Titel: Der Anarchismus gegen den Antifaschismus
AutorIn: Non Fides
Datum: 2009
Quelle: Entnommen am 02.02.2015 von https://linksunten.indymedia.org/node/100421
Bemerkungen: Original auf Französisch, Originaltitel: "L’Anarchisme contre l’Antifascisme", Vorwort zur gleichnamigen Broschüre, veröffentlicht von Non Fides, Paris, 2009. Deutsche Übersetzung in "Der Anarchismus gegen den Antifaschismus", Düsseldorf, November 2013, S. 7-14.

Seit 1945 regiert in den ehemals faschistischen Ländern ein struktureller Mythos. Nachdem sie vom Joch der faschistischen Phase des Staates befreit wurden, und sogleich zur demokratischen Phase übergegangen sind, haben sich die Bedingungen der Bewohner dieser Länder angeblich radikal verändert. Dass sich heute immer noch viele darüber freuen, nach 50 Jahren der sozialen Befriedung, erkennt man an den zahlreichen Veranstaltungen und jährlichen Gedenkfeiern, die in jedem Kalender eines guten Staates mit Achtung eingeschrieben sind. Die Lage der Ausgebeuteten und Unerwünschten hat sich nun angeblich auf wundersame Weise verändert.
Dies ist der Mythos der Befreiung von 45, der antifaschistische Mythos, von dem wir versuchen werden, einige Merkmale aufzudecken.


In dieser Mythologie, wie in jeder Mythologie, jagt eine Illusion der Wahrheit nach. Während des faschistischen Staates wurden die Unerwünschten verfolgt, massakriert, ausgerottet und zu Tode gefoltert; dieselben werden heute, im demokratischen Staate, eingesperrt, ausgebeutet, abgeschoben und genetisch registriert. Nicht ihre Situation hat sich verändert, sondern nur ihre Lebensbedingungen. Jede Staatsform hatte seine Einteilungen von Unerwünschten, manchmal dieselben. Jede autoritäre Gruppierung der Menschen besaß ihre Sklaven, ihre Feinde, ihre spezifische Sprache, ihren Hang zur Domestizierung, ihre freiwillige Knechtschaft und ihr Arsenal an Strafmaßnahmen. Vom primitiven Stamm zum Faschismus, von der Demokratie zur Tyrannei. Es genügt, dass das Prinzip der Autorität aufkommt, damit diejenigen, die am wenigsten Macht besitzen, und diejenigen, deren materielle und soziale Schwäche sie an die Grenzen der Herrschaft bindet, sich auf einen mehr oder weniger gezwungenen Vertrag einlassen, der „locker“ sein kann oder ganz und gar aufgezwungen worden ist. Die Konsequenzen dieses Mythos sind vielfältig und zahlreich. Von der Schulbank bis zur Beerdigung sind sie so tief verwurzelt, dass es einer tiefgreifenden – und, für viele Menschen, schmerzhaften – Dekonstruktion benötigt, um sie loszuwerden. Versuchen wir aber dennoch, ein paar Notizen zu diesem Thema festzuhalten.

Angreifen mit dem Ziel, der Macht zu schaden und Unordnung in ihrer Mitte auszulösen, um sie ideologisch sowie materiell zu schwächen.

Die Konfliktbereitschaft betonen, um klare und kriegslustige Trennlinien zu ziehen zwischen den Partisanen der kompromisslosen Freiheit und den Partisanen der Herrschaft und der Macht.

Diese beiden Mittel sind seit jeher für viele Anarchisten auf ergänzende Art und Weise Spielkarten, um unser zügelloses Verlangen nach Freiheit zu stillen. Es war das, was viele Anarchisten in der vor-demokratischen Zeit in den diversen faschistischen Systemen in Europa (Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich,…) bis nach Lateinamerika (Chile, Argentinien, Guatemala,…) getan haben. Mit mehr oder weniger radikalen Mitteln: von Sabotagen bis zur Verteilung von Flugblättern und dem Kleistern von Plakaten, von der Verwendung von Sprengstoff und Brandsätzen bis zur Veröffentlichung von Zeitschriften. Viele haben sich voller Elan in diesen Kampf gestürzt, viele haben mit ihrem Leben oder mit ihrer Freiheit bezahlen müssen (was im Grunde genommen dasselbe ist), und viele von ihnen haben ihr Leben lang im Gegenzug nichts anderes erwartet, außer den Triumph der anti-autoritären Idee.

