten beantworten läßt, in Form von freier Publikation und ohne jede Reglementierung. Als menschliches Wesen hoffe ich natürlich, daß Reich recht hatte und daß wir etwas Neues, Tolles entdeckt haben — ganz gleich, was man damit konkret machen kann.
III.
Lassen Sie mich zu einigen dieser verbotenen Bücher etwas sagen. (Ich schreibe aus dem Gedächtnis, der Leser möge mir das verzeihen.)
»Die Funktion des Orgasmus« ist quasi per definitionen, schon vom, Titel her, ein Klassiker. Denn Reich behandelt hier ein universelles Phänomen von großer Bedeutung — ein definitives Phänomen, welches sowohl der Beobachtung wie Experimenten zugänglich und dennoch bislang nie ernsthaft erforscht worden ist. Indem der Mediziner einfach die offensichtlichen metabolischen, elektrischen und muskulären Beobachtungen wie Experimente gemacht und die Erkenntnisse auf die normale moderne Psychologie entsprechend eigener charakteranalytischer Methoden angewandt hat, ist ihm ein großartiges Buch gelungen. Weshalb sollte es solch ein Buch nicht geben? Um diese Frage zu beantworten, konfrontiere ich den philosophisch interessierten Leser mit folgendem Rätsel: Wie ist es möglich, daß dieses Thema bis zum zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts warten mußte, bis ihm eine halbwegs adäquate Beachtung zukam? Tatsächlich müssen wir uns nach wie vor mit diesem Rätsel herumschlagen. So werden beispielsweise im Kinsey Report (obwohl die relevanten Studien Reichs in der Bibliographie angeführt werden) Statistiken erhoben, indem einfach völlig undifferenziert und unstrukturiert »Orgasmen« gezählt wurden — als ob Reichs sorgfältig ausgearbeitete Anatomie und Physiologie nicht existierte. Kein Wunder, daß viele von Kinseys Aussagen absurd sind.
Das Buch »Der Krebs« ist nicht nur wegen Reichs genialer Krebs-Theorie ein bemerkenswertes Werk. Denn auch hier behandelt Reich wichtige Probleme und Überlegungen, die bislang entweder unter den Teppich gekehrt oder bei den Vertretern des modernen, konservativen medizinischen Establishments nur ein Stirnrunzeln hervorriefen: etwa die Abiogenesis, die zahlreichen Schwachstellen bei der Infektions-Hypothese und ganz speziell auch jene Faktoren, die die Anfälligkeit eines Patienten für bestimmte Krankheiten betreffen. Ein Genie zeichnet sich eben dadurch aus, daß es sich auch auf Gebiete vorwagt, die im Dunkeln liegen und unterdrückt werden, und daß man nach Verbindungen zwischen jenen Größen sucht, die im allgemeinen wenig Beachtung finden. Man sollte indes nicht erwarten, daß die Schulmedizin darüber jubeln wird; oder daß sie dem simplen Apparat eines forschenden Pioniers und seiner Arglosigkeit Respekt zollen wird. Dabei liegt Reichs Arbeit in Sachen Krebs voll im Trend: etwa im Bereich der Virus- oder Nicht-Virus-Ätiologie und was die rätselhafte Bedeutung der Sexualorgane und der sexuellen Typen betrifft. Es ist ein Jammer, daß Reichs Hypothese in den derzeit veröffentlichten Untersuchungen keine Rolle zu spielen scheint. Dabei können wir uns gerade auf diesem Gebiet keine Bücherverbrennungen leisten.
Das Pamphlet »Rede an den Kleinen Mann« ist in meiner Erinnerung nach ein irgendwie qualvoller und ausgeflippter Aufschrei einer starken, nach Höherem strebenden und im Inneren bedrängten Seele, die in einer kleinlichen und apathischen Welt ihr Dasein fristet — einem Kapital von Dostojewski nicht unähnlich und genau jener Stoff, den man in eine Anthologie wie die kürzlich erschienene »Identity and Anxiety: Survival of the Person in Mass Society« aufnehmen sollte. Ich kann absolut nicht verstehen, warum man diese Arbeit verbieten oder verbrennen sollte, es sei denn, man legt es darauf an, das Andenken an einen Mann auszulöschen.
