Titel: Zum Problem: Parlamentarismus
AutorIn: Gross, Otto
Datum: 1919
Quelle: Die Erde. Politische und kulturpolitische Halbmonatsschrift. 22./23. Heft, 1. Jahrg., 1. Dezember 1919 [Hrsg. Walther Rilla]
Bemerkungen: Sperrdruck im Original wurde hier kursiv wiedergegeben

Das ungeheure psychologische Problem, das diese Zeit in diesem Land vor uns gestellt hat, ist die nach innen orientierte Frage nach Wesenheit und Hintergründen des Versagens der deutschen Revolution.

Aus der erdrückenden Materie tritt ein Detail gerade jetzt hervor, das sich in den verschiedensten Gestaltungen und Masken aufdrängt: die unverkennbar wachsende Tendenz zur Rückkehr ins Legale, am deutlichsten zur Oberfläche kommend im Interesse für das totgesagte, jetzt von neuem wieder aufgeworfene Stellungsproblem des Revolutionärs zum Parlamentarismus.

Als charakteristisch tritt am meisten hervor: nicht dass man die Möglichkeit einer Beteiligung am Parlamentarismus überhaupt in Frage zieht, - das wäre eine offene Fragestellung des Revolutionärs über sich selbst als solchen, - sondern dass man sie aufrollt als eine Frage der Taktik.

Denn darin zeigt sich erst das völlige Vergessen des Problems in seiner prinzipiellen wie in seiner psychologischen Bedeutung, verrät sich das naive und verlogene Spiel vor der Kritik des eigenen Gewissens, die Mangelhaftigkeit des Willens und der Fähigkeit zum eigenen Verantworten des eigenen Stellungsnehmens und Handelns.

Es scheint, das in Zeiten revolutionärer Hochflut, durch Massensuggestion und Situationseffekt die Elemente zweiten Ranges überwältigend und in die Höhe ihres grossen Augenblickes reissend, die bürgerliche Minderwertigkeit der Mengen verdeckend überströmen und dann, verebbend, wieder sichtbar werden lassen. Die Menschen solcher Art, zurückgeblieben nach der Springflutwelle, gruppieren sich bedingungslos, sobald die Möglichkeit dazu gegeben scheint, um einen Kompromiss; und einen solchen in der Öde, über welchen eine revolutionäre Welle effektlos weggezogen, aufzuzeigen, ist die entscheidende Gewandheitsprobe für die Reaktion. Ihr derzeit ausgeworfenes Kompromissmotiv sind die Ideen der „Demokratie“ und ihres Exponenten, des parlamentarischen Prinzips.

Deswegen war die Formulierung wohl gestattet, das Aufwerfen eines klaren Problems über die prinzipielle Stellungsnahme zur parlamentarischen Mitarbeit sei eine ehrliche Fragestellung des Einzelnen über sich selbst und über die Echtheit seiner Berufung zur Revolution. Die prinzipielle Bejahung des parlamentarischen Systems ist ehrliche Selbsterkenntnis der unaustilgbaren inneren Bürgerlichkeit.

Dem Spiel mit dem parlamentarischen Problem als einem solchen der Taktik, Als Zulassung noch eines Kompromisses und noch einer Selbstbelügung mehr, enthält die Verschleierung jener Erkenntnis sowohl vor sich selbst wie vor andern; sie bringt die gefährliche Täuschung des Einzelnen über die eigene Natur und der Gesamtheit über den tiefen politischen und psychologischen Sinn der grossen Prinzipien. -

In Wahrheit ist das Verhalten zur parlamentarischen Frage zugleich die Entscheidung im grössten Prinzipienproblem der Politik überhaupt, d. i. Im Problem der Demokratie.

Der Parlamentarismus ist die einzige [1] reale Verkörperung des demokratischen Grundgedankens, die Herrschaft der reinen grösseren Zahl. Dass sich in jeder existierenden parlamentarisch-demokratischen Staatseinrichtung tatsächlich stets die Einflussherrschaft einer Minderheit entwickelt, ist nicht der prinzipielle revolutionäre Einwand; der revolutionäre Geist wirft sich vielmehr aus einer inneren Notwendigkeit und instinktiv auch einer ideenmässig vollendeten, von jeder Einflussherrschaft freigedachten Realisierung des parlamentarischen Gedankens entgegen. Dahinter ist der aufgetane Gegensatz und ruhelose Kampf der revolutionären Psyche mit der demokratischen.

Die Stellungsnahme jeden Individuums in diesem Kampf ist jedem einzelnen in diesem oder jenem Sinn vorherbestimmt, als seine typische, im Grunde seines Wesens festgelegte Orientierung zum dominierenden Grundprinzip der Demokratie überhaupt: dem Majoritätsprinzip.