Nur sind sie nun weniger geworden, diejenigen, die ihren unversöhnlichen Feind genau identifizieren, diejenigen, für die die abscheuliche Bestie die Macht ist, und nicht die Art und Weise der Verwaltung dieser Macht (der Faschismus). Auch waren es wenige, die ihre Waffen nicht niedergelegt haben, als die Demokratie vor ihrer Nase das wissenschaftliche, materielle und ideologische Arsenal des Faschismus geerbt hat, und die staatliche und wirtschaftliche Herrschaft somit weitergeführt wurde.

Die diskreten, aber zahlreichen Berichte zeigen, dass es welche gab, die ihre Waffen nach der Machtübergabe nicht niedergelegt haben. Belgrado Pedrini[1] ist einer von denen, die unter Mussolini als „Banditen“ bezeichnet worden sind, weil sie sich gegen die faschistischen Ordnung aufgelehnt haben, und am Ende des Krieges als „Kriminelle“ betrachtet wurden, weil sie sich geweigert haben, sich der aus dem Widerstand entstandenen demokratischen Autorität zu fügen. Es gab einige, die, obwohl sie den Faschismus nicht überlebt haben, versuchten, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, dass der wirkliche Feind die Macht ist, und nicht der Faschismus, so wie Severino di Giovanni, der betonte, dass die Machthaber, ob faschistisch oder nicht, immer die gleichen bleiben werden: „Mit ihnen wird es niemals eine Versöhnung geben können. Auf gleiche Weise wie die Heerscharen des Totenkopfes von heute, sind sie gestern (ja, sie, die heutigen Antifaschisten, die Oppositionellen und politischen Flüchtlinge, sie, die in dem übel riechenden Sumpf der vorhergehenden Periode vor sich hin gelebt haben) Zuhälter gewesen, sie lebten in den Kulissen des Viminale[2] oder in den Kammern des Parlaments, während sie das Regime und seine Schandtaten guthießen oder unterstützten.“[3]

Für sie musste erst die Nebelwand des Faschismus verschwinden, damit sie das Puppenspiel der Macht identifizieren konnten, welches hinter dem Vorhang die Fäden zog. Der Faschismus ist für die Macht, was der Dialekt für die Sprache ist, eine simple Art des Ausdrucks unter vielen; die Diktatur, die Theokratie, der Kommunismus und die Demokratie. Es ist die Demokratie, die sich heute als die beste politische und soziale Verwaltung des westlichen Kapitalismus erwiesen hat. Das ist auch der Grund, wieso die Tage des Faschismus gezählt sind. Er bleibt nur eine trübe Nostalgie in den Köpfen einiger isolierter Idioten, die viel zu unbeständig sind, um die Demokratie zu gefährden; und ob sie nun in einem Anzug als Politiker oder bewaffnet mit einem Baseballschläger umherschlendern, macht auch keinen großen Unterschied. Die Demokratie begrüßte den Niedergang der vollkommen zwanghaften Regierungsformen im Westen. Wenn wir uns heute einen Dreck um die wenigen Faschisten scheren – was nicht heißen soll, dass wir nicht auch sie bekämpfen sollten –, so fühlen wir uns umso mehr betroffen von der Entartung und der Vereinnahmung des Antifaschismus der vor-demokratischen Zeit, der sich dem Kampf gegen die Macht gewidmet hat, durch einen neuen, rohen Antifaschismus, der komplett Sinn entleert ist.