Das Buch »Charakteranalyse« findet allgemein viel Anklang. Der Text hat einen großen Einfluß auf die moderne klinische Praxis, und ich höre, daß er inzwischen »für fachmännischen Gebrauch« legal sei. Er befaßt sich mit den Widerständen des Charakters, dem muskulären »Abwehrpanzer« sowie mit Methoden einer aktiven Therapie.
»Die sexuelle Revolution« und »Massenpsychologie des Faschismus« sind exzellente Studien über die Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse auf den Gebieten der Politik und der Geschichte. Reich wandelt hier auf den Spuren von Freuds »Massenpsychologie und die Analyse des Ich« sowie »Totem und Tabu« und ist dabei auch nicht anfechtbarer als etwa Fromm, Kardiner usw. mit vergleichbaren Arbeiten. Wie die anderen beschäftigt er sich mit dem autoritären Charakter und, als Ex-Marxist, insbesondere auch mit der Psychologie der kulturellen Rückständigkeit. In »Sexuelle Revolution« zeichnet er auch brillant die Geschichte der Reaktion in der Sowjetunion unter Stalin nach: ein Text, der für das Verständnis dieses Landes meiner Meinung nach von unschätzbarem Wert ist. Mit beiden Büchern verfolgt er jedoch eine konkrete Absicht. Als absolut wesentlich für die Wiederherstellung des sozialen Gesundheitswesens sieht er unter anderem die sexuelle Freiheit für Kinder und Jugendliche an. Ich bin überzeugt, daß der Widerstand gegen seine Bücher daraus resultiert. (Die sozialdemokratische Zeitschrift »New Republic« hat beispielsweise eine Besprechung, die auch Reichs Argumente zusammenfassen sollte, in Auftrag gegeben, und sie dann als skandalös gebrandmarkt).
Darum geht es also, grob skizziert, bei diesen Büchern, die verboten und als »Werbung« für Orgon-Akkumulatoren abgestempelt wurden! Sämtliche sechs Bücher sind interessant, einige vielleicht sogar großartig. (Die anderen, kürzeren Pamphlete auf der schwarzen Liste kenne ich nicht.)
IV.
Mir liegt daran, den Amerikanern noch etwas zu dieser Thematik zu sagen. Wir leben in einer unsicheren Zeit. Lassen Sie mich zwei Beispiele dafür aufgreifen :
Während der letzten Monate vor Caryl Chessmans Hinrichtung wurden verschiedene Meinungsumfragen gemacht. Im Landesdurchschnitt waren über 70 Prozent der Befragten gegen ihn. (Die pazifistische Zeitschrift »Catholic Worker« berichtete überrascht, daß ihre Leser zu 75 Prozent für eine sofortige Hinrichtung gestimmt hatten!) Aber wirklich bedeutsam war der Ton, in dem viele dieser Briefe verfaßt waren. Er war gewalttätig, krankhaft sadistisch, pornographisch und rachsüchtig: und das, obwohl die Empörung bereits abgeklungen war, denn der Umfrage waren jahrelange Diskussionen und Debatten vorausgegangen. Sicher: Die Gerechtigkeit, die man einem Individuum zukommen läßt, ist von Wichtigkeit, ebenso die Frage der Todesstrafe; aber die erschreckende und unheilvolle Tatsache bei diesem Fall war der Ton dieser Mehrheit. Er sagt mir, daß ich nicht sicher bin, wenn ich auf der Straße spazieren gehe, da diese Gedanken und Gefühle bei den meisten meiner Mitbürger unter der Oberfläche gären. Wir, meine Freunde und ich, die ihr Leben produktiv und ohne sexuelle Schranken verbringen wollen, müssen hier leben; und hier, in dieser Irrenanstalt, muß ich meine Kinder aufziehen.
