#title Vom Konflikt des Eigenen und Fremden #author Otto Gross #SORTauthors Gross, Otto; #SORTtopics Patriarchat, Anarchistischer Kommunismus, Sexualität, Erziehung, Kleinfamilie, Psychoanalyse, Mutterschaft, Vergewaltigung, Urkommunismus #date 1916 #source Gescannt aus: Die Freie Strasse. Um Weisheit und Leben. Vierte Folge der Vorarbeit 1916 #lang de #pubdate 2016-06-15T12:52:16 #notes Angehängter Kommentar von Otto Gross zum Text: "Der Aufsatz ist bereits zu einem Teil in meiner Arbeit „Über Destruktionssymbolik“ veröffentlicht im Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie IV. Jahrgang 11/12." In der Tiefe des menschlichen Innern lebt ein Konflikt, der die seelische Einheit zerreisst. Dieser Konflikt ist in jedem Menschen, die seelische Zerrissenheit durchzieht die ganze Menschheit, und diese Erkenntnis führt in die Versuchung, das Leiden als etwas „Normales“ zu sehen Das Kind in der bestehenden Familie erlebt zugleich mit dem Beginnen des Erlebenkönnens, dass seine angeborene Wesensart, sein angeborenes Wollen zu sich selbst, sein Wollen, so wie es ihm angeboren ist zu lieben, nicht verstanden wird. Dass keine Antwort kommt auf die Erlösungsforderung: Die eigene Persönlichkeit behalten und nach den eigenen angeborenen Gesetzen Lieben können. Auf diese Forderung gibt niemand Antwort als das eigene Erkennen, verschmäht und wehrlos unterdrückt zu sein, das eigenen Erkennen der allausfüllend weiten Einsamkeit ringsum. Und auf die grenzenlose Angst des Kindes in der Einsamkeit hat die Familie, wie sie jetzt besteht, die eine Antwort: Sei einsam oder werde wie wir sind. Kein Mensch vermag bereits als Kind auf Liebe zu verzichten: Das ist unmöglich, weil der Trieb zum Anschluss an die Anderen so arterhaltend wie das Streben zum Bewahren des angeborenen eigenen Wesens ist. Das Kind in der bestehenden Familie muss werden wie die anderen, die es umgeben, sind: Mehr oder minder gänzlich, wenn es zu den Meisten, zum Teil nur, wenn es zu den Wenigen gehört, die ihre angeborene Wesensart und eine innere Notwendigkeit, danach zu streben, nie ganz verlieren können. Die Angst der Einsamkeit, der Trieb zum Anschluss zwingt das Kind, sich anzupassen: Die Suggestion von fremden Willen, welche man Erziehung nennt, wird in das eigene Wollen aufgenommen. Und so bestehen die Meisten geradezu allein aus fremden Willen, den sie aufgenommen, aus fremder Art, der sie sich angepasst, aus fremden Sein, das ihnen völlig als eigenen Persönlichkeit erscheint. Sie sind in ihrem Wesen im grossen ganzen einheitlich geworden, weil aller fremde Wille, aus welchem sie in Wirklichkeit bestehen, in seinem tiefsten Wesen und seinen letzten Zielen einheitlich gerichtet ist. Sie haben sich das innere Zerrissensein erspart, sie sind den Dingen wie sie liegen angepasst. Sie sind die Allermeisten. Allein wenn auch kein einziger, so wie die Dinge liegen, es vermag, das aufgedrängte völlig von sich fern zu halten: Es gibt auch Solche, welche auch das Wesenseigene nie ganz verlieren können. Das Schicksal dieser Menschen ist, der innere Konflikt des Eigenen und Fremden, die innere Zerrissenheit, das Leiden an sich selbst. Es ist die Menschenart, mit deren unverlierbar führenden Motiven es unvereinbar bleibt, dass sie den ersten grossen Kompromiss geschlossen haben. Die Angst der Einsamkeit, welche das erste innere Erleben des Kindes ist, wird durch den Kontrast der angeborenen eigenen Wesensart mit der Umgebung bedingt, und diese Angst enthält den Zwang, sich an die Anderen anzupassen. Nur die Tendenz, zu werden wie die Anderen sind, eröffnet für das Kind den Ausblick auf Befriedigung des Anschlusstriebes, und sie allein enthält zugleich die Möglichkeit, zwar nicht die eigene Wesensart bewahren, jedoch das eigene Ich in angepasster Form den Anderen gegenüber zur Geltung bringen zu können. Die Angst der Einsamkeit des Kindes ist der erste, ursprüngliche und entscheidende Zwang zur Umwandlung des Willens zur Erhaltung der Individualität in den „Willen zur Macht“, von dessen unabsehbarer Bedeutung in den inneren