#title Orientierung der Geistigen #author Otto Gross #LISTtitle Orientierung der Geistigen #SORTauthors Gross, Otto; #SORTtopics Anpassung, Revolution, Kompromiss, Demokratie, Räte, Kommunismus, Psychologie, Individualität, #date 1919 #source Scan aus: Sowjet, Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, November 1919 #lang de #pubdate 2016-07-05T14:59:06 Unmessbar allgemein ist das dunkle drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllungen des grossen Geschehens das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einsseins und nicht mehr lösbarer Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewusstseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motiven der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, dass ihnen jede Kenntnis von anderen als wirtschaftlichen Motiven der revolutionären Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Masse Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen. Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl (Neue Rundschau, Berlin, 1919/3). Das elementare Prinzip der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen Ausreichen und Versagen also, die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von aussen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: Die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem individuellen in allem anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen... Das höchste Menschliche ist die Bewahrung dieser liebenden und revolutionären Urkraft im unerhörten Kampf mit dem Milieu, der in der kalten Einsamkeit des Kindes innerhalb der Autoritätsfamilie begonnen, zum Kampf des Seienden und Lebenden mit der entsetzlichen Gewalt des Maschinellen ringsum emporwächst – des Maschinellen als Grundprinzip in aller Ordnung, wie sie jetzt besteht, als Staat, Gesetz und Autorität, als Strafrecht wie als bürgerliches Recht, als Ehe und Prostitution, als Kapital... Ob diese Kraft zum Widerstand gegen den Anpassungszwang und die Anpassungslockung im einzelnen ausreicht und vorhält, entscheidet also seine Entwicklung zum einen oder anderen Typus, dem Typus des Revolutionären oder des Konservativen – ich möchte sagen: des Angepassten. Und diesen beiden Menschentypen ist nichts auf Erden gemein als das tiefe innere Wissen, dass jedem von ihnen das Leben und Gedeihen nur unter Gesamtbedingungen möglich ist, die für den anderen das Ersticken bedeuten. Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepassten an jene andere Ordnung, welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Lieben und Geist... Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mässigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepassten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird. Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiss von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Natur – mit ewiger Erhaltung des Unzulänglichen sogar auf diesen Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens ausser dem abgrenzbaren der reinen Zahl... Hier ist der Boden auf welchem die Revolutionen sich auflösen in Verhandlungen zwischen Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen an das Sein. - Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsame psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der „Höchstes fordernden“ - das ist Derer ohne Kompromiss. In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungsnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: Ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: Ein selbstverständliches dort ewig heimatlos hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitsseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbeschränkten grossen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht; ein reflektorisches Sich-Distanzieren von allem Angepassten, der Anpassung an das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen. Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich verhasst, erscheint und keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromisses, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: Mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit. Es ist diese Demokratie des „letzten Menschen“ die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll. Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, sozialer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, dass es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, dass nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisiert Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen... Allein die völlig Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, dass nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muss. Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers. Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen. Erst dieser Bau wird dann den Namen Tragen dürfen: Kultur...