Das reine Prinzip der zahlenmässigen Majorität – und nur die prinzipiell gewollten Ziele, nicht Unzulänglichkeitseffekte im politischen Getriebe determiniern die Entscheidungen nach psychologischen Kategorien! - legt die Verpflichtung auf, den Eintritt von Veränderungen jeder Art, die unaufschiebbar drängenden Reformen und ebenso die überzeitlich auf die Zukunft eingestellten, den Wenigsten der jeweils Gegenwärtigen begreifbaren Umwälzungen, das Kleine und Banale und ebenso das Tiefste, dem Begreifen Einzelner im Dienste aller sich Erschliessende, den Zeitpunkt jeglichen Geschehens überhaupt nach dem Verständnisstempo der Gesamtheit festzulegen und auf den angenommenen Termin zu warten, an welchem endlich wenigstens die Majorität der Menschen, das gläubig festgehaltene des Fortschritts als real erweisend, die „Reife“ des Erfassens für die geforderte Veränderung gewonnen haben wird.

Die Demokratie ist also wesenseins mit dem politischen Programm des katastrophenlosen Fortschrittes in Voraussetzung einer beständig progrenienten geistigen Entwicklung als einer manifesten Realität und dem Vertrauen auf die grosse Zahl als Verantwortung tragend für jedes grosse Geschehen.

Dort, wo in Wirklichkeit Verstehen und Will einer überlegenen Zahl schon einer neuen Ordnung zugewendet sind, bedarf es keiner Revolution. Die Neigung aber, solches als Entwicklungsresultat vorauszusetzen und gar erst abzuwarten, kann nur aus Einer Art von Geistesdisposition überhaupt entstehen: soweit es sich nicht etwa um ein Wünschen handelt, dass möglichst Alles bleibe, wie es war, ist es die elementare Unfähigkeit, Verantwortung auf sich selbst zu nehmen. - -

Revolution ist Kampf um Macht für eine Idee. Versuch ein Prinzip zur Herrschaft zu bringen, das stets zuerst in Wenigen nur in Wahrheit lebendig, in diesen aber als scharf umrissenes inneres Bild zur Projektion in die Realität bereitgestellt ist.

Ideen, für welche man Revolutionen führt, sind an sich selbst stets nur von einzelnen allein aus eigener Initiative und schöpferisch zu erschauen, von einer an Zahl begrenzter Elite durch eigenes Denken lebendig aufzunehmen, den grossen entrechteten Massen durch geistige Überwältigung und aus der Kraft des Willens zur Gemeinsamkeit suggestiv übertragbar und durch Verschränkung mit den Grundmotiven der eigenen fruchtbaren Realität zu eigen zu machen, den Starken dieser Welt, den Privilegierten jeder Art im Kampf von Leben gegen Leben aufzuzwingen.

Die revolutionäre Politik ist frei von jedem Glauben an einen inneren Fortschritt als einer Gegebenheit; sie weiss, wie sehr an alles Äussere und Äusserliche, an die Materie gebunden in der bestehenden Gesellschaftsordnung jeder Fortschritt ist. Sie steht auf dem Vertrauen auf eine elementare, wenn auch mehr primitive Menschheitsfähigkeit: auf eine allgemeine Fähigkeit, die aufgenötigt miterlebte Menschlichkeit als höchsten Wert – oder zum mindesten: als Medium einiger Vorteile zu begreifen. -

Es ist das innere Schicksal und die Bestimmung des Revolutionärs, um seine inselhafte Einsamkeit des von der Zukunft her zu seiner Sendung Orientierten unter Feinden wie Gefährten wissend, das revolutionäre Geheimnis der Erlösung, wenn es ist, allein zu tragen und für den Umsturz, wenn es sein kann, alles jetzt Bestehenden und für den Kampf und die entfesselte Gewalt, vielleicht dem Willen einer ganzen Welt entgegen, die Verantwortung auf sich selbst nehmen.

„Gott sprach zu ihm: Dein Sohn, der nach dir kommen wird, wird meinen Tempel bauen. Nicht du wirst meinen Tempel bauen: denn du bist ein Kriegsmann!“ - - -

[1] Interessant ist es, dass Mommsen den Untergang der antiken Demokratien auf die Vergrösserung der Staaten über die Stadtrepublik hinaus bis zum Grossmachtcharakter auf die Tatsache zurückführen konnte, dass die Idee des Repräsentationssystems, also des eigentlichen Parlaments eben Niemandem einfiel!