Konflikten mich die Forschung Alfred Adlers überzeugt hat. Mit dieser Umwandlung des Willens zur Erhaltung der Individualität in Willen zur Macht ist eine vollkommene Dissoziierung und Gegensatzstellung der beiden ursprünglich harmonisch einheitlichen Triebkomponenten gegeben, für welche ich früher die Formulierung gefunden habe: Sich selbst nicht vergewaltigen lassen und andere nicht vergewaltigen wollen. Und diese sekundäre, erworbene Gegensatzstellung der egoistischen und altruistischen Tropismen erst ergibt das Antagonistenpaar des inneren Konfliktes, welcher im Selbsterhaltungskampf im Sinne Alfred Adlers unzweckmässigen Äusserung kommt. Es ist die Konsequenz der Gegensatzstellung, der gegenseitigen Reibung im inneren Konflikt, dass beide antagonistisch geordneten Triebkomponenten durch Überkompensation immer mehr entstellt und hypertrophisch werden. Infolgedessen äussert sich das Kräftespiel des Nichtvergewaltigtwerdenwollens und Nichtvergewaltigenwollens in modifizierter Form der beiden Impulse als innerer Konflikt von Willen zur Macht und Selbstaufhebung. Es ist bereits angedeutet worden, dass die Erhaltungsfähigkeit der angeborenen Wesensart von grösster individueller Verschiedenheit ist. Es ist gesagt worden, dass es nur wenige sind, in denen sich das angeboren artgemässe Wesen und seine Grundinstinkte noch wirksam geltend erhalten können. Und damit unterliegt auch die ethische Komponente der kongenitalen Instinkte – das, was ich als Nichtvergewaltigenwollen bezeichnet habe – so grossen individuellen Schwankungen, dass sie gerade nur bei einigen, und zwar bei einer Minderzahl von Individuen sich noch als nachweisbare Komponente der inneren Konflikte manifestieren wird. Als das Moment, das Adlers Erklärungen am meisten problematisch gelassen haben, erscheint mir das Phänomen des Masochismus im weitesten Sinne des Wortes. Der sadistisch-masochistische Erscheinunskomplex ist nur die höchst gesteigerte klinische Ausdrucksform der sexuellen Destruktionssymbolik überhaupt. Für diese aber können wir jetzt die allgemeine Formulierung geben: Die sexuelle Destruktionssymbolik ist das Verschmelzungsresultat der Sexualität mit den erworbenen Endeinstellungen Willen zur Macht und Selbstaufhebung. Dies ist nicht mehr als die Definition für eine im Grunde fast selbstverständliche Tatsache. Es kommt jetzt die Frage in Betracht, wie diese Verschmelzung der Triebe zustande kommt. Tatsachen der Natur, auf welche eine einfache und selbstverständliche Reaktion von selbst gegeben ist, sind nie der Grund und eigentliche Kern von inneren Konflikten und konflikterhaltender Symbolik. Die ungelösten Konflikte des Unbewussten, die sich in den Symbolerscheinungen nach aussen projizieren, entstehen als Reaktion aus Tatsachen, auf welche zweckmässig zu reagieren dem Menschen zu schwer geworden ist: Auf Tatsachen die man zu ändern nicht imstande ist und doch auch nie auf eine letzte Sehnsucht sie zu ändern verzichten kann. Das heisst, die ungelösten inneren Konflikte und die Konfliktsymbolik, die als ihr Ausdruck aus dem Unbewussten kommt, entstehen durch den Druck von übermächtigen und unerträglichen Tatsachen der umgebenden Gesellschafts- und Familienordnung. Es ist nach den Ergebnissen der Anthropologie wohl nicht mehr zweifelhaft, dass die bestehende Familienordnung, die Vaterrechtsfamilie keine solche ist, die mit Anbeginn der Menschheitsentwicklung von Anbeginn her sich mitentwickelt hätte, dass sie vielmehr das Ergebnis einer Umwälzung vorher bestandener andersartiger Verhältnisse darstellt. Als uranfängliche Institution erkennt die moderne Anthropologie das freie Mutterrecht, das sogenannte Mutterrecht der Urzeithorde. Das Wesen der mutterrechtlichen Institution besteht darin, dass die materielle Vorsorge für die Mutterschaftsmöglichkeit der Frau von Allen Männern der Gesellschaftsgruppe – hier also des ganzen Stammes - gewährleistet wird. Das Mutterrecht gewährt der Frau die wirtschaftliche und damit die sexuelle und menschliche Unabhängigkeit vom einzelnen Mann und stellt die Frau als