Gegen die Existenz dieser, wie Reich es nannte, »emotionalen Pest«, waren seine Anstrengungen gerichtet. Ich weiß nicht, ob er die Krankheit hätte kurieren können; aber er hat die Krankheit exakt beim Namen genannt; und man kann sicherlich davon ausgehen, daß ein weniger radikales Rezept nicht viel bringen würde. Unsere Regierung hat ihn eingesperrt und seine Bücher gleichsam »verbrannt«; aber wenn man ihm nicht erlaubt, frei zu sprechen, wird man es keinem von uns erlauben.
Zweitens: Weltweit stellen heute viele Menschen Bomben her, die die ganze Welt in die Luft jagen können; indem sie diese testen, verseuchen sie die Atmosphäre; und für ihre Entwicklung und den Abwurf werden die fähigsten Köpfe eingespannt. Mittlerweile haben sich die Menschen in den hochentwickelten Nationen damit abgefunden. Sie bezahlen das Ganze und akzeptieren es de facto. Jeden Tag kann alles in die Luft fliegen. Zwar sind diese verrückten Verhaltensweisen und schizoiden Paralysen für uns nichts Neues, aber zu keiner Zeit war das Verhalten dermaßen gefährlich und universell katastrophal. Und zu keiner Zeit herrschte darüber universell Einigkeit. Deshalb war auch die Paralyse der Menschheit noch nie so irrational.
Um diesem Trend zum Massen-Selbstmord etwas entgegensetzen zu können, entwickelte Dr. Reich seine Theorie vom »primären Masochismus« und versuchte verzweifelt, sie anzuwenden. So wie Freud verzweifelt das Bedürfnis nach Eros postulierte und andere bereit sind, sich auf sonstige verzweifelten Alternativen einzulassen, sei es die Anarchie, sei es Ahimsa, das von Mahatma Gandhi ins Leben gerufene Prinzip der Gewaltlosigkeit oder sei es das Anflehen des schöpferischen Geists. Die Zeit spricht nicht für Beamte, die die Freiheit des Geistes blockieren wollen. Laß uns diese Leute aus dem Weg räumen.
Diese Kritik der »Bücherverbrennung« der Werke Reichs durch die amerikanische Regierung wurde für eine Sondernummer geschrieben, welche die Zeitschrift »Kulchur« für den Winter 1960–61 geplant hatte. (Man wollte durch die Publikation einiger der Werke Reichs einen Testfall schaffen, doch es wurde nichts daraus, weil der Verlag Farrar, Straus bereits mit den Erben Reichs einen Vertrag geschlossen hatte, um mehrere der verbotenen Bände herauszubringen.) Trotz des letzlichen Nachgebens des Staates verlor Goodmans Essay bis heute keinesweg seinen Biß.
Ein großer Pionier, aber kein Libertärer
I.
Die Diskussion des Werks von Wilhelm Reich ist nicht nur von inhaltlicher Bedeutung für uns, sondern muß auch als neuer Beitrag zu einer Wiedergutmachung angesehen werden, da Reich Opfer einer miesen Verschwörung wurde: man hat ihn totgeschwiegen und ignoriert. (Doch in der Zeitschrift »Resistance« hatte er stets eine gute Presse, und ich würde auch unsere Gruppe der »Radikalen und Libertären« von Calhouns entrüsteter Anklage ausnehmen.) Es handelte sich um eine Verschwörung im Sinne einer bei vielen Individuen auftretenden Reaktionsbildung; und die Verschwörung hat sich in Form von Schweigen vollzogen, weil dies die einzige Waffe gegen jene beunruhigenden und zugleich anregenden Gedanken war, von denen jeder weiß, daß sie der Wahrheit entsprechen. Jeder weiß zum Beispiel über die sexuelle Misere in der Adoleszenz Bescheid, und daß dies ein durch unsere Moralvorstellungen bedingtes Kunstprodukt ist, aber die Menschen können diese Moralvorstellungen nicht lockern, ohne sich selbst auf untragbare Weise zu ängstigen; jeder kennt auch die sexuelle Misere in den Ehen, aber wir können sie nicht einfach beheben, weil wir uns in den Fängen des überkommenen Ödipus-Komplexes und dessen Eifersuchtsstruktur befinden. Nun mag keiner schmerzliche Binsenweisheiten hören, besonders dann nicht, wenn sein Schuldgefühl umso stärker wird, je mehr er den ihm angebotenen problematischen Heilmitteln den Rücken kehrt. Gleichwohl ist es eine Schmach, nicht trotzdem zuzuhören und zu leiden. An unseren inneren Konflikten kommen wir nicht vorbei. Doch wenn wir diese Konflikte nicht ignorieren, wird aus ihnen etwas Gutes entstehen. Lassen Sie mich für dieses Schweigen ein oder zwei Beispiele geben — das Verbot, seine Bücher in den USA »zwischenstaatlich zu vertreiben«(!), das Calhoun erwähnt, spricht für sich selbst.