Dieser Antifaschismus ist in der Tat nichts anderes als eine kulturelle Szene, ein Milieu mit einer gemeinschaftlichen Identität, so wie sie die 80er und 90er Jahre massenweise hervorbrachte: Skater, Gothics, Fans von Videospielen, Trader, Satanisten, Technophile, Wiedergeborene, Raver, Baby-Boomer, Windsurfer und ich weiß nicht was sonst noch alles. Der selbsternannte Antifaschismus ist heute, wie all das soeben erwähnte, zu einer gewöhnlichen Art des kollektiven und vergänglichen Konsums verkommen. Man ist einige Jahre Antifaschist, bevor man Börsenmakler oder Mechaniker wird. Und manchmal bleibt man auch ewig Antifaschist, so wie andere ihr Leben Michael Jackson, ihrer Sammlung an Streichholzschachteln oder ihrer Arbeit widmen.

Zuallererst die Kleiderordnung: von den Schnürsenkeln bis hin zur Unterwäsche gibt es empfohlene und verpönte Marken – denn in den meisten Fällen werden diese schon von der gegnerischen Gemeinschaft beansprucht: den Neo-Faschisten – die rivalisierende Gang der Neo-Antifaschisten, so weit alles klar? Dann gibt es die soziale Bindung: die Partys, die Bars und die angesagten Squats und Konzerträume; das alles sind Möglichkeiten, um seinen Stil und sein Charisma vom Anderssein innerhalb der Gemeinschaft auszuleben. Auch spielen die offizielle Musik und die kollektive Loyalität zu diversen Werkzeugen der Domestizierung eine Rolle, so zum Beispiel zu den Gewerkschaften; der Antifaschist wird diese oder jene Gewerkschaft wählen – entsprechend seiner gemeinschaftlichen Identität –, und zwar auf die gleiche Art und Weise, wie ein korsischer Nationalist im Supermarkt einen korsischen Käse unter hundert anderen auswählt. Andere typische Merkmale sind eine ordentliche Portion an Lügensucht und Mythologie und eine mediale Vereinnahmung bezüglich der Straßenkämpfe mit dem imaginären tentakelartigen Feind; all das, um den Antifaschismus über seine sichtliche Veraltung hinaus zu rechtfertigen.

Es gibt noch andere dieser Elemente, die dazu beitragen, dass der heutige Antifaschismus nichts weiter ist als ein einfaches Hobby. Seit dem Tod des Faschismus erhält man den Antifaschismus unter künstlicher Beatmung und mit einer hartnäckigen, schier unendlichen therapeutischen Behandlung am Leben; schließlich wird er so zu einem degenerierten Abbild der Konsumgesellschaft sowie zur Nostalgie eines offensiven Kampfes gegen die Macht. Alfredo Bonanno erzählt uns – nachdem er die Bedeutung der Erinnerung und der Überlieferungen unterstrichen hat – von den Vorfahren, die mit der Waffe in der Hand den Faschismus bekämpften: „Ich verstehe diejenigen weniger, die ein halbes Jahrhundert später und diese Erfahrungen nicht erlebt haben (sich also nicht gefangen in diesen Gefühlen befanden), sich Erklärungen leihen die keinen Grund mehr zum Bestehen haben und die oft nicht mehr sind, als eine Nebelwand hinter der man sich verstecken kann. „Ich bin ein Antifaschist!“ werfen sie dir wie eine Kriegserklärung an den Kopf, „und du?“.“[4]

Wenn zahlreiche Revolutionäre sich einer fernen – und somit ungreifbaren – Zukunft zuwenden, so wenden sich die Antifaschisten einer Vergangenheit zu, die ebenso ungreifbar ist. Zu Emotionen, die von unseren Vorfahren erlebt wurden, den wenigen Überlebenden dieser längst vergangenen Zeit. Wenn diese auch noch so viel zu erzählen haben, so gibt es trotzdem keinen einzigen Antifaschisten mehr, um ihnen zuzuhören. Dies, weil unsere Vorfahren Feinde des Staates sind, Anarchisten, die also nicht jedes Jahr vom Staat gefeiert werden, und daher für all diejenigen unbekannt sind, die nicht autonom und individuell an das Thema herangehen. Aus diesem Grund konzentrieren sich unsere Antifaschisten auf das Gedenken autoritärer kommunistischer Widerstandskämpfer, mitunter Nationalisten und Gaullisten. Die gleichen Widerstandskämpfer, die am darauf folgenden Tag des Krieges die Macht übernahmen und unsere Kameraden verfolgten. Die Geschichte wird für bekanntlich immer von den Herrschenden geschrieben, und da weder Neugierde noch Belesenheit vorhanden ist, erfreuen sich die heutigen Antifaschisten an diesem verherrlichten Widerstand, und wir sprechen da nur von denen, die sich auf den Anarchismus berufen.