Mutter in ein Verhältnis der direkten Verantwortung der Gesellschaft gegenüber, die als die Trägerin des Interesses an der Zukunft eintritt. Die Mythologie aller Völker bewahrt die Erinnerung an den prähistorischen Zustand des freien Mutterrechts in der Idee von einem gerechten goldenen Zeitalter und Paradies der Urzeit. Über den Übergangsvorgang vom alten Mutterrecht zur jetzt bestehenden Familienordnung besteht zurzeit die sehr plausible Vermutung, dass die bestehende Form der Ehe als sogenannte Raubehe ihren Ursprung genommen hat, dass also die Grundlage der bestehenden Vaterrechtsfamilie aus dem Gebrauch von kriegsgefangenen Sklavinnen hervorgegangen ist. Es wäre damit gesagt, dass die Assoziation der Sexualität mit Vergewaltigungsmotiven, die Vergewaltigungssymbolik, welche die Menschheit durchzieht, auf einen universalen sexuellen Vergewaltigungsvorgang als ihre menschheitsumfassende Ätiologie zurückgeht. Sei dem wie immer, auf jeden Fall müssen wir erkennen, dass die bestehende Familienordnung auf den Verzicht auf Freiheit der Frau gestellt ist, und dass diese Tatsache im inneren sexuellen Konflikt, genauer gesagt, in der sexuellen Vergewaltigungs- und Destruktionssymolik ihren notwendigen psychologischen Ausdruck findet. Das Grundprinzip jeder Gesellschaftsordnung ist die materielle Fürsorge für die Frau zur Ermöglichung der Mutterschaft. In der bestehenden Gesellschaftsordnung, der Ordnung des Vaterrechts, wird die Ermöglichung der Mutterschaft der einzelnen Frau vom einzelnen Manne geboten, und dies bedeutet die materielle Abhängigkeit der Frau vom Manne um der Mutterschaft willen. Der Trieb zum Muttersein in der Frau ist zweifelloser als irgend ein anderer ein angeborener und unveräusserlicher Grundinstinkt, und die bestehende Gesellschaftsordnung erzeugt mit der der Frau gestellten Alternative zwischen dem Verzicht auf das Muttersein und dem Verzicht auf die freie Selbstbetätigung die Gegensatzstellung und Konfliktbildung zwischen den beiden essentiellen Grundinstinkten in der Frau: Des spezifisch weiblichen Triebes zum Mutterwerden und des allgemein menschlichen zur Aufrechterhaltung der eigenen unabhängigen Individualität. Der Mutterinstinkt gehört so sehr zum Wesen der Weiblichkeit, dass sich die innere Gegensatzstellung zu diesem Instinkt nur als Verneinung der eigenen Weiblichkeit selbst, als Wunsch nach Männlichkeit psychologisch manifestieren kann. Und das bedeutet, dass aller Willen zur eigenen individuellen Selbstständigkeit, zur Freiheit und zum Sichbetätigen sich in der Frau mit der Verneinung der eigenen Weiblichkeit selbst, mit einer Art von homosexueller Endeinstellung assoziieren muss. Und ebenso ergibt es sich aus der der Frau gestellten Notwendigkeit, auf ihre individuelle Selbstständigkeit zu verzichten, wenn sie Mutter werden will, dass sich der Trieb zum Mutterwerden und damit das Weibseinwollen überhaupt an sich mit einer menschlich und sexuell passiven Endeinstellung, mit einer masochistischen Triebkomponente verknüpfen muss. Es ist nach dem früher Gesagten selbstverständlich, dass der Konflikt zwischen diesen beiden Endeinstellungen, dieser tiefste innere Konflikt der Frau nur dort erhalten bleibt, wo sich ein unverlierbarer Willen zum Festhalten an der eigenen Individualität und ihrer Freiheit, ein Willen sich nicht vergewaltigen zu lassen, erhalten kann. Das heisst also in den Allerwenigsten. Die ungeheure Mehrzahl der Frauen finden ihr inneres Gleichgewicht und ihre innere Einheit in dem Verzicht auf eigene Individualität, in menschlicher wie sexueller Passivität. Allein in Allen Frauen erhält sich, sei es bewusst oder unbewusst, sei es mit innerlichem Ja oder Nein, das innere Gefühl, dass sie mit ihrer Sexualität und Mutterschaft sich vergewaltigen lassen: Die Vergewaltigungs- und Destruktionssymbolik für Sexualität und Mutterschaft. Gleich wie in allen Männern, sei es bewusst oder unbewusst, sei es mit innerlichem Ja oder Nein, sich unverlierbar ein Gefühl erhält, dass ihre sexuellen Beziehungen zur Frau im Grunde Vergewaltigung sind.