Direkte Zensur. Die Zeitschrift »The New Republic« gab mir 1945 die Fahnen von »Die sexuelle Revolution« und »Massenpsychologie des Faschismus« zur Besprechung. Da ich den Eindruck hatte, daß die darin vertretenen Ansichten für sozialdemokratische Leser brandneu sein würden, und da ich weiterhin dachte, daß die »Sexuelle Revolution« ein Meisterstück der Geschichtsschreibung sei, habe ich mich in meiner Besprechung darauf beschränkt, die Inhalte des Buchs ohne große Bewertung wiederzugeben. Meine Rezension wurde prompt mit der Begründung abgelehnt, daß »wir unsere Leser nicht mit solchen Meinungen konfrontieren können, die auf Ihrem (!) Sachverständigen-Urteil beruhen.«
Wissenschaftliches Schweigen. Im letzten Jahrzehnt erschienen in den Wissenschafts-Spalten der Presse viele Berichte über »Pionier«-Experimente und Hypothesen zum Thema Abiogenesis, die Beziehung zwischen bestimmten Krebsarten und nicht ausgelebter Sexualität, und so weiter. Nie gibt es einen Hinweis darauf, daß Reich bereits über die gleichen Experimente berichtet hatte. Es scheint so, als seien die Experimente an sich erwähnenswert, aber wenn Reich sie zu einer bemerkenswerten intellektuellen Synthese kombiniert, dann werden sie totgeschwiegen.
Nachlässige Behandlung. Man betrachte den Kinsey-Report und die Publizität, die er hatte. Die Statistiken des Reports basieren darauf, daß unterschiedslos »Orgasmen« gezählt wurden. Nun war sich Kinsey sehr wohl darüber im klaren — jedenfalls in seinen einleitenden Kapiteln des ersten Reports —, daß es die Qualität und die Dynamik des Orgasmus sind, die das Sexuelle definieren; die qualitativen Beschreibungen, die er in der Einleitung gibt, sind zwar einfältig, aber nicht total daneben. Darüberhinaus enthält seine Bibliographie die Werke Reichs, die eine vollständige und korrekte Erklärung für diese qualitativen Unterschiede und ihre Bedeutung liefern. Es gibt also keinen Grund, diesen absolut wichtigen Aspekt zu vernachlässigen; aber er und seine Mitarbeiter gehen in den übrigen Teilen des Reports so vor, als ob sie ihre eigenen Fälle nicht nach solchen Kriterien bewerten könnten und die unverzichtbare Pionierarbeit Reichs nicht existierte. Natürlich führt diese Zählerei zu zahlreichen Absurditäten. Dies ist eine beschämende Ignoranz. (Ich halte den Kinsey-Report nicht für eine nutzlose Sache, aber ich frage mich, ob die Amerikaner einem Kinsey-Report, der den unbequemen Fakten des Lebens ein wenig mehr Rechnung getragen hätte, genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt hätten.)