Doch sind diejenigen, die sich in der kulturellen Bewegung des Antifaschismus als Anarchisten bezeichnen, gleichzeitig viele und sehr wenige; ich will das erklären. Die künstlerische antifaschistische Szene von heute liebt es, Symbole und Ikonen miteinander zu vermischen. Oft finden sich Seite an Seite Symbole des anarchistischen Folklore (schwarze Fahnen, umkreister A, die rebellierenden Matrosen von Kronstadt und andere historische Figuren, die durch ihre Heldentaten hervorstachen…) und Symbole, deren Folklore uns an die anti-anarchistischen Massaker und Gefängnisstrafen erinnert: die drei Pfeile der S.F.I.O [dt: Französische Sektion der Arbeiter-Internationale] von Jaurès und Blum, die zum offiziellen Logo der Antifaschisten geworden sind, die roten Fahnen und die Gesichter von Lenin, Mao, manchmal auch Stalin und anderen konkurrierenden Metzger der schlimmsten Faschisten. Da diese Symbole untereinander vermischt werden, verlieren sie jegliche Bedeutung. Die kulturelle antifaschistische Szene spielt heute die Rolle eines effizienten Agenten der Verwirrung, im Dienste der Schwächung jeder revolutionären Deutlichkeit, im Dienste der Ausradierung der Erinnerungen an die Anarchisten, die den Faschismus bekämpften und ihre Waffen nicht niederlegten, als die hässliche Fratze der Demokratie sich andeutete.

Darum sind wir keine Antifaschisten. Unser Anarchismus ist in der Tat antifaschistisch, da der Faschismus nur eine x-te Art der Verwaltung der Herrschaft ist – zugegebenermaßen die brutalste, spektakulärste und am einfachsten identifizierbare. Aber der Anarchismus ist eine Strömung, die immer schon ihre Feinde zu identifizieren wusste: der Staat und die Herrschaft, ob sie nun faschistisch, antifaschistisch, demokratisch, kommunistisch oder angeblich anarchistisch[5] sind.

Wir stellen den Anarchismus dem Antifaschismus entgegen.

[1] Vom Faschismus zum Tode verurteilt, wurde Pedrini 1944 aus dem Gefängnis in Massa von einer Gruppe Partisanen befreit. 1949 wurde er erneut verurteilt, dieses Mal 30 Jahre für einen Mord – zum Zeitpunkt, wo es gerade verboten wurde – an einem Polizisten, der erwiesenermaßen Sympathien mit den Faschisten hatte, und für die Enteignung einiger Industrieller in Carrare, Mailand und La Spezia, die einst auf Seiten des Duce standen. Er kommt erst ganz zum Schluss seiner Gefängnisstrafe Mitte der 1970er wieder raus.

[2] Der italienischer Präsidentenpalast.

[3] Aus Il nostro antifascismo (dt. Unser Antifaschismus), in der Culmine Nr. 16, 23. Dezember 1926.

[4] Aus dem Text Che ne facciamo dell’antifascismo? (dt. Was können wir mit dem Antifaschismus tun?), veröffentlicht in der italienischen Zeitschrift Anarchismo Nr. 74.

[5] So wie in Spanien, wo die CNT-Mitglieder Juan García Oliver und Federica Montseny Minister für Justiz und Gesundheit wurden. Für sie musste gleichzeitig die soziale Revolution verteidigt und der anti-franquistische Staat aufrechterhalten werden.