Ich bezweifle, daß Reich uns — wie Don Calhoun sagt — »einen vollkommen neuen Einblick in die Realität« beschert hat. Aber man muß ihm zugute halten, daß er in einigen Punkten über jeden Zweifel erhaben ist. Erstens war er — fast geradezu per definitionem — ein großartiger Pionier; denn er hat ein Thema angepackt, daß im Reich der Tiere und Menschen oberste Bedeutung hat: der Orgasmus und seine Funktion — ein Thema, zu dem man leicht Beobachtungen und Experimente machen konnte und das nichtsdestoweniger vernachlässigt worden war. Jeder derartige Gegenstand ist eine Goldmine. Er ist mit Träumen vergleichbar oder mit den Mutationen einer Spezies oder dem freien Fall von Körpern.
Zweitens hat Reich, indem er auf das frühe Freudsche Konzept der »Aktualneurose« zurückgriff, nämlich daß es ein pathologisches Residuum von unbefriedigter sexueller Stimulation gibt und sexuelle Befriedigung von daher eine hygienische Notwendigkeit ist, dem ganzen psychotherapeutischen und progressiven Bildungsbetrieb eine wesentlich pragmatischere, zielgerichtetere und revolutionärere Aufgabe gestellt; er hat sie vor ein Entweder-Oder gestellt. Darum geht es in Calhouns Text.
Bezüglich der Techniken der Psychotherapie hat Reich, indem er sich aktiv mit dem »muskulären Panzer« beschäftigte und nach vegetativen Strömen suchte, einen Katalog der Techniken zusammengestellt, systematisiert und vermittelbar gemacht, welche die Berufspraxis verändert haben und weiterhin verändern werden. Ich habe den Eindruck, daß viele dieser Techniken nicht unbedingt Reichianisch sind; aber durch seine Energie, Einfachheit, Freimütigkeit und seine Neigung, Pläne über den Haufen zu werfen, hat Reich seine Techniken bekannt gemacht. Sie sind nicht das A und 0 der Psychotherapie; bei manchen Patienten funktionieren sie schlecht und allgemein gesehen kann man (meiner Meinung nach) mit ihnen nicht jene Ziele der Erziehung und Umerziehung erreichen, auf die es am meisten ankommt; aber ich persönlich habe als Patient eines Reichianers (Alexander Lowen) davon in physischer und emotionaler Hinsicht profitiert, und ich benutze sie selbstverständlich auch als Therapeut.
Mal konkreter, die Hypothese vom primären Masochismus ist großartig: Daß im tiefsten Inneren die unterdrückte Libido als ein Wunsch, durchbohrt, vernichtet, getötet oder erniedrigt zu werden, erscheint; daß der »Masochist« eigentlich nicht verletzt oder beherrscht, sondern von seinem eigenen repressiven Selbst befreit werden will. (Wird dies nicht etwa am kindlichen und sexuellen Verhalten deutlich?) Historisch gesehen ist dieses Konzept von vorrangiger Bedeutung, weil es das einzige ist, das den klinischen Befunden und Intuitionen Gerechtigkeit wiederfahren läßt, die Freud auf Basis seines Erfahrungsreichtums dazu brachten, vom Wiederholungszwang zu sprechen, den Todestrieb zu postulieren und das Unbehagen in der Kultur zu beschreiben. Andere psychoanalytische Zurückweisungen dieser Gedanken Freuds halte ich dagegen für kleinkarierte Mentalhygiene. Reichs Konzeption zielt indessen auf reale Potenz und ihre Befriedigung ab, sowie auf ein moralisches und soziales Umfeld, das dies erlaubt.
Lassen Sie mich in Würdigung Wilhelm Reichs noch auf einen sentimentalen Aspekt eingehen. Er war ein Wissenschaftler im Stil des 17. und 18. Jahrhunderts. Heute, im Zeitalter der superteuren Ausrüstungen, der statistischen Auswertungen tausender inhaltsleerer Fragebögen durch Firmen wie IBM und der wissenschaftlichen Experten, die zugleich Administratoren sind, die das reale Leben mit seinen schmutzigen Konflikten meiden, hat der Gedanke an diesen beherzten kräftigen Mann etwas Herzerwärmendes! Er arbeitete mit einem Apparat, der nur ein paar Groschen wert war, und mit ein paar Schülern, die dem Konzept der Übertragung anhingen, mit aufregenden Fällen und übersprudelnder Spekulation, überall umherschweifend, stets die Nase tief im Therapie-Geschäft und permanenten Angriffen ausgesetzt! Sein Buch »Der Krebs« ist, wie immer man es auch beurteilen mag, eine hübsche intellektuelle Konstruktion, voller Tierexperimente, die leicht nachzuvollziehen sind. Ich hoffe, daß er wirklich eine neue, in seinen Boxen akkumulierbare Form kosmischer Energie entdeckt und lebende Materie geschaffen hat. Schließlich hat Volta die Elektrizität anfangs auch nur mit ein paar Stäben gesteuert, die sich in einer Art Säuresuppe befanden.
II.
In aller Offenheit muß ich gegen einige von Don Calhouns Aussagen Vorbehalte geltend machen. Es lag nicht unbedingt an unserer Ignoranz, daß wir Libertäre uns Reich nicht »verwandt fühlten«, und daß wir uns nicht »spontan zusammenschlossen, um ihn zu verteidigen.« (Keinem von uns kam es in den Sinn, daß er sterben würde.) Reich war kein Libertärer; ihm fehlte der Humor, die Vernunft, der Sinn für Perspektive, die menschliche Kultur oder wie immer man es nennen mag. Er war ein sehr dogmatischer Mann. Ich bezweifle, daß er einen guten Ratschlag angenommen hätte, und er war schlecht beraten. Sonst hätte er wissen müssen, daß die Nichtbeachtung einer gerichtlichen Verfügung etwas ganz anderes ist als Mord oder Vergewaltigung oder Verbreitung unliebsamer Ideen, denn so ist nun mal die Struktur des Staates — über Angriffe auf sich selbst geht er nicht einfach hinweg —, und wenn man beabsichtigt, dagegen anzukämpfen, muß man sich voll mit diesem Zündstoff auseinandersetzen und sich nicht nur einäugig auf »biologische Kerne« und (durch Projektion) kosmische Bombardements konzentrieren. Dummerweise ist die Reichianische Bewegung stets sektiererisch gewesen und aus Dons Text kommt ein wenig davon rüber. Er ist engstirnig und fanatisch im Sinne von »nur eine Sache zählt«. Andere Dinge und Menschen müssen dieser untergeordnet werden. Aber so eine Sache gibt es nicht.
Lassen sie mich eine persönliche Geschichte erzählen. Reich rief mich 1945 an und bat mich, ihn kurz zu besuchen. Ich war erfreut und erstaunt und hoffte begeistert, daß dieser bemerkenswerte Mann eine Aufgabe für mich hätte. (Mein Problem ist, daß ich der Anleitung bedarf.) Aber er wollte, daß ich »aufhörte, seinen Namen mit Anarchisten und Libertären in Verbindung zu bringen« — wahrscheinlich hatte er den lobenden Text gelesen, den ich im Juli 1945 in »Politics« über ihn verfaßt hatte. Ich war von seinem Anliegen überrascht; ich erklärte ihm, daß seine Hauptziele schließlich anarchistische Ziele seien, daß wir ihn bräuchten und er nie etwas gesagt habe, daß uns völlig gegen den Strich ging, wiewohl er einige unbedachte Formulierungen von sich gab. Er bestritt meine Aussagen — es wurde klar, daß er nie Kropotkin gelesen hatte; als ich einige pädagogische Allgemeinplätze aus »Fields, Factories and Workshops« fallen ließ, verriet sein Gesicht charmanterweise eine kindliche Verblüffung — ich war von seiner Offenheit, mit der er seine Überraschung zeigte, sehr beeindruckt.
»Was macht es Ihnen denn aus, Dr. Reich«, sagte ich schließlich, »wenn wir jungen Leuten Sie als Anarchisten bezeichnen?« Er erklärte mir — dieses mal zu meinem Verdruß —, daß es für A. S. Neill in England doppelt so schwierig sei, seine Oberschicht-Kinder in der progressiven Summerhill-Schule zu halten, falls der Bewegung auch noch der Stempel des Anarchismus aufgedrückt werde. Meine Vermutung ging dahin, daß der Doktor an der verständlichen Paranoia eines vor Hitler Geflüchteten litt.
Die Reichianer sind so hochsinnig und moralisch; das zeigt sich auch in Dons Text. Sie geben mir immer das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie ich mich verhalten soll. Wie ich mich überhaupt verhalten soll.
Es gibt in Reichs Schriften einige Passagen, in denen er sagt: »Es sollte dieses oder jenes Gesetz geben« — anstelle dieses Anti-Sex-Gesetzes irgendein anderes Anti-Anti-Sex-Gesetz. Vielleicht handelt es sich dabei nur um triviale, durch Ignoranz verursachte Ausrutscher; aber das Ärgerlich dabei ist, daß diese spezifische Art von Ignoranz zum Dogma erhoben wird. Reich war großartig, als er sich als Naturforscher und leidenschaftlicher Arzt weiterentwickelte; man fühlte sich berührt, als er, ein erwachsener Mann, sich laut darüber beklagte, wie er gehetzt wurde und wie klein der kleine Mann ist; doch er und seine Mitarbeiter wurden zum ärgerlichen Hemmnis, als sie sich wie eine bevollmächtigte zentrale Planungskommission für eine bessere Gesellschaft aufspielten, und als sie sich für eine langweilige Wissenschaft engagierten, die jenen Obsesssionen zum Opfer fiel, von denen der Orgasmus sie eigentlich befreit haben sollte.
Meiner Meinung nach hat die Theorie Reichs eine gravierende Schwäche. Er betrachtet den Organismus als viel isolierter und unabhängiger, als er in Wirklichkeit ist. Psychologisch gesehen führt das dazu, das Selbst als das Selbst-des-»Körpers« zu begreifen, wohingegen es viel vorteilhafter ist, das Selbst als Prozeß der Strukturierung von Organismus und Umwelt zu betrachten. Reichs Fehler wird an einem wichtigen, von ihm angewandten Modell explizit: der Organismus als eine Blase mit einem System homöostatischer Spannungen, die aufgelöst werden sollen. Aber der Organismus ist gegenüber der Umwelt wesentlich offener als von Reich angenommen, und dessen Spannungen sind bei der Integration neuen Materials und beim Wachstum sehr wichtig. Die Reichianische Theorie liefert für Wachstum und Wandel keine angemessene Erklärung, und es ist schwer, sich eine Erklärung für Kreativität vorzustellen. Für Reich ist die Oberfläche in der Regel überflüssig und deswegen sollte man von der Oberfläche ausgehend zum tiefen Kern vordringen. So weit, so gut; aber die Oberfläche ist auch eine Kontaktschwelle, die dazu da ist, Entdeckungen und Manipulationen vorzunehmen und deren Alarmsystem keineswegs als etwas Neurotisches eingestuft werden sollte. Reich akzeptiert die Oberfläche nicht, er »attackiert« sie. Wenn nun aber tiefe Gefühle erweckt werden, ohne die Oberfläche einzubeziehen, resultieren daraus Projektionen, Phantasiegebilde, die tiefen Gefühlen entsprechen. Mit der Religion verhält es sich größtenteils auch so, und das ist auch gut so — aber mehr ist nicht dahinter.
Mit dieser biologischen Theorie und der zugrundeliegenden Einstellung geht eine humorlose Anthropologie einher, so, als ob die Bewohner der Trobriand-Inseln ein Modell für die menschliche Gesellschaft wären; schlimmer noch: eine Wissenschaft, die an dem vorbeigeht, was wir heute brauchen.
Aber gut: Als einen Josua, der uns ins Gelobte Land führt, würde ich weder einen Reich noch einen Reichianer erwählen. Aber in unserer heutigen realen Situation, wo es darum geht, richtig zu leben, hat Don Calhoun insofern recht, als wir zumindest ein Reichianisches Programm benötigen. Die Lösung heißt: spontan Gefühle zeigen. Wie ich in der Zeitschrift »Alternative« bereits sagte, sind ein Faustkampf und guter Sex die besten Mittel, um die Kriegsgefahr zu verringern; und diese Weisheit verdanke ich Wilhelm Reich.
Diese kritischen Einwände wurden in »Liberation« veröffentlicht (Januar 1958), zusammen mit einem überwiegend positiven Essay von Don Calhoun. Der Hinweis am Ende auf Goodmans Artikel in »Alternative« sollte als ein Beispiel für libertäre Zensur mit dem Original verglichen werden (»A Public Dream of Universal Disaster«).
Anmerkungen:
[1] Alexander, New Perspectives in Psychotherapy, in: The New Republic, 8. Januar 1945
[2] Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt/M. 1975, S. 81 [Goodman gibt an: Moses and Monotheism (1939), S. 114]
[3] Diese Zusammenfassung stammt aus: Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt/M. — Berlin 1987, S. 247 ff, ist aber identisch mit der in Horneys »Neue Wege in der Psychoanalyse«.
[4] Neue Wege in der Psychoanalyse, München 1977, S. 62
[5] Siehe hierzu Horney, Der neurotische Mensch unserer Zeit, Frankfurt/M. 1988
[6] Fromm, Individual and Social Origins of Neurosis, in: American Sociological Review, August 1944, S. 381
[7] Freud, Studiumausgabe, Band 5, S. 88 f, 117, 145, 122 [Goodman gibt an: The Interpretation of Dreams, dritte englische Auflage, 1933, S. 165]
[8] Horney, Der neurotische Mensch .. a.a.O., S. 62
[9] Freud, Hemmung, Symptom und Angst, Frankfurt/M. 1986, S. 14 [Goodman gibt an: The Problem of Anxiety, S. 29]
[10] Fromm, Faith as a Character Trait, in: Psychiatry, August 1944
[11] ebenda
[12] Fromm, Die Flucht .. a.a.O., S. 214
[13] ebenda, S. 221 f
[14] Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Kapitel 6
[15] Fromm, Faith as... , a.a.O
[16] ebenda
[17] Damit man nicht glaubt, daß ich ungerecht wäre, zitiere ich diesen Satz von Horney : »Ganz allgemein kann das Streben nach Beruhigung nicht nur genauso stark sein wie die Naturtriebe, es kann vielmehr auch eine ebenso starke Befriedigung gewähren.« Das heißt, daß sie die Befriedigung eines Orgasmus gewährt. Kommt man darum herum, »Persönlichkeit« ein narzistisches Objekt zu nennen? (Der neurotische Mensch .. a.a.O., S. 67)
[18] Fromm, Faith as .. a.a.O., siehe auch : Fromm, Individual .. a.a.O. Diese beiden Aufsätze gehören zusammen.
[19] ebenda
[20] Fromm, Individual a.a.O., S. 381 und 384
[21] Fromm, Die Flucht .. a.a.O., S. 233
[22] Siehe hierzu z. B.: Brenan, Die Geschichte Spaniens, Berlin 1977
[23] Fromm, Die Flucht .. a.a.O., S. 235
[24] Fromm, Faith as .. a.a.O.
[25] Reich, Die Funktion des Orgasmus (Ausgabe 1942), Köln 1987, S. 149
[26] ebenda, S. 134 — 139
[27] Reich, Living Productive Power, in: Journal of Sex Economy, Oktober 1944, S. 161
[28] Freud, Hemmung .. a.a.O., S. 53 f [Goodman gibt an: The Problem of Anxiety, S. 105]
[29] Reich, Die Funktion .. a.a.O., S. 72 – 91
[30] ebenda, S. 162, siehe dagegen : Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/M. 1972, S. 103 ff [Goodman gibt an: Civilization and its Discontents, S. 87 ff]
[31] Freuds frühere Werk »Massenpsychologie und Ich Analyse« ist m. E. das beste Buch über Psychologie autoritärer Staaten.
[32] Freud, Das Unbehagen .. a.a.O., S. 97 [Goodman gibt an : Civilization and its Discontents, S. 74
[33] Freud, Der Mann Moses .. a.a.O., S. 66